Читать книгу Der Tote im Wald - Irene Dorfner - Страница 7

2.

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Es klopfte und Hilde Gutbrod trat mit einem Mann ins Büro.

„Leute, hier ist ein Herr Schuster aus Kastl. Herr Schuster, die Kollegen hier werden sich um Sie kümmern.“

„Bitte treten Sie ein und setzen Sie sich. Was können wir für Sie tun?“ Viktoria Untermaier war sofort aufgesprungen, denn wenn eine Person zu ihnen gebracht wurde, war es sehr ernst. Der 58-jährige Horst Schuster trug Arbeitskleidung und hielt seinen Hut in der Hand. Er war schüchtern und augenscheinlich sehr nervös.

„Bei Waldarbeiten im Kastler Forst haben wir in einer Höhle einen Sarg gefunden. Ich war schon bei der Polizei in Altötting, aber die haben gesagt, dass sie nicht zuständig sind und haben mich hier hergeschickt. Bitte kommen Sie mit und sehen Sie sich das an. Wir haben nicht in den Sarg reingeguckt. Aber wir sind sicher, dass da einer drin liegt.“ Er sprach sehr leise, bemühte sich, hochdeutsch zu sprechen, was aber gründlich in die Hosen ging. Leo als Schwabe hatte trotzdem alles verstanden. Er stand neben Horst Schuster, ebenso wie die anderen beiden Kollegen und alle hörten fassungslos zu.

„Sie haben also einen Sarg mitten im Wald gefunden. Soweit habe ich Sie richtig verstanden?“ Leo hakte nach. Hatte er sich nicht erst in den letzten Stunden mit diesem Kastler Forst beschäftigt? Und jetzt das!

Der Mann nickte.

„Wie kommen Sie darauf, dass in dem Sarg einer drin liegt?“

„Die Kerzen und die Blumen drum herum. Da liegt bestimmt einer drin. Wer macht sich sonst solche Mühe. Sie müssen sich das ansehen.“

„Natürlich sehen wir uns das an. Wo ist der Fundort?“

„Deshalb habe ich nicht angerufen und bin persönlich hier, um Sie hinzuführen. Von alleine finden Sie dort niemals hin. Das ist mitten im Wald, wenn man sich dort nicht auskennt, kann das in die Hosen gehen.“

„Das kann ich mir denken. Im Kastler Forst kann man sich weiß Gott verlaufen. Gut. Herr Schwartz, Sie fahren mit Hiebler. Herr Schuster, Sie fahren mit mir – Grössert, Sie bleiben hier. Informieren Sie die Spurensicherung, die sollen sich uns unverzüglich anschließen.“

Nach zehn Minuten ging es los, sie fuhren im Konvoi. Leo sah seinen neuen Wirkungskreis bei Tageslicht. Sie fuhren durch Weiding und die nächste Ortschaft Teising; von beiden hatte er noch nie gehört. Die Wallfahrtsstadt Altötting, die er von einem früheren Fall ziemlich gut kannte, ließen sie nach wenigen Kilometern rechts liegen. Die ländliche Gegend zog sich. Sie bogen von der Bundesstraße Richtung Burghausen/Burgkirchen ab.

„Wie weit ist es denn noch? Wie heißt der Ort noch gleich?“

„Kastl heißt der Ort. Ein kleines 2000 Seelen-Dorf, das in den letzten Jahrzehnten aufgrund der Industriewerke stark gewachsen ist. Keine Sorge, wir haben es gleich geschafft.“ Hans Hiebler musste schmunzeln. Ihm war der Neue sympathisch. Er spürte, dass es mit ihm keine Probleme geben würde, seine Menschenkenntnis hatte ihn noch nie getäuscht. Während der Fahrt hatte der Neue staunend aus dem Fenster gesehen und hatte sich die Umgebung angesehen. Ja, Hans Hiebler war hier geboren und aufgewachsen. Er liebte seine Heimat und würde niemals freiwillig von hier weggehen. Warum auch? Was hatte dieser Schwartz angestellt, dass er nach Mühldorf versetzt wurde? Er würde es herausfinden.

Hans nahm die zweite Abfahrt. Sie fuhren durch den kleinen Ort Kastl Richtung Bahnhof und bogen nach diesem links ab unter einer Bahnbrücke durch und waren nun direkt im Wald. Leo versuchte, sich den Weg zu merken. Er konnte nach dem Bahnhof, vorbei an einem Besucher-Parkplatz zu Beginn des Waldes auch noch prima folgen, denn sein Orientierungssinn war grundsätzlich hervorragend und er hatte auch noch die Karte im Hinterkopf. Aber nach einigen Abzweigungen mitten im Wald sah für ihn alles gleich aus.

Endlich hatten sie die Stelle erreicht, bei der fünf Waldarbeiter warteten. Sie stiegen allesamt aus, begrüßten sich kurz und die Polizisten zogen Gummistiefel an, die im Kofferraum der Fahrzeuge verstaut waren. Natürlich hatte Leo keine dieser Stiefel dabei und sah ziemlich dumm aus der Wäsche.

„Denken Sie sich nichts Herr Schwartz. Ihren alten Stiefeln wird der Dreck nicht schaden, die sind eh schon ziemlich hinüber,“ bemerkte Viktoria Untermaier. Leo besah sich verwundert seine Stiefel. Was soll mit denen sein? Die sind doch noch keine fünf Jahre alt und noch völlig in Ordnung.

Sie folgten Horst Schuster, der ungeduldig gewartet hatte und nun die Polizisten an die betreffende Stelle führte. Sie stiegen über Äste und Büsche immer tiefer in den Wald, bis sie schließlich an eine Stelle kamen, an der Horst Schuster lange Äste und Büsche zur Seite hob und somit den Eingang zu einer Art Höhle freigab.

„Dort drin ist es,“ sagte er knapp, wobei er keine Anstalten machte, mit in die Höhle zu gehen.

„Eine Höhle?“ Leo wunderte sich. „Hab ich da etwas nicht mitbekommen? Ich dachte, der Sarg steht mitten im Wald.“

„Wundert mich auch,“ sagte Hans und ging voran.

Die Polizisten zogen die Köpfe ein, schalteten ihre Taschenlampen ein und gingen vorsichtig hinein, wobei Viktoria Untermaier voranging. Die Frau war wirklich taff. Der Weg war schmal, niedrig, aber einigermaßen sauber. Keine Äste, Wurzeln oder Ähnliches erschwerte ihnen das Gehen. Nach einigen Metern geradeaus ging ein Seitenweg nach rechts weg und dort stand tatsächlich ein Sarg. Der sah wirklich nicht so aus, als würde er da schon lange vergessen stehen, denn der Deckel war absolut sauber und davor stand eine brennende Kerze sowie eine Vase gefüllt mit Wasser und einigen frischen Rosen.

„Das gibt es doch nicht, wer macht denn so was? Raustragen und Aufmachen!“

„Stopp! Lassen Sie sofort den Sarg stehen! Er bleibt hier, bis alle Spuren gesichert sind,“ rief eine Stimme vom Eingang des Tunnels, die dem Leiter der Spurensicherung Mühldorf, Friedrich Fuchs, gehörte. „Und jetzt: Alle raus hier!“

„Der schon wieder,“ stöhnte Viktoria Untermaier. Immer wieder geriet sie mit Fuchs aneinander; die beiden mochten sich nicht. „Gehen wir raus und überlassen Fuchs das Feld, bevor der wieder völlig ausflippt.“

Als sie wieder im Freien waren, stand ein kleinerer, hagerer Mann vor Leo. Der wurde ihm bei dem Rundgang mit Frau Gutbrod ganz sicher nicht vorgestellt, an ihn würde er sich erinnern.

„Leo Schwartz, ich bin der Neue,“ stellte sich Leo vor und reichte ihm die Hand.

„Fuchs,“ sagte er Mann nur und ignorierte die dargereichte Hand. So eine Freundlichkeit war er nicht gewöhnt. Ohne ein weiteres Wort ging er an Leo vorbei. Allen anderen war die Situation sehr peinlich.

„Denken Sie sich nichts dabei,“ sagte Hans schmunzelnd zu Leo. „Fuchs kennt nur seine Arbeit und behandelt jeden so.“

Leo war vor der Unfreundlichkeit des Mannes erschrocken, bisher hatte er mit seinen Kollegen immer ein freundschaftliches Verhältnis gepflegt. Friedrich Fuchs war noch keine 40 Jahre alt, sah aber viel älter aus. Er legte großen Wert darauf, dass er und seine Arbeit sehr ernst genommen wurden, was bei dem Aussehen, der geringen Körpergröße, Mangel an Humor und vor allem dem hektischen Wesen äußerst schwierig war.

Fuchs war mit zwei Kollegen in der Höhle verschwunden, was Hans Hiebler so kommentierte:

„Der Fuchs ist in seinem Bau verschwunden.“ Von allen Umstehenden wurde dieser Kommentar mit brüllendem Gelächter aufgenommen. Auch Viktoria Untermaier musste lachen, drehte sich dabei aber zur Seite, denn es war ihr peinlich, dass sie über einen Kollegen lachen musste. Nach einer Stunde langen Wartens tauchte Fuchs endlich wieder auf, worauf abermals großes Gelächter ausbrach, was von Fuchs mit unverständigem Kopfschütteln zur Kenntnis genommen wurde. Zwei seiner Kollegen brachten den Sarg nach draußen, was schwierig und kräftezehrend war. Hier im Tageslicht betrachtet konnte man sehen, dass dieser Sarg absolut stümperhaft war.

„Um Gottes Willen, wie sieht denn der Sarg aus? Hat den jemand zuhause in Heimarbeit geklöppelt? Das sind ja nur zusammengenagelte Bretter.“ Nicht nur Hans war geschockt, auch die anderen konnten jetzt diesen primitiven Sarg genauer in Augenschein nehmen. In dem dunklen Loch hatte er nicht so schlecht ausgesehen, aber hier bei Tageslicht war er der Hammer.

„Aufmachen.“ Die Anweisung der Kollegin Untermaier war kurz und bündig. Hiebler und Leo machten sich umgehend an die Arbeit, entfernten die Schrauben und schoben den Deckel zur Seite. Dabei wurden sie ununterbrochen von Fuchs aus nächster Nähe beobachtet, der kein Detail übersehen wollte und seinerseits immer wieder Anweisungen gab, was aber niemanden interessierte. Eigentlich wäre das Öffnen seine Arbeit gewesen, darauf machte er Frau Untermaier immer wieder aufmerksam. Aber durch das Warten hier draußen fror sie erbärmlich und dieser Fuchs war ein penibler Mann, das Öffnen hätte wahrscheinlich ewig gedauert. Deshalb hatte sie spontan und der Einfachheit halber entschieden, dass Hiebler und Schwartz diese Aufgabe übernehmen sollten. Was interessierte sie, ob das die Arbeit der Spurensicherung war? Wenn Fuchs sich übergangen fühlte, sollte er sich eben beschweren.

Der Deckel war nun vollständig entfernt worden und gab tatsächlich eine Leiche frei. Es handelte sich um einen ca. 70-jährigen Mann in einem schäbigen, dunklen Anzug, dem ein Rosenkranz in die Hände gelegt wurde. Er lag auf einer hellen Decke, unter dem Kopf war ein Daunenkissen, das schon bessere Tage gesehen hatte, denn es war fleckig und speckig. Allen war sofort klar, dass hier jemand die Beerdigungskosten sparen wollte. Der Mann wurde auf kostengünstigste Weise entsorgt.

„Keiner fasst etwas an,“ rief Friedrich Fuchs und bäumte sich vor Viktoria Untermaier auf. Viktoria wurde stinksauer, sie hatte genug von dem Typen, der sich hier künstlich aufspielte und eine Unruhe reinbrachte, die sie überhaupt nicht leiden konnte.

„Halten Sie die Klappe Fuchs! Ich leite hier die Ermittlungen und mir ist durchaus klar, was ich anfassen darf, und was nicht. Ich sehe mir die Leiche in Ruhe an und wenn Sie mit Ihrer Arbeit dran sind, werde ich Sie rechtzeitig informieren. Haben wir uns verstanden?“

Die Polizisten besahen sich die Leiche und den Sarg, wobei ihnen Fuchs immer über die Schulter sah.

„Der ist noch ziemlich gut erhalten,“ sagte Leo, „man kann das Gesicht gut erkennen. Es dürfte nicht schwer sein, herauszufinden, um wen es sich handelt. Schwer zu sagen, wie lange er schon tot ist. Die Kälte der Höhle dürfte den Verwesungsprozess hinausgezögert haben. Äußerlich kann ich auf den ersten Blick keine Gewalteinwirkung feststellen.“

„Was nichts heißen soll. Fuchs! Die Leiche und der Sarg gehören Ihnen. Vergessen Sie die Taschen des Anzuges nicht. Den Bericht möchte ich natürlich so schnell wie möglich auf meinem Tisch.“

Friedrich Fuchs war hocherfreut, endlich loslegen zu können, er liebte seinen Job über alles. Er gab lautstark und unfreundlich Anweisungen. Mit ihm zu arbeiten war bestimmt kein Vergnügen. Trotzdem riss man sich um einen Platz in seinem Team, denn Fuchs hatte fachlich gesehen einen sehr guten Ruf. Ein Empfehlungsschreiben von Fuchs würde viele Türen öffnen.

Alle hatten einen verstohlenen, faszinierten und neugierigen Blick in den Sarg geworfen.

„Kennt jemand den Toten?“, fragte Viktoria in die Runde und bekam als Antwort nur Kopfschütteln. „Wer hat den Toten gefunden?“

„Das war der Weber Anton,“ antwortete Horst Schuster und zeigte auf einen jungen Mann, der verstört in der Runde stand und die Hand hob, nachdem er seinen Namen hörte.

„Sie haben den Sarg gefunden?“

„Jawohl. Ich musste austreten und bin ein paar Meter in den Wald rein. Hier ist es ziemlich dunkel. Nachdem ich fertig war und die Hose hochzog, habe ich im Augenwinkel ein Flackern gesehen. Natürlich wollte ich wissen, woher das kam. Zuerst dachte ich ja, das sind die Augen eines Tieres, aber das konnte nicht sein. Tiere hauen ab, wenn ihnen Menschen zu nahe kommen. Ich bin vier, vielleicht fünf Meter in die Richtung gegangen und hatte das Flackern nochmals wahrgenommen. Ich hob die Äste auf die Seite und hab die Höhle entdeckt. Der Horst hat mich gerufen, denn wir wollten weitermachen. Ich habe ihn gebeten, zu mir zu kommen, das kam mir sehr merkwürdig vor. Er hat die Äste gehalten und ich bin in die Höhle rein. Dort habe ich den Sarg gefunden. Sie glauben nicht, wie ich mich erschreckt habe.“

Leo konnte den Ausführungen von diesem Weber Anton nicht ganz folgen, von dem er ursprünglich annahm, dass das der komplette Nachname war. Bis er von seinem neuen Kollegen Hiebler dahingehend informiert wurde, dass es hier üblich war, zuerst den Nachnamen und dann den Vornamen zu nennen. Hans Hiebler musste ihm das eine oder andere übersetzen und erklären, denn der Weber Anton sprach einen Dialekt, wie ihn Leo noch nie gehört hatte. Und dabei nuschelte er auch noch und verschluckte einige Silben. Für Leo als Schwabe war er schwer zu verstehen. Mehr hatte der Weber Anton nicht zu sagen und schwieg nun. Die Polizisten unterhielten sich mit den Waldarbeitern. Vor allem Leo bat um Informationen über den Kastler Forst, womit er bei den Waldarbeitern genau an der richtigen Stelle war. Es stellte sich heraus, dass solche Höhlen für den Kastler Forst und für die direkte Umgebung nicht ungewöhnlich waren. Dieses Gebiet war durchlöchert wie ein Schweizer Käse.

„Und keiner von Ihnen kennt den Toten?“, stellte Leo nochmals seine Frage. Er konnte sich nicht vorstellen, dass man sich in ländlicher Umgebung nicht kannte.

„Das ist keiner aus Kastl, sonst würden wir ihn kennen. Fragen Sie vorsichtshalber beim Pfarrer, im Rathaus und im hiesigen Wirtshaus bei der Bedienung. Die Helga kennt fast jeden. Aber ich bin mir sicher, dass das keiner von uns ist.“ Horst Schuster war in Gegenwart der Kollegen um einiges redseliger. Vor allem wollte er endlich die Polizei vom Hals haben, denn sie hatten noch jede Menge Arbeit vor sich. Es war schon spät geworden, durch diese Aktion hier hatten sie bereits einen halben Tag verloren.

Friedrich Fuchs hatte zwischenzeitlich mit seinen Männern ein riesiges Gebiet abgesteckt und alle waren tief in ihre Arbeit versunken. Viktoria Untermaier hatte angewiesen, dass sich Hiebler mit dem neuen Kollegen in Kastl bezüglich des Toten umhören sollte. Viktoria fuhr nach Mühldorf, um Krohmer einen vorläufigen Bericht abzuliefern und den lästigen Schreibkram zu erledigen.

Leo und Hiebler warteten noch darauf, bis die Leiche verladen und zur Pathologie nach München abtransportiert wurde. Das war um einiges umständlicher, als Leo es von Ulm aus gewohnt war, denn dort war die Pathologie direkt im Haus untergebracht. Der Gedanke daran versetzte ihm einen Stich, denn die Ulmer Pathologin Christine war seine beste Freundin und sie vermisste er ganz besonders. Gerade als Leo gedankenversunken ins Auto steigen wollte, wurde er beinahe von einem Radfahrer überfahren, der ihn aufs Übelste beschimpfte und kopfschüttelnd weiterfuhr.

„Eine Unverschämtheit! Kann der nicht aufpassen?“ Leo hatte sich so sehr erschrocken, dass er nicht imstande war, auf die Schimpftirade des Radfahrers sofort zu reagieren, der schon längst außer Reichweite war.

„Das hier ist eine beliebte Abkürzung für Radfahrer, der offizielle Weg geht da vorn entlang,“ deutete einer der Waldarbeiter, wobei er bemüht war, deutlich zu sprechen, und Leo ihn deshalb auch sehr gut verstand. „Die Radfahrer sind immer rücksichtsloser, das kriegen wir täglich zu spüren. Da kann man Strecken absperren, wie man will, die fahren trotzdem einfach durch und mähen einen dabei beinahe um. Und wenn wir mit unseren Fahrzeugen kommen, brauchen Sie nicht glauben, dass die ausweichen. Nein, wir müssen Rücksicht nehmen und sie vorbeilassen, obwohl die sich viel leichter tun.“

Hatte der Förster vor wenigen Stunden nicht genau dasselbe gesagt?

„Hat jemand von Ihnen zufällig eine Karte vom Kastler Forst?“, fragte Leo.

„Ich habe eine, sieht aber schon ziemlich ramponiert aus,“ sagte der Weber Anton.

„Das macht mir nichts aus.“

Anton Weber ging an seinen Wagen und holte eine Karte, die als solche nicht mehr zu erkennen war. Er gab Leo die Karte, die der auf der Motorhaube von Hieblers Wagen ausbreitete.

„Wo genau sind wir?“

„Hier,“ zeigte Anton Weber sofort auf einen Punkt der Karte. Leo machte mit einem Kugelschreiber ein dickes Kreuz auf die Karte. Dann gab er dem Mann einen 10-Euro-Schein in die Hand. „Kann ich die Karte behalten?“

„Klar,“ sagte Anton Weber schmunzelnd und steckte das Geld schnell weg, bevor es sich der Polizist noch anders überlegte.

„Wo sollen wir mit den Nachfragen anfangen?“, fragte Hans Hiebler, noch bevor sie in den Wagen einstiegen.

„Fangen Sie im Wirtshaus an, das Rathaus ist schon zu,“ mischte sich ein Waldarbeiter ein. „Das Rathaus öffnet erst wieder um 14.00 Uhr. Und der Pfarrer macht heute einen Ausflug mit den Senioren nach Bad Gastein. Der kommt heute erst spät zurück. Meine Mutter ist auch dabei.“

Hans und Leo folgten dem Rat des Waldarbeiters und fuhren direkt ins Wirtshaus. Das kam beiden nicht ungelegen, denn sie hatten Hunger. Vor allem Leos Magen knurre, er hatte heute noch nichts gegessen. Das Wirtshaus war sehr gut besucht. Sie setzten sich an einen der wenigen freien Tische und orderten das empfohlene Tagesgericht bei der freundlichen, feschen und drallen Bedienung. Obwohl die Frau augenscheinlich sehr viel Stress hatte, fand sie für ihre Gäste immer ein freundliches Wort und hatte für alle ein offenes Ohr.

„Was ist eigentlich eine Milzwurst? Das habe ich noch nie gehört.“ Leo hatte sich der Bestellung angeschlossen, obwohl er keine Ahnung hatte.

„Eine hiesige Spezialität, probieren Sie es einfach aus.“

Die Bedienung stellte die Getränke auf den Tisch, wobei sich Hans überaus charmant bei ihr bedankte.

„Das Essen kommt gleich.“ Sie strahlte ihn an.

„Einen Moment, junge Frau, rennen Sie nicht gleich wieder davon. Sie sind die Helga?“ Sie nickte und Hans hielt ihr das Handy mit dem Foto vors Gesicht. „Wir sind von der Polizei. Kennen Sie den Mann?“

Sie überlegte und schüttelte schließlich den Kopf, wobei einige Haarsträhnen aus dem kunstvoll geknoteten Haar fielen und das runde, freundliche Gesicht nun einrahmten. Hans Hieber war völlig angetan von Helga, die etwa sein Alter hatte und an deren Hand er keinen Ring entdecken konnte. Diese Frau würde er auf jeden Fall im Auge behalten, sie war genau seine Kragenweite.

„Ist das der Tote, den die Waldmänner heute gefunden haben?“ Hans nickte. „Nein, den kenne ich nicht, der ist ganz bestimmt nicht aus Kastl. Er ist auch keiner der Handwerker, die regelmäßig bei uns einkehren.“

Das mit der gefundenen Leiche hatte sich ja rasend schnell herumgesprochen und Helga hätte sich bestimmt liebend gerne länger über das Thema unterhalten, aber es war einfach zu viel zu tun. Nach wenigen Minuten brachte sie das Essen, das überraschenderweise wirklich sehr gut schmeckte. Leo aß alles restlos auf.

„Wie gefällt es Ihnen bislang bei uns? Übrigens - ich bin der Hans.“

„Ich bin Leo. Bis jetzt kann ich noch nicht viel sagen, die Eindrücke prallen massenhaft auf mich ein. Wenn ich ehrlich bin, habe ich es mir schlimmer vorgestellt. Aber mit dem hiesigen Dialekt habe ich meine Probleme.“

„Das legt sich, keine Sorge. Die Menschen hier sind zwar etwas misstrauisch, vielleicht auch ruppig und erscheinen einem auch teilweise sogar unfreundlich, aber im Grunde genommen sind es rechtschaffene und ehrliche Menschen, die einige Zeit brauchen, um sich an Fremde zu gewöhnen. Vor allem an Fremde mit einem anderen Dialekt, und deiner ist ja schon sehr ausgeprägt und für die Gegend auch außergewöhnlich. Wo wohnst du eigentlich?“

„In einer Pension in Mühldorf. Eigentlich nicht schlecht, aber auf Dauer ist das natürlich nichts. Du bist doch von hier. Kannst du mir in Punkto Wohnung behilflich sein?“

Hans überlegte und sah Leo lange an. Konnte er es wagen? Warum eigentlich nicht! „Ja, ich weiß von einer freien Wohnung. Allerdings in Altötting, nicht in Mühldorf. Wenn dich das nicht stört?“

„So wie ich das gesehen habe, ist Altötting nur einen Katzensprung von Mühldorf entfernt. Nein, Altötting wäre prima.“

„Ich fühle bei der Vermieterin vor und lass dich wissen, was sie davon hält. Hallo, hübsche Frau!“, rief er die Bedienung, die sofort bei ihnen am Tisch stand. „Dürfen wir bezahlen? Ich persönlich wäre natürlich noch gerne geblieben, nur um in Ihrer Nähe zu sein und um Sie zu beobachten. Aber leider – die Pflicht ruft.“

Helga ließ sich die Schmeicheleien sehr gerne gefallen und kicherte, wobei sie die Rechnung ausstellte und Hans ihr ein sattes Trinkgeld gab. Leo beobachtete amüsiert das Geschehen und wusste, dass er es mit einem Mann zu tun hatte, der hinter jedem Rock her war. Warum nicht? Hans war ledig und ungebunden, das hatte er ihm eben erzählt, und somit konnte er machen, was er wollte. Außerdem ging es ihn nichts an. Helga notierte auf einem Zettel ihre Handynummer. Hans hatte es tatsächlich geschafft.

Beim Verlassen der Gastwirtschaft kamen ihnen die Männer aus dem Kastler Wald entgegen, die sie nur knapp grüßten, als ob sie sich nicht kennen würden.

„Das meine ich Leo. Vorhin haben wir noch miteinander gesprochen und jetzt tun sie so, als ob sie uns nicht kennen. Und das tun sie nicht aus Überheblichkeit. Um jemanden besser zu kennen, genügt kein kurzes Gespräch. Da muss man sich schon öfter über den Weg laufen und sich vor allem über mehrere Monate oder sogar Jahre bewähren. Erst dann ist man hier anerkannt und integriert, aber dann gehört man wirklich dazu. So ist das nun mal bei uns hier in der Gegend, gewöhn dich dran.“

„Was ist mit dir? Du scheinst nicht so auf Fremde zuzugehen.“

„Ich habe einen entscheidenden Vorteil: Bei mir muss man sich nicht lange bewähren. Ich kann Menschen sehr gut einschätzen und habe mich noch nie getäuscht.“

Leo verstand sofort die hiesige Mentalität. Die Menschen auf der Schwäbischen Alb waren ähnlich gestrickt.

Zwischenzeitlich war es nach 14.00 Uhr. Leo und Hans gingen über die Straße ins Rathaus, wo sie aber bezüglich des unbekannten Toten die gleiche Auskunft bekamen: Dieser Mann war nicht bekannt und war bestimmt kein Kastler.

Sie entschieden, zurück ins Präsidium zu fahren und sich den Pfarrer zu schenken, der sowieso erst gegen Abend zurückkam. Vielleicht konnte Fuchs schon etwas berichten und sie würden in dieser Richtung einen Schritt weiter kommen.

„Nein, die Spusi hat noch nichts gefunden, sie arbeiten alle auf Hochtouren und melden sich so schnell wie möglich. Habt ihr bei eurer Befragung in Kastl etwas herausgefunden?“

„Niemand kennt den Toten. In einem sind sich alle einig: Er ist definitiv nicht aus Kastl.“

„Dann werden wir ein Foto in die Presse geben. Grössert, übernehmen Sie das. Und Hiebler, Sie sehen sich die Vermisstenanzeigen an.“

„Ich schlage vor, ich höre mich bei Krankenhäusern und Ärzten um, welche Männer in dem fraglichen Alter verstorben sind und ordne sie den entsprechenden Beerdigungen zu. Das kann dauern, denn wir wissen noch nicht, wann der Tod tatsächlich eingetreten ist. Die Höhle hat den Verwesungsprozess ganz sicher hinausgezögert. Ich schlage vor, dass wir uns mindestens die letzten fünf Monate vornehmen.“ Leo dachte an seine Freundin und Pathologin Christine Künstle, von der er einiges gelernt hatte.

„Kein schlechter Ansatz. Hiebler hilft Ihnen, wenn er so weit ist. Grössert? Wenn Sie fertig sind, unterstützen Sie den Kollegen Schwartz ebenfalls. Und ich bin beim Chef.“

Kurze knappe Angaben. Leo liebte es, wenn jemand den Überblick behielt und wusste, was er wollte. Und diese Viktoria Untermaier war der Hammer; beruflich und auch optisch.

Die Pressemitteilung war raus. Die Vermisstenanzeigen gaben keine Übereinstimmung mit dem Toten, und auch bei den Verstorbenen und den dazugehörigen Beerdigungen gab es keine Ungereimtheiten; alle Toten wurden ordnungsgemäß bestattet. So, wie sich das gehört. Leo machte sich Gedanken darüber, wie man nur auf die Idee kommt, auf so einem Weg eine Leiche bequem und kostenlos aus dem Weg zu räumen. Und je länger er sich Gedanken darüber machte, desto mehr fand er das durchaus nachvollziehbar, denn bei seinen Recherchen hatte er herausbekommen, wie viel eine Beerdigung kostete. Das war der blanke Wahnsinn! Diese Kosten konnten durchaus eine Existenz vernichten oder zumindest die Hinterbliebenen in ziemliche Schwierigkeiten bringen. Trotz allem war diese Vorgehensweise nicht akzeptabel. Auch wenn er die Bestattungskosten als viel zu hoch ansah, konnte man eine Leiche doch nicht in eine Kiste legen und dann einfach im Wald verscharren. Das war pietät- und würdelos.

Am späten Abend kam Friedrich Fuchs völlig übermüdet ins Büro. Nach dem Kastler Forst war er in die Pathologie nach München gefahren, um der Autopsie beizuwohnen.

„Die Untersuchung der Leiche ist noch nicht abgeschlossen. Es stehen noch einige Tests an, die ich nicht abwarten konnte. Die Schlange der zu untersuchenden Proben ist lange. Wer weiß, wann unsere dran sind. Einer meiner Mitarbeiter ist in München geblieben und hat ein Auge auf unsere Probe und auch auf die Leiche.“ Fuchs ging auf Nummer sicher, denn es kam vor, dass geschlampt wurde; und Schlampereien konnte er nicht leiden. „Ich gehe davon aus, dass wir morgen früh mit dem Bericht rechnen können. Hier ist mein bzw. der Bericht der Spurensicherung.“ Er legte die dünne Mappe auf den Tisch und Viktoria griff sofort danach. Die anderen sahen ihr dabei über die Schulter. Es konnten zwar einige Fingerspuren und DNA sichergestellt werden, diese waren bei der Polizei aber nicht registriert. Allerdings war die Kiste, in die der Tote gelegt wurde und als Sarg missbraucht wurde, sehr interessant.

„Das ist eine alte Kiste der US-Army aus den 40er-Jahren, in der Waffen transportiert wurden. Es wurden lediglich einige Bretter ausgetauscht. Ich habe bei einem befreundeten Amerikaner nachgefragt, der seinerseits Verbindungen zur US-Armee hat und die haben ihm das bestätigt,“ erklärte Fuchs aufgeregt. Es hatte ihn viel Mühe gekostet, mehr über diese ominöse Kiste herauszufinden, und musste einen seiner wenigen Freunde bemühen, ihm zu helfen.

„Sie meinen also, das ist eine Kiste von den Amerikanern aus dem 2. Weltkrieg?“

Fuchs nickte hektisch.

„Und wie soll uns das helfen?“ Viktoria Untermaier war enttäuscht, das war nun wirklich keine brauchbare Information. Da hätte auch genauso gut die Werbung einer Brauerei aufgedruckt sein können, das wäre ebenso hilfreich gewesen.

„Das weiß ich doch nicht. Meine Aufgabe besteht lediglich darin, Spuren zu sichern und Fakten zu überprüfen. Was Sie mit den Informationen machen, ist Ihre Aufgabe. Tatsache ist, dass die Fingerspuren und die DNA nicht erfasst sind und dass der unbekannte Tote, dessen Anzugtaschen komplett leer waren, in eine Kiste gelegt wurde, die ursprünglich von den Amerikanern im 2. Weltkrieg zum Waffen-Transport benutzt wurde. Es ist noch anzumerken, dass der Anzug eine Maßanfertigung ist. Diese ist allerdings aufgrund des Materials und der Verarbeitung schon Jahrzehnte her.“

„Wer hat den Anzug geSchustert? Kommen wir dadurch an die Identität des Toten?“

„Leider nein, auch das habe ich bereits überprüft. Die Modefirma gibt es seit den 70-er Jahren nicht mehr, Unterlagen sind nicht mehr existent.“ Fuchs brauchte mit seinen Untersuchungen und den Berichten immer sehr lange, dafür waren sie vollständig und umfangreich. Die Kriminalbeamten waren enttäuscht.

„Das ist aber nicht sehr befriedigend Herr Fuchs,“ murmelte Frau Untermaier unzufrieden. Sie hatte auf mehr gehofft, denn dass sie sich nun in einer Sackgasse befanden, war ihr bewusst.

„Das weiß ich selber. Wenn Sie mir und meiner Arbeit nicht vertrauen, kann ich morgen gerne in den Kastler Forst gehen und nehme mir mit meinen Leuten nochmals alles vor.“ Fuchs war beleidigt. Diese Untermaier war ihm gegenüber immer skeptisch und kritisierte alles. Natürlich hatte er gewissenhaft gearbeitet und kontrollierte auch immer die Arbeiten seiner Mitarbeiter.

„Nein, das bringt doch nichts. Ich bin sicher, dass Sie und Ihre Kollegen sauber und ordentlich gearbeitet haben. Wenn es etwas zu finden gegeben hätte, dann hätten Sie es auch gefunden.“ Sie befand, dass es zwischendurch auch einmal angebracht war, Fuchs ein Lob auszusprechen. Auch wenn sie ihn nicht mochte, machte er seine Arbeit immer sehr ordentlich. Viktoria verglich Fuchs mit einem Wiesel, das immer hektisch um sich blickte und alles und jeden im Auge hatte. Sie war sich sicher, dass ihm nichts entging und er immer über alles und jeden Bescheid wusste. Aber dafür hatten sie Hilde Gutbrod und brauchten nicht noch ein solches Exemplar.

„Vielen Dank, Frau Untermaier. Ich werde das Lob umgehend an meine Leute weitergeben.“ Fuchs strahlte übers ganze Gesicht und verließ zufrieden das Büro. Es kam nicht oft vor, dass er ein Lob bekam. Und dann auch noch von dieser unsympathischen Frau, die immer alles besser wusste.

„Also Leute, das war’s für heute, machen wir Feierabend. Das Foto des Toten erscheint morgen. Vielleicht erkennt ihn jemand und wir kommen dann weiter. Aber für heute ist Schluss. Auf den Bericht der Pathologie bin ich gespannt. Es wäre wichtig, die Todesursache und vor allem den genauen Todeszeitpunkt zu erfahren.“

Leo konnte noch nicht gehen. Er nahm sich die Karte von Anton Weber vor und trug die Fundstelle auf seine selbstgebastelte Karte. Die Fundstelle lag genau in dem Gebiet, in dem er das Verschwinden von Alexander Binder vermutete. Ein Zufall?

Der Tote im Wald

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