Читать книгу Der Tote im Wald - Irene Dorfner - Страница 6
1.
ОглавлениеLeo Schwartz hatte sehr schlecht geschlafen, was aber nicht an dem fremden, bequemen Bett der netten Pension im Zentrum von Mühldorf am Inn lag, die er heute Nacht angesteuert hatte. Zu viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Die Fahrt nach Mühldorf war trotz des schlechten Wetters reibungslos und rasch verlaufen. Als er das Ortsschild überquerte, konnte er von seiner neuen Heimat nur wenig erkennen; es war stockdunkel. Er fuhr kreuz und quer durch Mühldorf, bis er schließlich diese Pension entdeckte, für die er sich spontan entschied. Er stieg aus und bemerkte die Stille um ihn herum. Wo war er hier gelandet? Er klingelte an der Nachtglocke und musste nicht lange warten, bis ihm ein freundlicher, älterer Mann wortkarg die Tür öffnete. Leo fragte nach einem freien Zimmer und wurde ohne weitere Formalitäten in den ersten Stock geführt. Er hätte an den Wirt sehr viele Fragen gehabt, die sich während der letzten hundert Kilometer angesammelt hatten, aber die verschob er auf den nächsten Tag. Der Mann schien müde zu sein, denn er gähnte mehrmals.
Leo schloss die Tür. Er war allein in dem fremden Zimmer an einem fremden Ort. Was würde die Zukunft bringen? Würde er sich hier irgendwann ebenso wohlfühlen wie in Ulm? Er glaubte nicht daran, denn Ulm war zu seiner Heimat geworden und die war ganz sicher durch nichts zu ersetzen. Das Zimmer war spärlich, sauber und übersichtlich. Außer einem kleinen Schrank, einem Bett und einem winzigen Bad gab es hier nichts, nicht einmal ein Fernsehgerät. Sollte das nicht eigentlich schon überall Standard sein? Das war ihm jetzt gleichgültig, er war vollkommen fertig. Er verzichtete darauf, seine Sachen auszupacken, zog sich aus und legte sich aufs Bett. Plötzlich war er hellwach. Der gestrige Abend mit seinen Ulmer Freunden und Kollegen ging ihm durch den Kopf. War es richtig gewesen, sich einfach davonzustehlen? War das feige von ihm? Jetzt hatte er ein schlechtes Gewissen und nahm sein Handy. Am liebsten hätte er sich sofort entschuldigt und die Sache richtiggestellt, aber dazu war er zu feige. Vielleicht später.
Mühldorf! Wie würde es hier werden? Wie waren die neuen Kollegen? Er war sehr nervös vor seinem ersten Arbeitstag hier in dem kleinen Ort in Oberbayern, das ihm von einem seiner letzten Fälle nur ansatzweise bekannt war.
Nachdem er zum einen vom schlechten Gewissen geplagt und zum anderen nervös von der neuen Aufgabe sich hin und her wälzte, fiel er endlich in einen unruhigen Schlaf. Mehrmals schreckte er auf und brauchte lange, um zu begreifen, wo er sich befand.
Um 5.15 Uhr entschied er, aufzustehen, trottete ins Bad und stand vor dem Spiegel, vor dem er sich, wie so oft, mit seinen 1,90 m bücken musste. Er erschrak! Er sah um Jahre älter aus. Unrasiert, die kurzen, ergrauten Haare in alle Himmelsrichtung stehend, wirkte er ungepflegt. Dazu hatte er die letzten Tage wenig gegessen und war noch magerer geworden. Nachdem er ausgiebig geduscht und sich angezogen hatte, besah er sich abermals im Spiegel. Geht doch! Sieht doch gar nicht so schlecht aus. Wie immer trug er Jeans, Hemd oder T-Shirt mit dem Aufdruck einer Rockband, seine alte Lederjacke und dazu seine geliebten Cowboystiefel. Er trug dieses Outfit schon seit über dreißig Jahren und war sich sicher, dass er trotz seiner 49 Jahre immer noch viel besser aussah, als viele seiner Altersgenossen.
Auf dem Weg in den Frühstücksraum dachte er darüber nach, dass es nicht üblich war, in seinem Alter nochmals von vorn anzufangen. Hatte er eine andere Wahl? Nein, schließlich hatte er Mist gebaut und musste jetzt die Konsequenzen tragen.
Die freundliche Angestellte im Frühstücksraum riss ihn aus seinen Gedanken. Zum Glück, denn sonst wäre er doch noch in ein tiefes Loch gefallen. So weit kommt es noch! Er bekam hier in Mühldorf eine neue Chance und darüber sollte er sich vielleicht endlich auch mal freuen. Trotz des reichhaltigen Frühstücksangebotes wählte er nur einen starken Kaffee und machte sich dann auf den Weg.
Trotz der gegensätzlichen Ansage seines Navi-Gerätes, das ihn immer mehr nervte, entschied er, wahllos durch Mühldorf zu fahren und sich den Ort etwas genauer anzusehen, schließlich war er viel zu früh dran. Wie würde es aussehen, wenn er an seinem ersten Arbeitstag zwei Stunden zu früh zur Arbeit erschien?
Leo fuhr durch das verschlafene Städtchen, das mehr und mehr zum Leben erwachte. Eigentlich gar nicht mal so schlecht, was er da sah. Trotzdem war er der neuen Heimat gegenüber noch sehr negativ eingestellt. Er beschloss, Mühldorf wenigstens eine Chance zu geben.
Ihm war mulmig zumute, als er schließlich dem Drängen des Navi-Gerätes nachgab und die Polizeiinspektion Mühldorf nun ohne weitere Umwege ansteuerte. Er parkte seinen Wagen vor dem beeindruckenden Gebäude, stieg aus und zögerte einen Moment. Er atmete mehrmals tief durch, bevor er entschlossen auf den Eingang zuging und sich dabei immer wieder gut zuredete. Wie würden ihn die Kollegen und vor allem der neue Vorgesetzte aufnehmen? Schließlich brachte er durch den letzten Vorfall in Ulm, durch den er strafversetzt und rangmäßig zurückgestuft wurde, nicht gerade die besten Referenzen mit. Zudem war er nicht von hier aus der Gegend, noch nicht einmal aus Bayern. Kam er mit dem hiesigen Dialekt zurecht? Und wie würden die Menschen mit ihm umgehen, denn sein schwäbischer Dialekt war nicht zu verbergen? Er wischte die Bedenken beiseite und wies sich dem Mann am Empfang aus. Der begrüßte ihn monoton und beschrieb ihm den Weg in bayrischem Dialekt. Leo hatte kein Wort verstanden. Das ging ja schon gut los! Er nickte trotzdem und fragte sich durch, bis er schließlich an der Tür des Polizeichefs stand, auf dem der Name KROHMER stand. Noch einmal atmete er tief durch und klopfte. Statt einer Aufforderung, einzutreten, wurde ihm persönlich geöffnet.
„Sie wünschen?“, fragte der Mann freundlich, was Leo nun sehr überraschte, denn die Personen, denen er bisher begegnete, waren ihm gegenüber sehr knapp angebunden, um nicht zu sagen ruppig.
„Leo Schwartz. Ich suche einen Herrn Krohmer.“
„Rudolf Krohmer persönlich und in voller Pracht. Treten Sie ein Herr Schwartz, ich habe Sie noch nicht so früh erwartet. Arbeitsbeginn bei der Kripo ist um 8.00 Uhr, Sie sind eine halbe Stunde zu früh.“
Rudolf Krohmer war 58 Jahre alt, schlank, und auf den ersten Blick schien er sehr freundlich zu sein. Ganz im Gegensatz zu Leos Vorgesetzten in Ulm, der meist mürrisch und sehr kurz angebunden war; trotzdem vermisste er ihn.
„Ich wollte mich vor Arbeitsantritt in Mühldorf noch etwas umsehen und bin herumgefahren.“
„Ja, warum auch nicht. Kommen Sie bitte in mein Büro,“ sagte Krohmer und sah dabei auf die Uhr. „Wie war die Fahrt?“
„Einigermaßen.“
„Sie haben vorerst eine Unterkunft gefunden? Wir können Ihnen gerne dabei behilflich sein.“
„Ich bin versorgt, machen Sie sich um mich keine Sorgen.“
„Wollen wir offen sprechen, Herr Schwartz. Wie Sie sich vorstellen können, hat mich Ihre Geschichte überrascht. Normalerweise finden Sie damit keinen vernünftigen Job mehr, vor allem nicht bei einer Mordkommission. Ihr vorheriger Chef Herr Zeitler hat mich bekniet, Ihnen eine Chance zu geben. Ich halte sehr viel von Zeitler. Wenn er Sie empfiehlt und sich für Sie einsetzt, müssen Sie etwas auf dem Kasten haben. Trotzdem möchte ich einiges klarstellen: Bei uns wird sauber gearbeitet. Ich dulde keine Spielchen und keine Alleingänge. Haben wir uns verstanden?“
„Ja.“ Leo war erschrocken. Zum einen von Krohmers direkten Art und zum anderen von der Tatsache, dass sich Zeitler so stark für ihn eingesetzt hatte.
„Und jetzt: Schwamm drüber! Ihre Vorgeschichte ist für mich geklärt und ab jetzt schauen Sie bitte nur noch nach vorn. Gibt es noch Fragen?“
„Vorerst nicht.“
„Ich hätte ihnen gerne persönlich alles gezeigt und Sie den Kollegen vorgestellt, aber leider habe ich wegen eines auswärtigen Termins keine Zeit mehr für Sie. Meine Sekretärin wird sich um Sie kümmern. Frau Gutbrod?“, rief er in das Nebenzimmer, worauf umgehend eine 60-Jährige, sehr schlanke und für Leos Begriffe für ihr Alter zu modisch gekleidete Frau mit üppigem Schmuck und einem Ungetüm an Frisur ins Zimmer trat.
„Sie wünschen, Chef?“
„Das hier ist Herr Schwartz, unser neuer Mitarbeiter bei der Mordkommission. Zeigen Sie ihm bitte alles. Vor allem braucht er seinen Dienstausweis, das Dienst-Handy und natürlich seine Dienstwaffe.“
„Natürlich, es ist mir ein Vergnügen,“ rief Frau Gutbrod viel zu laut und zu schrill. Sie hatte die Akte des neuen Mitarbeiters bereits eingehend studiert und wusste Bescheid. „Ich bin Hilde Gutbrod, die Sekretärin und gute Seele des Präsidiums. Ich habe Sie bereits schon auf dem Parkplatz gesehen, als ich zufällig aus dem Fenster gesehen habe. Wie ich an Ihrem Nummernschild ersehen konnte, kommen Sie aus Ulm? Eine herrliche Stadt, da war ich auch schon, das ist aber Jahre her. Herzlich willkommen bei uns! Was wollen Sie zuerst sehen, Herr Schwartz? Ach wissen Sie was, kommen Sie doch einfach mit. Wenn Sie Fragen haben, dann keine Hemmungen.“
Leo war sofort klar, mit wem er es zu tun hatte: Frau Gutbrod wusste alles, kannte jeden, war sehr geschwätzig, tratschte gerne, und war mit Sicherheit überaus neugierig. Eine Person, mit der er sich gutstellen musste. Er hatte bereits die Erfahrung gemacht, dass diese Menschen auch unangenehm werden können, vor allem, wenn man sie als Gegner hatte. Aber sie war freundlich und er verstand sie trotz ihres bayrischen Dialektes sehr gut. Frau Gutbrod zeigte ihm das ganze Gebäude und sämtliche Abteilungen, und er wurde jedem einzelnen Kollegen und jeder einzelnen Kollegin vorgestellt. Leo bemühte sich, sich die Namen zu merken, gab aber irgendwann auf, denn das war nicht möglich. Der Polizeiapparat entpuppte sich als sehr umfangreich. Leider dachte er erst jetzt darüber nach, dass es vielleicht intelligent gewesen wäre, sich vorab über die hiesige Polizei zu informieren. Das hatte er leider versäumt, da die Versetzung hierher sehr kurzfristig kam und er in Ulm die letzten Tage noch sehr viel zu tun hatte. Aber das waren nur Ausflüchte und Entschuldigungen, die eigentlich nicht galten, denn die Informationen über die hiesige Polizei, sprich seinen neuen Arbeitgeber, hätten keine Stunde gedauert und diese Zeit hätte er investieren müssen. Jetzt schämte er sich dafür und während Frau Gutbrod weiter auf ihn einplapperte, entschied er, ihr nicht mehr zuzuhören. Er sagte nichts mehr und sie schien mit einem gelegentlichen Nicken oder Lächeln durchaus zufrieden. Stattdessen dachte er mit Wehmut an seine Arbeitsstelle in Ulm und an die Freunde und Kollegen, die er schmerzlich vermisste. Wie sie über ihn dachten, wie er gestern von der Abschiedsfeier einfach abgehauen war? Er hoffte, dass sie ihn irgendwie verstehen und vergeben konnten. Er wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, denn nun bekam er seine Dienstwaffe, sein Handy und auch seinen Ausweis ausgehändigt, was alles bereits für ihn hinterlegt wurde und er nur noch quittieren musste.
„Und hier sind wir schlussendlich in Ihrer neuen Wirkungsstätte angekommen. Das sind Ihre neuen Kollegen der Kripo: Leute, bitte alle herhören!“, rief sie in das nun letzte Büro, in das er von Hilde Gutbrod geführt wurde und in dem drei Personen anwesend waren. „Das hier ist der Neue aus Ulm, sein Name ist Leo Schwartz und ich habe ihm bereits alles gezeigt. Sein Handwerkszeug hat er auch schon bekommen.“
Leo begrüßte die Kollegen per Handschlag, während Hilde Gutbrod das Büro mit einem lauten Gruß verließ. Sie musste schnellstmöglich mehr Informationen über den neuen Kollegen rauskriegen. Dieser Mann war ganz bestimmt nicht liiert und überaus interessant für ihre Nichte Karin, die 42 Jahre alt war und bis jetzt noch keinen passenden Mann gefunden hatte. Leo Schwartz wäre für Karin geradezu genial! Sie müsste ihm allerdings diesen schrecklichen Kleidungsstil abgewöhnen, aber das würde das kleinste Problem werden.
„Guten Morgen Herr Schwartz. Mein Name ist Hans Hiebler, willkommen in Mühldorf.“ Der 52-jährige, 1,80 Meter große, sportliche, überaus attraktive und gepflegte Mann lächelte ihn freundlich an. Dieser Mann war ihm sofort sympathisch.
„Vielen Dank, sehr freundlich.“
„Werner Grössert,“ stellte sich der nächste Kollege knapp vor. Grössert war 38 Jahre alt, 1,75 m groß, hatte kurze, braune Haare und war sehr gut gekleidet: dunkler Anzug, weißes Hemd, dezente Krawatte und saubere, glänzende Schuhe; alles sicher sehr teuer.
„Dann sind Sie der Leiter des Teams?“
„Nein, das bin ich, Viktoria Untermaier mein Name. Ich hoffe, Sie haben keine Probleme mit einer Frau als Chefin.“
Die 47-jährige, 1,65 m große, mollige, hübsche Frau drückte ihm fest die Hand.
„Entschuldigen Sie, ich dachte…“
„Ja, das denken viele. Der Kollege Grössert sieht überaus seriös aus, aber die Optik kann auch täuschen. Auch ich heiße Sie natürlich herzlich willkommen in unserem Team und hoffe, dass wir alle gut zurechtkommen. Das dort ist Ihr Schreibtisch.“
„Vielen Dank.“
Leo hätte im Erdboden versinken können. Er hatte sich tatsächlich wieder einmal vom Äußeren blenden lassen und sah dabei ziemlich blöd aus. Seine Vorgesetzte Viktoria Untermaier ging aber nicht weiter darauf ein und Leo betete, dass sie das nicht zu ernst nahm und er nicht gleich mit seiner ersten Bemerkung bei ihr verspielt hatte. Oder schlimmer noch, dass sie ihn für dumm und oberflächlich hielt. Egal, bei passender Gelegenheit würde er nochmal mit ihr reden oder sonst irgendwie die Sache wieder hinbiegen.
Leo setzte sich an seinen neuen Arbeitsplatz und sah sich den großen, modernen Schreibtisch genauer, der nicht nur mit einem modernen PC mit einem für seine Begriffe riesigen Bildschirm ausgestattet war, sondern auch die Schubladen waren ordentlich und sauber mit allem gefüllt, was man brauchte. Ganz im Gegensatz zu seinem alten Schreibtisch in Ulm, auf und in dem stets Chaos herrschte.
Er fand eine Akte in einem der drei Ablagefächer auf seinem Schreibtisch vor und nahm sie zur Hand, was Frau Untermaier wohlwollend registrierte.
„Ich möchte hier gleich etwas klarstellen, damit kein Getratsche aufkommt,“ sagte Frau Untermaier laut. „Uns ist bekannt, dass Sie hierher strafversetzt wurden Herr Schwartz, obwohl das im Amtsdeutsch natürlich anders formuliert wird. Ich möchte nicht wissen, was der Grund dafür war und auch die Kollegen hier hat das nicht zu interessieren. Hier spielt Ihr Vorleben und Ihre vorherige Karriere überhaupt keine Rolle. Ich erwarte von Ihnen hier bei uns absolut professionelle und saubere Team-Arbeit, was bedeutet, dass wir alles miteinander absprechen und abstimmen. Keine Alleingänge und keine illegalen Geschichten. Haben wir uns verstanden?“
Leo nickte. Natürlich war er einverstanden. Frau Untermaier war also ebenfalls informiert und hielt ihm dieselbe Standpauke wie Krohmer. Absolut verständlich bei seiner Vorgeschichte. Er musste zugeben, dass sich die kleine Frau Untermaier durchaus behaupten konnte. Die Herren Hiebler und Grössert nickten nur. Wussten auch sie davon? Aber wie kämen sie an die Informationen aus seiner Personalakte?
„Gut, dann wäre das geklärt. Ich möchte Sie bitten, die Akte, die Sie in Händen halten, genau zu studieren. Wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich bitte an die Kollegen oder an mich. Kurz noch zum organisatorischen Ablauf: Die Kaffeemaschine steht hier hinten im Eck. Derjenige, der die letzte Tasse nimmt, setzt umgehend neuen auf, was meine Person selbstverständlich einschließt. Ich werde ungemütlich, wenn ich keinen Kaffee habe. In der Kantine finden Sie rund um die Uhr etwas zu essen und Getränke, aber das hat Ihnen Frau Gutbrod bestimmt alles gezeigt und mitgeteilt.“
„Ja, das hat sie.“
„Na dann hätten wir alles soweit geklärt!“
Leo entschied, sich einen Kaffee zu holen und sich an die Arbeit zu machen. Ganz so schlimm wie befürchtet war das doch bisher nicht gelaufen. Er spürte, dass die Kollegen ihm gegenüber etwas verschlossen und einsilbig waren. Aber er war zuversichtlich, dass sich das Klima hier in den nächsten Tagen deutlich verbessern würde. Er setzte sich wieder an den Schreibtisch, trank einen Schluck Kaffee und sah sich seine Kollegen verstohlen genauer an. Hiebler war ganz bestimmt ein lockerer Typ, der würde kein Problem werden. Aber diese Untermaier und vor allem Grössert waren schwierigere Typen. Das wird schon werden!
Leo schlug die Akte auf, las sie ausführlich und verschluckte sich beinahe an seinem Kaffee, denn der Inhalt schockierte ihn. Es ging um den verschwunden 30-jährigen Alexander Binder, sein Vorgänger hier bei der Kripo.
„Soll das heißen, dass mein Vorgänger verschwunden ist?“
Leo stellte die Frage einfach in den Raum. Bisher war es absolut still, beinahe unheimlich gewesen, wobei Leo sich sehr unwohl gefühlt hatte. Und nun starrten ihn alle an.
„Richtig, es geht um Ihren Vorgänger Binder. Wir dachten, wir lassen Sie mal drüber schauen, vielleicht finden Sie etwas, was wir übersehen haben. Ihnen eilt ein gewisser Ruf voraus, den wir gerne für unseren verschwundenen Kollegen nutzen würden.“
Also hatten sich die Kollegen doch über ihn informiert und wussten Bescheid! Leo war nicht sauer, er hätte das genauso gehandhabt. Hans Hiebler hatte Leos Überraschung bezüglich des verschwundenen Kollegen sofort bemerkt, holte sich einen Stuhl und setzte sich zu ihm, was Leo sehr angenehm war.
„Genau vor 12 Wochen verschwand Alex, einfach so. Natürlich haben wir alle Hebel in Bewegung gesetzt und haben ihn gesucht, fanden aber nicht die kleinste Spur. Er war begeisterter Radfahrer und war an dem Tag seines Verschwindens nach Aussagen seiner Verlobten auf eine Radtour Richtung Burghausen aufgebrochen. Mehrere Passanten haben ihn unterwegs gesehen, aber auf Höhe Kastl verliert sich seine Spur. Wir sind alle Wege mehrmals abgefahren, haben Spürhunde eingesetzt. Nichts, nicht der kleinste Hinweis. Auch nicht von dem Rad, das mehrere Tausend Euro wert ist. Auch aus dem privaten Umfeld des Kollegen gibt es nicht den kleinsten Hinweis darauf, dass er die Schnauze voll gehabt hatte und aussteigen wollte. Im Gegenteil, er stand kurz vor der Hochzeit mit einer reizenden, vermögenden Frau. Aber sehen Sie sich die Unterlagen unvoreingenommen in aller Ruhe nochmals durch, vielleicht finden Sie ja etwas.“
Hiebler lächelte ihn aufmunternd an und ging wieder an seinen Schreibtisch. Leo suchte sich aus dem Internet die Karte des Kastler Forstes und verglich sie mit dem Gebiet, das von der Polizei durchsucht wurde. Nur in diesem Teil wurde nach Binder gesucht. Warum? Er verglich den Wald mehrmals und musste feststellen, dass der Kastler Forst riesig war. Es wäre unmöglich gewesen, den ganzen Wald zu durchsuchen. Leo kopierte einige Waldstücke aus der Karte und zeichnete die Radwege ein. Binder könnte auf mehreren Strecken nach Burghausen gefahren sein. Er rief den Förster des Kastler Forstes an und erkundigte sich, ob in dem fraglichen Zeitraum irgendwelche Abschnitte gesperrt waren.
„Wegen Forstarbeiten waren zwei Abschnitte gesperrt,“ sagte der Förster und gab ihm die Koordinaten durch, die Leo sofort in seine selbstgebastelte Karte einzeichnete.
„Wäre es möglich gewesen, diese Abschnitte trotzdem mit einem Fahrrad zu befahren?“
„Erlaubt ist das nicht, aber daran hält sich keiner. Wenn man die Wege nicht befahren kann, dann gehen Passanten eben durch den Wald, Verbote interessieren da nicht. Auch über die Gefahren macht sich kaum jemand Gedanken. Ich habe längst aufgehört, mich darüber aufzuregen. Die Wege werden jeweils ordentlich abgesperrt. Falls doch etwas passiert, stehen wir nicht in der Haftung.“
„Wurde im Wald ein Fahrrad gefunden?“
„Geht es immer noch um den verschwundenen Polizisten?“
„Genau.“
„Es wurden drei Fahrräder gefunden, das Ihres Kollegen war nicht dabei. Die, die wir fanden, sind mindestens dreißig Jahre alt.“
Leo rief nun alle Zeugen an, die sich im Zusammenhang mit dem Verschwinden Binders gemeldet hatten. Er zeichnete die Angaben in seine Karte. Nun gab es nur noch die Eltern und die Verlobte. Er zögerte. Sollte er auch sie anrufen? Bislang hatten ihn die Kollegen nicht zurückgehalten; er wählte die erste Nummer. Die Eltern hatten keine neuen Informationen, trotzdem stellte Leo seine Fragen wieder und wieder. Das Gespräch mit der Verlobten war sehr schwierig. Sie weinte sofort, als sie begriff, dass er sich für das Verschwinden ihres Verlobten interessierte. Freimütig gab sie Auskunft. Und auch ihre Angaben übertrug er in seinen Plan.
Leo sah sich lange seinen Plan an, der über und über markiert und vollgekritzelt war. Scheinbar wahllos waren Strecken, Kreuze und verschiedene Uhrzeiten vermerkt. Die anderen hatten ihn beobachtet und dabei zugesehen, wie sich der ordentliche, saubere Schreibtisch innerhalb kürzester Zeit in ein Chaos verwandelte. Was machte der Neue?
„Kommen Sie bitte,“ sagte Leo schließlich, nachdem er für sich ein Resümee gezogen hatte. Die Kollegen blickten auf die stümperhaft gestückelte Karte, auf der der Kastler Forst kaum mehr zu erkennen war. Was sollte das? „Das ist eine Karte des Kastler Forsts. In diese Karte habe ich die teilweise widersprüchlichen Aussagen der Zeugen, der Familie und der Verlobten eingetragen. Ich für meinen Teil gehe davon aus, dass Binder hier,“ und dabei zog er mit Leuchtstift einen Kreis, „verschwunden sein muss. Das Gebiet, das durchsucht wurde, überschneidet sich nur in diesem kleinen Bereich. Offensichtlich hat man sich zu sehr auf die Aussage eines Zeugen verlassen und hat sich auf dieses Gebiet konzentriert. Nimmt man aber die anderen Aussagen, auch die des Försters und der Familie, wozu ich auch die Verlobte zähle, muss Binder hier verschwunden sein.“
Viktoria war sauer. Sie hatte die Durchsuchung des Waldgebietes angeordnet. Lag sie damit falsch?
„Der Zeuge Eberling war sich sicher, dass er Binder dort gesehen hat. Dagegen schienen sich die anderen nicht so sicher,“ versuchte sie sich zu verteidigen.
„Das soll kein Vorwurf sein Frau Untermaier,“ sagte Leo. „Ich nehme an, ich sollte mir die Akte unvoreingenommen vornehmen, sozusagen als Außenstehender, das habe ich getan. Ich habe mit allen Zeugen gesprochen und mir Gedanken gemacht. Und das ist mein Ergebnis, das nicht unbedingt richtig sein muss.“
Werner und Hans waren skeptisch. Auch sie hatten mit allen Zeugen gesprochen und hatten sich wieder und wieder mit dem Verschwinden Binders beschäftigt. Konnte es sein, dass sie im falschen Gebiet gesucht hatten?