Читать книгу Holzperlenspiel - Irene Dorfner - Страница 6

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„Der sieht aber gar nicht gut aus,“ sagte Hans Hiebler mit einem flauen Gefühl im Magen, als er auf den Toten vor sich blickte. Der Ordensbruder lag auf dem Boden der St. Anna-Basilika Altötting in einer Blutlache und schien ihn mit offenen Augen anzustarren.

„Stimmt,“ sagte Leo Schwartz. „Hast du auch das Gefühl, dass er dich mit diesen stahlblauen Augen beobachtet?“ Ein Schauer lief dem Beamten der Kriminalpolizei Mühldorf über den Rücken. Für den 50-jährigen gebürtigen Schwaben, der vor über einem Jahr nach Mühldorf versetzt wurde und sich mittlerweile gut eingelebt hatte, war die Umgebung hier mitten in der Basilika, wo sich sonst jede Menge Wallfahrer tummelten, unheimlich. Außer der Tatsache, dass er nicht katholisch war und sich deshalb mit katholischen Kirchen und dem Drumherum nicht auskannte und ihn das alles auch herzlich wenig interessierte, passte die Leiche und das viele Blut des Ordensbruders überhaupt nicht in die glanzvolle, pompöse Umgebung – genauso wenig wie die vielen Polizisten, die Leute der Spurensicherung in ihren weißen Schutzanzügen, natürlich er selbst und die Absperrbänder, die von übereifrigen Polizisten zuhauf angebracht wurden und einen unpassenden farblichen Kontrast zu den stilvollen Gemälden und Kunstgegenständen abgaben. In den frühen Morgenstunden wurden sie von einer Reinigungskraft alarmiert, die den Toten gefunden hatte. Sie mussten bereits wenige Minuten nach ihrem Eintreffen in der Basilika wegen der vielen Wallfahrer zusätzliches Personal anfordern, denn immer wieder drangen von allen Seiten Fremde zu ihnen, die den Tatort und damit die Ermittlungen störten.

„Was können Sie uns sagen Fuchs?“, fragte Viktoria Untermaier, die Leiterin der Mordkommission Mühldorf. Die 48-jährige, etwas pummelige Frau war mit ihren 1,65m zwar nicht sehr groß, fiel aber durch ihr attraktives Äußeres und ihr bestimmtes Auftreten sofort auf. Sie sprach laut und bestimmt, wobei sie so ganz nebenbei alle möglichen Leute delegierte und sie dabei ständig im Auge hatte. Viktoria hatte die völlig verstörte Reinigungskraft vernommen, was nicht einfach war. Die Frau sprach nur gebrochen Deutsch und Viktoria war beinahe drauf und dran gewesen, einen Dolmetscher zu rufen, denn die Frau fiel während der Vernehmung immer wieder in ihre Muttersprache, was sie als polnisch identifizierte. Aber schließlich hatte sie mit sehr viel Geduld und etlichen Rückfragen die Aussage der Frau verstanden, die den Mann nur gefunden und sonst niemanden bemerkt hatte.

Friedrich Fuchs, Leiter der Spurensicherung Mühldorf, konnte jetzt den Beamten der Mordkommission seinen momentanen Wissensstand mitteilen, denn Werner Grössert war nun endlich auch anwesend. Er war von Passanten aufgehalten worden, die scheinbar Wichtiges auszusagen hatten, was sich aber als unwichtiges Gequatsche und pure Neugier herausstellte.

Friedrich Fuchs war jetzt ganz in seinem Element, da die komplette Aufmerksamkeit nun auf seiner Person lag.

„Männliche Leiche, ca. 50 Jahre alt. Er trug keine persönlichen Dinge bei sich. Von dort oben ist er runtergestürzt und hier auf der Bank aufgeschlagen,“ schilderte er den Hergang, wobei er hektisch hin und her lief. „Dann wurde er hierher geschleift und abgelegt, die Spuren sind sehr deutlich zu erkennen – es steht außer Frage, dass er verblutet ist. Der Tote hat Hämatome an den Schultern und am Rücken, die ihm unmittelbar vor dem Mord zugefügt wurden. Auffällig ist diese Holzperle, die der Tote in der rechten Hand hielt. Sonst hatte er nichts bei sich.“

„Sind Sie sicher, dass es sich um Mord handelt? Er könnte doch auch von dort heruntergefallen sein und das Ganze ist ein bedauerlicher Unfall.“

„Bezweifeln Sie meine Ausführungen Frau Untermaier? Die Spuren sind eindeutig, sehen Sie selbst.“ Fuchs drehte die Leiche zur Seite und legte die Rückenpartie frei. „Die Stellen hier am Rücken zeigen deutlich, dass der Mann dort oben heftig gegen das Geländer gestoßen oder mit Gewalt dagegen gedrückt wurde. Und diese Spuren an den Schultern deuten darauf hin, dass er sehr fest gehalten wurde.“

„Vielleicht ist er auch nur gestolpert?“

„Aber nein, dann würden die Spuren am Körper anders aussehen. Die Höhe des Geländers stimmt exakt mit diesen Stellen am Rücken überein. Er selbst hat keine Abwehrspuren, keine Anzeichen, dass er aktiv geworden wäre. Sehen Sie doch her,“ schrie er beinahe und zeigte auf die verschiedenen Verfärbungen an den Schultern und am Rücken.

„Ist ja schon gut, reagieren Sie doch nicht gleich so empfindlich, ich mache auch nur meine Arbeit. Müssen wir von einem Mann als Täter ausgehen?“

Fuchs schüttelte den Kopf, er war zwar schnell beleidigt und reagierte gereizt, war aber nicht nachtragend.

„Nicht unbedingt. Das Opfer war sehr schmächtig und Frauen sind bei Weitem nicht diese schwachen Wesen, als sie sich gerne selber sehen. Ich lege mich hier nicht fest, es könnte sich um einen Täter oder um eine Täterin handeln.“

„Todeszeitpunkt?“

„Grob geschätzt ca. 5.00 Uhr heute Morgen.“

„Jetzt ist es gerade mal halb 9.00 Uhr – was wollte der Mann um diese unchristliche Zeit hier?“, murmelte Viktoria und erwartete keine Antwort. Wie dem auch sei: Wenn Sie mit ihm fertig sind, lassen Sie ihn in die Gerichtsmedizin bringen.“

„Das weiß ich selbst,“ schnauzte Fuchs, „ich mache meine Arbeit auch nicht erst seit heute.“

Viktoria verdrehte die Augen – dieser Fuchs war heute mal wieder besonders gut gelaunt.

„Weiß irgendjemand, um wen es sich bei dem Toten handelt?“

Zaghaft meldete sich ein Mönch, der augenscheinlich demselben Orden angehörte wie der Tote, beide trugen braune Kutten, die mit einem hellen Strickgürtel zusammengehalten wurden. Hatte der Mann dort in der Ecke schon lange gestanden? Viktoria Untermaier ging auf ihn zu.

„Wer sind Sie und wie kommen Sie eigentlich hier rein? Die Türen sind durch Polizisten abgeriegelt.“

„Gott zum Gruße, mein Name ist Bruder Siegmund. Ich habe die heilige Messe im Bruder-Konrad-Kloster vorbereitet und natürlich war mir nicht entgangen, dass die Polizei in der Basilika ist. Ich habe sofort gespürt, dass etwas Schreckliches passiert sein muss. Da mir der Zugang durch das Haupt- und Seitenportal von den Polizisten verwehrt wurde, bin ich von der Bruder-Konrad-Kirche über den Klostergarten durch den normalerweise verschlossenen Seiteneingang hinein – ich habe den Schlüssel. Leider muss ich gestehen, dass ich sehr neugierig bin. Ich hoffe, Sie können mir verzeihen.“ Der kleine, dicke Mann mit den kurzen grauen Haaren und dem Rauschebart sah sie schuldbewusst an. Er musste fast 60 Jahre alt sein und hatte ganz bestimmt schon sehr viel mit den Händen gearbeitet, die schrundig und mit Narben übersät waren. Außerdem sprach er zwar hochdeutsch, hatte aber einen deutlich schweizerischen Akzent.

„Neugier kenne ich, ich bin selbst damit geplagt, aber für meinen Beruf ist dieses Laster sehr von Vorteil, Sie dürften in ihrem Job damit Probleme bekommen. Ist Neugier nicht eine der Todsünden?“ Energisch schüttelte Bruder Siegmund den Kopf.

„Aber nein junge Frau, da irren Sie sich. Neugier gehört nicht dazu.“

„Wie dem auch sei, wenn Sie nun schon mal hier sind: einer Ihrer Glaubensbrüder wurde tot aufgefunden, er wurde ermordet. Sehen Sie sich in der Lage, den Mann zu identifizieren?“

Als Bruder Siegmund diese Nachricht hörte, schlug er die Hände vors Gesicht, nickte und folgte Viktoria. Vor dem Toten blieben sie stehen. „Kennen Sie den Mann?“

„O mein Gott!“, rief er laut aus und bekreuzigte sich mehrfach. „Das ist Bruder Benedikt.“

„Er wurde ca. gegen 5.00 Uhr früh getötet.“

„Das darf doch nicht wahr sein,“ rief er aus und bekreuzigte sich abermals. „Um diese Uhrzeit durfte Bruder Benedikt eigentlich nicht hier sein. Es ist mir unbegreiflich, warum er sich überhaupt hier in der Basilika aufgehalten hat.“

„Was soll das heißen?“

„Zum einen ist der Tagesablauf in unserem Orden streng festgelegt. Wir beginnen unseren Tag erst um 6.30 Uhr mit dem stillen Gebet, 5.00 Uhr ist auch für uns eine sehr frühe Zeit. Und zum anderen wird von einem Mitbruder die Messe hier in der Basilika vorbereitet, Bruder Benedikt ist nicht Teil unserer Gemeinschaft in Altötting. Er ist zu Besuch bei uns, um unsere Arbeit näher kennenzulernen, wir sind weit über die Grenzen hinaus für unsere gute und erfolgreiche Arbeit bekannt. Was hatte er um diese frühe Uhrzeit in der Basilika zu suchen?“

„Woher kommt Bruder Benedikt?“

„Aus Österreich, genauer gesagt aus Wiener Neustadt. Das dortige Kapuziner-Kloster ist verhältnismäßig klein und möchte auch mit unserer Hilfe die Aufgaben und Arbeiten erweitern und neu strukturieren. Natürlich sind wir da gerne behilflich, wir helfen uns untereinander und stützen uns, wo wir nur können. Aber ich schweife ab, das interessiert Sie bestimmt alles nicht. Sie sind aus einem schrecklichen Grund hier und ich plappere einfach darauf los. Entschuldigen Sie bitte, aber wenn ich nervös bin, rede ich ohne Punkt und Komma. Sagen Sie mir bitte, was mit Bruder Benedikt geschehen ist. Sind Sie sicher, dass es sich nicht um einen Unfall handelt?“

„Leider ja, Bruder Benedikt wurde ermordet.“

Wieder bekreuzigte sich Bruder Siegmund mehrfach, nicht bewusst, sondern nur um irgendetwas zu tun.

„Aber Näheres erfahren wir nach der Obduktion.“

„Sie wollen ihn gerichtsmedizinisch untersuchen lassen?“, rief Bruder Siegmund entsetzt. „Das dürfen Sie nicht und ich bezweifle, dass Ihnen der Orden eine Obduktion erlaubt.“

„Ich fürchte, dass wir darauf keine Rücksicht nehmen können.“ Immer wieder wurden die Beamten mit Hinterbliebenen konfrontiert, die nicht wollten, dass die Verstorbenen obduziert werden – verständlicherweise. Trotzdem waren sie nicht in der Position, das zu verhindern, denn auch sie mussten sich an Gesetze halten. Viktoria hatte es sich schon lange abgewöhnt, mit den Hinterbliebenen deswegen zu diskutieren, und dachte nicht daran, sich auch jetzt nicht mit diesem Orden und seinen Anhängern diesbezüglich auseinanderzusetzen. Sie hielt das Tütchen mit der Holzperle vor Bruder Siegmunds Gesicht. „Diese Holzperle haben wir bei dem Toten gefunden.“

„Darf ich?“, fragte Bruder Siegmund und Viktoria gab ihm das Tütchen. Er hielt sich die Holzperle vors Gesicht und gab sie wieder zurück.

„Ich würde sagen, dass das eine Perle ist, wie sie massenweise für die Herstellung von Rosenkränzen verwendet werden. Früher benutzte man dafür Nüsse und Obstkerne, dann ging man über zu Holzperlen, die man zum Glück auch heute noch hauptsächlich verwendet. Aber auch die Rosenkränze gehen mit der Zeit, werden zwischenzeitlich mit den verschiedensten Materialien gefertigt, z.B. Rosenquarz, was ich ja noch verstehen kann, Amethyst, bunte Glasperlen, sogar Gold und Silber – alles, was das Herz begehrt. Aber das gebräuchlichste Material sind diese Holzperlen, die mir persönlich immer noch am besten gefallen. Wir haben in unserem Bruder-Konrad-Kloster alte Rosenkränze ausgestellt, die Sie sich gerne ansehen können.“

„Interessant, das werde ich vielleicht auch tun. Warum glauben Sie, hielt Bruder Benedikt diese Holzperle in der Hand?“

„Das weiß ich nicht, da kann ich Ihnen nicht helfen. Wir haben zumindest keine dieser losen Perlen in unserem Kloster. Früher, als ich noch jung war, haben wir Rosenkränze noch selbst hergestellt, verkauft und verschenkt – aber das ist lange her. Jeder von uns besitzt selbstverständlich einen schlichten Rosenkranz. Vielleicht ist Bruder Benedikts Rosenkranz kaputtgegangen? Haben Sie schon nachgesehen?“

„Aber sicher haben wir das, aber konnten nicht eine einzige Perle finden.“ Viktoria war sich sicher, dass Bruder Siegmund ein Krimifreund war. „Sie wissen doch sicher, wo der Tote während seines Aufenthalts in Altötting gewohnt hat?“

„Selbstverständlich bei uns im Kloster. Glaubensbrüder sind bei uns immer willkommen. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen seine Zelle zeigen.“ Viktoria nickte, natürlich wollte sie das Zimmer sehen. „Dann folgen Sie mir bitte, ich gehe voraus.“

Leo Schwartz machte Anstalten, sie zu begleiten, obwohl ihr Hans Hiebler lieber gewesen wäre. Leo war zwar ein sehr netter und überaus kompetenter Polizist, aber er war gebürtiger Schwabe und sie vermutete starken, bayrischen Dialekt bei den Glaubensbrüdern, bei denen sie hauptsächlich alte Männer erwartete. Außerdem war Leo nicht katholisch und war obendrein durch sein heutiges T-Shirt, auf dem eine Rockband mit einem Totenkopf abgebildet war, in ihren Augen für ein Kloster nicht passend gekleidet. Es folgte eine Diskussion, die von den Umstehenden amüsiert verfolgt wurde: Viktoria brachte ihrem Kollegen und Lebensgefährten Leo Schwartz zuerst schonend und dann immer bestimmter ihre Argumente vor, während Leo dagegenhielt. Ihm waren ihre Einwände egal und er ließ sich nicht abwimmeln. Er fand seine Kleidung sehr, sehr schön und er interessierte sich nicht dafür, ob jemand an seiner Kleidung Anstoß nahm – ihm gefielen die für seine Begriffe veralteten, fast mittelalterlichen Gewänder dieser Kuttenträger ebenfalls nicht und musste sie trotzdem ansehen und hinnehmen. Viktoria Untermaier stöhnte auf, sie kannte Leo und seine Sturheit. Schließlich gab sie klein bei und willigte ein.

„Um welchen Orden handelt es sich eigentlich? Klär mich auf.“

„Das sind Kapuziner. Sie sind schon sehr lange in Altötting, haben ein eigenes Kloster und leisten wertvolle Arbeit in der Seelsorge, aber auch in der Organisation der Gottesdienste und vor allem der vielen Wallfahrer, die täglich in Massen nach Altötting strömen.“

Kapuziner also, davon hatte Leo zwar schon gehört, aber für ihn waren diese Kuttenträger alle gleich und er scherte sie über einen Kamm. War das nicht zu oberflächlich? Egal, ihm waren diese Klöster und deren Anhänger suspekt und er hatte vorher noch nie mit ihnen zu tun – das würde auf jeden Fall interessant werden, einmal hinter die Kulissen eines Klosters zu blicken.

Sie folgten dem kleinen, dicken Bruder Siegmund, der forschen Schrittes voranging.

Vor der Basilika hatte sich eine riesige Menschenmenge gebildet, die diese Kirche besichtigen wollte oder sich aus reiner Neugier hier versammelte. Dass hier ein Toter gefunden wurde, hatte sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Und natürlich zogen auch die vielen Polizei- und Rettungsfahrzeuge die Menschen wie ein Magnet an, daran hatten sich die Beamten längst gewöhnt. Bruder Siegmund grüßte einige Passanten, ließ sich aber nicht aufhalten und ging zügig weiter. Überraschenderweise stoppte er nicht an dem angrenzenden Bruder-Konrad-Kloster, sondern lief daran vorbei. Es ging über den Kapellplatz, an der Gnadenkapelle vorbei, über die Straße – schließlich hielt Bruder Siegmund rechts neben der Magdalenenkirche direkt auf einen Eingang zu – jetzt sahen sie das Schild Kapuzinerkloster. Gab es hier in Altötting etwa zwei Klöster von diesem Orden? Viktoria stutzte einen Moment, denn diese Tatsache war ihr neu. Bruder Siegmund war für sein Alter absolut fit, während Leo und Viktoria schwer atmen mussten, der schnelle Marsch hatte beiden ganz ordentlich zugesetzt – Bruder Siegmund zeigte diesbezüglich keinerlei Anzeichen. Sie standen nun vor einer verschlossenen Tür, neben der sich ein kleines Fenster befand, über dem das Wort Pforte stand.

„Guten Morgen Bruder Andreas. Es ist etwas Schreckliches passiert, Bruder Benedikt wurde ermordet, mitten in der Basilika. Die beiden Herrschaften hier sind von der Kriminalpolizei und möchten seine Zelle sehen. Würdest du bitte öffnen?“

Viktoria war erstaunt, denn Bruder Andreas war bestimmt noch keine 30 Jahre alt – sie hatte sich offenbar in dem Alter der Glaubensbrüder mächtig getäuscht. Leo war genervt, denn es folgte nun ein Dialog zwischen den beiden Kapuzinern und er hatte keine Lust darauf, hier noch länger zu warten.

„Nun machen Sie schon auf,“ rief er deshalb ungeduldig und viel zu laut. Beide Glaubensbrüder erschraken, denn Leo war nicht nur wegen seiner dunklen Kleidung, sondern vor allem wegen seiner stattlichen Körpergröße von 1,90 m sehr beeindruckend und respekteinflößend. Bruder Andreas öffnete hastig die Tür und die Beamten konnten endlich eintreten.

„War das denn nötig?“, flüsterte Viktoria verärgert.

„Auf jeden Fall. Ich möchte gleich von vornherein klarstellen, dass mich dieser ganze katholische Orden überhaupt nicht beeindruckt. Wir ermitteln in einem Mordfall in unserem Zuständigkeitsbereich und mich interessieren die Gepflogenheiten eines Klosters herzlich wenig – ich möchte nur meine Arbeit machen.“

„Reiß dich gefälligst zusammen, die Kapuziner genießen in Altötting großes Ansehen und dir könnte etwas Respekt nicht schaden.“

Leo interessierte sich nicht dafür, ob jemand angesehen war oder nicht, für ihn waren alle Menschen gleich. Er war nun mal kein unterwürfiger Mensch, der sich gerne anpasste oder auf irgendjemanden Rücksicht nahm. Er hatte seinen eigenen Kopf, seine eigene Meinung und das sollte auch hier in dieser für ihn unwirklichen Umgebung so bleiben.

Sie folgten Bruder Siegmund in den Anbau neben der Magdalenenkirche, der sich als riesiges Kloster herausstellte. Sie gingen über den dunklen, sauberen Gang die große Treppe nach oben und befanden sich schließlich in einem Flur, von dem mehrere Zimmer abgingen. Leo fand das alles äußerst interessant, niemals zuvor war er im Inneren eines Klosters gewesen. In seinen Vorstellungen war das viel spektakulärer, als er es nun in der Wirklichkeit vorfand – alles spärlich, ziemlich dunkel und sehr hellhörig – und außerdem roch es überall nach Geschichte und vor allem nach Putz- und Desinfektionsmittel.

„Dort hinten sind die Zellen der Altöttinger Brüder, das sind die Verwaltungs- und Wirtschaftsräume, und dort hinten sind die Besucherzellen,“ erklärte Bruder Siegmund, während er rasch voranging und immer wieder abwechselnd erklärend auf die verschiedenen Türen zeigte. „Bruder Benedikts Zelle ist diese hier.“

Bruder Siegmund blieb stehen. Man konnte auch mit dem spärlichen Licht deutlich das rote, pausbackige Gesicht und die funkelnden Augen sehen – der Mann war sehr aufgeregt und fand das alles spannend.

„Haben Sie einen Schlüssel?“

„Den brauchen wir nicht, bei uns gibt es keine Schlüssel, alle Türen sind stets offen. Wir sind ein Bettelorden und haben keine privaten Besitz- oder gar Reichtümer. Was sollte man also stehlen?“

„So etwas wie Privatsphäre gibt es bei Ihnen nicht?“

„Selbstverständlich. Wir respektieren diese gegenseitig, dafür brauchen wir doch keine Schlüssel.“

Die beiden Polizisten betraten das spärlich eingerichtete Zimmer und Leo rümpfte sofort die Nase – das hier war alles andere als einladend. In dem Raum befand sich ein Bett, über dem ein schlichtes Holzkreuz hing. Am Fenster stand ein kleiner Tisch mit einem Stuhl, an der Wand gegenüber befand sich ein schmaler Kleiderschrank, dessen Türen nur angelehnt waren, da sie so verzogen waren, dass sie sich nicht mehr schließen ließen. Das kleine Fenster brachte nur spärliches Licht und zeigte in den Garten des Innenhofes. Im Mittelpunkt des Raumes stand ein Gebetsstuhl aus Holz, der schon sehr abgenutzt war – Leo sah sich diesen genauer an; hier zu knien und zu beten musste mit der Zeit höllisch wehtun, denn es war kein Polster und weit und breit kein Kissen zum Schutz der Knie zu sehen – na ja, jeder so, wie er will!

Die beiden zogen sich Handschuhe über und begannen mit ihrer Durchsuchung, die nach wenigen Minuten bereits beendet war – es gab hier schlichtweg nichts zu durchsuchen! Sie fanden von dem Toten nur wenige Kleidungsstücke, eine leere Reisetasche und eine schmale, alte Ledertasche, die über dem Stuhl hing. Leo zog ein altes, abgegriffenes Gotteslob und einen Rosenkranz hervor.

„Da haben wir ja den Rosenkranz von Bruder Benedikt. Wie viele Holzperlen hat so ein Rosenkranz?“

„59“ riefen Viktoria und Bruder Siegmund im Chor.

Leo zählte nach – es waren 59 Holzperlen, der Rosenkranz war vollständig. Auch bei genauerem Hinsehen war keine Stelle sichtbar, an der der Rosenkranz geöffnet worden sein könnte – die Verschlussstelle war unberührt. Trotzdem steckte Leo den Rosenkranz in eine Tüte, um sie später der KTU, der kriminaltechnischen Untersuchung, zu übergeben.

„Keine Papiere und kein Geldbeutel,“ stellte Leo fest. „Seltsam, er hatte nichts bei sich, aber irgendwo müssen diese persönlichen Dinge doch sein. Vielleicht handelt es sich um einen Raubmord.“

„Sie meinen, Bruder Benedikt wurde ausgeraubt? Das kann ich mir nicht vorstellen, denn wir haben selten irgendwelche Papiere oder eine Brieftasche bei uns, und wenn, dann ist nur wenig Bargeld drin – wie gesagt, wir sind ein Bettelorden. Unser Habit hat keine Taschen und wenn wir etwas vorhaben, nehmen wir eine Tasche mit: für das Gesangbuch, die Bibel, Taschentücher und ein paar Euro. Aber Bruder Benedikts Tasche ist hier, er hatte sie nicht bei sich.“ Bruder Siegmund stand in der offenen Tür und setzte keinen Fuß in das Zimmer, sondern beugte sich so weit wie möglich vor – er drohte, jeden Moment aus seinen Latschen zu kippen, während er auf die Ledertasche am Stuhl zeigte.

„Für mich persönlich sieht das nicht normal aus, denn auch als Geistlicher in einem Kloster besitzt man doch bestimmt irgendwelche persönlichen Dinge. Zumindest Bücher, vielleicht ein Adressbuch, Fotos, irgendwas, was einem lieb und teuer ist. Fuchs soll sich das genauer ansehen, wenn er in der Basilika fertig ist.“

Leo nahm sein Handy und wählte die Nummer von Fuchs, was von Bruder Siegmund mit einem strengen Blick beobachtet wurde.

„Handys sind bei uns nicht erlaubt,“ bemerkte er und schüttelte den Kopf. Leo war das herzlich egal und telefonierte unbeeindruckt weiter. Er hatte hier seine Arbeit zu machen und dachte nicht daran, sich irgendwie einschränken zu lassen. Das hier war schließlich nicht der Vatikan, wo eigene Gesetze galten.

„Wer hat hier das Sagen? Gibt es bei Ihnen so etwas wie einen Abt?“

„Bei uns ist das der Guardian, er ist der Hüter der Gemeinschaft und achtet darauf, dass alles rund läuft, schließlich gibt es auch bei uns Probleme. Dem Guardian zur Seite steht der Vikar, er ist sein Stellvertreter.“

Nach dieser Erklärung war Leo auch nicht wirklich schlauer, denn wie die hier alle betitelt wurden, war ihm ebenfalls egal.

„Kann ich mit dem Guardian oder dessen Stellvertreter sprechen?“, sagte Leo daher etwas genervt.

„Selbstverständlich, wenn Sie mir folgen würden,“ sagte Bruder Siegmund und ging auch schon davon. Zaghaft klopfte er an eine schlichte Tür auf dem gleichen Flur, nur gefühlte tausend Meter entfernt. Diese Gänge hier waren sehr verwinkelt und sahen aufgrund ihrer Schlichtheit endlos lang aus. Bruder Siegmund öffnete die Tür und bat die Beamten, einen Moment zu warten – nach einigen Minuten erschien er wieder.

„Bitte, Bruder Paul erwartet Sie.“ Bruder Siegmund trat nicht mit ein, sondern schloss die Tür von außen.

Ein großer, schlanker Mann Ende fünfzig trat auf die beiden zu.

„Ich heiße Sie trotz der schrecklichen Umstände bei uns willkommen, mein Name ist Bruder Paul, ich bin hier der Guardian, nehmen Sie bitte Platz. Wie ich eben erst erfahren habe, wurde Bruder Benedikt tot in der Basilika aufgefunden?“ Bruder Paul sprach sehr ruhig, aber man konnte ihm ansehen, dass er von dem Tod des Mitbruders sehr bestürzt war.

„Nach den ersten Erkenntnissen können wir davon ausgehen, dass es sich um Mord handelt, Einzelheiten erfahren wir nach der Obduktion.“ Viktoria machte eine kurze Pause, denn sie erwartete Einwände gegen die Vorgehensweise, aber Bruder Paul sagte nichts dazu. „Wir haben das Zimmer des Toten bereits in Augenschein genommen, die Spurensicherung wird es sich später genauer vornehmen.“

„Ich kann Ihnen versichern, dass Sie keine Spuren finden werden, denn Fremde haben zu unserem Kloster keinen Zugang, ohne unser Wissen kommt hier niemand rein. Wir vermeiden es auch so gut wie möglich, Fremde einzulassen, das geschieht nur im äußersten Notfall – so wie heute.“ Er blätterte in einem dicken, schwarzen Terminkalender. „Seit 8 Wochen war kein Fremder mehr in unserem Kloster.“

„Sie schreiben die Besuche tatsächlich auf?“

„Natürlich. Das sind die Eintragungen der Pforte, die ich wöchentlich aktualisiere. Auch wir müssen über alles Buch führen, was hier innerhalb der Klostermauern passiert.“

„Also keine Fremden in den letzten 8 Wochen? Auch keine Bekannten? Freunde? Familie?“

„Nein, niemand. Diese Spur können Sie also streichen. Und dass irgendein Mitbruder mit diesem schrecklichen Verbrechen zu tun hat, schließe ich kategorisch aus. Sie sehen also, dass dieses schreckliche Verbrechen nichts mit unserem Kloster zu tun haben kann. Aber Sie müssen Ihre Arbeit machen, das verstehe ich. Ich werde der Pforte die Nachricht weitergeben, dass Ihren Kollegen Zugang gewährt wird.“

„Das ist sehr freundlich von Ihnen. Wir vermissen persönliche Dinge des Toten. Papiere, Geldbeutel oder ähnliches.“

„Das konnten Sie auch nicht finden, denn das befindet sich bei mir im Schrank. Bruder Benedikt hat mich nach seiner Ankunft gebeten, seine persönlichen Dinge aufzubewahren, da er befürchtete, beides zu verbummeln. Ja, Bruder Benedikt war in der Tat sehr schusselig.“ Bruder Paul stand auf, öffnete einen Schrank und übergab den Beamten eine verschlissene Brieftasche, in der sich sein Personalausweis, eine Krankenversichertenkarte und ein Bahnticket befanden. Außerdem bekamen sie einen kleinen Lederbeutel überreicht, in dem vierzig Euro in Scheinen und etwas Kleingeld waren. Bruder Paul sah zu, wie Leo die wenigen Habseligkeiten auf den Tisch legte und bemerkte dessen Verwunderung.

„Wir Kapuziner haben uns der Armut verschrieben und leben und arbeiten nur zum Wohle unserer Mitmenschen. Das, was Bruder Benedikt besaß, reichte aus, um wieder nach Hause zu kommen, hier bei uns lebte er natürlich unentgeltlich.“

„Es wurden schon Morde für weniger Euros begangen,“ sagte Leo. „Es gibt nichts, was es nicht gibt.“

Bruder Paul sah Leo in die Augen.

„Ich beneide Sie nicht um Ihre Arbeit, die tagtäglich schreckliche Dinge mit sich bringt, für mich wäre das nichts.“

„Mir geht es umgekehrt genauso, denn ich würde auch niemals ihren Job machen wollen. Um nichts in der Welt würde ich in einem Kloster leben wollen und mich dem Zölibat unterwerfen. Schon allein die Vorstellung ist für mich grausam. Und die Kirche und das Drumherum ist für mich ein rotes Tuch.“ Viktoria glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen – hatte Leo das eben tatsächlich gesagt? Sie war es gewöhnt, dass Leo immer und überall ehrlich seine Meinung sagte, aber das war nun doch etwas zu viel. Noch bevor sie irgendwie reagieren konnte, fuhr Leo fort.

„Was können Sie uns über Bruder Benedikt sagen? Was war er für ein Mensch?“

„Bruder Benedikt war erst seit einer Woche bei uns und pflegte meinem Wissen nach keine tieferen persönlichen Kontakte hier in Altötting. Aber bitte, Genaueres weiß ich natürlich nicht. Er war ein sehr angenehmer, ruhiger und sehr loyaler Mensch mit den besten Referenzen.“

Bruder Paul schien wegen Leos Offenheit keineswegs gekränkt. Er nahm einen Zettel aus der Schublade.

„Das ist die Adresse des Heimatklosters in Wiener Neustadt. Wenden Sie sich vertrauensvoll an Bruder Franz, er kann Ihnen sehr viel mehr über den Verstorbenen berichten, ich kannte ihn leider nur sehr flüchtig.“

„Diese Holzperle haben wir in der Hand des Toten gefunden.“

Bruder Paul nahm das Tütchen und sah sich den Inhalt sehr genau an.

„In seiner Hand? Das ist merkwürdig, vielleicht ist sein Rosenkranz kaputtgegangen, denn diese Holzperle sieht aus wie die eines Rosenkranzes.“

„Nein, wir haben seinen eigenen Rosenkranz in seinem Zimmer gefunden und in der Basilika waren keine weiteren Holzperlen zu finden.“

„Seltsam. Ich bin mir fast sicher, dass diese Holzperle zu einem Rosenkranz gehört. Auch wir hier im Kloster verwenden schlichte Rosenkränze aus Holz, ich persönlich halte nichts von dem neumodischen Schnickschnack, aus dem die Rosenkränze heute hergestellt werden. Aber das ist natürlich meine persönliche Meinung, das muss jeder für sich entscheiden. Das hier ist mein Rosenkranz, und wie Sie sehen, gleichen sich die Holzperlen beinahe.“

Bruder Paul hielt den Beamten beides hin und tatsächlich – die Perlen waren tatsächlich fast identisch.

„Und bevor Sie jetzt auf die wildesten Gedanken kommen: diese Holzperle weist nicht auf einen unserer Mitbrüder hin, denn diese Rosenkränze gibt es zu Abertausenden. Diese werden genau so schon seit vielen Jahren hergestellt, auch heute noch. Früher machte man das in Heimarbeit; auch wir in unserem Orden haben diese hergestellt und dann verkauft und verschenkt. Heute geht das natürlich alles maschinell. Wenn Sie über den Kapellplatz gehen, können Sie in jedem Devotionaliengeschäft solche Rosenkränze erwerben.“

Viktoria war enttäuscht, das wäre auch zu einfach gewesen. Sie machte Anstalten zu gehen, aber Leo war noch nicht fertig.

„Wie kann ich mir dieses Kloster vorstellen? Was machen Sie eigentlich so den ganzen Tag?“

„Ich vermute, Sie sind nicht katholisch?“ Leo nickte und schämte sich nicht für seine Frage, schließlich gab es keine dummen Fragen, sondern nur dumme Antworten.

„Den Kapuzinerorden gibt es schon viele Jahrhunderte. Durch die Abspaltung von den Franziskanern hat sich dieser Bettelorden seinerzeit gegründet. Auch in Altötting gibt es uns schon sehr lange. Leider leben heute nur noch 25 Glaubensbrüder hier im Kloster. Wir sind für die Organisation der Wallfahrer zuständig, für die Gottesdienste, die Beichte, für die allgemeine Seelsorge, und wofür man uns sonst noch brauchen kann. Und natürlich darf man unsere Schule nicht vergessen, die zu unserem Orden gehört und von uns geleitet wird.“ Bruder Paul sprach langsam und hielt sich mit genauen Fakten und Daten zurück, denn er hatte über die Jahre gelernt, dass sich nur die wenigsten für die genauen Hintergründe interessierten.

„Und was genau haben Sie jetzt mit dem Bruder-Konrad-Kloster neben der Basilika zu tun, an dem wir vorhin vorbeigelaufen sind? Soweit ich das gesehen habe, ist das ein riesiges Kloster und sieht dazu noch tiptop renoviert aus. Warum leben Sie hier und nicht dort?“

Die Frage war absolut berechtigt und Viktoria, die sich anfangs über die naive Frage ihres Kollegen und Lebensgefährten ärgerte, war nun auch sehr interessiert.

„Bis vor einigen Jahren lebten wir im besagten Bruder-Konrad-Kloster und wir sind hier hergezogen, da diese Räumlichkeiten damals leer standen und weitaus komfortabler waren. Das Bruder-Konrad-Kloster wurde zwischenzeitlich aufwändig renoviert und über die weitere Verwendung wurde noch nicht entschieden. Vorerst bleiben wir hier, denn ein erneuter Umzug wäre für uns sehr aufwändig und wir fühlen uns hier neben der Magdalenenkirche sehr wohl.“

„Das heißt, das riesige, neu renovierte Bruder-Konrad-Kloster ist leer?“

Bruder Paul nickte nur. Er konnte den beiden Kriminalbeamten zwar antworten, musste sich aber vor ihnen nicht rechtfertigten – das Kloster war Eigentum der Kapuziner und was damit geschieht, liegt einzig und allein bei den Kapuzinern. Der Guardian stand auf, trat an den riesigen, aufwändig geschnitzten Schrank und gab Leo einige Broschüren.

„Hier sind Informationen über uns Kapuziner, das Kloster und unsere Arbeit. Wenn Sie keine weiteren Fragen haben, würde ich mich gerne wieder meiner Arbeit widmen. Bruder Siegmund steht Ihnen zur Verfügung, er hat mich eindringlich darum gebeten, Ihnen helfen zu dürfen und wartet draußen auf Sie. Sehen Sie ihm bitte seine Neugier nach, sie ist sein einziges Laster. Er ist zwar von einfachem Gemüt, aber grundehrlich und sehr anständig. Sie können sich auf ihn verlassen. Ich hätte noch eine Bitte an Sie: bearbeiten Sie diesen Fall mit äußerster Diskretion.“

„Wir werden unser Möglichstes tun. Vielen Dank.“ Viktoria zog Leo mit sich, der gerade Luft holte und etwas darauf sagen wollte, mehr noch, Leo wollte sich mit Bruder Paul anlegen und sie fürchtete eine Grundsatzdiskussion, auf die sie keine Lust hatte.

Bevor sich Bruder Paul wieder an die Arbeit machte, musste er vorab einige wichtige Telefonate erledigen, die diesen bedauerlichen Mord betrafen. Er hatte einige Verbindungen, die er nun kontaktieren musste. Schließlich konnte und wollte er das Klosterleben durch die Ermittlungen nicht beeinträchtigen. Vor allem aber musste er schlechte Publicity von den Kapuzinern, vor allem aber von seinem Kloster, abwenden. Diese Polizistin war ja noch einsichtig, aber dieser Herr Schwartz war ein Rebell und hatte keine positive Einstellung zum Klosterleben – er musste unbedingt seine Kontakte nutzen und die Polizisten zumindest etwas einbremsen.

Vor der Tür wartete tatsächlich Bruder Siegmund mit einem breiten Lächeln. Er gab den Polizisten ein Zeichen, ihm zu folgen, und nur wenig später fanden sie mit seiner Hilfe aus dem Labyrinth des Kapuzinerklosters wieder nach draußen. An der Pforte öffnete Bruder Andreas die gesicherte, schwere Tür.

„Ist Ihnen in letzter Zeit irgendetwas Merkwürdiges aufgefallen?“, fragte Leo Bruder Andreas, während Viktoria nach draußen drängelte und so schnell wie möglich von hier wegwollte. Die muffigen Gänge und diese düstere Atmosphäre des Klosters gefielen ihr überhaupt nicht.

„Ich möchte niemandem Schaden zufügen oder Ärger bereiten,“ sagte Bruder Andreas schüchtern – und hatte sofort Leos Aufmerksamkeit, während Viktoria weiterging und sich eine Zigarette anzündete. Seit ihrer schweren Verletzung, die sie bei einem Fall mit geschminkten Leichen davongetragen hatte, rauchte sie wieder. Leo hielt sie nicht davon ab, sie war alt genug und wusste am besten, was gut für sie war – wenn das alles war, was von ihrer Verletzung mit der anschließenden Reha und den psychischen Problemen übrigblieb, war er mehr als zufrieden und konnte sehr gut damit leben.

Bruder Siegmund stand ganz dicht an Leos Seite, er wollte kein einziges Wort verpassen. Bruder Andreas trat aus seinem kleinen Zimmer heraus, denn durch das kleine Fenster zu sprechen war doch sehr mühsam. Die drei Männer standen nun in der Ecke beisammen und gaben ein komisches Bild ab: der kleine, dicke Bruder Siegmund mit dem runden Kopf und den wachen Augen, die hektisch hin und her wanderten. Der junge, schmächtige Bruder Andreas, der von der Körpergröße seinen Mitbruder nur unwesentlich überragte. Und dann noch der dunkel gekleidete, sehr große Leo Schwartz, dessen Totenkopf auf dem T-Shirt in dem düsteren Licht des Klostervorraumes geradezu zu leuchten schien.

„In den letzten Tagen war mehrfach eine Frau hier und hat nach Bruder Benedikt gefragt.“

„Kennst du ihren Namen? Was wollte sie von ihm?“

„Ihren Namen hat sie mir nicht genannt. Und natürlich habe ich sie nicht nach ihrem Anliegen gefragt, das geht mich doch nichts an.“

„Wie sah sie aus? Können Sie sie beschreiben?“

„Sie war vielleicht 50 Jahre alt, so groß wie ich und eine Sandlerin.“ Die letzten Worte flüsterte er verlegen.

„Eine was? Eine Sandlerin? Was soll das sein?“ Leo hatte diesen Ausdruck noch nie gehört.

„Sie sind auch nicht aus Bayern, das habe ich sofort an ihrem Dialekt gehört. Ich tippe auf den schwäbischen Raum?“ Leo nickte. „Eine Sandlerin ist in Bayern und auch in Österreich eine Obdachlose, eine Frau, die auf der Straße lebt. Entschuldigen Sie bitte, mein Mitbruder ist hier in Altötting geboren und aufgewachsen. Bitte Bruder Andreas, fahr fort, wir wollen schließlich erfahren, was es mit dieser Frau auf sich hat.“

„Die Sandlerin wollte mit Bruder Benedikt sprechen. Es war beinahe unmöglich, mit der Frau ein vernünftiges Wort zu sprechen, sie sprach sehr wirr. Ich habe sie auf unsere Beichtzeiten hingewiesen, ihr etwas zu essen gegeben und sie wieder weggeschickt. Aber sie kam wieder, insgesamt drei Mal. Natürlich habe ich Bruder Benedikt von dieser Frau erzählt, aber er kannte sie offensichtlich nicht, schließlich war er nicht von hier. Er hat mich gebeten, sie an einen Mitbruder zu verweisen, was ich auch immer getan habe. Aber sie wollte nur zu Bruder Benedikt. Wie gesagt, die Frau schien mir geistig verwirrt. Außerdem umgab sie der Geruch von Alkohol.“

„Wann war sie das letzte Mal hier?“

„Vor zwei Tagen.“

„Wenn die Frau hier wieder auftaucht, rufen Sie mich umgehend an.“ Leo gab ihm seine Karte und ging zu Viktoria, die ungeduldig auf ihn wartete. Er erzählte ihr von der Frau, die mehrfach nach dem Toten gefragt hatte.

„Dann werden wir versuchen, die Frau ausfindig zu machen.“

„Und wie willst du das anstellen?“

„Ich könnte darauf wetten, dass nicht nur der Kapellplatz, sondern auch andere Plätze in Altötting videoüberwacht sind. Die Aufzeichnungen werden wir uns besorgen und mit Hilfe des Pförtners und mit viel Glück werden wir die Frau vielleicht finden.“ Viktoria Untermaier war euphorisch, sie hatten eine Spur und sie konnte aktiv werden. Diese Befragungen und das Herumgeeier gingen ihr gehörig auf die Nerven. Sie mussten sich von dem enttäuschten Bruder Siegmund verabschieden, der sie am liebsten begleitet hätte. Und natürlich hatten sie ihm versprechen müssen, ihn auf dem Laufenden zu halten.

Im Rückspiegel sah Leo den kleinen dicken Mönch traurig hinterherwinken. Der Mann tat ihm leid. Er konnte sich vorstellen, dass es für einen neugierigen Menschen im Kloster mitunter sehr langweilig werden konnte. Trotzdem benötigten sie seine Hilfe momentan nicht, außerdem hatte er bestimmt Wichtigeres zu tun.

„Weißt du, was mir keine Ruhe lässt?“

„Nein, weiß ich nicht.“

„Dass das riesige Kloster dieses Ordens frisch renoviert vollkommen leer steht. Wieviel Menschen könnten da Unterschlupf finden? 20 oder 30? Oder mehr? Was meinst du?“

„Ich weiß es nicht und es geht mich auch nichts an. Das Kloster gehört den Kapuzinern und was die damit machen, ist deren Problem.“

„Das finde ich nicht. In den Medien wird davon berichtet, dass es für Flüchtlinge aus Krisengebieten keine Unterkünfte gibt, die Menschen sind meist sehr traumatisiert und haben Schreckliches erlebt. Stell dir doch mal vor, du kommst aus einem Kriegsgebiet und wirst nach einer dramatischen Flucht in eine völlig fremde Kultur geworfen – und dann ist kein Platz für dich und deine Familie. Das muss doch schrecklich sein, wenn man von einer Tragödie in die nächste kommt.“

„Sicher, aber eine Notunterkunft ist immer noch besser als das Leben in einem Kriegsgebiet.“

„Da gebe ich dir ja Recht. Aber gestern kam in den Nachrichten, dass Flüchtlinge aus Platzmangel sogar in Sporthallen und leerstehenden Baumärkten untergebracht werden. Und wenn ich höre, dass hier mitten in Altötting ein Kloster komplett leer steht, dann stelle ich mir natürlich schon die Frage, ob man da nicht von Seiten des Ordens reagieren sollte.“

„Natürlich hast du nicht ganz Unrecht. Und um das Ganze noch anzuheizen muss ich dir sagen, dass noch viel mehr Räumlichkeiten in Altötting leer stehen, die sehr gut für die Unterbringung von Flüchtlingen benutzt werden könnten. Aber diese Häuser sind nun mal Privatbesitz und es steht den Besitzern frei, über die Verwendung selbst zu entscheiden, ob uns das nun gefällt oder nicht. Außerdem ist das nicht nur ein Problem in Altötting, so geht es vielen Städten und Gemeinden. Wenn man wollte, könnte man die erbarmungswürdigen Flüchtlinge nicht nur mit offenen Armen empfangen, sondern sie auch noch anständig unterbringen. Aber wie gesagt, das müssen die Besitzer entscheiden und ist nicht unser Problem, leider.“

Leo war wütend, denn Viktoria hatte Recht. Wenn alle zusammenarbeiten würden, dann wäre die Flüchtlingsunterbringung kein Problem, sondern eine Selbstverständlichkeit. Und es würde in den Medien nicht hochgeschaukelt und thematisiert werden, wodurch Gegnern der Flüchtlingspolitik nur unnötig Argumente zugespielt würden.

Rudolf Krohmer, Chef der Mühldorfer Polizei, wartete ungeduldig im Besprechungszimmer, denn er hatte bereits erfahren, dass es in der Basilika in Altötting einen Toten gab.

„Und? Was haben wir?“

„Das Opfer ist ein Kapuzinermönch. Sein Name ist Bruder Benedikt und stammt aus dem Kloster Wiener Neustadt. Er war nur zu Besuch in Altötting. Sein weltlicher Name ist Karl-Heinz Schuster, aber um es einfacher zu halten, schlage ich vor, dass wir bei Bruder Benedikt bleiben.“ Viktoria Untermaier reichte ihm die Fotos des Tatorts weiter und er verzog das Gesicht.

„Einverstanden. Irre ich mich, oder starrt mich der Tote an? Das ist ja unheimlich!“

„Das haben wir auch so empfunden, das liegt wahrscheinlich an den stahlblauen Augen. Der Kollege Grössert hat im Leben des Opfers recherchiert. Werner, bitte.“

Der 39-jährige Werner Grössert war gebürtiger Mühldorfer und kam aus gutem Hause. Seine Eltern haben ein angesehenes Anwaltsbüro, das in ihrem letzten Fall einen satten Kratzer abbekommen hatte, aber mit Hilfe von Rudolf Krohmer konnte Schlimmeres für die Kanzlei und damit für seine Eltern verhindert werden. Werner Grössert war verheiratet und seine Frau war schwanger – niemand hatte jemals damit gerechnet, denn seine Frau, die von den Eltern erst seit kurzem einigermaßen akzeptiert und angenommen wurde, litt unter einer schlimmen Hautkrankheit, wegen der sie nicht nur arbeitsunfähig war, sondern die sie zu vielen, wiederkehrenden Krankenhausaufenthalten zwang. Und plötzlich kam vor einigen Monaten die Nachricht wie aus heiterem Himmel: Seine Frau war tatsächlich schwanger! Sie hatte sofort alle Medikamente abgesetzt und hielt sich trotz der Schmerzen erstaunlich tapfer. Sie jammerte nie, schien trotz allem fröhlich und ausgelassen. Werner liebte sie auch für ihren Mut und ihre Stärke. Nur noch wenige Wochen und dann war es so weit und er sehnte den Geburtstermin herbei, denn es war höchste Zeit, dass seine Frau wieder Medikamente nehmen konnte. Ihre Haut hatte sich verschlimmert und sie quälte sich Tag und Nacht. Werner hatte ihr für die Zeit nach der Entbindung bereits einen Kuraufenthalt organisiert, den sie dann dringend brauchte. Der stets gepflegte und modisch gekleidete Werner Grössert hatte sich wegen der Schwangerschaft, aber auch wegen dem letzten Adlerholz-Fall verändert. Seine grundlegende Einstellung gegenüber seinen beinah heiligen Eltern hatte starke Risse bekommen und immer wieder widersprach er ihnen und setzte sich durch, was seine Eltern bis dato nicht von ihm kannten. Auch die Tatsache, dass er nun eine Schwester hatte, mit der er einen sehr engen Kontakt pflegte, hatte sehr viel verändert und sein Leben bereichert. Kurzum: Das Verhältnis zwischen ihm und seinen Eltern hatte sich grundlegend gebessert, obwohl er keine Illusionen dahingehend hatte, dass irgendwann einmal ein herzliches, problemloses Verhältnis zwischen ihnen herrschen würde.

„Bruder Benedikt, wie gesagt, dessen weltlicher Name Karl-Heinz Schuster ist, gehört dem Kapuzinerkloster Wiener Neustadt seit über 30 Jahren an. Das Opfer ist 54 Jahre alt und hat noch einen leiblichen Bruder, der in Amerika lebt und dort an der Columbia-Universität unterrichtet, sein Name ist Ferdinand Schuster. Ich habe mit ihm gesprochen und er ist auf dem Weg zu uns, um die Formalitäten zu regeln. Herr Schuster hatte nur losen Kontakt zu seinem Bruder, das letzte Mal vor über 5 Jahren, als die Mutter beerdigt wurde, der Vater ist seit über zwanzig Jahren tot. Bruder Benedikt galt als hilfsbereit, zielstrebig und war bei seinen Mitbrüdern offenbar beliebt, war aber grundsätzlich verschlossen und in sich gekehrt. Die Aufgabe hier in Altötting nahm er nur sehr zögerlich an, er mochte das Reisen nicht. Ansonsten gab es keine Auffälligkeiten und auch keine engen Kontakte außerhalb des Heimatklosters.“ Werner Grössert war erstaunt darüber, was er über Bruder Benedikt herausgefunden hatte, denn wenn man über dreißig Jahre in einem Kloster mit nur wenigen Brüdern lebt, muss man doch zumindest mit denen im engeren Kontakt stehen. Aber vielleicht erfuhren sie Näheres vom Bruder, der heute Abend in München landen und morgen früh hier im Büro sein würde.

„Mit den Klosterbrüdern in Altötting hatte er nur sehr oberflächlichen Kontakt, von Kontakten außerhalb des Klosters ist nichts bekannt,“ fügte Hans Hiebler an. Der 53-jährige, gutaussehende, 1,80 m große und sportliche Mann war aufgrund seines letzten Aufenthalts während des letzten Wochenendes in der Toskana immer noch braun gebrannt und wirkte sehr erholt. Bei ihrem letzten Fall hatte er in Florenz bei einer dortigen Polizeibehörde eine Frau kennengelernt, Lucrezia Mandola, und mit ihr verbrachte er seine Freizeit. Die Distanz zwischen ihm und seiner Freundin war für Hans kein Problem, schließlich war es mit dem Flugzeug von München nach Florenz nur ein Katzensprung. Entgegen seiner sonstigen Angewohnheit hielt er diese Information seinen Kollegen gegenüber geheim, die sich ja doch nur darüber lustig machen würden. Hans Hiebler war bekannt dafür, dass er alle Frauen liebte und immer und überall mit ihnen flirtete und versuchte, sich mit ihnen zu verabreden. Aber seit er Lucrezia kannte, war das anders, mit ihr war jeder Tag etwas ganz Besonderes. Das mit dieser vorlauten, frechen, selbstbewussten und sehr empfindsamen Lucrezia war noch ganz frisch und er wollte nichts kaputtmachen. Vor beinahe einem Jahr war seine damalige große Liebe Doris getötet worden und er vermisste sie selbstverständlich auch heute noch, aber der Schmerz wurde leichter und er war nun vielleicht für eine neue, tiefere Beziehung wieder offen.

„Ich möchte noch anfügen, dass der Tote in der rechten Hand eine schlichte, kleine Holzperle hielt, sie ist in der KTU. Nach unseren Informationen handelt es sich um die Perle eines Rosenkranzes, den man überall kaufen kann.“

„Das ist allerdings seltsam,“ murmelte Krohmer. „diese Holzperle deutet auf einen katholischen oder zumindest einen christlichen Hintergrund. Vielleicht sein eigener Rosenkranz, der irgendwie zerriss?“

„Nein Chef, es wurden keine weiteren Holzperlen gefunden. Außerdem konnten wir den persönlichen Rosenkranz von Bruder Benedikt sicherstellen, bei dem keine Holzperle fehlt. Wie viele Holzperlen hat nochmal ein Rosenkranz?“

„59“ kam es einstimmig im Chor – alle wussten das, nur Leo nicht.

„Wie dem auch sei,“ sagte Krohmer, „es handelt sich auch aufgrund der Holzperle um einen christlichen Hintergrund.“

„Oder wir sollen genau das glauben,“ sagte Leo, der gegenüber solchen Spuren immer skeptisch war, denn das war zu offensichtlich.

„Wie auch immer. Warten wir ab, was die Spezialisten dazu sagen. Wann bekommen wir den Bericht der Gerichtsmedizin und der KTU?“

„Beide dürften heute Abend, spätestens morgen früh hier sein.“

„Sehr gut, hoffentlich sehen wir dann klarer.“

„Eine weitere kleine Spur haben wir allerdings noch. Eine Frau hat in letzter Zeit offenbar des Öfteren nach Bruder Benedikt verlangt. Die Überwachungsbilder aus der Klosterumgebung dürften schon hier sein, vielleicht haben wir Glück und wir finden diese Frau.“

„Das hört sich doch gar nicht so schlecht an, wie ich ursprünglich angenommen hatte. Machen Sie sich an die Arbeit! Ich möchte Sie bitten, in dem Fall behutsam vorzugehen. Der Guardian Bruder Paul ist ein alter Schulfreund und ich habe ihm versprochen, dass wir diskret vorgehen. Das Ansehen eines Klosters ist in der heutigen Zeit nicht besonders hoch und die Klöster haben Nachwuchsprobleme. Wenn ein Kloster mit einem Mord in Verbindung gebracht wird, sind die Folgen jetzt überhaupt noch nicht abzusehen.“

„Die sind doch selbst schuld mit ihren verstaubten Ansichten,“ rief Leo, der zwar von der Hingabe und der Arbeit der Klosterbrüder durchaus beeindruckt war, die Grundfeste der Klöster aber nicht verstand. „Damit meine ich nicht nur das Zölibat an sich, das meiner Meinung nach total veraltet ist und längst abgeschafft gehört. Für mich macht das ganze Klosterleben an sich keinen Sinn. Denn warum soll man sich diesen Regeln beugen und sich an einem veralteten Tagesablauf orientieren? Man kann doch auch ohne ein Kloster zusammenfinden, die Bibel lesen, beten und Gutes tun. Was mir auch stinkt ist vor allem die Rolle der Frauen in der katholischen Kirche, die meiner Meinung nach immer noch vollkommen am Rande mitlaufen und untergebuttert werden – das ist nicht richtig und absolut nicht zeitgemäß. Auch bei den Katholiken dürfte zwischenzeitlich angekommen sein, dass Männer und Frauen gleichbehandelt werden müssen. Aber was rege ich mich auf, das funktioniert doch nicht mal im normalen Leben. Immer noch werden Frauen ungleich behandelt und es ist immer noch die Rolle der Frau, zuhause das Haus zu hüten und sich um die Kinder zu kümmern, während der Mann Karriere macht, finanziell abgesichert ist und beides hat: Karriere und Familie. Und wenn der Mann dann Karriere gemacht hat, die Frau frustriert ist, wird sie einfach durch ein jüngeres Modell ausgetauscht, mit der der Mann dann angeben kann. Jetzt schaut mich nicht so an! Wie oft haben wir das Muster schon miterlebt?“ Leo hatte sich völlig in Rage geredet, denn diese Ungleichbehandlung begegnete ihm immer wieder und regte ihn maßlos auf.

„Da bin ich ganz bei dir Leo. Und man sollte nicht vergessen, dass in den meisten Berufen Frauen immer noch weniger verdienen als Männer, obwohl sie die gleiche Arbeit machen oder sogar noch besser, qualifizierter sind.“ Auch Werner Grössert ärgerte sich über diese Tatsache und dachte eigentlich, dass die Menschen in der heutigen Zeit aufgeklärt und modern wären – ein Trugschluss, wenn es um solche grundsätzlichen Dinge ging.

„Aber wir sind doch jetzt nicht hier, um über Politik und Gesellschaftsprobleme zu sprechen,“ beschwichtigte Krohmer, der absolut der gleichen Meinung war. Er selbst würde eine Ungleichbehandlung auf seinem Polizeirevier niemals dulden und wurde seinen Vorgesetzten gegenüber immer ungemütlich, wenn so ein Fall in seiner Behörde vorkam – und er schaffte sie ab oder umging sie elegant.

Viktoria Untermaier hätte ihren Lebensgefährten Leo am liebsten umarmt, denn er sprach ihr aus der Seele. Trotzdem war hier nicht der richtige Ort für solch eine Diskussion, Krohmer hatte wie immer Recht.

„Machen wir uns an die Arbeit. Bruder Andreas kommt in zwei Stunden, bis dahin sollten wir die Überwachungsbilder gesichtet und sortiert haben.“

Rudolf Krohmer ging wieder in sein Büro und dachte über das Gespräch mit Bruder Paul nach, den er aus der Schule kannte. Natürlich war Bruder Paul bemüht, Schaden von seinem Kloster abzuwenden und Krohmer musste ihn mit Engelszungen davon überzeugen, dass seine Beamten einen Mord aufzuklären hatten und ihre Arbeit machen mussten. Bruder Paul schien keineswegs beschwichtigt und Krohmer kannte ihn: Er würde seine Kontakte spielen lassen und alle Hebel in Bewegung setzten, das gab ganz bestimmt noch Ärger. Krohmer stöhnte laut auf, dieser Fall gefiel ihm überhaupt nicht. Trotzdem vertraute er seinen Leuten, sie würden schon wissen, wie sie vorzugehen haben.

Es folgte eine für alle Beamten langweilige Aufgabe, denn es galt, alle Bilder von verschiedenen Überwachungskameras durchzusehen und zu ordnen, was sich nicht nur als langweilig, sondern als sehr anstrengend herausstellte. Bis Bruder Andreas eintraf, waren sie zum Glück fertig. Zu ihrem Erstaunen hatte Bruder Siegmund seinen Glaubensbruder begleitet. Es war schon ein ungewöhnliches Bild, wie die beiden Brüder in ihren Habits vor dem Bildschirm saßen und gebannt darauf starrten. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Bruder Andreas schließlich die Frau erkannte – die Beamten hatten bereits die Hoffnung aufgegeben.

„Das ist die Frau,“ rief er aufgeregt. „Ganz bestimmt, das ist die Frau.“

Alle warfen einen Blick auf die betreffende Person und Werner Grössert ging sofort an seinen Computer. Er rief die Bilder der Frau auf, gab einige Informationen ein, markierte das Gesicht an einigen Punkten - und ließ sie über ein Gesichtserkennungsprogramm laufen. Werner hatte hart um dieses Programm gekämpft und vor einem Monat hatte sich Krohmer endlich dazu überreden lassen, dieses anzuschaffen. Werner hielt große Stücke darauf, ganz im Gegensatz zu seinen Kollegen, die sich nur lustig darüber machten. Jetzt hatte er die Möglichkeit zu beweisen, dass dieses Programm nicht nur hilfreich, sondern in Zukunft unverzichtbar sein würde.

„Jetzt brauchen wir nur noch warten, bis das Programm die Person gefunden und identifiziert hat,“ sagte er stolz.

„Aber auch nur, wenn die Frau bisher irgendwie polizeilich in Erscheinung getreten ist,“ sagte Hans Hiebler, der keinen engeren Bezug zu Computern hatte und froh war, wenn er die gängigsten Programme bedienen konnte.

Bruder Andreas wäre am liebsten wieder sofort gegangen, er fühlte sich hier sehr unwohl, aber Bruder Siegmund sah sich neugierig um und reagierte nicht auf dessen Drängen. Für ihn als Krimifreund und äußerst neugierigen Menschen war das eine einmalige Chance, hinter die Kulissen der Polizei zu blicken. Wann bekam man denn schon diese Möglichkeit? Außerdem war das hier eine willkommene Abwechslung zu seiner sonstigen Arbeit im Klostergarten und in der Klosterküche, die er zwar sehr gerne und mit Eifer ausführte, aber das hier war doch viel interessanter. Seine Bäckchen glühten geradezu und seine strahlenden Augen wanderten aufmerksam hin und her.

„Eigentlich sind wir fertig mit Ihnen. Ich möchte mich ganz herzlich für Ihre Mühe bedanken,“ sagte Viktoria. Leo konnte das Zögern von Bruder Siegmund förmlich spüren, der alles um sich herum geradezu aufzusaugen schien.

„Wie sind Sie beide eigentlich hergekommen? Hat Ihr Kloster ein Auto?“ Leo hatte keine Ahnung vom Klosterleben und fragte daher einfach darauf los.

„Wir haben ein Auto, aber wir beide haben keinen Führerschein. Wir sind mit dem Zug gekommen, auf kurzen Strecken kostet uns das nichts, ein Entgegenkommen der Bahn.“

„Ach was,“ bemerkte Leo erstaunt, der noch nie davon gehört hatte, dass Klosterbrüder umsonst im Zug mitfahren durften. Es war ihm auch neu, dass die Bahn so kulant war. „Dann warten Sie hier, ich organisiere, dass Sie zurückgefahren werden. Natürlich nur, wenn Sie damit einverstanden sind.“

„Und ob wir damit einverstanden sind. Das ist sehr freundlich und aufmerksam von Ihnen, vielen Dank. Denken Sie, dass es eventuell möglich ist, mit einem richtigen Streifenwagen mitzufahren? Aber nur, wenn es keine Mühe macht.“ Bruder Siegmunds Gesicht strahlte, er sah aus wie ein kleiner Junge zu Weihnachten. Bruder Andreas hingegen starrte seinen Mitbruder erschrocken an – sie sollten mit einem Streifenwagen mitfahren? Was würden die anderen denken?

Leo sah das erschrockene Gesicht des Bruders Andreas, aber er wollte diesem fröhlichen Bruder Siegmund eine Freude machen. Ihm gefiel dieser Mann und er mochte ihn sehr, obwohl er sicher war, dass er einem auch auf die Nerven gehen konnte. Aber egal, sie hatten beide der Polizei sehr geholfen und das mit dem Streifenwagen war nun wirklich kein Problem. Er nahm den Telefonhörer und wählte.

„Frau Gutbrod? Würden Sie bitte eine Fahrt mit einem Streifenwagen nach Altötting organisieren? Ich habe hier zwei Herren, die eine Mitfahrgelegenheit suchen. Beide Herren sind übrigens unverheiratet.“ Leo konnte sich diese Zusatzbemerkung nicht verkneifen. Frau Gutbrod war die Sekretärin von Rudolf Krohmer und nicht nur neugierig, sondern sie nervte mit ihrer unverheirateten Nichte Karin, die sie unbedingt an den Mann bringen wollte. Frau Gutbrod war schon seit vielen Jahren hier bei der Polizei Mühldorf und mit ihren 62 Jahren stand sie kurz vor der Rente – was sie aber nicht wahrhaben wollte. Sie kleidete sich nicht nur viel zu jugendlich und aufreizend, sondern ließ sich regelmäßig die Falten auf- und unterspritzen, um einige Jahre jünger auszusehen. Aufgrund der letzten Bemerkung bezüglich zweier unverheirateter Männer reagierte sie hocherfreut.

„Das ist doch kein Problem Herr Schwartz, ich werde mich sofort darum kümmern.“

Sie hatte aufgelegt und Leo sowie die anderen Kollegen, die sich ein schallendes Lachen nicht verkneifen konnten, warteten jeden Moment darauf, dass Frau Gutbrod in ihr Büro kommen würde, um die beiden unverheirateten Männer persönlich in Augenschein zu nehmen. Tatsächlich dauerte es nur wenige Augenblicke, bis es klopfte und Frau Gutbrod freudestrahlend im Büro stand. Beim Anblick der beiden Kapuzinerbrüder verzog sie das Gesicht.

„Das sind die beiden?“, rief sie enttäuscht und drohte Leo mit dem Finger. „Da haben Sie mich aber ganz schön auf die Schippe genommen, das war nicht nett von Ihnen.“ Die Klosterbrüder waren aufgestanden und musterten Frau Gutbrod neugierig. Bislang hatten sie so eine bunte Frau noch niemals leibhaftig vor sich gesehen. Bei den wenigen Frauen, mit denen sie es zu tun hatten, handelte es sich um normale Frauen – diese hier war außergewöhnlich: bunt, schrill und sie funkelte und glitzerte überall. Die Frau war stark geschminkt, beinahe zugekleistert. Sie hatte hochtoupierte, blonde Haare, die mit lilafarbenen Strähnen durchzogen waren. Dazu trug sie ein sehr kurzes Minikleid aus lila Spitze, unter dem ihre Unterwäsche zu sehen war. Mit ihren sehr hohen Stöckelschuhen war sie fast einen halben Meter größer als die beiden Mönche – sie waren beinahe eingeschüchtert und wussten nicht, wo sie hinsehen sollten.

„Na dann kommen Sie mal mit. Los, nicht so schüchtern, ich beiße nicht,“ sagte sie lachend und zog die beiden einfach mit sich.

„Was sagt dein Programm? Ist es schon fündig geworden?“

„Nur Geduld.“ Werner hatte die wenigste Geduld von allen, denn am liebsten hätte er sofort das passende Ergebnis präsentiert, nur so konnte er die hämischen Bemerkungen verstummen lassen.

Sie tranken Kaffee und machten sich dann wieder an die Arbeit. Außer Werner glaubte niemand daran, dass dieses Computerprogramm die Identität der Frau ausspucken würde, und deshalb gaben sie das Foto der Unbekannten an die Presse weiter, vielleicht erkannte sie jemand.

Plötzlich stürmte Frau Gutbrod ohne zu klopfen ins Büro, die beiden Klosterbrüder hatte sie im Schlepptau.

„Wissen Sie, was ich eben erfahren habe? Es gibt noch einen Bruder Benedikt bei den Kapuzinern in Altötting.“ Sie war völlig außer Atem, strahlte aber übers ganze Gesicht, als sie die Reaktionen der Kollegen bemerkte – sie wussten es tatsächlich nicht!

„Wie bitte?“, rief Viktoria.

Frau Gutbrod schob die beiden Klosterbrüder ins Zimmer.

„Los, erzählen Sie das, was Sie mir eben erzählt haben.“ Natürlich war es klar, dass Frau Gutbrod die beiden zwischenzeitlich ausgequetscht hatte und somit ausführlich informiert war. Sie hatte bislang noch keine Möglichkeit gehabt, die Akten durchzulesen und sich auf den neuesten Stand zu bringen, deshalb waren die beiden naiven Klosterbrüder eine wunderbare Informationsquelle.

„Es gibt noch einen Bruder Benedikt bei uns, und zwar schon sehr viele Jahre lang. Er ist schon weit über 80 Jahre alt und genießt seinen wohlverdienten Ruhestand in unserem Kloster. Allerdings geht es ihm gesundheitlich immer schlechter, wir befürchten das Schlimmste.“ Bruder Siegmund war verunsichert, warum war dieser alte Glaubensbruder jetzt plötzlich interessant für die Polizei?

„Wo finden wir diesen Bruder Benedikt?“

„Natürlich bei uns im Kapuziner-Kloster, wir haben dort einen eigenen Bereich für unsere alten Mitbrüder, die selbstverständlich auch nach ihrer aktiven Zeit bis zu ihrem Tod bei uns und mit uns leben. Ein Klosterleben endet nicht mit der aktiven Zeit, sondern wir sind bis zu unserem Tod mit unserem Glauben und somit mit dem Kloster verbunden. Entschuldigen Sie, aber ich weiß nicht…“

„Verstehen Sie denn nicht? Bei dem Mord könnte es sich um eine Verwechslung handeln.“

Die beiden Kapuzinerbrüder traten erschrocken einige Schritte zurück. Daran hatten sie nicht gedacht. Wer sollte Interesse daran haben, einen alten, kranken Mann zu töten? Viktoria bereute ihre Aussage, sie wollte den beiden keine Angst machen. „Das ist nur eine Vermutung, mehr nicht. Aber wir sollten uns mit Bruder Benedikt unterhalten, um diese Möglichkeit aus der Welt zu schaffen. Dann wollen wir mal, kommen Sie bitte,“ sagte Viktoria und nahm ihren Mantel.

„Und der Streifenwagen?“

Sie sah in die enttäuschten Augen des Bruders Siegmund und verdrehte genervt die Augen. Immer dasselbe mit den Zivilisten! In dem Moment gab Werners Computer ein lautes Signal von sich.

„Das Programm hat die Frau identifiziert,“ rief Werner aufgeregt. Viktoria befand, dass sich viel zu viele Personen im Büro aufhielten, die beiden Klosterbrüder und auch Frau Gutbrod waren jetzt überflüssig.

„Frau Gutbrod kümmert sich darum, dass die beiden mit einem Streifenwagen ins Kloster gefahren werden. Wir treffen uns dort.“

Natürlich wäre Hilde Gutbrod lieber hiergeblieben und hätte gerne erfahren, warum die Kollegen so euphorisch waren und um welche Frau es ging – etwa die Sandlerin, die mehrfach im Kloster nach diesem Toten gefragt hatte und ihn sprechen wollte? Genau das war es, das konnte nicht anders sein. Die beiden Klosterbrüder, besonders dieser dicke Bruder Siegmund war sehr gesprächig gewesen und sie wusste jede Einzelheit über den aktuellen Fall. In der Basilika wurde ein Bruder Benedikt getötet, der nur zu Besuch in Altötting war. Es gab eine Besonderheit, denn in der rechten Hand hielt der Tote eine Holzperle – sie musste irgendwie an die Berichte der Pathologie und der KTU kommen, um Näheres über den Toten und diese Holzperle zu erfahren. Es war nicht nett von Frau Untermaier, dass sie jetzt weggeschickt wurde, aber sie würde irgendwie an die entsprechende Information kommen. Früher oder später fand sie alles heraus. Sie schob die beiden Klosterbrüder vor sich her und begleitete sie zum Ausgang, wo der Streifenwagen bereits auf sie wartete. Ungeduldig sah sie zu, wie die beiden auf dem Rücksitz Platz nahmen. Jetzt machte sie sich umgehend auf den Weg zur KTU, denn mit der dortigen Sekretärin war sie sehr gut befreundet. Hier würde sie ganz bestimmt an die Information bezüglich dieser Holzperle kommen. Wegen des Berichts der Pathologie müsste sie sich noch was einfallen lassen, an den ranzukommen war nicht ganz so einfach – aber erst einmal ein Schritt nach dem anderen!

Holzperlenspiel

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