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III
ОглавлениеZum unzähligen Mal verfluchte Wiralin die Reise nach Mooresruh und das Wetter, das ausgerechnet an diesem Tag Eisregen auf Monstedt niedergehen ließ. Er hatte sich geschworen, nie wieder einen Fuß über die Schwelle von Redanshaim zu setzen. Dennoch saß er hier neben Munia im Salon. Der rote Überzug des Sofas war immer noch derselbe wie vor vier Jahren. Schweigend widmete Wiralin dem Weinglas in seiner Hand unnötig große Aufmerksamkeit. Er täuschte die Müdigkeit eines Reisenden vor, um Munias Lächeln nicht sehen zu müssen. Dieses Lächeln versuchte, Fürsorglichkeit vorzutäuschen, und sprach doch nur von Selbstzufriedenheit. Niemand anderer hatte die Narbe in seinem Gesicht so unverhohlen gemustert wie Munia. Und niemand anderer würde sich so an diesem Anblick weiden wie sie.
„Sag mir, wie kommst du damit zurecht?“ fragte Munia zuletzt. Wieder legte sie ihre Hand sanft auf seine rechte Wange.
Wiralin parierte den Reflex, der Berührung auszuweichen. Erst nach einigen Augenblicken nahm er einen Schluck Wein, um Munias Hand zu entkommen.
„Ich bin ein Soldat. Wunden und Narben gehören zum Soldatenleben dazu.“ Seine raue Stimme klang selbst in seinen Ohren nicht überzeugend.
Munia wurde sarkastisch: „Ja, ja. Der Ruhm des Soldatenlebens! Ein Auge zu verlieren ist natürlich viel besser als ein sorgloses, sicheres Leben zu führen.” Nach einer kurzen Pause rückte sie noch ein Stück näher. Diesmal legte sie ihre Hand auf sein Knie. „Ich werde nicht sagen, dass es dir recht geschieht – es schmerzt mich zutiefst, dich derart zerstört zu sehen! Aber es würde mir viel bedeuten, wenn du inzwischen eingesehen hättest, dass du äußerst undankbar warst, als du plötzlich beschlossen hast, zum Heer zu gehen.“
Wiralin stand auf, um die Rücken einiger Bücher im Regal näher zu betrachten. Kein einziger Buchtitel drang bis in sein Gehirn vor. „Ich habe damals meine Pflicht gegenüber Linland erfüllt und tue es immer noch. Als die Ronn an der Nordostgrenze auftauchten, musste ich mein Land gegen diese neue Gefahr schützen. Ist die Sicherheit Linlands nicht wichtiger als ein sorgloses, sicheres Leben?“
Munia breitete ihre Arme über die Lehne des Sofas aus, als ob sie nur darauf gewartet hätte, allen Platz für sich zu haben. Doch ihr Ton troff vor verletztem Stolz: „In deinem Taumel von Heldenhaftigkeit hast du allerdings etwas Wichtiges vergessen: Wem du es zu verdanken hast, dass du solche hehren Pflichten für Linland auf dich nehmen kannst. Wenn ich nicht mit fast übermenschlicher Großzügigkeit über deinen... jugendlichen Leichtsinn hinweggesehen hätte, wäre dir eine ganz andere Karriere bevorgestanden – nämlich die eines Sträflings im Kerker. Oder bestenfalls in einem Steinbruch.“
Die mühsam aufrecht erhaltenen Bollwerke brachen. Lange verbannte Erinnerungen stürmten auf Wiralin ein.
Sein Vater war ein Tagelöhner in einem Dorf nahe Monstedt gewesen. Nach dem frühen Tod seiner Frau hatte er seinen Sohn die meiste Zeit sich selbst überlassen. Der einzige ständige Begleiter des Heranwachsenden war der Hunger gewesen. Bald hatte Wiralin sich tagsüber aus der winzigen, dunklen Hütte in den Wald um das Gut Redanshaim geflüchtet. Der Wald bot im Sommer Beeren, Pilze und Nüsse. Und das ganze Jahr über huschte Kleinwild über den Boden und über die Baumstämme. Wiralin begann mit einer Steinschleuder, dann baute er sich immer bessere Bögen und Pfeile. Damit brachte er Hasen, Eichhörnchen und Hühnervögel zur Strecke, später auch Rotwild. Mit fünfzehn wurde er von Munias Jäger ertappt. Der Jäger führte den Wilderer seiner Herrin vor. Munia ging lange Zeit um ihn herum, betrachtete ihn von allen Seiten und schwieg mit hoheitsvoller Miene. Wiralin erwiderte abwechselnd trotzig ihren Blick oder starrte wie betäubt zu Boden. Diese Frau, die sein Leben in ihren Händen hielt, erschien ihm ebenso unwirklich wie ihr prächtiges Herrenhaus. Eine Gefahr stand ihm jedoch klar vor Augen: In Monstedt eingekerkert zu werden. Danach dürfte er sich nicht einmal mehr Hoffnungen darauf machen, sich wie sein Vater als ehrlicher Tagelöhner durchzuschlagen. Doch dann blieb die faszinierende Herrin von Redanshaim vor ihm stehen.
„Wie kann ein so schöner Junge nur so böse sein?“ lauteten ihre ersten Worte. „Beweise mir, dass du ebenso gut sein kannst wie du schön bist, und ich werde über diesen einen Fehler hinwegsehen.“
Redanshaim wurde von einer Traumvision zur Wirklichkeit und riss Wiralin mit sich fort. Munia nahm den ertappten Wilderer als ihren Pagen auf und sorgte dafür, dass er auch den Unterricht eines Pagen erhielt. Wenig später holte sie ihn in ihr Bett. Wiralin fand sich in einem Strudel aus Angst, Aufregung, Schuldgefühl, Stolz, Selbstverachtung, Liebe und Hass wieder. Je älter er wurde, desto mehr drohte ihn der Strudel zu zerreißen. Sein Widerwille dagegen, seiner Herrin völlig ausgeliefert zu sein, wuchs bis an die Grenze des Erträglichen. Dennoch schreckte er vor dem Leben eines Tagelöhners – oder gar eines Sträflings – zurück. Der Ruf nach neuen Soldaten für den Kampf gegen die plötzlich aufgetauchten Ronn kam wie eine Erlösung. Wiralin war ein besserer Bogenschütze als je zuvor. Während seines Lebens im Herrenhaus hatte er die Jagd nie aufgegeben, und natürlich schoss er schon lange nicht mehr mit selbstgefertigten Waffen. Er wusste, dass er nur als einfacher Bogenschütze in das Heer aufgenommen werden würde. Aber er hatte in Redanshaim viel gelernt. Er würde aufsteigen. Niemand würde einen fähigen, gebildeten Soldaten fragen, ob er einmal gewildert hatte. Mit eiserner Entschlossenheit trat er vor Munia hin, um ihr mitzuteilen, dass er sich als Soldat gemeldet hatte. Noch am selben Tag verließ er Redanshaim – mit nichts als den Kleidern, die er am Leib trug. Begleitet wurde er nur von dem kalten Hohn seiner bisherigen Herrin. Munia hatte ihn einen undankbaren, dummen Jungen genannt und ihm prophezeit, dass er noch auf Händen und Knien darum betteln würde, wieder in ihr Haus aufgenommen zu werden.
Wiralin schloss sein Auge. Das erste Jahr beim Heer war tatsächlich hart gewesen. Er hatte die bittere Erfahrung machen müssen, dass selbst der hervorragendste und gebildetste Bogenschütze ein Niemand war, wenn er weder über einen Namen noch über Geld verfügte. Erst Ulante hatte mehr in ihm gesehen, und ihn zu ihrem Obersten Bogen gemacht, nachdem sie Generalin geworden war. Munia hatte verloren. Sie würde ihn niemals vor ihr kriechen sehen – niemals wieder.
Wiralin wandte sich um, damit er Munia ins Gesicht blicken konnte. „Ich habe nicht vergessen, dass du mich damals vor dem Kerker bewahrt hast. Aber ich bin davon überzeugt, dass mein Heeresdienst eine viel sinnvollere Buße für meinen jugendlichen Leichtsinn ist als mein Dienst im Haus einer Gutsherrin es war. Als echte Linländerin müsstest du es mit Stolz sehen, wie der Mann, dem du eine zweite Chance gegeben hast, sein Leben für sein Land einsetzt.“
Munia ließ ein spöttisches Lachen erklingen. „Du setzt dein Leben für Linland ein, weil du einmal ein Reh gewildert hast? Wie edel! Es war allerdings nicht Linlands Reh, sondern meines! Und ich habe dich nicht vor dem Kerker bewahrt, damit du ein Auge verlierst und für den Rest deines Lebens völlig entstellt herumläufst! Ich wollte das bewahren, was dich eigentlich ausmacht: Du bist – nein du warst! – einer der schönsten Männer Linlands. Vielleicht sogar der Schönste. Nur das hat dich dorthin gebracht, wo du jetzt bist. Du täuscht dich selbst, wenn du etwa anderes glaubst. Der Verlust deiner Schönheit wird deiner Laufbahn beim Heer rasch ein Ende bereiten. Wenn du es bis jetzt noch nicht bemerkt hast, wird es sehr bald offensichtlich werden.“
Mächtige Hassgefühle wallten in Wiralin auf. „Ich bin der beste Bogenschütze von Linland!“ zischte er zwischen den Zähnen hervor.
Munia lächelte wie eine langmütige Mutter einen trotzigen Dreijährigen angelächelt hätte. „Auch wenn das wirklich eine Rolle für deine Karriere gespielt haben sollte, ist es damit jetzt vorbei. Du hast nur noch ein Auge!“
„Ich brauche nicht mehr als ein Auge, um Bogenschützen zu kommandieren!“
Mitten in Wiralins scharfe Erwiderung tönte der Gong, der zum Abendessen rief. Elegant wie immer erhob die Herrin von Redanshaim sich vom Sofa.
„Mein lieber Wiralin,“ flötete sie mit geheuchelter Teilnahme. „Das glaubst du doch selbst nicht!“
Eine Hand packte Erdree an der Schulter und rüttelte sie. Mit jagendem Puls fuhr die Glasbrecherin auf und drückte sich gegen die Wand, um der unsanften Berührung zu entkommen. Durch das kleine Fenster fielen erst die frühesten Anzeichen der Morgendämmerung.
„Aufstehen!“ tönte Wiralins kalte Stimme. „Wir müssen die Zeit aufholen, die wir gestern verloren haben.“
Verzweifelt schlug Erdree die Decke zurück und verließ das warme Nest, in dem sie endlich ruhigen Schlaf gefunden hatte. Um ihr wirkliche Erholung zu bringen, hätte der Schlaf jedoch viel länger dauern müssen. Immer noch wurde sie von Schwindel und von leichtem Fieber geplagt. Oder fühlte sie sich nur fiebrig, weil sie gar nicht mehr wusste, wie sich Wärme anfühlte? Unter Wiralins ungeduldigem Blick schob Erdree diese Frage rasch beiseite. Kaum war sie in ihre Kutte geschlüpft, winkte der Oberste Bogen des Linländer Heers ihr auch schon, ihm zu folgen. Ihren Gürtel band Erdree bereits auf der Türschwelle. Sie hastete hinter Wiralin durch die leeren Gänge und zuletzt in eine riesige Küche. Hier war ein einsamer Gehilfe damit beschäftigt, Frühstück für die Reisenden zuzubereiten. An einem Tisch in einer Ecke saß Uto, den Kopf müde in eine Hand gestützt. Beim Anblick seines Herren wurde Utos mürrischer Ausdruck plötzlich hämisch. Wiralin ignorierte ihn, doch seine Miene war zu steinern, um seine Gleichgültigkeit glaubhaft zu machen. Während er selbst nur wenige Bissen aß, trieb er seine Reisegefährten mit scharfen Blicken zur Eile. Erdrees Magen krampfte sich zusammen, bevor er nur halb gefüllt war. Obwohl sie wusste, dass sie lange vor Mittag wieder hungrig sein würde, musste sie ihr Frühstück abbrechen. Uto blieb hingegen völlig ungerührt. Er aß gemächlich und füllte seinen Teller immer wieder. Am Ende sprang Wiralin auf. Mit voller Absicht brachte er dabei den Tisch ins Wanken. Die Milch in Utos Becher schwappte über.
„Ich spanne schon einmal die Maultiere an,“ zischte Wiralin in Utos Richtung. „Aber an deiner Stelle würde ich das nicht als Freibrief dafür nehmen, noch länger hier herumzutrödeln!“
Der Bogenschütze schlüpfte ungestüm in seinen Mantel und stolzierte zur Hintertür hinaus. Unschlüssig stemmte Erdree sich von ihrem Sitz hoch. Erwartete Wiralin, dass sie ihm folgte, oder sollte sie ihm besser aus dem Weg gehen?
„Der hat es ja ganz schön eilig, von hier zu verschwinden.“ Uto grinste den Küchengehilfen an und deutete mit dem Daumen zu der Tür, durch die Wiralin verschwunden war. „Man sollte meinen, dass es ihm in Redanshaim besser gefällt, wo die Hausherrin ihn doch für den schönsten Mann von ganz Linland hält...“
Der Gehilfe erwiderte das schmierige Grinsen. Die Häme der beiden Männer setzte aller Unschlüssigkeit ein Ende. Erdree flüchtete aus der Küche. Wenn Uto und der Gehilfe es wagten, den Obersten Bogen von Linland zu verspotten, wollte sie nicht wissen, was ihnen zu einer Glasbrecherin einfallen würde. Niemand eignete sich so gut als Spottobjekt wie eine benommene Glasbrecherin, die von vier Reisetagen an die Grenze ihrer Lebenskraft gedrängt wurde. Genau genommen eignete sich eine Glasbrecherin zu nichts anderem als zu einem Spottobjekt. Wiralin hatte das noch vor dem Tor von Mooresruh begriffen. Und auch die Generalin würde es bei ihrer ersten Begegnung sofort begreifen. Erdree fürchtete diese Begegnung und sehnte sie gleichzeitig herbei. So sehr ihr davor graute, die völlige Nutzlosigkeit der Glasbrecher ein für alle Mal zu beweisen – wenn sie diese Nutzlosigkeit bewiesen hätte, müsste sie sich wenigstens nicht länger quälen. Sie könnte schicksalsergeben jenes Ende erwarten, das jedem Glasbrecher fern von Mooresruh blühte. Und diese Reise wäre endlich vorbei... Ermattet starrte Erdree in den Hinterhof. Der Wagen stand schon zum Anspannen bereit. Soeben führte Wiralin die Maultiere aus dem Stall. Wie üblich schenkte er Erdree keine Beachtung, und auch ihr Blick blieb nur aus Geistesabwesenheit an ihm hängen. Trotzdem zog seine raubkatzenhafte Gewandtheit sie in den Bann. Erdree wäre nicht überrascht gewesen, wenn Wiralin blitzschnell zwischen den beiden Maultieren an der Wagendeichsel durchgeschlüpft wäre, ohne eines von ihnen zu berühren. Diesem schlanken, elastischen Körper schien jede Bewegung möglich zu sein. Doch sobald Wiralin wieder seine betont stolze Haltung annahm, fielen nur noch seine Größe und die breiten Schultern auf – und sein Gesicht. In seiner Konzentration auf die Maultiere hatten die energischen Linien von Wangen und Kinn ihre Schärfe verloren. Die entspannten Lippen ließen plötzlich ihren feinen Schwung erkennen. Selbst über der riesigen Narbe war noch der kühne Bogen seiner Braue zu erkennen. Die Adlernase gab Wiralins Gesicht nun Charakter, ohne es zu beherrschen. Nur sein Auge blieb unverändert hart und kalt. Erdree fand sich unweigerlich an Munias Begrüßung und an Utos Spott erinnert. Die Herrin von Redanshaim hielt Wiralin für den schönsten Mann Linlands. Oder zumindest hatte sie ihn einmal dafür gehalten. Gemessen an den Glasbrechern war Wiralin zweifellos schön. Aber neben den elenden Bewohnern von Mooresruh sah jeder normale Linländer wie ein strahlender Held aus. Ein klares Bild von den Männern in den Herbergen wollte sich nicht aus Erdrees Gedächtnis hervorzerren lassen. Ihre Gesichter und Gestalten waren unter der Flut von neuen Eindrücken verschwommen. Schließlich gab Erdree auf. Wenn Wiralin schön war, dann auf dieselbe Weise wie die Herrin von Redanshaim. Und diese Art von Schönheit würde sie niemals ohne Schaudern betrachten.
Ein warmer Wind hatte das Eis über Nacht weggetaut. Dafür versanken die Wagenräder auf den ungepflasterten Straßen hinter Monstedt tief im Schlamm. Zu Mittag zogen wieder schwere Wolken auf. Diesmal brachten sie dichtes, nasses Schneegestöber. Am Fuß der weiten Hochebene, an deren anderem Ende der Glynwald lag, versanken die Maultiere bereits bis über die Fesselgelenke im Schnee. Bergauf fanden die Tiere auf dem matschigen Untergrund noch schlechteren Halt. Sogar in ihrem Dämmerzustand bemerkte Erdree, dass der Wagen immer langsamer voran kam. Sie war nicht überrascht, als Wiralin irgendwann die Tür öffnete und aus dem Wagen sprang. Erst unter seiner Stimme fuhr sie zusammen:
„Steig aus, wir müssen zu Fuß gehen. Bei diesen Verhältnissen haben die Maultiere mit dem Wagen allein genug zu tun.“
Der Sinn seiner Worte drang nur langsam in Erdrees Bewusstsein vor. Noch länger dauerte es, bis ihr Körper endlich den Befehlen ihres Gehirns folgte. Während sie ungelenk aus dem Wagen kletterte, erschien ihr alles irreal – die dicken Schneeflocken, der klamme Wind und das düstere Zwielicht unter dem zugezogenen Himmel. Umso heftiger holte der erste Schritt in den Schnee sie in die Wirklichkeit. In wenigen Augenblicken waren ihre Halbschuhe völlig durchweicht. Erdree stockte der Atem. Wie weit würde sie in diesem Wetter gehen müssen? Es sah nicht so aus, als ob ein Dorf in der Nähe wäre – geschweige denn, eine Stadt. Neben ihr ragte dieselbe steile Felswand auf, an der sie schon seit Mittag entlang gefahren waren. Und dort vorne schien die Straße noch steiler zu werden. Inzwischen war auch Uto vom Kutschbock gesprungen, um die Maultiere am Zügel zu führen. Der Wagen setzte sich langsam in Bewegung. Erdree fuhr sich mit einem Finger quer über die Stirn und nahm die Wanderung mit gesenktem Kopf auf.
Was als Kampf begann, wurde ein immer tieferer Alptraum. Utos Keuchen verriet, dass es selbst für einen gesunden Linländer anstrengend genug war, bergauf durch kniehohen Schnee zu stapfen. Für Erdree war es die reinste Tortur, obwohl sie sich hinter dem Wagen hielt und in der ausgetretenen Spur ging. Nichts in ihrem Leben hätte sie auf diesen Fußmarsch vorbereiten können. Die Glasbrecher verließen ihre Behausung so wenig wie möglich. Das abgelegene Moor verschaffte ihnen zwar Ruhe und die bitter notwendigen Moorbäder, lud aber keineswegs ins Freie ein. An den Gestank und an die Insektenschwärme hätten die Glasbrecher sich vielleicht gewöhnen können. Doch die wenigen trockenen, sicheren Wege durch das Moor waren schwer zu finden und zu leicht zu verlieren. Die schlechte Gesundheit der Glasbrecher erlaubte ihnen bestenfalls kurze Spaziergänge. Wer sich verirrte, war verloren. So sparten die Glasbrecher ihre geringen Kräfte lieber für ihre alltäglichen Arbeiten. Besonders das Stallausmisten und das Torfstechen bewältigten sie nur schwer. Strenge Abwechslung nach höchstens einer halben Stunde war hier das oberste Gebot. Erdree konnte bald nicht mehr sagen, wie viel Zeit bereits vergangen sein mochte. Ihre Beine beklagten sich bitter über die nie gekannten Strapazen. Ihre wunde Kehle schnappte mühsam nach Luft, wenn sie nicht gerade von Husten unterbrochen wurde. Ihr Herz hämmerte so heftig gegen ihre Rippen, als ob es aus dem viel zu engen Brustkorb ausbrechen wollte. Ein Kälteschauer nach dem anderen lief über Erdrees Körper, obwohl sie gleichzeitig schwitzte. Schnee und Schweiß hatten ihre Kleidung längst völlig durchweicht. Schon dreimal war Erdree auf die Knie gefallen und hatte sich unter größter Anstrengung wieder aufgerappelt. Dass die geschmolzenen Schneeflocken sich auf ihrem Gesicht mit Tränen der Verzweiflung vermischten, bemerkte sie nicht einmal. Als sie kurz nach dem Einfall der Dämmerung der Länge nach hinschlug, fühlte sie nur noch eines: Erleichterung – Erleichterung darüber, dass sie ihre Füße nicht mehr heben musste. Unter ihren geschlossenen Lidern flirrten bunte Schleier. Erdree versenkte sich in das Farbenspiel. Seltsamerweise holte der Ruck, der irgendwann durch ihren Körper ging, sie nicht aus dem Farbenspiel, sondern aus völliger Dunkelheit. Ihre Kutte spannte sich um ihren Hals. Hatte jemand sie im Nacken gepackt und an ihrem Gewand hochgezogen? Der Stoff würgte Erdree. Sie hustete schwach. Ihre Füße waren frei, aber sie weigerten sich, festen Stand zu suchen. Eine scharfe Stimme sagte irgendetwas. Erdree verstand weder den Sinn der Worte, noch konnte sie ihren Blick auf die vagen Formen konzentrieren, die vor ihrer Nase waberten. Hilflos driftete sie zurück in die Dunkelheit.
Wiralin rollte entnervt mit den Augen, als die Glasbrecherin schlaff in seinem Griff hing. Am liebsten hätte er sie wie ein Kaninchen geschüttelt. Warum in aller Welt rief sie denn nicht, wenn sie nicht mehr auf die Beine kam? Die Fensterscheiben des Wagens waren schon lange außer Gefahr. Wiralin hatte gute vierhundert Ellen zurückgehen müssen, um die verschwundene Glasbrecherin wiederzufinden. Es war schlimm genug, dass sie weniger Ausdauer hatte als ein Kleinkind. Was sollte er nun davon halten, dass sie sogar zu dumm dafür war, um Hilfe zu rufen? Oder spielte sie nur Theater und hielt einen stummen Auftritt für besonders dramatisch? Das war die einzig einleuchtende Erklärung. Niemand würde sich einfach so, ohne einen Mucks, in den Schnee fallen lassen. Wenn eines an den Glasbrechern kräftig war, dann wohl ihre Stimme. Selbst der leiseste Hilferuf eines Glasbrechers musste durch Mark und Bein gehen – sogar in diesem Schnee, der alle Geräusche dämpfte. Wiralin stand knapp davor, seinen Griff zu lösen und die Glasbrecherin wieder in den Schnee fallen zu lassen. Bestimmt würde sie die Rolle der Erschöpften dann sofort aufgeben und brav weiterwandern. Er versicherte sich, dass der Schnee dick genug war, um ihren Aufprall zu dämpfen. Dabei fiel sein Blick auf die Füße der Glasbrecherin. Nur ihre Zehenspitzen berührten den Boden. Er hielt ihr ganzes Gewicht mit einer Hand. Ohne große Mühe. Trotz ihrer triefenden Kleidung. Sofort verlor Wiralin die Lust dazu, dieser kläglichen Gestalt zu beweisen, dass er ihr Schauspiel durchschaute. Dieses Leichtgewicht würde den Maultieren keine Probleme machen. Nicht einmal bei diesem Wetter. Wiralin schwang sich die Glasbrecherin wie einen Mehlsack über die Schulter und machte sich daran, Uto einzuholen. Erst als er das schlaffe Bündel in den Wagen bugsierte, begann Wiralin daran zu zweifeln, dass die Glasbrecherin ihre Bewusstlosigkeit nur vortäuschte. Obwohl ihr Kopf hart an der Wand des Wagens anschlug, blieb sie völlig reglos. Unversehens wuchs Wiralins Missmut noch mehr. Er war ein Soldat und kein Kindermädchen für eines dieser lebensunfähigen Wesen aus Mooresruh! Ohne große Rücksicht schälte Wiralin die Glasbrecherin aus ihrer nassen Kutte und wickelte sie in eine der Decken, die unter der hinteren Sitzbank aufbewahrt wurden. Eine weitere Decke stopfte er so um die Glasbrecherin herum, dass sie in dem rüttelnden Wagen nicht vom Sitz kippen würde. Nur noch eineinhalb Tage bis Glynwerk! Er konnte es nicht mehr erwarten, wieder in sein normales Leben zurückzukehren.
Mit grimmiger Genugtuung begrüßte Wiralin den ersten Ausblick auf Glynwerk. Die Festung thronte über dem einzigen Pass in jenem Gebirgsausläufer, der den Glynwald in zwei Teile schnitt. Hier bereitete das Heer sich auf den nächsten Feldzug vor. Hier wartete Ulante auf ihn. Hier war er zu Hause. Sowie er seine Bürde abgeliefert hatte, konnte er die Reise nach Mooresruh vergessen und sein Kommando als Oberster Bogen wieder übernehmen. Wiralin streifte die Glasbrecherin mit einem kritischen Blick. Sie lehnte in der Wagenecke, völlig zusammengesunken. Nur ihre hastigen, abgehackten Atemzüge verrieten, dass sie noch lebte. Sogar der ungedämpfte Husten, der mehrere Sprünge in die Fensterscheiben gerissen hatte, war verklungen. Nach dem Fußmarsch durch den Schnee hatte Wiralin eine Magd im Gasthof damit beauftragt, sich um die Glasbrecherin zu kümmern. Am Arm dieser Magd war sie morgens zum Wagen gekommen – etwas benommen, aber auf ihren eigenen Beinen. In Wiralins Auge hatte die Glasbrecherin sogar gesünder ausgesehen als zuvor. Doch die Röte in ihrem Gesicht war von einem Fieber gekommen, das immer höher gestiegen war. Eigentlich hätte er die Reise unterbrechen müssen. Aber inzwischen waren sie tief im Glynwald gewesen. Dort gab es keine Gasthöfe mehr – nicht einmal Dörfer. Das letzte Dorf war genauso weit hinter ihnen gelegen wie Glynwerk vor ihnen. Also hatten sie ihr letztes Nachtquartier plangemäß in einer Hütte aufgeschlagen, die den Boten des Linländer Heers auf ihren Reisen als Unterschlupf diente. Die Hütte war klein, kalt und unkomfortabel. Strohsäcke auf den Holzpritschen gab es ebenso wenig wie Nahrungsmittelvorräte oder Kräuter für einen heilsamen Tee. Wiralin hatte nur mehr eines für die Glasbrecherin tun können, die kaum noch bei sich gewesen war: So früh wie möglich nach Glynwerk aufzubrechen.
Wie erlöst sprang Wiralin im Hof der Festung aus dem Wagen. Statt nach einer Trage zu rufen, legte er sich die Glasbrecherin wieder über die Schulter. Auf diese Weise würde er sie am schnellsten ins Krankenquartier bekommen. Um die neugierigen Blicke der Soldaten brauchte er sich nicht zu kümmern. Niemand würde es wagen, den Obersten Bogen anzusprechen. Ohne ein Wort betrat Wiralin den Behandlungsraum des Krankenquartiers und legte die Glasbrecherin auf einer hohen Pritsche ab. Oredion verfolgte die Szene erst mit Verwirrung, dann mit Entsetzen. Rasch eilte er an die Seite der Glasbrecherin. Eine Hand legte er über ihre Stirn, mit der anderen fühlte er ihren Puls.
„Bei Lin und all seinen Kindern, Wiralin – sie glüht ja vor Fieber! Außerdem ist sie nichts als Haut und Knochen!“ Anklagend hielt Oredion die magere Hand hoch, die schlaff zwischen seinen Fingern hing. „Wolltest du sie eigentlich lebend hierher bringen?“
„Sie ist eine Glasbrecherin,“ erinnerte Wiralin ihn kühl. „Was ich will oder nicht will, spielt also keine Rolle. Ein Glasbrecher sollte nirgendwo hingebracht werden. Er sollte in Mooresruh bleiben. Die Glasbrecher sind zu schwach für ein normales Leben – sie sind krank. Du wolltest es ja nicht glauben. Jetzt kannst du mit eigenen Augen sehen, dass alles, was über diese elenden Gestalten gesagt wird, wahr ist. Aber immerhin hältst du dich für einen guten Arzt. Das kannst du jetzt beweisen.“
Oredion runzelte nur die Stirn, während sein bedächtiger Blick sich auf die Glasbrecherin heftete. Gleich darauf ging er zu seinem Medizinschrank, um einige Fläschchen und Beutel herauszunehmen. Wiralin wandte sich verächtlich ab. Seine Hand lag bereits auf dem Türgriff, als die betont beiläufige Stimme des Arztes ihn einholte:
„Zum Glück kenne ich dich als einen Mann, der sich immer gut um seine Soldaten kümmert. Sonst könnte ich vielleicht auf den Verdacht kommen, dass du die Glasbrecherin mit Absicht nachlässig behandelt hast – damit du beweisen kannst, dass es keine gute Idee war, einen Glasbrecher zum Heer zu holen...“
Wiralin fuhr herum. Oredion stand immer noch am Medizinschrank, mit dem Rücken zur Zimmertür.
„Schau mich gefälligst an, wenn du mir solche Dinge unterstellst! Und behaupte bloß nicht, es sei keine Unterstellung gewesen! Ich kenne deine Art! Du bist nur zu feig, um deinen Verdacht deutlich auszusprechen!“
Unerträglich langsam drehte Oredion sich um. Er verschränkte seine Arme vor der Brust und versuchte, mit einem starren Blick Entschlossenheit auszustrahlen. Doch die hochgezogenen Schultern verrieten, wie viel Überwindung es ihn kostete, Wiralin anzusehen.
„In Ordnung.“ Oredions Stimme zitterte leicht. „Wenn du es so willst, frage ich dich direkt: Hast du die Glasbrecherin mit Absicht nachlässig behandelt?“
Wiralin musterte Oredion für eine lange Weile eisig.
„Nein, ich habe sie nicht mit Absicht nachlässig behandelt. Aber ich habe sie auch nicht anders behandelt als einen meiner Soldaten. Sie ist nach Glynwerk geholt worden, um dem Heer zu dienen. Das macht nur Sinn, wenn sie das Leben im Heer durchsteht - falls es überhaupt irgendeinen Sinn machen kann.“
„Sie ist kein Soldat, Wiralin!“ Diesmal zitterte Oredions Stimme vor unterdrücktem Ärger. „Sie ist nicht einmal eine Rekrutin, die zur Soldatin ausgebildet werden soll!“
„Dann hat sie hier auch nichts zu suchen!“
Mit knallenden Stiefelabsätzen verließ Wiralin das Krankenquartier. Sein Groll auf Oredion begleitete ihn auf dem ganzen Weg vom Krankenquartier zur Generalskanzlei. Dieser rückgratlose Feigling sollte sich davor hüten, sich mit ihm anzulegen! Wenn er glaubte, dass er einen Glasbrecher unversehrt von Mooresruh nach Glynwerk bringen konnte, stand es ihm frei, es zu versuchen! Bis dahin sollte er den Mund halten und seine Arbeit tun – wenn er zumindest dazu fähig war. Wiralin ertappte sich dabei, wie seine Finger über die Narbe in seinem Gesicht glitten. Verdrossen stieß er seine Hand in die Hosentasche. Dieses Tasten nach seiner Narbe wurde zu einer schlechten Angewohnheit. Er durfte sich von dieser Entstellung nicht beherrschen lassen. Sicher war nur die Untätigkeit daran schuld. Wenn er erst wieder das Kommando über die Bogenschützen hätte, würde er seine Hände für etwas anderes brauchen als für sein Gesicht. Direkt vor der Generalskanzlei kam ihm Ulante entgegen, im Brustpanzer und mit ihrem Helm unter dem Arm. Sie musste vom Drill kommen. Sogar nach vier Jahren wurde Wiralin immer neu von ihrer Erscheinung gefesselt. Ulante sah genau so aus, wie er sich in seiner Kindheit Lins Tochter Tyrda vorgestellt hatte, die Halbgöttin des Feuers und des Eisens. Ihr athletischer Körper war ständig in Bewegung – nie hastig oder sprunghaft, sondern elegant, wie ein unablässig züngelndes Feuer. Ihr Gesicht war ein wenig zu breit, um sie zu einer wahren Schönheit zu machen. Doch die fast schwarzen Augen unter langen Wimpern und die vollen Lippen mit ihrem entschlossenen Zug machten dies sofort vergessen.
„Wiralin – du bist wieder zurück.“ Ulante hielt sich nicht im Gang auf, sondern bog sofort in die Generalskanzlei ein.
Wiralin folgte ihr und schloss die Tür hinter sich. Nach den öden Reisetagen wirkte Ulantes Schwung doppelt belebend. Mit einer einzigen fließenden Bewegung goss die Generalin Wasser in ein Glas, trank und drehte sich zu ihrem Obersten Bogen um.
„Kündigst du mir unseren Glasbrecher an?“
Die prompte Frage nach der Glasbrecherin trübte Wiralins Wiedersehensfreude beträchtlich. „Für eine Ankündigung ist es noch zu früh. Wir haben nun eine Glasbrecherin hier auf Glynwerk, aber sie ist krank.“
Ulante hob die Augenbrauen. „Tatsächlich? Schwer?“
„Das wird Oredion dir später sagen können. Sie ist jetzt bei ihm. Aber ich muss kein Arzt sein, um schon jetzt zu wissen, dass wir nichts von ihr erwarten dürfen – oder von irgendeinem anderen Glasbrecher. Die Beschreibung dieser elenden Wesen in den Büchern ist nicht im Geringsten übertrieben – eher untertrieben. Es ist undenkbar, einen von ihnen in ein Feldlager mitzunehmen.“
Ulante löste ihren Zopf und kämmte mit beiden Händen durch ihr Haar. „Wenn diese Glasbrecher wirklich so nah am Rand des Todes wandeln, hätten wir gleich drei oder vier holen sollen. Das wollte ich eigentlich auch tun, aber Oredion hat mir versichert, dass es nicht notwendig wäre. Wenn er sich geirrt hat, kann er sich auf etwas gefasst machen!“
Wiralin traute seinen Ohren nicht. Hörte Ulante ihm eigentlich zu? Schärfer als beabsichtigt gab er zurück: „Welchen Unterschied hätte es gemacht, mehrere Glasbrecher zu holen? Ich bin nicht sicher, ob diese Glasbrecherin dort unten im Krankenquartier noch einmal von ihrem Bett aufstehen wird! Dabei soll sie die Kräftigste unter den Bewohnern von Mooresruh sein! Wenn nicht einmal sie die Reise in den Glynwald übersteht, wird kein Glasbrecher sie überstehen! Und das Leben im Feldlager ist noch viel anstrengender als die Reise! Wozu sollten wir ständig Todkranke mit uns herumschleppen – noch dazu, wo mir immer noch nicht klar ist, was ein Glasbrecher überhaupt im Kampf gegen die Ronn ausrichten soll. Wir sind noch kein einziges Mal–“
„Das hatten wir schon alles,“ winkte Ulante ungehalten ab. „Du stehst jetzt seit Jahren unter meinem Kommando. Dir muss also klar sein, dass ich weiß, was ich tue.“
Wiralin fügte sich ihrem hoheitsvollen Blick und verneigte sich knapp. Bisher hatte er wirklich kein einziges Mal daran gezweifelt, dass sie wusste, was sie tat. Weil ihre Entscheidungen Sinn ergeben hatten. Die Entscheidung, einen Glasbrecher zu holen, ergab jedoch keinen Sinn. Zumindest nicht für ihn. Der Verdacht, dass sie etwas vor ihm geheim hielt, nagte an ihm – er nagte umso heftiger, weil Oredion mehr zu wissen schien als er. Verbittert beschloss Wiralin, sich zurückzuziehen. Die Generalin griff nach einer Flasche Wein. Die Selbstverständlichkeit, mit der Ulante zwei Kristallkelche bereitstellte, wurmte und beschwichtigte Wiralin gleichermaßen. Schon ploppte der Korken aus der Flasche. Der Moment war vorüber. Nun wäre es äußerst unhöflich gewesen, zu gehen. Und als Ulante ihm lächelnd das gefüllte Glas entgegenhielt, hätte Wiralin es nicht einmal ablehnen können, wenn er es gewollt hätte. Endlich fühlte er sich besser – bis Ulante erneut zu sprechen begann:
„Gut, dass du wieder zurück bist. Der Winter schreitet fort. Du musst damit beginnen, Ronn zu lernen.“
Beinahe hätte Wiralin Wein auf seine Uniform verschüttet. „Weshalb, bei Lin, soll ich die Sprache dieser Biester lernen? Ich habe genug zu tun mit dem Kommando über die–“ Jäh fiel ihm ein, dass er zurzeit nur den Titel des Obersten Bogens trug. Ulante hatte ihn noch nicht wieder in sein Kommando eingesetzt.
Die Generalin fuhr mit einem Finger die Konturen ihres Kristallkelchs nach. „Natürlich wirst du das Kommando über die Bogenschützen bald wieder übernehmen. Aber vorerst brauche ich dich für die Glasbrecherin. Und ihr werdet beide Ronn lernen.“
Wiralin fühlte sich, als ob Ulante ihm den Knauf ihres Schwerts über den Kopf gezogen hätte. Was sollte das heißen, dass sie ihn für die Glasbrecherin brauchte? Und warum sollte die Glasbrecherin Ronn lernen? Es wäre doch das Beste, wenn dieses Bündel Elend seinen Mund überhaupt nie aufmachen würde! Diese kreischende, alles zerschmetternde Stimme würde in einer anderen Sprache um nichts erträglicher sein!
„Wofür haben wir Übersetzer?“ Wiralins Stimme war rau vor Unmut.
Ulantes dunkle Augen betrachteten ihn eindringlich. Der entschlossene Zug um ihren Mund verstärkte sich. „Übersetzer sind Übersetzer. Ich brauche jemanden, dem ich vollkommen vertrauen kann, Wiralin. Ich brauche jemanden in meinem engsten Umfeld, der nicht auf die Übersetzer angewiesen ist. Manche Dinge dürfen mein engstes Umfeld nicht verlassen. Du bist jetzt freigespielt, weil Ipentar das Kommando über die Bogenschützen übernommen hat – vorerst. Und weil du ohnehin für die Glasbrecherin verantwortlich sein wirst, kannst du auch gemeinsam mit ihr Ronn lernen.“
Wiralin war nicht länger fähig, vor Ulante stehen zu bleiben. Steif ging er zu einem der Fenster hinüber und starrte auf den verschneiten Glynwald hinaus. Erst als er sicher war, dass er seinen Ton unter Kontrolle hatte, machte er den Mund auf:
„Die Glasbrecherin wird ständig von Soldaten umgeben sein – so wie jeder im Linländer Heer. Sie braucht niemanden, der speziell für sie verantwortlich ist. Außer, du hältst sie für ein Kleinkind. Ist das wirklich das, was du von mir willst, Ulante? Ich soll das Kindermädchen für eine Glasbrecherin spielen?“
„Ich bin enttäuscht von dir!“ Ulantes Stimme tönte kühl. „Ich zähle auf dich – auf einen meiner engsten Vertrauten! Ich gebe diejenige Person in deine Obhut, von der auf dem kommenden Feldzug viel abhängen wird! Ich zeichne dich aus! Und du verhältst dich, als ob ich dich degradiert hätte! Erinnere dich daran, wie es draußen im Feld ist! Selbst in einem gut organisierten Heer kann bei einen Angriff Unruhe entstehen – manchmal sogar Unordnung. Deshalb muss es jemanden geben, der für den Schutz der Glasbrecherin zuständig ist. Und auch solange wir noch hier auf Glynwerk sind, muss jemand auf sie achten. Sie hat ihr ganzes Leben in Mooresruh verbracht. Sie weiß nichts über das normale Leben und schon gar nichts über das Leben beim Heer. Also braucht sie jemanden, an dem sie sich orientieren kann – und der sie beschützt. Selbst unter unseren Soldaten gibt es raues Volk. Gerade wenn die Glasbrecherin so schwächlich ist, wie du sagst, muss jemand ein Auge auf sie haben.“
Bei den Worten „ein Auge“ zuckten Wiralins Finger zu seinem Gesicht. Im nächsten Moment rammte er seine Hand erneut in die Hosentasche und ballte sie zur Faust.
„Ich brauche dich,“ fuhr Ulante nach einer Pause fort – nicht mehr ganz so kühl, aber keineswegs versöhnlich. „Und ich kann mir nicht vorstellen, dass du mich im Stich lassen wirst.“
Wiralin drohte von der bittersten Enttäuschung seines Lebens überwältigt zu werden. Die Rückkehr auf Glynwerk hätte die Rückkehr in sein altes Leben werden sollen – in das Leben vor seiner Verwundung. Nun sollte er stattdessen darauf achten, dass die Glasbrecherin nicht in einen Speer rannte oder von einem Pferd niedergetrampelt wurde! Diese Aufgabe könnte jeder erfüllen – sogar dieser Feigling Oredion! Ein Arzt wäre ohnehin am besten dafür geeignet, eine Glasbrecherin zu hüten. Weshalb gab Ulante sie also nicht in Oredions Hände? Weil sie diese Aufgabe tatsächlich nicht irgendjemandem übertragen wollte, sondern nur einem engen Vertrauten? Wusste Oredion am Ende doch nicht mehr über Ulantes Pläne als er? Wer für die Glasbrecherin verantwortlich war, würde gewiss vor allen anderen erfahren, was die Generalin mit ihr vorhatte...
Wiralin drehte sich wieder zu Ulante um. „Du kannst auf mich zählen.“
„Das wusste ich doch.“ Ihre Miene war glatt, völlig frei von Vorwürfen oder irgendwelchen anderen Regungen.
Ulante ging zu Wiralin hinüber und küsste ihn flüchtig. Bevor er auch nur einen Arm um sie legen konnte, war sie schon wieder zurückgewichen. Die Zeit, tröstete er sich stumm. Es war noch zu früh am Tag. Trotzdem schweifte sein Blick unweigerlich in die Richtung von Ulantes Schlafraum.
Ulante wandte sich ihrem Schreibtisch zu. „Ach, eines noch,” sagte sie über ihre Schulter. „Komm nachts nicht mehr in die Generalskanzlei – zumindest vorerst nicht. Es sind Gerüchte über uns aufgekommen, und das gefällt mir nicht.“
Dieser neue Hieb entriss Wiralin ein gequältes Lachen. „Diese Gerüchte gibt es seit zwei Jahren.“
„Ja sicher.“ Ulante löste die Schnallen ihres Brustpanzers. „Aber für diesen Spätwinter hat mein Mann einen Besuch hier auf Glynwerk angekündigt. Bis dahin müssen die Gerüchte verstummt sein.“
Sie sah Wiralin gebieterisch an, bis er nickte. Draußen vor der Generalskanzlei stieg Munias Bild wie ein Rachegeist vor Wiralins innerem Auge auf. Gewaltsam schob er das Bild beiseite. Er war nicht am Ende seiner Laufbahn angelangt. Er hatte nur eine schwere Zeit durchzustehen, das war alles.
Erdree glaubte, eine kühle Hand auf ihrer Stirn zu fühlen. Im nächsten Moment war sie nicht mehr sicher, ob die Hand wirklich da gewesen war. Vielleicht hatte sie wieder fantasiert. Viele der vagen Erinnerungsfetzen in ihrem Kopf stammten wohl aus ihren Fieberträumen, statt aus der Wirklichkeit. Das Fieber musste ziemlich hoch gewesen sein. Sie kannte dieses matte Gefühl, das sie an ihre Matratze zu ketten schien. Außerdem lebte ein Rest der wankelmütigen Fieberhitze immer noch in ihrem Körper. Ihre ausgetrocknete Kehle schmerzte, aber ihr Hals schien nicht mehr so stark zugeschwollen zu sein wie vor einiger Zeit – wann immer das gewesen sein mochte. Erst nach einigem Ringen brachte Erdree ihre Augenlider dazu, sich zu heben. Ihr Blick fiel auf eine hell getünchte Decke. Gemessen an der Größe des Raumes war diese Decke ziemlich hoch – zu hoch für ein Zimmer in einem Gasthof. Tageslicht strömte durch ein Fenster, doch Erdree konnte hinter den Scheiben nicht mehr erkennen als einen Himmel voll dünner Nebelschwaden. Wahrscheinlich lag sie wieder in einem Herrenhaus. Ein plötzliches Geräusch brachte Erdree dazu, ihren Kopf erschrocken nach rechts zu wenden. Sicher würde nun Wiralin neben ihr auftauchen und ihr befehlen, sich rasch für die Abfahrt bereit zu machen. Allein die Vorstellung jagte einen Schauer durch ihren geschwächten Körper. Erdree fühlte sich unfähig, auch nur einen Fuß aus dem Bett zu heben. Sie wartete so angespannt auf den barschen Befehl, dass sie eine unbekannte, freundliche Stimme beinahe überhörte:
„Guten Morgen! Wie wäre es mit einem Schluck Tee?“
Ein Mann schob sich in Erdrees Gesichtsfeld. Seine braunen Augen betrachteten sie mit milder Sorge. Er schien nicht sicher zu sein, ob sie ihn verstanden hatte. Erdree nickte und versuchte, sich aufzurichten. Sofort glätteten sich die klaren, einfachen Gesichtszüge. Der Mann half ihr dabei, sich bequem hinzusetzen und reichte ihr dann eine Schale Tee. Obwohl er das Gefäß nicht ganz aus seinem Griff entließ, achtete er sorgfältig darauf, dass Erdree selbst bestimmte, wie schnell sie trank. Zuletzt stellte er die leere Schale beiseite und setzte sich auf die Bettkante.
„Mein Name ist Oredion. Ich bin der Oberarzt des Linländer Heers.“
Mit unermesslicher Erleichterung sank Erdree tiefer in ihre Kissen. Also war sie schon auf Glynwerk. Sie musste heute nicht mehr in einen Wagen steigen.
„Du hast dir auf der Fahrt eine böse Lungenentzündung zugezogen. Aber es sieht so aus, als ob du das Schlimmste jetzt überstanden hättest. Zumindest ist das Fieber endlich zurückgegangen.“
Der Arzt streckte eine Hand aus, um Erdrees Hals zu betasten. Seine Bewegungen waren ebenso bedächtig wie sein Blick. Weder seine Gegenwart noch seine Berührungen erfüllten Erdree mit Unbehagen. Dabei war sie sogar in Mooresruh den Berührungen der anderen Glasbrecher immer ausgewichen.
„Wie ist dein Name?“
Erdree räusperte sich vorsichtig. Würde sie einen Ton hervorbringen, der ungefährlich für Ohren und Fensterscheiben wäre? Es gelang ihr tatsächlich, ihren Namen zu krächzflüstern. Gleich darauf wurde sie von einem Hustenanfall gepackt.
„Ordentlich heraushusten!“ mahnte Oredion, als Erdree versuchte, den Anfall zu dämpfen. „Der Schleim in deiner Lunge muss abgehustet werden. Keine Sorge, es ist nichts Gläsernes im Raum – bis auf die Fensterscheiben, aber die sollten dick genug sein, um deinem Husten standzuhalten. Und falls sie doch nicht dick genug sein sollten, ist es auch gleich. Es wird sich Ersatz finden.“
Dankbar, aber nicht völlig beruhigt, folgte Erdree Oredions Anweisung. Nachdem sie den Schleim in die Schale gespuckt hatte, die der Arzt ihr vor die Nase hielt, richtete Erdree ihre tränenden Augen auf das Fenster. Kein einziger Sprung lief durch die Scheiben. Erdree atmete auf.
Oredion blickte bekümmert in die Schale. „Nun, zumindest beginnt sich der Schleim zu lösen...“ Der Arzt zückte ein Hörrohr und schob Erdrees Nachthemd zur Seite. Stirnrunzelnd lauschte er einige Atemzüge lang. „Das rasselt noch ziemlich,“ stellte er fest. „Hast du Schmerzen in der Brust?“
Erdree hoffte inständig, dass sie nicht jedes Mal einen Hustenanfall bekommen würde, wenn sie zu flüstern versuchte. „Es tut weh, wenn ich huste – aber nicht besonders stark.“
Oredions linke Augenbraue hob sich besorgt. „Kann ich mich darauf verlassen, dass du deine Beschwerden nicht verharmlost, Erdree? In dem Schleim, den du ausgehustet hast, ist etwas Blut – es würde mich deshalb nicht wundern, wenn deine Schmerzen heftiger wären als ,nicht besonders stark.’ Wir haben beide nichts davon, wenn du deine Beschwerden herunterspielst – du nicht, weil du leidest, und ich nicht, weil ich nicht alles für dich tun kann, was vielleicht notwendig wäre.“
Verlegen senkte Erdree den Kopf. Die Schmerzen beim Husten waren tatsächlich stärker gewesen als sie zugegeben hatte. In Mooresruh gehörte es zum guten Ton, die anderen Glasbrecher nicht über den eigenen Gesundheitszustand zu beunruhigen. Jeder hatte genug mit sich selbst zu tun. Außerdem musste Erdree sich eingestehen, dass es noch einen weiteren Grund für ihre Lüge gab: Sie wollte dem Oberarzt des Linländer Heers nicht noch jämmerlicher erscheinen als sie ohnehin war.
Oredion deutete das stumme Schuldeingeständnis richtig: „Also – wie steht es nun mit den Schmerzen in der Brust?“
Fest entschlossen, diesmal eine ehrliche Antwort zu geben, lauschte Erdree in ihren Körper hinein. „Wenn ich tief einatme, sticht es manchmal hier–“ Erdree deutete auf eine Stelle links neben ihrem Herzen. „Und hier sitzt auch der schlimmste Schmerz beim Husten. Die übrige Lunge schmerzt beim Husten nur leicht – wirklich!“
„Und der Hals? Wie geht es dir beim Schlucken?“
„Es fällt mir noch schwer,“ wisperte Erdree. „Der Tee ging, aber alles andere... Essen würde ich heute lieber noch nichts.“
Oredion schüttelte sanft den Kopf. „Als dein Arzt muss ich darauf bestehen, dass du schon heute etwas isst – es wird eben Suppe und Grießbrei geben. Du bist viel zu mager. Vermutlich nicht erst seit deiner Reise.“ Nach einem kurzen Schweigen fuhr er fort: „Ich werde nun Medizin und etwas Suppe holen gehen. Wenn du gegessen hast, wirst du wahrscheinlich wieder schlafen wollen. Das wäre auch sehr empfehlenswert. Morgen würde ich dich gerne genauer untersuchen – wenn das Fieber weiterhin sinkt und ich es verantworten kann, dass du für kurze Zeit das Bett verlässt.“
Erdree nickte. Dann erwiderte sie ratlos den nachdenklichen Blick des Arztes, der immer abwesender wurde. Endlich richteten Oredions Augen sich wieder bewusst auf sie.
„Bist du wirklich die kräftigste unter den Glasbrechern, Erdree?“
Niedergeschmettert zog Erdree ihre Bettdecke höher. Sogar dieser verständnisvolle Arzt, der mehr über die Glasbrecher wissen musste als alle anderen Linländer, war von ihr enttäuscht?
„Ja, ich bin die kräftigste unter den Glasbrechern – zumindest unter den Erwachsenen.“ Erdree war so aufgewühlt, dass es ihr schwerfiel, ihre Stimme zu einem Flüstern zu dämpfen. „Glaubt Ihr denn, dass der Älteste der Glasbrecher es gewagt hätte, die Generalin zu hintergehen?“
Oredion hob beschwichtigend die Hände. „Nein, nein! Ich hätte nur nicht gedacht...“ Er ließ den Satz in der Luft hängen und schüttelte nochmals sanft den Kopf. „Ich werde gleich wieder zurück sein – mit einer Schale Suppe und mehr Tee.“ Nach einem letzten bedächtigen Blick aus seinen milden braunen Augen verließ Oredion den Raum.
Oredion holte Erdree am nächsten Tag noch nicht in das große Behandlungszimmer, um sie gründlich zu untersuchen. Ihr Fieber war zwar weiter gesunken, aber nicht schnell genug für den Geschmack des Arztes. Am liebsten wollte er die Bettruhe seiner Patientin erst unterbrechen, wenn das Fieber ganz geschwunden wäre. Erdree fand das übertrieben. Wie oft hatte sie mit leichtem Fieber die Kühe gemolken oder die Kinder unterrichtet! In Mooresruh waren Krankheiten so häufig, dass die Glasbrecher wegen leichter Beschwerden nicht von ihren Arbeitspflichten befreit werden konnten. Wer hätte sonst die Schwerkranken vertreten? Wenn alle Glasbrecher arbeiteten, die halbwegs dazu imstande waren, blieb ihnen auch genug Muße, um ihre weniger ernsten Leiden auszukurieren. Dennoch widersprach Erdree Oredion nicht. Er war der Oberarzt des Linländer Heers, und nach der alptraumhaften Reise fand sie die einsame, ruhige Zeit in ihrem Krankenzimmer ein großes Geschenk. Die Erkenntnis, dass sie die Fahrt in den Glynwald überlebt hatte, musste sich erst festsetzen. Doch statt Ruhe brachte ihr diese Erkenntnis nur neue Ängste. Wenn die Reise schon solche Strapazen gebracht hatte – welche Anstrengungen mochten dann hier beim Heer auf sie warten? Immer wieder versuchte Erdree, sich in der Schicksalsergebenheit zu üben, die Algon stets gepredigt hatte. Nie wollte es ihr gelingen. In Mooresruh konnte ein Glasbrecher sich einfach in sein Schicksal fügen. Doch hier beim Heer hatte sie kein Schicksal hinzunehmen, sondern eines zu erfüllen. Sie wusste zwar noch nicht, welcher Dienst von ihr erwartet wurde, aber irgendein Dienst wurde gewiss von ihr erwartet. Sonst wäre sie nicht in den Glynwald gerufen worden. Unzählige Male fragte Erdree sich, ob Oredion wohl wusste, warum die Generalin einen Glasbrecher zum Heer gerufen hatte – auch in jenem Augenblick, in dem er sie in den Behandlungsraum bat.
Oredion untersuchte ihren ganzen Körper auf das Genaueste. Er musterte, horchte, klopfte, tastete, zog und drehte. Je tiefer sich die Falte zwischen seinen Augenbrauen eingrub, desto mehr sank Erdree in sich zusammen. Erkannte Oredion nun, dass ein Glasbrecher nicht dazu imstande war, auch nur den kleinsten Dienst im Kampf gegen die Ronn zu leisten? Würde sie wieder fortgeschickt werden – als der endgültige Beweis dafür, dass die Glasbrecher vollkommen nutzlos waren?
Nach einer schier endlosen Weile schickte Oredion Erdree zurück in ihr Bett. Wenig später nahm er neben ihr auf einem Stuhl Platz, ein Notizbuch in seiner Hand.
„Wie alt bist du, Erdree?“
„Im Frühwinter waren es dreiundzwanzig Jahre.“
Wieder schüttelte Oredion auf jene sanfte Weise den Kopf, die Erdree während ihrer kurzen Bekanntschaft schon so oft gesehen hatte. „Eigentlich bin ich recht gut darin, das Alter meiner Patienten zu schätzen. Aber bei dir war ich völlig unsicher. Du hättest ebenso gut fünfzehn Jahre alt sein können wie dreißig – je nachdem, ob man den Gesamteindruck nimmt, oder ob man Einzelheiten betrachtet. Nach allem, was ich über die Glasbrecher weiß – was offen gestanden nicht viel ist – müsste dein Zustand besser sein. Mir ist natürlich klar, dass die Glasbrecher schwächer und krankheitsanfälliger sind als alle anderen Linländer – und dass sie deshalb ein weniger anstrengendes Leben führen müssen. Außerdem weiß ich, dass Glasbrecher an chronischen Krankheiten leiden, vor allem an Hautausschlägen und an Rheuma. Deshalb wurden sie ja in Mooresruh angesiedelt – damit sie regelmäßig Moorbäder nehmen können. Von diesen chronischen Krankheiten sehe ich bei dir allerdings nichts. Deine Haut ist zwar trocken und angegriffen, aber ich fand keine Spur von einem Ausschlag. Und deine Gelenke sind völlig in Ordnung. Aber dein Allgemeinzustand... Er kann nicht nur wegen der Reise so schlecht sein. Natürlich war die Reise anstrengend, und sie hat bestimmt die Lungenentzündung verursacht. Aber du warst eindeutig immer oder zumindest für lange Zeiträume unterernährt – und öfter schwer krank. Welche Krankheiten waren das? Und leiden die anderen Glasbrecher unter denselben Krankheiten oder unter anderen?“
Vor lauter Erstaunen konnte Erdree sich kaum auf ihre Krankengeschichte konzentrieren. Hatte Oredion wirklich geglaubt, dass Rheuma und Hautausschläge die einzigen Plagen der Glasbrecher waren? Dann wären die Bewohner von Mooresruh doch nicht dermaßen nutzlos!
„Meistens huste ich den ganzen Winter über,“ begann Erdree in zögerlichem Flüsterton. Es fiel ihr immer noch schwer, über ihre Krankheiten zu sprechen. „Schon seit ich ein Kind war. In einem Winter huste ich mehr, im anderen weniger. Fast in jedem Spätwinter gibt es in Mooresruh eine Grippewelle, der kaum jemand entgeht – auch ich nicht. Aber Fieber kommen auch zu anderen Jahreszeiten. Dreimal – nein, viermal, aber einmal war es nicht so schlimm – hatte ich wochenlang Fieber und Schwellungen am ganzen Körper. Ich konnte mich fast nicht bewegen, weil es weh tat, die Gelenke abzubiegen – wegen der Schwellungen...“
„Tümpelfieber,“ warf Oredion ein. Die Falte zwischen seinen Brauen vertiefte sich noch mehr. „Das muss dann im Sommer gewesen sein. Und dieses Fieber hatten auch andere Glasbrecher?“
„Dieses Fieber hatten immer nur einzelne Glasbrecher, und selten zur selben Zeit – anders als bei der Grippe, wo immer alle gleichzeitig krank sind. Und glücklicherweise traf es nie die Schwächsten unter uns. Sie hätten diese Krankheit – das Tümpelfieber – wohl nicht überstanden.“
Oredion stützte seinen linken Ellbogen auf die Armlehne seines Stuhls und legte zwei Finger an die Schläfe. Sein Fuß wippte unruhig. „Und die kräftigeren Glasbrecher verlassen auch im Sommer das Gebäude, um auf das Moor hinauszugehen?“
„Sicher.“ Erdree sah ihn verständnislos an. „Wir brauchen immer Grünfutter für die Kühe – das Heu, das die Lieferwagen bringen, reicht nie. Außerdem sammeln wir einige Heilkräuter. Vor allem die Blüten des Schilfwürgers – für den Morgentee.“
Das Fußwippen brach jäh ab. „Wer trinkt morgens Tee aus Schilfwürgerblüten?“
„Alle. Dieser Tee lindert unsere Anfälligkeit für Krankheiten zumindest ein bisschen.“ Plötzlich stieg ein lähmendes Unbehagen in Erdree auf. Seit dem Tag ihrer Abreise von Mooresruh hatte sie keinen Schilfwürgerblütentee mehr getrunken. Kein Wunder, dass es ihr auf der Reise so schlecht gegangen war! Wie hatte sie nur auf ihren Morgentee vergessen können? „Eigentlich hätte ich auch auf der Reise Schilfwürgerblütentee trinken müssen. Vielleicht ist das Fieber deshalb nicht so rasch zurückgegangen, wie Ihr gedacht habt. Habt Ihr getrocknete Schilfwürgerblüten in Eurem Medizinschrank?“
Oredion schüttelte seinen Kopf mit ungewöhnlicher Entschiedenheit. „Das wird nicht notwendig sein.“
Erdrees Unbehagen wuchs. Inzwischen war klar geworden, dass Oredion viel weniger über die Glasbrecher wusste als sie geglaubt hatte. Vielleicht wusste er sogar weniger als er selbst glaubte. Was, wenn er sich irrte – wenn der Tee aus Schilfwürgerblüten für einen Glasbrecher unbedingt notwendig war?
„Aber die Glasbrecher tranken immer morgens eine Schale Schilfwürgerblütentee – so weit sie zurückdenken können!“
Ihr Einwand kam so zaghaft, dass Oredion sie bitten musste, den Satz zu wiederholen. Danach seufzte er. „In Mooresruh mag es sinnvoll sein, diesen Tee zu trinken. Hier auf Glynwerk ist es unnötig. Erzähl mir mehr von deinen Krankheiten. Husten und Tümpelfieber – was gab es noch?“
Nun kamen die Worte noch schwerer über Erdrees Lippen. Gerne hätte sie Oredion genauso vertraut wie bisher. Aber der Gedanke an den Schilfwürgerblütentee ließ sich nicht verdrängen.
„Beim Essen vertrage ich große Portionen nicht gut – und fette Speisen. Mir wird dann leicht übel. Aber darauf muss ich ohnehin nur an Festtagen achten... Kopfschmerzen habe ich auch recht häufig. Besonders, wenn das Wetter sich ändert. Bei großer Hitze wird mir manchmal schwindlig.“
„Kannst du mir noch mehr vom Alltagsleben in Mooresruh erzählen?“
Erdree griff sich an die Kehle. Das viele Flüstern strengte sie an.
„Nur ganz kurz,“ bat Oredion. „Das Wichtigste.“
„Es gibt ohnehin nicht viel zu erzählen. Nachts schlafen wir. Am Vormittag arbeiten wir zwei Stunden und am Nachmittag nochmals zwei. Dazwischen ruhen wir. Es gibt einen Plan, der festlegt, wer wann welche Arbeit macht – unser Ältester schreibt ihn. Wir müssen die Mahlzeiten zubereiten, die Küche und die andere Räumen reinigen, die Kühe und die Hühner versorgen, die Schwerkranken pflegen, Kleidung flicken, Pflanzen sammeln, Torf stechen, die jüngsten Glasbrecher wickeln und füttern und den älteren Kindern Lesen, Schreiben, Rechnen, Landeskunde und Heilkunde beibringen.“
Ohne es zu merken, war Erdree in die beredte Gestik der Glasbrecher verfallen. Alles stieg wieder vor ihrem inneren Auge auf. Nach dem Alltag beschrieb sie auch noch die zahllosen Leiden der Glasbrecher: Die Ausschläge, die Verwachsungen und Verkrüppelungen, den Verlauf von so gewöhnlichen Krankheiten wie Erkältung und Grippe, Augenprobleme von starker Kurzsichtigkeit bis zur Blindheit, die unterschiedlichsten Arten von Fieber und von Geschwüren. Oredion hörte schweigend zu. Die Falte zwischen seinen Brauen wurde manchmal tiefer, manchmal glättete sie sich wieder etwas.
Als Erdree endlich innehielt, war sie sicher, dass sie noch nie in ihrem Leben so lange gesprochen hatte wie gerade eben. Ihre Kehle war völlig rau. Erdree wandte sich zur Seite, um nach dem Tonkrug auf ihrem Nachttisch zu greifen. Doch statt Wasser in ihre Trinkschale zu gießen, stieß sie vor Schreck beinahe den Krug um. Im Türrahmen nahm sie den dunklen Umriss eines Linländers wahr. Wer war das – und seit wann stand er hier? Wie gelähmt starrte Erdree den Mann an. Trotzdem sah sie nicht mehr als seine braunen Augen und das halblange, braune Haar, das ständig über diese Augen fallen wollte. Der Linländer musterte sie so unverhohlen, dass Erdree seinem Blick auswich, sobald ihre Schockstarre genügend nachgelassen hatte. Mit gesenktem Kopf hörte sie, wie Wasser in ihre Trinkschale gefüllt wurde. Gleich darauf erschien Oredions Hand mit der vollen Schale in ihrem Blickfeld.
„Kein Grund zur Beunruhigung. Das ist mein Bruder Kelroy. Er lebt hier bei mir auf Glynwerk. Er ist stumm und weiß manchmal nicht, wie er andere auf sich aufmerksam machen kann, ohne sie dabei zu erschrecken.“
Erdree glaubte, leichte Missbilligung in Oredions Stimme zu hören. Ärgerte er sich darüber, dass sie so vor seinem Bruder erschrocken war? Sie nahm die Schale aus Oredions Hand und trank langsam, um ihren Mut zu sammeln. Nachdem sie die Schale beiseite gestellt hatte, richtete sie ihre Augen scheu auf Kelroy. Er stand immer noch unverändert. Auf den zweiten Blick konnte Erdree die Ähnlichkeit zwischen dem Arzt und seinem Bruder erkennen. Kelroy war allerdings größer und kräftiger, mit kantigeren Gesichtszügen. Er betrachtete Erdree immer noch – genau so, wie ein Forscher wohl ein unbekanntes Tier betrachtet hätte. Sein Gesichtsausdruck schien immer ungläubiger zu werden. Wieder ließ Erdree ihren Kopf sinken, zog ihre Knie an und umschloss sie mit ihren Armen. Erst hier, im Krankenquartier auf Glynwerk, waren die vielen abschätzigen Blicke, die sie auf ihrer Reise geerntet hatte, aus ihrer Erinnerung aufgetaucht – nicht allein Wiralins Blicke oder Munias. Auch die Blicke der Wirtsleute und der Gäste in den Gasthöfen. Kelroys Starren kündigte an, dass es auf Glynwerk nicht besser sein würde. Erdree begann, diese abschätzigen Blicke zu fürchten. Nur von Oredion war sie nie angeekelt gemustert worden. Aber selbst er hatte kein Hehl daraus gemacht, dass seine Erwartungen an den kräftigsten Glasbrecher höher gewesen waren.
„Was gibt es denn?“ wollte Oredion von Kelroy wissen.
Die folgende Stille verwirrte Erdree – bis ihr wieder einfiel, dass Kelroy stumm war. Als sie aufblickte, sah sie gerade noch, wie er auf seinen linken Unterarm deutete. Gleich darauf bewegte er seine Finger wie jemand, der einen Zweig zerbrach.
Oredion stöhnte. „Schon wieder ein gebrochener Arm? Die Soldaten führen ihre Holzschwerter beim Drill wie Knüppel. Hoffentlich kein offener Bruch.“
Sein Bruder schüttelte den Kopf und führte in flinker Geste Daumen und Zeigefinger zusammen.
Oredion stand auf. „Hol mir einen der Krankenpfleger, damit er Armschienen und Verbandsmaterial zurecht legt.“
Während Kelroy davonstiefelte, wandte Oredion sich wieder an Erdree: „Ich werde mir später alles durch den Kopf gehen lassen, was du mir erzählt hast. Danach werde ich eine Medizin für dich zusammenstellen, damit du ein wenig widerstandsfähiger wirst – und stark genug für deinen Dienst. Auf jeden Fall wirst du noch hier im Krankenquartier bleiben, bis du absolut fieberfrei bist und bis die Schmerzen in deiner Brust verschwunden sind. Und auch nachdem du deinen Dienst auf Glynwerk angetreten hast, werde ich dich regelmäßig untersuchen.“
Oredion eilte hinaus und schloss die Tür hinter sich. Erdree rollte sich unter ihrer Decke zusammen. Vergeblich versuchte sie, der Schicksalsergebenheit nahezukommen. Zu viele zwiespältige Gefühle zerrten an ihr. Oredion zweifelte nicht daran, dass sie ihren Dienst antreten würde. Das war mehr als sie während der langen Stunden im Reisewagen zu hoffen gewagt hatte. Und sie konnte es immer noch nicht glauben. Im Wagen hatte sie nur sitzen müssen und war trotzdem schwer krank geworden. Dienen hieß etwas ganz anderes als herumsitzen. Niemand außer Oredion glaubte, dass sie wirklich dienen konnte. Jeder entsetzte Blick sprach Bände. Musste sie wirklich noch beweisen, dass sie die erste Hoffnung, die jemals in die Glasbrecher gesetzt worden war, enttäuschen würde? Dass die Linländer nicht das Geringste von den nutzlosen Glasbrechern erwarten durften?