Читать книгу Holzperlenspiel - Irene Dorfner - Страница 7
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Оглавление„Babette Silberstein, 52 Jahre, ohne Wohnsitz, hält sich aber vorwiegend im Altöttinger Landkreis auf. Die ehemalige Krankenschwester ist bereits mehrfach wegen kleinerer Delikte aufgegriffen worden: Ruhestörung, Beleidigung, Widerstand gegen die Staatsgewalt – nichts Gravierendes,“ las Werner Grössert nicht ohne Stolz vor. Es war ihm mithilfe dieses Programmes tatsächlich gelungen, die Frau trotz der schlechten Aufnahme zu identifizieren, und damit hatte er die skeptischen Kollegen restlos von diesem genialen Programm und dessen Möglichkeiten überzeugt.
„Na toll, und wie sollen wir die Frau finden?“
„Einschlägige Plätze, an denen sich Obdachlose treffen, gibt es in Altötting einige, die klappern wir ab und fragen uns durch. Außerdem erscheint morgen ihr Bild in der Zeitung und vielleicht weiß jemand, wo wir Frau Silberstein finden können.“ Leo war überaus euphorisch, denn es ging endlich voran. Für seine Begriffe war es ein Klacks, diese Frau ausfindig zu machen. Er drängte zum Gehen, denn die Tatsache, dass es im Kapuziner-Kloster noch einen Bruder Benedikt gibt, war für ihn von großer Wichtigkeit, das bewies ihm sein nervöser Magen, der sich seit dieser Neuigkeit ständig bemerkbar machte.
„Werner und Hans, ihr beiden sucht nach dieser Frau. Ich fahre mit Leo ins Kapuziner-Kloster.“ Viktoria hatte natürlich bemerkt, wie nervös und aufgeregt Leo war. Sie selbst empfand das Gespräch mit diesem zweiten Bruder Benedikt als nicht ganz so wichtig – lag sie damit falsch? Hatte Leo diesmal das bessere Gespür? Sie musste lächeln, als sie in den Wagen stiegen, denn sie stellte immer wieder fest, dass sie beide sich sehr gut ergänzten. Sie war eher der Kopfmensch und für sie zählten hauptsächlich Tatsachen und Fakten, während Leo eher der Bauch- und Gefühlsmensch war. Und er sprach Dinge gerne direkt an, nannte sie beim Namen, sie tat sich damit sehr schwer. Nach ihrer bescheuerten Kur in Bad Mergentheim hatte sie sich wieder sehr gut hier eingelebt und es ging ihr gut. Im Nachhinein betrachtet war diese Kur absolut notwendig und auch sehr hilfreich, was sie aber niemals offen zugeben würde. Sie hatte nicht mehr diese schrecklichen Alpträume, die ihr den Schlaf raubten. Auch war sie wieder etwas geduldiger und aufmerksamer. Sie konnte sogar ab und zu wieder herzhaft lachen. Die Narbe machte ihr keine Probleme mehr und es gab Tage, da dachte sie nicht einmal an die ganze Geschichte, die ihr im Landratsamt Altötting widerfahren war. Bis auf diese verdammte Raucherei war ihr nichts geblieben, aber darum würde sie sich auch noch kümmern.
Sie parkten ihren Wagen in der Burghauser Straße und gingen die wenigen Meter zu Fuß zum Kapuziner-Kloster, das sich direkt gegenüber der Gnadenkapelle und neben der Magdalenenkirche befand. Auch jetzt mussten sie sich wieder durch jede Menge Wallfahrer und Besuchermassen kämpfen, die den Kapellplatz und das weitere Umfeld bevölkerten. Instinktiv hielten sie auch nach dieser Frau Silberstein Ausschau, aber sie sahen niemanden, der auch nur annähernd nach einer Obdachlosen aussah. Wurden die hier absichtlich ferngehalten, um die Gläubigen nicht zu stören?
An der Pforte des Kapuziner-Klosters kam ihnen Bruder Andreas bereits entgegen, offenbar hatte er nach Ihnen Ausschau gehalten und auf sie gewartet.
„Ich habe Bruder Siegmund bereits Bescheid gegeben, er ist jeden Augenblick da und wird sie dann zu Bruder Benedikt begleiten.“
„Vielen Dank, sehr freundlich.“
Sie mussten tatsächlich nicht lange warten. Bruder Siegmund öffnete mit hochrotem Kopf die Tür, er war vollkommen außer Atem. Er war offenbar bei der Gartenarbeit gewesen, denn an seinen Händen waren noch Reste von Erde, die er nun an dem Tuch, das an seinem Strickgürtel eingeklemmt war, abwischte.
„Entschuldigen Sie bitte, aber ich dachte, ich nutze die Zeit bis zu Ihrem Eintreffen. Der Herbst war heuer sehr gnädig und wir können immer noch Gemüse aus dem Garten ernten. Heute Abend gibt es eine frische Gemüsesuppe und ich wurde gebeten, die letzten Karotten und Kräuter zu ernten. Aber was erzähle ich denn, Sie sind nicht wegen meinem Gemüse und den Kräutern hier. Folgen Sie mir bitte.“
Ohne Bruder Siegmunds Hilfe wären sie in diesem Labyrinth verloren gewesen. Auch in diesem Teil des Klosters – oder war es das Gleiche? – war es sehr sauber und duster. Der Geruch der Reinigungs- und Desinfektionsmittel vermischt mit dem Geruch des Alten in Form von Möbeln, Bildern und geschnitzten Figuren setzten Viktoria ganz ordentlich zu. Leo hingegen war fasziniert von den alten Kunstwerken und der Architektur des alten Gemäuers. Was diese Mauern schon alles erlebt hatten? Trotz seiner Faszination blieb er dem Kloster selbst gegenüber ablehnend und skeptisch.
„Wir befinden uns hier in dem Teil des Klosters, in dem die alten Glaubensbrüder ihren wohlverdienten Ruhestand verbringen. Die Zellen sind etwas komfortabler und haben die schönste Aussicht von allen. Sie werden sehen, von den Zellen aus kann man direkt auf unseren wunderschönen Blumengarten blicken!“ Bruder Siegmund schwärmte geradezu. Man konnte fühlen, dass er durch und durch aus voller Überzeugung Mitglied dieser Glaubensgemeinschaft war. Zaghaft klopfte er an die Tür und sie traten ein. Tatsächlich war dieser Raum geräumiger und einladender als die Zelle des Getöteten. Das Bett, der Schrank, der Tisch und der Stuhl waren zwar identisch, aber hier lag ein dicker, dunkelbrauner Teppich am Boden, an der Wand war ein prallvolles Bücherregal angebracht und am Fenster stand ein schwerer, dunkelblauer Sessel. Die beiden Polizisten hatten den alten Mann erst nicht bemerkt, der beinahe in dem Sessel unterging.
„Gott zum Gruße. Kommen Sie bitte zu mir, meine Beine wollen heute nicht. Ich leide unter Rheuma, das mich heute besonders plagt. Aber ich möchte nicht jammern, das ist nun mal das Los des Alters.“
Viktoria und Leo begrüßten den alten Mann, dessen Körper zwar sehr gebrechlich schien, aber dessen Augen hellwach waren. Der Sessel stand so am Fenster, dass Bruder Benedikt tatsächlich direkt auf den gepflegten, üppig blühenden Garten blicken konnte. Es dämmerte bereits, trotzdem leuchteten die Farben der Herbstblumen in ihrer ganzen Pracht. Am Fensterbrett lagen ein Buch und eine Lupe, offenbar hatte Bruder Benedikt trotz seiner starken Brille die Lupe zum Lesen nötig. Bruder Benedikt bemerkte die Blicke der Beamten.
„Ohne diese Lupe geht es überhaupt nicht mehr, aber was soll ich machen? Nicht nur der Körper plagt mich, auch die Augen werden immer schlechter. Der Arzt sagt, dass man das vielleicht mit einer Operation wieder hinbekommt, aber mit 84 Jahren lasse ich nicht mehr an mir herumschnippeln – nachher ist es noch schlechter und ich sehe überhaupt nichts mehr. Nein, es ist, wie es ist, und das ist gut so. Jetzt bin ich aber neugierig, was die Polizei von mir möchte, denn aus der wirren Geschichte von Bruder Siegmund bin ich nicht schlau geworden. Er hat wie ein Wasserfall geredet und ich wollte ihn in seiner Begeisterung nicht unterbrechen.“
„Sie haben mitbekommen, was mit dem anderen Bruder Benedikt aus Wiener Neustadt passiert ist?“ Er nickte nur und bekreuzigte sich. „Wir müssen auch der Möglichkeit nachgehen, ob es sich eventuell um eine Verwechslung handelte und eigentlich Sie gemeint waren.“
Bruder Benedikt lachte nur und schüttelte den Kopf.
„Du meine Güte, was haben Sie denn für eine blühende Phantasie? Nein, ich war bestimmt nicht gemeint. Bereits seit vielen Jahren bin ich nur noch hier im Kloster, selbst den Gottesdienst kann ich nur noch an sehr guten Tagen besuchen, ansonsten komme ich nicht mehr raus und bin auch leider nicht mehr im Kontakt mit anderen Menschen, nur noch mit meinen Glaubensbrüdern, die sich rührend um mich kümmern. Vor allem Bruder Siegmund besucht mich häufig und ist mir in den letzten Jahren ein sehr guter Freund geworden. Er hat zwar ein einfaches Gemüt, aber mit ihm und seiner Unbefangenheit lässt sich Vieles leichter ertragen. Ich genieße die Zeit mit ihm sehr. Er liest mir aus Kriminalromanen vor, die er eigens für unsere gemeinsame Zeit aus der örtlichen Bücherei ausleiht. Eigentlich interessiere ich mich nicht für dieses Genre, aber ich liebe Bruder Siegmunds Begeisterung dafür.“
„Trotzdem müssen wir die Möglichkeit einer Verwechslung in Betracht ziehen. Sagt Ihnen der Name Babette Silberstein etwas?“
Das fröhliche Lächeln war sofort aus Bruder Benedikts Gesicht verschwunden – er kannte die Frau!
„Selbstverständlich kenne ich Schwester Babette. Es ist schon viele Jahre her, dass ich mit ihr zu tun hatte. Sie ist Krankenschwester am hiesigen Krankenhaus und wir hatten ab und an beruflich miteinander zu tun. Eine sehr nette, freundliche und hilfsbereite Frau, die leider wegen ihrer Naivität oft ausgenutzt wurde und sehr darunter litt. Trotz allem hat sie sich vor allem für Frauen und Kinder immer mit vollem Herzen eingesetzt. Sie hat oft den Gottesdienst besucht und ich habe ihr einige Male die Beichte abgenommen. Was ist mit Schwester Babette? Ist ihr etwas zugestoßen?“
„Keine Sorge, bislang gehen wir nur einer Vermutung nach. Frau Silberstein hat offenbar mehrfach an der Pforte nach Ihnen gefragt und wollte sie sprechen.“
Bruder Benedikt rief leise seinen Mitbruder Siegmund, der vor der Tür gewartet hatte.
„Du hast mich gerufen?“
„Ist es wahr, dass eine Frau mehrfach nach mir verlangt hat?“
„Das stimmt. Eine Sandlerin, Bruder Andreas hat sie an einen Mitbruder verwiesen, ihr zu Essen gegeben und sie dann weggeschickt. Sie verlangte nach einem Bruder Benedikt und er dachte, sie meint den Bruder Benedikt aus Wiener Neustadt,“ erklärte Bruder Siegmund.
„Ich verstehe. Bruder Andreas hat im Grunde genommen richtig gehandelt, denn ich bin nicht mehr in der Lage, mich um meine Mitmenschen zu kümmern. Aber diese Information, dass Schwester Babette obdachlos ist, setzt mir ganz schön zu. Was wohl mit ihr passiert sein mag? Menschen werden nicht ohne Grund aus der Bahn geworfen. Ihr Schicksal tut mir von Herzen leid und ich werde sie in meine Gebete einschließen. Aber ich hatte nicht näher mit ihr zu tun und kann Ihnen über sie keine weiteren Auskünfte geben. Ich hoffe, es geht ihr den Umständen entsprechend gut und sie findet wieder in ein geregeltes Leben zurück.“
„Wir sind schon dabei, die Frau ausfindig zu machen. Sie sagten, dass Sie ihr die Beichte abgenommen haben. Was hat Sie Ihnen erzählt?“
„Das darf ich Ihnen nicht sagen, ich bin an das Beichtgeheimnis gebunden.“
Viktoria hatte Leo das Gespräch überlassen, sie beobachtete lieber. Beim Namen dieser Frau reagierte der alte Mann heftig, er mochte die Frau. Bei seinem letzten Satz sprach er ruhig und gelassen, offenbar hatte die Frau ihm wirklich nichts Besonderes gebeichtet. Aber sie sah auch, wie der Mann immer mehr ins sich zusammensackte, er war mit seinen Kräften am Ende. Sie gab Leo ein Zeichen, das Gespräch zu beenden.
„Vielen Dank, dass Sie sich für uns Zeit genommen haben.“
Sie verabschiedeten sich und traten auf den Flur.
„Ich begleite die beiden Polizisten nach draußen und bin gleich wieder zurück. Dann bringe ich dir eine schöne Suppe mit, die wird dir guttun.“ Bruder Siegmund war wirklich eine Seele von Mensch und nachdem er eine Decke über die Beine seines Mitbruders gelegt hatte, war er auch schon bei den Polizisten.
„Was war die Aufgabe von Bruder Benedikt?“, wollte Viktoria von Bruder Siegmund wissen.
„Er war hauptsächlich in unserer Schule in der Neuöttinger Straße tätig. Er hat sich dort um die Kinder gekümmert, hat mit ihnen Hausaufgaben gemacht, sich ihrer Sorgen angenommen und in der Küche geholfen. Er ist auch ab und an eingesprungen, wenn eine Lehrkraft ausgefallen ist und diese Aufgabe hat er mit Bravour gemeistert, obwohl er keine Lehrerausbildung hatte. Ja, Bruder Benedikt war ein Naturtalent, die Kinder haben ihn geliebt. Nachdem er gesundheitsbedingt seine Arbeit aufgeben musste, konnte diese Lücke nur sehr schwer geschlossen werden. Eine weitere Aufgabe, die er ebenfalls mit Leidenschaft ausführte, waren die Krankenbesuche im Krankenhaus und die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt der Stadt. Bruder Benedikt hat viele Kinderfeiern organisiert und auch Fahrten während der Schulferien organisiert und begleitet. Darüber hinaus, und dafür bewundere ich ihn am meisten. Er hat immer wieder die JVA Mühldorf besucht und sich dort mit den Insassen unterhalten. Sie müssen wissen, dass sich um diese Besuche keiner von uns reißt. Die Umgebung ist doch sehr düster und auch bestimmt gefährlich. Aber Bruder Benedikt hat sich nicht gefürchtet und hat noch bis ins hohe Alter diese Besuche übernommen. Er war ein sehr, sehr guter Seelsorger und dafür bewundere ich ihn heute noch. Es tut mir weh, wie ich sehe, welche Schmerzen er erdulden muss, und dabei jammert er nie. Ich tue alles dafür, ihm das Leben so angenehm wie möglich zu machen und erfülle ihm jeden Wunsch.“
Bruder Siegmund schwärmte in den höchsten Tönen von seinem Mitbruder und man spürte, dass er ihn sehr mochte. Die Beamten hatten genug gehört und verabschiedeten sich.
„Kaffee?“, fragte Leo, der seiner Viktoria ansah, dass sie etwas beschäftigte.
„Gerne.“
Sie setzten sich trotz der kühlen Luft vor das Café am Kapellplatz und bestellten Cappuccino.
„Was ist los?“
„Ich weiß es nicht, aber dieser Bruder Benedikt hat für meine Begriffe auf die Sandlerin zu heftig reagiert. Wir sollten uns die frühere Arbeit dieses Klosterbruders genauer vornehmen.“
„Du siehst doch Gespenster. Du kennst meine kritische Einstellung zur Kirche, besonders ein Kloster ist mir sehr suspekt. Aber dieser alte Mann ist ein gütiger, gläubiger Mensch, der sein ganzes Leben nur für das Gemeinwohl zur Verfügung gestellt hat. Lass uns abwarten, bis wir diese Frau Silberstein gefunden haben und was sie uns zu sagen hat, dann sehen wir weiter.“
Sie tranken schweigend ihre Kaffees. Leo ließ seinen Blick über den inzwischen fast leeren Kapellplatz schweifen, der nun beinahe im Dunkeln lag. Aber die Gnadenkapelle, die sie direkt im Blick hatten, konnte man immer noch gut erkennen. Leo verstand nicht, wie man eine kleine Kirche und deren Reliquien dermaßen verehren konnte, dass man dafür Strapazen und Mühen auf sich nahm. Er erinnerte sich an den vorletzten Fall, bei dem sie eine Leiche direkt dort drüben auf der Bank sitzend gefunden hatten, und dachte darüber nach, während Viktoria gedanklich nochmals das Gespräch und die Reaktion von diesem Bruder Benedikt durchging.
„An was denkst du? Findest du dieses Klosterleben nicht auch suspekt?“
„Das ist mir ehrlich gesagt vollkommen egal,“ antwortete Viktoria, während sie sich eine weitere Zigarette anzündete. „Jeder soll nach seiner Fasson glücklich werden.“ Bis jetzt hatte sie sich nicht besonders viele Gedanken darüber gemacht, nahm die verschiedenen Klöster und Kirchen einfach so hin. Für sie gab es im Glauben sowieso keine Unterschiede. Es kam alles immer aufs Gleiche raus: die Verehrung eines Übervaters, an den man sich in der Not wenden und ihm auch danken konnte. Aber warum gleich ins Kloster gehen? Nie ein eigenständiges Leben führen, Familie haben, frei entscheiden können? Wie tief musste ein Glauben sein, um sein ganzes Leben nur der Kirche zu widmen? Für Viktoria, die kein gläubiger Mensch war, war das alles nicht nachvollziehbar. Wie konnte man bei all dem Elend und schreiender Ungerechtigkeit an irgendeine Religion glauben, sogar daran festhalten? Viktoria schüttelte den Kopf, sie war für so einen festen Glauben nicht geschaffen. Dafür hatte sie schon viel zu viel Schreckliches gesehen und erlebt. Täglich passierten immer wieder unglaubliche, unfassbare Dinge, die ein mächtiger Übervater niemals zulassen dürfte. Für sie stand fest – es gab keinen Gott oder etwas Ähnliches. Das war eine reine Erfindung der Menschen, die dadurch Vieles einfacher ertragen konnten, oder aber sich die Lehren des jeweiligen Glaubens so zurecht legten, um damit Ungerechtigkeit, Kriege, Macht, Verfolgung, usw. zu rechtfertigen.
Diese Meinung und innere Einstellung würde sie auch vor Anderen vertreten – allerdings nur, wenn sie danach gefragt würde. Denn hier in dieser tief katholischen Ecke Bayerns war man noch nicht so weit, um seine Meinung über den Glauben offen auszudrücken, vor allem nicht als Beamtin. Aber sie spürte, dass die Menschen auch hier immer offener und zugänglicher wurden. Irgendwann dürfte man vielleicht auch diesbezüglich offen seine Meinung äußern. Die Menschen waren hier in Oberbayern und auch sonst überall auf der Welt noch nicht so weit, um vorbehaltlos andere Meinungen und Einstellungen zu akzeptieren, was nicht zuletzt die öffentlichen Diskussionen bezüglich Frauenquote, Männer im Erziehungsurlaub, das Einfrieren von Eizellen für späteren Kinderwunsch, Zuwanderung, usw. (die Liste kann man unendlich fortführen) beweisen. Es sind in den Köpfen der Menschen immer noch Mauern, veraltete Strukturen und Vorstellungen vorhanden, die noch längst nicht eingerissen sind. Aber Viktoria war zuversichtlich, dass sich das irgendwann ändern würde. Vielleicht hatte sie das Glück und würde das noch erleben dürfen.
Während sie in Gedanken versunken war, nahm Leo einfach ihre Hand und hielt sie fest. Spürte er, was sie dachte? Sie war sich dessen sicher. Es tat so unendlich gut, dass sie einen Menschen an ihrer Seite hatte, der sie auch ohne Worte verstand und auf den sie immer zählen konnte. Sie könnte hier noch ewig sitzen bleiben, sie spürte weder die zunehmende Kälte, noch störte sie die Dunkelheit, die immer mehr um sich griff.
„Es ist zwar sehr schön hier, aber wir gehen jetzt besser, bevor du dich noch erkältest,“ sagte Leo, bezahlte und sie fuhren nach Hause, wo sie es sich auf der Couch gemütlich machten. Unterwegs hatten sie Pizza geholt, die sie sich nun schmecken ließen.