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3.

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Die Worte seiner Exfrau hallten in seinem Kopf. Er hatte einen Sohn, von dem er nichts wusste? So grausam konnte seine Exfrau doch nicht sein. Warum hatte sie ihm das Kind die ganzen Jahre vorenthalten? Wusste ihr Mann davon? Wo war das Kind? War es in Gefahr?

Die Fragen schwirrten durch seinen Kopf. Er hatte sich die Adresse auf Kos notiert und für ihn stand fest: Er musste mit dem nächsten Flugzeug nach Kos und seinen Sohn suchen.

„Komm erst mal zu dir, Leo, du bist ja völlig durcheinander.“

Christine hatte sofort verstanden, was Leo eben gehört und zu verarbeiten hatte. Und natürlich unterstützte sie ihn in seinem Vorhaben, umgehend nach seinem Sohn zu suchen. Aber sie musste ihn bremsen, damit er besonnen und nicht völlig planlos vorging. Sie schenkte ihm einen Schnaps ein, den sie ihm beinahe einflößen musste. Auch sie musste Zeit gewinnen, um zu überlegen, wie sie Leo helfen konnte und was das Klügste wäre. Langsam bekam Leo wieder Farbe im Gesicht.

„Ich habe einen Sohn, Christine. Kannst du dir das vorstellen?“ schrie er beinahe. Er hatte sich immer Kinder gewünscht, aber nicht so.

„Natürlich kann ich mir das vorstellen, warum auch nicht? Wobei die Umstände sehr ungewöhnlich sind und ich nicht verstehen kann, warum deine Exfrau darüber geschwiegen hat. Normalerweise stehen Mütter wegen des Unterhaltes beim Kindsvater sofort auf der Matte. Schwamm drüber, sie wird schon ihre Gründe gehabt haben und du wirst sie direkt von ihr erfahren. Wir dürfen jetzt nichts überstürzen und müssen Schritt für Schritt vorgehen. Du gehst duschen, du stinkst fürchterlich. Und ich kümmere mich inzwischen um einen Flug und ein Hotel, denn bei deiner Exfrau und ihrem Mann kannst du ja schlecht übernachten.“

Wie ferngesteuert nickte Leo und ging ins Bad. Er war immer noch völlig durcheinander. Die Dusche tat ihm gut. Nachdem er das heiße Wasser auf kalt eingestellt hatte, konnte er wieder einigermaßen klar denken. Er zog sich an und ging zu Christine ins Wohnzimmer, die eben ein Telefongespräch beendet hatte.

Die Frau war wirklich ein Schatz, er konnte sich in allen Lebenslagen voll und ganz auf sie verlassen.

„Heute geht kein Flug mehr nach Kos. Ich habe dir für morgen früh ein Ticket hinterlegen lassen, der Flug ist um 5.50 Uhr. Ein Hotelzimmer habe ich ebenfalls gebucht, hier ist die Adresse.“

Dass nur noch in einem der teuersten Hotels Zimmer frei waren, verschwieg sie ihm lieber, denn sonst hätte er sich noch mehr aufgeregt. Schließlich kannte sie die schwäbische Sparsamkeit. Das Geld war jetzt zweitrangig.

Sie reichte Leo einen Zettel, den er ohne zu lesen in seine Brieftasche schob. Er ärgerte sich, dass er bis morgen früh warten musste und lief nervös im Zimmer auf und ab. Am liebsten wäre er sofort aufgebrochen.

„Setz dich bitte, heute kannst du nichts mehr erreichen. Du machst mich wahnsinnig mit deiner Nervosität.“

Christine fühlte mit Leo. Sie konnte sich vorstellen, wie es in ihm aussah. Diese Kerstin würde sie am liebsten schütteln und ihr eine scheuern, denn so durfte man mit einem Kindsvater nicht umgehen. Vor allem nicht mit Leo. So verworren und schwierig manche Situationen auch sein mochten, war sie immer für klare Verhältnisse gewesen, auch wenn diese noch so unangenehm waren. Für sie gab es nur absolute Offenheit. Lügen, Intrigen und Geheimnisse waren ihr fremd. Sie konnte kaum zusehen, wie Leo litt. Warum hatte ihm die Exfrau das angetan? Christine kannte Leo sehr gut, er hätte alles für sein Kind getan.

„Wie alt ist dein Sohn? Wie heißt er?“ Die Fragen sprudelten aus Christine heraus, worauf Leo kaum eine Antwort hatte. Er kannte nur den Namen: Marcel. Was für ein wunderschöner Name. Wie er wohl aussah? Sah er ihm ähnlich?

„Ich rufe Kerstin nochmal an, ich muss mit ihr sprechen. Zu viele Fragen sind unbeantwortet und belasten mich. Ich kann nicht bis morgen auf Antworten warten.“

Christine wollte ihn davon abhalten, denn solche Dinge gehörten ihrer Meinung nach persönlich besprochen, nicht am Telefon. Aber sie kannte Leo so gut, er würde sich nicht davon abhalten lassen. Er wählte, aber es meldete sich niemand. Beinahe alle zwei Minuten versuchte er, seine Exfrau zu erreichen. Ohne Erfolg.

„Das ist doch nicht normal. Was ist da los?“

„Dafür gibt es sicher eine ganz einfache Erklärung. Erwartest du von ihr, dass sie rund um die Uhr am Telefon sitzt? Warte bis morgen, dann wirst du alles erfahren. Du musst lernen, geduldiger zu sein.“

Christine verstand ihn. An seiner Stelle würde sie auch nicht warten wollen. Aber irgendwie musste sie Leo beruhigen, den sie noch niemals in so einem Zustand erlebt hatte. Sie war darüber sehr erschrocken, wollte sich das aber nicht anmerken lassen. Sie ging in die Küche und machte etwas zu Essen, wodurch sie sich ablenken konnte.

Sie saßen schweigend zusammen und aßen, wobei Leo nur in seinem Teller rumstocherte. Christine wollte ihn aufheitern, wusste aber nicht, wie sie das anstellen sollte. Ein Blick in seine Augen und sie bekam eine Gänsehaut.

„Iss! Du musst bei Kräften bleiben. Wer weiß, was dich auf Kos erwartet.“

Leo wusste, dass Christine Recht hatte und zwang sich, einige Bissen zu essen. Nach zweiundzwanzig Uhr klingelte es an der Haustür.

„Erwartest du Besuch?“

Christine ging zur Tür und öffnete, sie schien nicht überrascht. Die Unterbrechung kam ihr sehr gelegen, denn sie hatten stundenlang immer und immer wieder alle Möglichkeiten durchgesprochen, ihr rauchte der Kopf.

Es war Ursula Kußmaul, die heute in den unterschiedlichsten Lilatönen gekleidet war. Der gelbe Hut und die grüne Tasche stachen sofort ins Auge. Ursula grüßte knapp und setzte sich Leo gegenüber. Er war überrascht und sah erst sie und dann Christine an.

„Was machst du hier um diese Uhrzeit?“

Natürlich hatte Leo bemerkt, dass Christine den Besuch zu erwarten schien. Was war hier los?

„Ich bin die Feuerwehr und möchte helfen“, rief Ursula lachend aus und zog ihren Hut vom Kopf. Sie war eine Frohnatur, die so leicht nichts aus der Bahn werfen konnte. Als sie Leos Gesichtsausdruck bemerkte, ruderte sie einen Gang zurück. Ihre Scherze waren hier wohl nicht gewünscht. „Was werde ich hier wohl machen? Christine hat mich angerufen und mich um Hilfe gebeten. Und voilà, da bin ich. Die Vernehmung, die ich bis eben noch hatte, war sehr erfolgreich, der Typ hat gesungen wie ein Vögelchen. Dabei dachte ich eigentlich, dass das eine ganz harte Nuss ist. Aber jetzt bin ich hier.“

Leo war irritiert und verstand kein Wort.

„Ich habe Ursula angerufen, ich kann dich auf keinen Fall alleine nach Kos schicken. So, wie du dich verhältst, kannst du nicht klar denken. Ich bin zu alt für solche Geschichten und wäre dir nur ein Klotz am Bein. Meine Knie spielen nicht mehr mit und die Hitze auf Kos würde mich an den Rand eines Herzinfarktes bringen. Ich werde eben alt.“ Sie machte eine kleine Pause. Sie kannte Leo und ihr war klar, dass ihm ihr Alleingang überhaupt nicht schmeckte. Aber es war jetzt nun mal so, wie es ist. Sie hatte eigenmächtig hinter seinem Rücken gehandelt und stand auch dazu. „Ich habe mich daran erinnert, dass Ursula einige Zeit in Griechenland verbracht hat und daher die Sprache ziemlich gut spricht. Sie hat Urlaub genommen und wird dich begleiten.“

„Wie bitte?“ schrie Leo.

„Ich spreche nicht nur Griechisch, sondern bin auch mit der Mentalität der Menschen dort vertraut. Außerdem kenne ich mich auf Kos sehr gut aus. Ach, war das eine schöne Zeit, ich könnte euch Geschichten erzählen. Die sind nicht ganz jugendfrei. Da gab es einen kleinen Griechen, einige Jahre älter als ich, …“

Leo unterbrach Ursula. Er interessierte sich nicht für ihre Geschichten und ihr Geplapper. Das war das einzige, das er an Ursula Kußmaul nicht mochte. Er war verärgert über Christines Vorstoß, das hätte sie vorab mit ihm besprechen müssen. Er war kein Kleinkind und hasste es, wenn über seinen Kopf entschieden wurde. Außerdem wollte er die Angelegenheit alleine in die Hand nehmen.

„Das ist zwar lieb gemeint, aber das kann ich nicht annehmen. Das ist eine reine Privatsache und ich will dich auf keinen Fall da hineinziehen. Wer weiß, was dort alles auf mich zukommt. Nein, vielen Dank, aber ich muss dein Angebot ablehnen, so verlockend es auch klingt. Ich fliege alleine und werde schon irgendwie klarkommen.“

Christine schien bereits mit einer solchen Reaktion gerechnet zu haben, stand auf und stemmte die Arme in die Hüften.

„Jetzt hör mir mal gut zu, Leo. Du fliegst auf jeden Fall mit Ursula, keine Widerrede! Wenn du sie nicht mitnimmst, dann werde ich ihren Platz einnehmen. Und das wird kein Vergnügen werden, das kann ich dir versprechen. Wie dumm bist du eigentlich? Hier ist eine junge, sehr fähige Polizistin, die nicht nur die Sprache auf Kos spricht, sondern auch noch Land und Leute kennt. Du müsstest ihr eigentlich auf Knien dafür danken. Und was machst du? Bejammerst dich selber und willst den Helden spielen. Du kannst auf Kos jede Hilfe brauchen und lehnst sie dennoch ab? Bist du total verblödet? Dass dir deine Exfrau deinen Sohn verschwiegen hat, ist tragisch und das tut mir sehr leid. Dass der Junge verschwunden ist, ist doppelt schlimm. Du kannst nicht klar denken. Reiß dich gefälligst zusammen und denke klar und vernünftig.“

Sie sprach ruhig, aber bestimmt, sogar sehr bestimmt. Leo hörte ihr mit offenem Mund zu. Es war still geworden. Christines Standpauke hatte Ursula sehr amüsiert. Sie musste sich beherrschen, um nicht laut loszulachen.

„Wage es ja nicht, eine Begleitung abzulehnen. Wenn du Ursula nicht willst, komme ich mit,“ setzte Christine nach.

Leo lehnte sich zurück und dachte nach.

„Du hast ja Recht, Christine. Ich danke dir, dass du dich um mich kümmerst.“ Er stand auf und nahm seine Freundin in die Arme, was ihr sehr gut tat.

Er wandte sich nun Ursula zu und nahm ihre Hand in die seine.

„Vielen Dank Ursula, ich nehme deine Hilfe sehr gerne an. Deine Sprach- und Ortskenntnisse kann ich sehr gut gebrauchen. Ich weiß nicht, wie ich dir das danken soll.“

„Keine Sorge, da wird mir schon etwas Passendes einfallen. Schluss mit der Gefühlsduselei. Ich habe eine Karte von Kos mitgebracht“, sagte sie, kramte in ihrer riesigen, plüschigen grünen Tasche, rückte den Sessel näher an den Couchtisch und breitete die Karte auf dem Tisch aus. „Hier ist die Adresse, die dir deine Exfrau genannt hat,“ sie malte mit einem Leuchtstift ein dickes Kreuz auf die Karte. „Christine war so schlau, uns in dieses Hotel einzuquartieren. Das ist keinen Kilometer entfernt. Ich habe uns einen Leihwagen reserviert, der für uns morgen am Hotel bereitsteht. Ich würde vorschlagen, dass wir nach der Landung mit dem Taxi ins Hotel fahren, unsere Koffer abstellen und dann sofort zu deiner Exfrau fahren. Wenn dein Sohn seit gestern verschwunden ist, dürfen wir keine Zeit verlieren. Das wäre mein Vorschlag. Ist das für dich in Ordnung?“

Leo war begeistert. Er hatte tatsächlich nicht an einen Leihwagen und einen Zeitplan gedacht. Ursula war nicht nur gut vorbereitet, sondern war bereits aktiv. Außerdem kannte sie auch schon die Adresse seiner Exfrau und die des Hotels, worum er sich bislang noch nicht gekümmert hatte. Wie lange hatten die beiden Frauen miteinander telefoniert?

„Selbstverständlich bin ich einverstanden.“

„Dann würde ich jetzt gerne etwas über deine Frau erfahren. Du kennst das ja, erzähl einfach drauf los.“

„Sie ist ein disziplinierter, intelligenter, gebildeter Mensch. Außerdem ist sie kontaktfreudig, sehr zielstrebig, fleißig und hatte schon immer den Drang, mehr aus ihrem Leben zu machen. Sie interessiert sich für Kunst und Musik, vor allem italienische Musiker haben es ihr angetan. Kerstin achtete früher sehr auf ihre Figur, ging regelmäßig ins Fitnessstudio und in ihre Yoga-Stunden. Vor über sieben Jahren haben wir uns scheiden lassen. Der Grund war ein Mann, den sie in ihrem Fitnessstudio kennengelernt hatte.“

„Was weißt du über den Mann?“

„Nicht viel. Er ist ein Geschäftsmann aus Karlsruhe. Was er genau macht, weiß ich nicht und hat mich auch nicht interessiert.“

„Wie weit traust du deiner Exfrau?“

„Nicht mal von hier bis zur Tür. Aber wenn Kerstin verzweifelt ist und um Hilfe bittet, dann muss sie tief in der Klemme stecken. Sie ist eine taffe Frau und kann sich sehr gut selber helfen.“

„Dann habe ich jetzt schon ein ungefähres Bild von ihr. Wobei wir nicht die Tatsache außer Acht lassen dürfen, dass sie dir deinen Sohn verschwiegen hat, was nicht gerade für sie und ihren Charakter spricht. Wir wissen nicht, ob ihr Mann weiß, dass er nicht der leibliche Vater ist. Ich fahre jetzt nach Hause, ich bin hundemüde und würde mich gerne nach dem anstrengenden Tag noch ein paar Stunden hinlegen. Morgen erzähle ich dir von dem interessanten Fall, den ich heute abschließen konnte. Wir haben während des Fluges jede Menge Zeit. Ich werde auch noch packen müssen. Wann holst du mich ab?“

„Der Flug startet um 5.50 Uhr, ich hole dich um halb drei ab. Dann haben wir genug Zeit, um zum Flughafen zu fahren und dort noch etwas zu frühstücken.“

„Das käme mir sehr entgegen, denn von dem Fraß im Flugzeug wird mir schlecht. Wenn ich schon von weitem die lappigen Brötchen sehe, werde ich immer an Styropor erinnert und bekomme sofort Zahnschmerzen. Also gut, bis später. Leg dich hin und versuche zu schlafen, du siehst echt beschissen aus, Leo.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich das Geplapper lange ertrage. Ursula quasselt ohne Punkt und Komma. Allerdings muss ich zugeben, dass ihre gute Laune ansteckend ist.“

„Sei froh, dass sie dich begleitet.“

Leo packte einige wenige Kleidungsstücke und Waschartikel ein. Sein Koffer war nur halb voll. Er konnte nicht schlafen, wartete ungeduldig und lief im Wohnzimmer auf und ab, bis es endlich zwei Uhr war.

Christine war durch Leos Lärm aufgewacht. Sie hatte erstaunlicherweise gut geschlafen, denn sie wusste Leo in guten Händen. Natürlich wollte sie es sich nicht nehmen lassen, sich von Leo zu verabschieden. Sie drückte ihn fest an sich und ärgerte sich, dass sie nicht einige Jahre jünger war und ihn begleiten konnte. Jetzt konnte sie nur hier sitzen und warten.

„Ich wünsche dir alles Gute und viel Glück. Keine Sorge, du findest deinen Sohn im Handumdrehen, und zwar gesund und munter. Melde dich ab und zu, damit ich mir keine Sorgen machen muss.“

Sie zog sich einen Bademantel über und ging mit Leo vor die Tür, drückte ihn nochmals fest und sah seinem Wagen noch lange nach. Natürlich sorgte sie sich jetzt schon. Sie hätte ihn sehr gerne begleitet, aber sie fühlte sich in letzter Zeit nicht wohl und befürchtete, dass sie Leo nur eine Last sein würde. Außerdem wollte sie ihre Pathologie nicht diesem Stümper von Kollegen überlassen, der seit einiger Zeit bei ihr arbeitete. Ihre Pensionierung stand bevor und der Kerl wollte doch tatsächlich ihren Platz einnehmen, was sie um jeden Preis so lange wie möglich hinauszögern musste. Er war in ihren Augen noch lange nicht so weit, um ihre Pathologie zu übernehmen und sie wollte die ihr verbleibende Zeit unbedingt nutzen, um ihm noch so viel wie möglich beizubringen. Sie sah auf die Uhr: kurz vor halb drei. Sie legte sich wieder ins Bett und fand lange keinen Schlaf, denn die Gedanken und Sorgen um Leo und Ursula brachten ihr keine Ruhe.

Ursula stand mit zwei gepackten Koffern und einer vollgepackten Tasche bereits auf der Straße und winkte wie eine Verrückte. Sie trug einen babyblauen Jogginganzug, den sie immer anzog, wenn sie flog. Um die reichlichen Hüften hatte sie ein rosafarbenes Tuch geschlungen, das sie zur Not um die Schultern legen oder als Decke benutzen konnte. Auf dem Kopf hatte sie eine pinkfarbene Baseballmütze, deren Schild sie nach Belieben zum Schutz gegen die Sonne oder zum Schlafen herunterklappen konnte. Sie reiste gerne bequem und war für alle Eventualitäten gewappnet. Leo musste über diese völlig durchgeknallte Frau lachen. Sie scherte sich einen Dreck um die Meinung anderer und machte nur das, was sie wollte.

„Um Gottes Willen. Was hast du denn dabei?“

Leo war sprachlos, mit so viel Gepäck hatte er nicht gerechnet. Den großen Koffer verstaute er neben seinem eigenen im Kofferraum, den etwas kleineren und die große Tasche füllten beinahe den ganzen Rücksitz.

„Frauen brauchen nun mal viel Gepäck. Außerdem weiß ich nicht, wie das Wetter dort ist und wollte auf jeden Fall für jede Eventualität gerüstet sein.“

„Das kostet Übergepäck, das ist dir hoffentlich klar?“

Leo würde niemals für so etwas freiwillig Geld bezahlen. Lieber würde er tagelang in den gleichen Klamotten herumlaufen, oder sich am Urlaubsort neue kaufen, die es zuhauf in den üblichen Läden für Touristen gab.

„Wir werden sehen. Um das Problem kümmere ich mich erst, wenn es auch eins ist. Lass uns fahren.“

Auf den Straßen war um die Uhrzeit nicht viel los und sie kamen gut voran. Ursula war putzmunter und erzählte von ihrem gestrigen Arbeitstag in den tollsten Farben. Leo schaltete irgendwann auf Durchzug und hörte nicht mehr zu. Am Münchner Flughafen parkten sie den Wagen und gingen zu ihrem Terminal. Schon von weitem sahen sie den Schalter ihrer Fluggesellschaft und steuerten darauf zu. Die freundliche Dame lächelte ihnen entgegen.

„Guten Morgen, was kann ich für Sie tun?“

„Leo Schwartz und Ursula Kußmaul. Für uns wurden Tickets nach Kos hinterlegt.“

Sie tippte in ihren Computer.

„Hier haben wir sie, bezahlt wurden sie schon. Bitteschön! Checken sie dort hinten ein.“

Leo bedankte sich. Bei seiner Rückkehr musste er Christine unbedingt das Geld für die Tickets geben, er hatte gestern nicht daran gedacht.

„Ihr Gepäck ist zu schwer, pro Person sind nur zwanzig Kilo erlaubt!“

Die Ansage der Dame kam monoton, beinahe unfreundlich.

„Haben Sie schlecht geschlafen oder warum sind Sie so pampig? Es ist mir durchaus bewusst, dass mein Gepäck zu schwer ist. Ich bezahle die Mehrkosten gerne. Wenn Sie mir bitte sagen würden, was ich zu bezahlen habe?“

Die Frau starrte Ursula erschrocken an, fing sich dann wieder und war von nun an sehr freundlich und kooperativ.

„Sie reisen gemeinsam. Sie haben lediglich acht Kilo, das können wir zusammennehmen. Dann sind nur zehn Kilo Übergepäck zu bezahlen. Das wären dann zweihundert Euro.“

Leo hatte interessiert zugehört und war über den hohen Betrag erschrocken und wollte einschreiten. Sicher konnte man diesen Aufpreis irgendwie umgehen. Zu seinem Erstaunen aber hatte Ursula bereits den Betrag aus ihrem Geldbeutel gezogen und bezahlte ohne Murren. Sie nahm den Beleg entgegen und bedankte sich.

„Gehen wir frühstücken? Ich habe einen Bärenhunger. Sieh mal dort hinten, das sieht doch gemütlich und ansprechend aus.“

Sie setzten sich, außer ihnen waren nur wenige Tische belegt. Sie bestellten und die unfreundliche Bedienung notierte gelangweilt die Bestellung, weshalb sich Ursula besonders viel Zeit ließ und die Frau fast wahnsinnig machte.

„So, die ist jetzt wenigstens wach geworden“, lachte Ursula, die sich sehr gerne mit unfreundlichen Menschen auseinandersetzte und ihnen ganz schön zusetzen konnte. Und das, ohne selbst unfreundlich zu sein.

„Bist du eigentlich völlig verrückt geworden, so viel für dein Übergepäck zu bezahlen? Ich bin ja fast aus den Latschen gekippt, als ich gehört habe, dass du zweihundert Euro bezahlen musst. Das ist ja fast so viel wie die Flugkosten. Für das Geld kannst du dir auf Kos jede Menge neue Kleidung kaufen.“

„Nein, das kann ich nicht. In meiner Größe finde ich dort bestimmt nichts, schau mich doch an! Für meine Größe bin ich etwas füllig. Ich habe kurze, dicke Arme, die nicht in Normkleidung passen. Und meine Schuhe sind Spezialanfertigungen, die finde ich auf Kos auf keinen Fall. Nein, ich fand das relativ günstig. Außerdem ist es nur Geld, davon habe ich genug.“

„Wie meinst du das?“

„Erst einmal habe ich einen tollen Job, in dem man nicht schlecht verdient, das weißt du ja selber. Dann komme ich aus einem reichen Elternhaus, meine Eltern haben in Stuttgart eine Fabrik für Metallteile für die Autoindustrie. Mein Großvater hat die Firma nach dem Krieg gegründet und mein Vater hat sie nach dessen Tod übernommen.“

Leo war verblüfft, denn bislang hatte er den Eindruck gehabt, dass Ursula Kußmaul aus ganz normalen Verhältnissen stammte. Sie und reich? Für ihn kaum vorstellbar.

„Jetzt beruhige dich mal, es ist nur Geld, sonst nichts. Christine hat nicht übertrieben, als sie mir erzählt hat, dass du sehr geizig bist. Ich habe den Umstand, auch als Schwäbin nicht auf den letzten Cent achten zu müssen, meinem Elternhaus zu verdanken, das ist nicht mein Verdienst. Nach allem, was ich in meinem jungen Leben durchmachen musste, habe ich gelernt, dass Gesundheit weitaus mehr wert ist, als alles Geld der Welt.“

„Trotzdem hättest du dieses Detail längst erwähnen können.“

„Warum hätte ich das tun sollen? Das ändert nichts an meiner Person und meinem Charakter.“

Das Frühstück wurde gebracht und Ursula langte kräftig zu. Es gab Zeiten, in denen sie nicht essen konnte und die waren zum Glück vorbei. Sie war gesund und konnte tun und lassen, was sie wollte.

„Trotzdem finde ich die Kosten für das Übergepäck viel zu übertrieben. In deinem Gepäck gibt es sicher Dinge, die man hätte aussortieren können. Frauen packen ihre Koffer sowieso immer viel zu voll.“

„Jetzt beruhige dich, Leo. Wenn ich für mich entscheide, Übergepäck mitzunehmen und auch anstandslos zu bezahlen, dann ist das doch meine Angelegenheit und geht dich überhaupt nichts an. Ich muss mich weder vor dir noch vor irgendjemand anderen rechtfertigen. Und jetzt sprechen wir nicht mehr darüber, das Thema ist erledigt.“

Sie unterhielten sich über belanglose Dinge, während Ursula fast alles alleine aufaß. Leo bekam kaum einen Happen hinunter. Er war sehr aufgeregt und konnte es kaum erwarten, dass es endlich losging. Vor allem hatte er Schiss vor dem Flug, denn er flog überhaupt nicht gerne.

Nach dem Frühstück passierten sie die Sicherheitsschleuse, wobei es bei Ursula überall piepte und es eine Ewigkeit zu dauern schien, bis sie endlich durchgelassen wurde. Ihr war das schon bekannt und sie nahm es ruhig hin, sie schien sogar amüsiert. Während den wenigen Minuten hatte sie mit den Sicherheitsbeamten einen Heidenspaß.

„Ich würde wahnsinnig werden, wenn es bei mir an allen Ecken und Enden piepen würde.“

„Durch die vielen Operationen ist nun mal das eine oder andere Metallteil in meinem Körper verblieben, worauf natürlich das Gerät sofort anspringt. Das kenne ich schon und warte schon darauf. Es ist vorgekommen, dass ich sogar die Schuhe ausziehen musste. Engländer und Amerikaner sind in der Beziehung ganz schlimm, sie wollen alles kontrollieren. Wenn die Sicherheitsleute meine deformierten Füße sehen, geben sie sofort Ruhe und winken mich durch. Was glaubst du, was ich alles problemlos in meinen klobigen Schuhen schmuggeln könnte?“

Sie hatte einen so herzerfrischenden, trockenen Humor, dass Leo für einen Moment sogar seine Flugangst vergaß.

Dann war es soweit. Der Flug nach Kos wurde aufgerufen und sie nahmen ihre Plätze ein. Natürlich saßen sie nebeneinander, dafür hatte Ursula gesorgt. Sie rollten zur Startbahn und Leo wurde immer ruhiger und auch blasser. Sein Puls stieg.

„Was ist mit dir? Sag mir nicht, dass ein so großer Kerl Schiss vorm Fliegen hat?“

Leo nickte nur. Er hatte sich bei den wenigen Flügen, die er bislang in seinem Leben überstehen musste, angewöhnt, immer den Blick starr gerade aus zu halten und sich möglichst nicht zu bewegen. Getränke und Essen lehnte er grundsätzlich ab und würde auch nie im Leben in einem Flugzeug zur Toilette gehen. Er saß einfach nur angeschnallt in seinem Sitz, starrte geradeaus und ergab sich seinem Schicksal.

Ursula konnte ihn nicht verstehen, sie flog für ihr Leben gerne. Das war für sie eine sehr angenehme Art, schnell und bequem um die ganze Welt zu reisen. Sie kramte in ihrer quietschgelben, sehr großen Handtasche, die sie verbotenerweise neben sich am Boden platziert hatte, und gab Leo einen Kaugummi. Er winkte dankend ab.

„Nimm schon! Der ist gegen den Druck in den Ohren beim Start, das ist für mich am Unangenehmsten. Und natürlich das schlechte Essen.“ Dass es sich bei ihrem Kaugummi um einen besonderen handelte, der mit beruhigenden, rein pflanzlichen Stoffen versehen wurde, verschwieg sie ihm lieber. Sie war sicher, dass er zum ersten Mal einen Flug genießen würde. Ihr half der Kaugummi immer, wenn sie sich aufregte - was ab und zu vorkam - und sie keine Lust auf Medikamente hatte. Wenn sie einige Minuten kaute, entfaltete sich die gewünschte Wirkung und sie konnte wunderbar schlafen. Sie bezog diese Kaugummis schon seit einigen Jahren aus Holland, da sie in Deutschland nicht erhältlich waren. Es kümmerte sie nicht, welche Stoffe diese Kaugummis genau beinhalteten und dass sie offenbar hier illegal waren. Ihr Arzt wusste Bescheid, hatte ihr sogar dazu geraten. Außerdem halfen sie ihr und das war alles, was sie interessierte. Trotzdem hatte sie vorsorglich die Banderole entfernt und in handelsübliche geschoben, man konnte ja nie wissen.

Ursula hatte Leo von ihrer damaligen Griechenland-Zeit erzählt. Leo interessierte sich nicht dafür, war aber so höflich, ab und zu einen Kommentar abzugeben. Dann blätterte sie in ihren Klatschzeitschriften, die sie aus ihrer großen Handtasche zog. Sie konnte beobachten, wie sich Leo langsam entspannte und dann sogar fast eine halbe Stunde schlief. Das Frühstück, das von der netten Flugbegleiterin angeboten wurde, lehnte sie dankend ab, schließlich hatte sie ausgiebig gefrühstückt. Sie nahm nur einen Orangensaft, der fürchterlich schmeckte. Leo verschlief diese Zeit und Ursula bat darum, ihn nicht zu wecken.

Das Wetter wurde immer besser. Ursula machte jede Menge Fotos. Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto aufgeregter wurde sie. Was hatte sie für eine unbeschwerte Zeit auf der griechischen Insel verbracht! Damals war sie nach der überstandenen Krebserkrankung vor den mitleidigen Blicken ihrer Familie und Freunde geflohen. Sie war mit dem Rucksack zwei Wochen durch Griechenland getrampt, wobei sie ihren damaligen Freund kennenlernte. Sie beide reisten gemeinsam und landeten auf Kos, wo sie eine wunderschöne Zeit verbrachten. Die Menschen waren freundlich und offen, keiner sah sie mitleidig an. Es wurden Fragen über ihre Narben gestellt, die sie bereitwillig beantwortete. Wenn die Neugier befriedigt war, wurde nie mehr darüber gesprochen. Hier lernte sie, das Leben zu genießen. Heute wusste sie, dass ihr die Zeit in Griechenland durch sehr schwere Stunden geholfen hatte, von denen sie in den Jahren danach sehr viele durchleiden musste. Aber das war Schnee von gestern. Sie wischte die schlechten Gedanken mit einer Handbewegung einfach weg. Auch eine Geste, die sie auf Kos gelernt hatte.

Die Landung auf dem kleinen Flughafen Kos war perfekt. Leo war aufgewacht und hielt sich am Vordersitz fest. Er war kreidebleich.

„Entspann dich, du hast es gleich geschafft.“

Leo konnte sich nicht entspannen und sehnte den Moment herbei, in dem das Flugzeug endlich gelandet war. Er stand als einer der Ersten auf und konnte es nicht erwarten, das Flugzeug endlich verlassen zu können. Draußen sah er sich erstaunt um. Noch niemals zuvor hatte er so einen kleinen Flughafen gesehen. Der Bus stand parat, um die Passagiere zum Flughafengebäude zu holen. Leo musste lachen, als der Bus anhielt. Diese kurze Strecke hätten sie auch leicht zu Fuß laufen können.

Sie mussten sehr lange auf das Gepäck warten, die Flughafenhalle leerte sich. Leo wurde unruhig.

„Bleib locker, Leo. Unser Gepäck kommt schon noch.“

„Die Busse fahren alle weg. Sieh doch, nur noch einer steht draußen.“

„Wir brauchen keinen Bus, wir nehmen ein Taxi.“

Leo schüttelte den Kopf über diese Verschwendung, sagte aber nichts darauf. Ursula würde sich nicht davon abbringen lassen.

Endlich bekamen sie ihre umfangreichen Gepäckstücke, die sie die wenigen Meter bis zum Ausgang schleppten. Vor dem Flughafengebäude standen einige Taxen und nahmen das, das ihnen wegen ihres Gepäckvolumens am geeignetsten erschien. Ursula gab das Hotel in der Landessprache an, Leo war beeindruckt. Er saß hinten und betrachtete die Landschaft, die immer schöner wurde, je weiter sie sich von dem kleinen Flughafen entfernten. Hatte die Kuh eine Kette am Horn? Erst jetzt bemerkte er, dass um Vieh keine Zäune angebracht waren, sondern die Rinder an den Hörnern angebunden waren. Er musste schmunzeln, das hatte er noch nie zuvor gesehen. Dann wurde er wieder ernst. Hier irgendwo war sein Sohn. Würden sie ihn finden? Wann konnte er ihn in seine Arme nehmen? War er überhaupt noch am Leben? Er musste schwer schlucken, denn bisher ließ er diese Möglichkeit nicht zu.

Nach zwanzig Minuten hatten sie das Hotel erreicht. Ursula hatte sich blendend mit dem Taxifahrer unterhalten. Leo war froh, dass er die lebenslustige Frau an seiner Seite hatte.

Ursula pfiff anerkennend, als sie ausstieg und das Hotel betrachtete. Sofort stürmte ein Page auf sie zu und nahm ihnen das Gepäck ab.

„Nobel, nobel“, rief Ursula erfreut.

Leo ging durch die beeindruckende Hotelhalle und bekam ein mulmiges Gefühl. Das Ganze hier würde ihn ein Vermögen kosten, denn er musste anstandshalber auch die Kosten seiner Kollegin übernehmen. Das riss ein großes Loch in seine Ersparnisse, was jetzt aber nicht wichtig war.

„Du hättest mir sagen können, was das für ein Luxusschuppen ist, dann hätte ich das eine oder andere Kleidungsstück zusätzlich eingepackt“, sagte Ursula lachend.

Sie gingen an die Rezeption, nahmen die Zimmerkarten entgegen und verabredeten sich in einer halben Stunde am Ausgang. Leo wäre zwar lieber sofort aufgebrochen, aber Ursula bestand darauf, sich umzuziehen. In ihrem Jogginganzug, der nur für Reisen benutzt wurde, wollte sie auf keinen Fall losziehen.

Ungeduldig wartete Leo vor dem Ausgang und er war sehr nervös. In wenigen Minuten würde er vor seiner Exfrau stehen, die er einmal sehr geliebt hatte. Vor allem brannte er darauf, Antworten auf seine vielen Fragen zu bekommen.

Hilferuf aus Griechenland

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