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IV
ОглавлениеNachdem sie einen Tag lang fieberfrei gewesen war, erlaubte Oredion seiner Patientin, für einige Stunden ihr Bett zu verlassen. Erdree schob einen Sessel an das Fenster ihres Krankenzimmers und kauerte sich hinein. Das Krankenquartier lag hoch im Festungsbau. Wenn Erdree gerade hinausblickte, sah sie die dunklen, schneebestäubten Nadelbäume des Glynwalds. Wenn sie sich ein wenig vorbeugte, konnte sie die Soldaten im Hof vor den Ställen beobachten. Den Wald betrachtete Erdree lieber, obwohl er ebenso oft bedrohlich aussah wie erhaben. Das Gewimmel der Soldaten erinnerte sie zu stark an die lauten, vollen Gasthöfe auf ihrer Reise.
Fünf Tage später blieb das Stechen in Erdrees Brust sogar bei den tiefsten Atemzügen aus. Trotz dieser Besserung und trotz der Medizin, die Oredion für sie zusammengestellt hatte, war Erdree weit davon entfernt, sich so zu fühlen wie früher in Mooresruh. Dort hatte sie sich zwar selten wirklich wohl gefühlt, aber meistens stark genug, um zu arbeiten. Auf Glynwerk machte ihr nun statt des Hustens ständige Übelkeit zu schaffen, und während das Schwächegefühl in ihrem Körper nachließ, begann ihr Nacken zu schmerzen. Erdree wurde immer unruhiger. Sie konnte den Gedanken an den fehlenden Tee aus Schilfwürgerblüten nicht abschütteln. Was, wenn ihre Beschwerden davon kamen? Dennoch wagte sie es nicht, Oredion nochmals danach zu fragen. Er kümmerte sich so sehr um sie, dass es ihr undankbar vorgekommen wäre, auf dieser Kleinigkeit herumzureiten. Sie schämte sich geradezu dafür, unter seiner Fürsorge ständig neue Leiden zu entwickeln. Krampfhaft bemühte sie sich darum, wenigstens ihre Übelkeit vor ihm zu verbergen. Aber ihre Appetitlosigkeit entging Oredion freilich nicht.
„Du musst mehr essen,“ drängte er Erdree freundlich. „Ich habe gehofft, dass ich dich noch ein wenig aufpäppeln kann, bevor du das Krankenquartier verlässt. Aber nun wirst du morgen deinen Dienst antreten, und du bist immer noch viel zu mager. Oft bleibt die Hälfte von deinen Mahlzeiten übrig. Dabei habe ich genau darauf geachtet, dass du gut verträgliches Essen bekommst. Und ich kann kein Anzeichen für irgendeine akute Erkrankung mehr finden. Bedrückt dich etwas?“
Fahrig strich Erdree ihre Bettdecke glatt. Oredions besorgter Blick traf sie tief. Obwohl sie ihn nicht noch mehr beunruhigen wollte, brach ein Flüstern aus ihr hervor: „Mir ist meistens übel. Und mein Nacken tut weh.“
Oredions sanfte Finger tasteten nach ihren Nackenmuskeln. „Kein Wunder. Du bist völlig verspannt. Erdree–“ Oredion setzte sich auf die Bettkante und nahm Erdrees Hand in seine. „Du bist erst seit einigen Tagen hier auf Glynwerk. Du bist immer noch dabei, dich einzugewöhnen. Viel Neues kommt auf dich zu. Ich kann mir gut vorstellen, dass du heute besonders aufgeregt bist – weil du dich morgen bei Generalin Ulante melden sollst. Da bekommt man schon einmal einen flauen Magen und einen verspannten Nacken. Glaub mir – morgen Abend wirst du dich viel besser fühlen. Hab keine Angst. Niemand wird etwas von dir verlangen, was deiner Gesundheit schaden könnte. Schließlich braucht das Heer dich. Ich werde mich auch weiterhin um dich kümmern. Du wirst jeden Morgen hierher ins Krankenquartier kommen, um deine Medizin zu nehmen. Dann kannst du mir auch immer sagen, ob du noch etwas brauchst – und auch sonst jederzeit. Sicher wird dein Leben beim Heer anstrengender werden als in Mooresruh. Aber dafür wirst du auch... Dafür werden auch einige Dinge besser sein als in Mooresruh. Mach dir keine Gedanken. Nimm einen Tag nach dem anderen. Gewöhne dich an das Leben beim Heer, schau, dass du zu Kräften kommst, und komm zu mir, wenn du irgendetwas brauchst.“
Während ihr unsicherer Blick an den ruhigen braunen Augen hing, schöpfte Erdree ein wenig Hoffnung. Zwar herrschte in Oredions Ton immer noch die Bedachtsamkeit über die Überzeugung. Und sie wusste immer noch nicht, welchen Dienst die Generalin von ihr erwartete. Aber sie konnte nun sicher sein, dass Ulante sie nicht gerufen hatte, obwohl sie eine Glasbrecherin war, sondern weil sie eine Glasbrecherin war. Also würde die Generalin Rücksicht auf sie nehmen. Außerdem würde Oredion weiterhin für sie da sein.
„Ich werde dir später einen Tee bringen, der dich heute Nacht besser schlafen lässt. Aber versprich mir, dass du nichts mehr von deinem Essen zurück in die Küche schickst!“ Oredion wartete Erdrees Nicken ab. Dann drückte er nochmals ihre Hand.
Kaum war Oredion aus dem Zimmer verschwunden, traf es Erdree mit voller Wucht: Die Generalin erwartete einen Dienst von ihr, den nur ein Glasbrecher erfüllen konnte! Die Ehre aller Glasbrecher lag auf ihren Schultern!
Gemeinsam mit dem Frühstück für die Glasbrecherin brachte ein Krankenpfleger am nächsten Morgen neue Kleidung. Die Stiefel, die braune Lederhose und das grüne Hemd erinnerten Erdree an Wiralins Uniform. Nur die gepolsterte Lederweste fehlte. Außerdem war ihr Wollmantel nicht schwarz, sondern braun. Widerstrebend schlüpfte Erdree in die fremdartige Kleidung. Die Hose fühlte sich unangenehm steif und schwer an. Umgekehrt fand Erdree das Hemd viel zu dünn und zu leicht. Beides war viel zu groß. Die neue Kleidung schlotterte kaum weniger um ihre magere Gestalt als ihre Kutte es getan hatte. Erdree musste die Ärmel und die Hosenbeine mehrmals umschlagen. Die Kordel ihrer Kutte verwendete sie als Gürtel, damit die Hose nicht über ihre Hüften rutschte. Am meisten Sorge bereiteten ihr jedoch die schweren Stiefel. Ihre Füße waren an weiches, biegsames Schuhwerk gewöhnt. Bei den ersten Schritten kam Erdree sich unglaublich ungeschickt vor. Die Stiefel schienen geradezu am Boden zu kleben! Wollte man den Soldaten das Gehen so schwer wie möglich machen? Damit ihnen beim Gehen warm wurde und sie trotz ihrer dünnen Hemden nicht froren? Erdree fröstelte sogar nachdem sie den Wollmantel umgelegt hatte. Dabei stand sie noch im Krankenquartier, wo bestimmt besser geheizt wurde als anderswo auf der Festung. Unglücklich schleppte sie sich aus ihrem Zimmer in den Behandlungsraum, von wo sie abgeholt werden sollte.
Bei ihrem Anblick hielt Oredion jäh inne. „Das geht nicht,“ sagte er ungewöhnlich rasch. Seine Stirn legte sich in Falten. „Und wieso die Uniform eines Läufer der Bogenschützen...?“
Oredions milder Unmut beunruhigte Erdree. „Was tut denn ein Läufer?“
„Läufer sorgen im Feld dafür, dass die einzelnen Abteilungen des Heers die Verbindung nicht verlieren – sie geben Befehle weiter. Und auch im Lager tragen sie Botschaften und Befehle weiter.“
Erdree fühlte, wie sie noch blasser wurde.
„Keine Sorge,“ beschwichtigte Oredion sofort. „Du wirst nicht die Aufgaben eines Läufers erfüllen müssen. Offenbar will die Generalin nur, dass du eine Uniform trägst. Da liegt die Uniform eines Läufers natürlich näher als die eines Soldaten. Ich verstehe allerdings nicht, warum es die Uniform eines Läufers der Bogenschützen ist. Eigentlich müsstest du zum Generalstab gehören... Wie auch immer – darum geht es gar nicht. Diese Kleidung ist nicht warm genug für dich. Du brauchst einen besseren Mantel, wenn du hinausgehst – Schaffell oder Pelz. Pelz wäre besser, weil er nicht ganz so schwer ist.“ Oredion verfiel ins Brüten. Als jemand an die Tür klopfte, unterbrach er sein konzentriertes Schweigen: „Auf keinen Fall gehst du in diesem Mantel ins Freie! Es ist eisig kalt draußen, und du musst dich noch schonen! Aber zuerst gehst zu ja ohnehin nur in die Generalskanzlei. Herein!“
Ein junger Soldat im blauen Uniformhemd trat ein. „Ich soll jemanden vom Krankenquartier zur Generalskanzlei begleiten...“
Mit einer eleganten Geste wies Oredion gleichzeitig auf Erdree und forderte sie dazu auf, dem Soldaten zu folgen. Auf der Schwelle des Krankenquartiers erreichte Erdrees Übelkeit einen neuen Gipfel. Wegen ihres Versprechens an Oredion hatte sie ihr ganzes Frühstück heruntergewürgt. Wie dumm von ihr! Sie wusste doch genau, dass sie alles, was sie nur mit Mühe hinunterwürgte, meistens wieder heraufwürgte. Unerwarteterweise beruhigte ihr Magen sich auf den Gängen der Festung. Die Dunkelheit und der muffige Geruch weckten Erinnerungen an Mooresruh. Erst als der Soldat stehen blieb und an eine Tür klopfte, flammte Erdrees Übelkeit neu auf. Diesmal wurde das Würgen gerade noch rechtzeitig durch einen Schock gebändigt. Sowie die Aufforderung zum Eintreten erklang, öffnete der Soldat die Tür und schob Erdree in den Raum. Vor Schreck über die brüske Behandlung erstarrte sie auf der Stelle. Ihr Blick fiel dabei geradewegs auf die Generalin. Ulante stand am Fenster und prüfte die Klinge ihres Schwerts. Wie betäubt starrte Erdree auf die große, kräftige Gestalt und ihre unablässig fließenden Bewegungen. Der Anblick erfüllte sie mit Ehrfurcht. Alles an dieser Frau sprach von Gesundheit, Kraft und Willensstärke – von der Masse an dunkelbraunem Haar über die entschlossene Miene bis zu den fest auf den Boden gepflanzten Füßen.
Ulante steckte ihr Schwert weg und richtete ihre Augen auf Erdree. Die Glasbrecherin wappnete sich für einen weiteren Blick voll Abscheu und Enttäuschung. Doch Ulantes Miene blieb ungerührt. Offenbar hatten Wiralin und Oredion die Generalin schon auf den jämmerlichen Anblick vorbereitet. Ulantes Absichten schienen trotzdem ungebrochen zu sein. Erdree begriff, dass diese Frau unbeirrt den Weg gehen würde, den sie vor sich sah. Nichts würde sie von ihren Zielen abbringen. Unter der Ehrfurcht regte sich ein neues Gefühl in Erdree. Sie konnte es nicht gleich benennen, weil sie es zum ersten Mal empfand. Es war Neid – glühender, verzweifelter Neid. Nie zuvor hatte Erdree so sehr damit gehadert, eine schwache, nutzlose Glasbrecherin zu sein. Während sie täglich und schmerzhaft an die Grenzen ihrer Kraft stieß, kannte die Generalin keine Grenzen. Ulante folgte einfach ihren Visionen. Wenn sie dafür durchs Feuer gehen musste, würde sie es tun. Und wer in ihren Sog geriet, würde gnadenlos mitgerissen werden.
„Sag mir deinen Namen!“
Ulantes Befehl kam zu plötzlich für die aufgewühlte Glasbrecherin. Die erste Silbe ihres Namens kreischte unerträglich grell durch den Raum. Die Fensterscheiben vibrierten in ihren Rahmen. Ein hässlicher Sprung erschien in dem Kristallglas, das Ulante gerade zum Mund führen wollte. Erschrocken brach Erdree ab. Sie sah nur noch steil hochgezogene Augenbrauen, bevor sie beschämt zu Boden blickte.
„Wie war das?“ In Ulantes Ton schwang viel mehr Ungeduld als Ärger.
Erdree holte hastig Atem. Im nächsten Augenblick stockte sie wieder. Der Raum war ziemlich groß – ein Flüstern würde vielleicht nicht bis zum Fenster vordringen. Aber durfte sie sich der Generalin unaufgefordert nähern? Ein Schlag mit der flachen Hand auf den Tisch ließ Erdree zusammenfahren. Sie huschte drei Schritte näher und flüsterte ihren Namen so laut sie es wagen konnte.
Sofort ertönte der nächste Befehl: „Folge mir, Erdree!“
Ulante stolzierte zur Generalskanzlei hinaus. Erdree hatte Mühe, mit der Generalin Schritt zu halten. Unbeholfen stolperte sie in ihren schweren Stiefeln den Gang entlang und dann eine schier endlose Wendeltreppe hinunter. Einmal stürzte sie beinahe und fand gerade noch rechtzeitig Halt, bevor sie auf Ulante fiel. Als sie am Ende der Treppe ankamen, konnte Erdree nicht einmal erleichtert aufatmen, weil sie bereits zu heftig nach Luft rang. Zum Glück musste sie nur noch wenige Schritte hinter der Generalin hertaumeln. Ulante nahm eine Fackel von der Wand, sperrte eine Tür auf und schritt hindurch. In dem huschenden Lichtkreis erkannte Erdree zunächst nichts. Erst nachdem die Generalin zwei weitere Fackeln entzündet hatte, tauchte ein kleiner, fensterloser Raum aus der Dunkelheit auf. Er war direkt aus dem Fels herausgeschlagen. Sie mussten in die Kellergeschoße von Glynwerk hinabgestiegen sein. Bis auf einen grob gezimmerten Tisch stand der Raum leer. Auf dem Tisch lag ein Tablett aus einem seltsam glitzernden Metall. Die Generalin heftete einen gierigen Blick darauf und winkte die Glasbrecherin gebieterisch heran. Im Näherkommen erkannte Erdree, dass nicht das Tablett glitzerte, sondern dünne, durchsichtige Fäden, die darauf lagen. Solches Material hatte sie noch nie gesehen. Doch sie kam nicht dazu, die Fäden genauer zu betrachten.
„Sprich!“ forderte Ulante sie unvermittelt auf. „Beginne mit einem Flüstern und werde dann langsam lauter! So laut du kannst! Merke dir gut, wie diese Fäden auf die unterschiedlichen Lautstärken reagieren!“
Unbändige Verwirrung stieg in Erdree auf. Die drängenden Gebärden der Generalin halfen ihr nicht im Geringsten dabei, einen klaren Gedanken zu fassen. „Was soll ich denn sagen?“ wisperte sie gehetzt. „Außerdem darf ich nur flüstern, sonst schmerzt meine Stimme in Euren Ohren.“
„Es ist völlig egal, was du sagt. Und auf meine Ohren passe ich schon selbst auf. Nun mach schon!“
Der rüde Ton fuhr Erdree bis in die Knochen. Verdattert begann sie, die ersten Worte zu flüstern, die ihr durch den Kopf gingen:
„Eine mächtige Hand nur gebietet dem Feuer,
eine mächtige Hand nur wie jene des Lin,
die entfesselten Kräfte sind ungeheuer,
weder Zögern noch Zagen wird verzieh’n...“
Erst an dieser Stelle begriff Erdree, dass sie aus dem Epos „Die Kinder Lins“ zitierte – jene Strophen, in welchen Lin seiner Tochter Tyrda die Herrschaft über Feuer und Eisen anvertraut. Ihr Flüstern hatte keine Wirkung auf die glitzernden Fäden. Doch als Erdree unter dem ersten scharfen Ton die Schultern hochzog, schien das Glitzern stärker zu werden. Und im selben Moment, in dem Erdree ihre Hände hob, um sie über ihre Ohren zu legen, begannen die Fäden deutlich zu vibrieren. Das Vibrieren nahm gemeinsam mit der Lautstärke der grellen Stimme immer mehr zu. Gänsehaut kroch von Erdrees Nacken bis zu ihren Zehenspitzen – nicht allein wegen des unerträglichen Kreischens, das sogar durch ihre Hände drang. Es kostete Erdree ihre ganze Beherrschung, weiterzusprechen und noch lauter zu werden. Sie schrie beinahe, als die Fäden plötzlich milchig trüb wurden und in mehrere Stücke zerbrachen. Geschockt hielt Erdree inne. Wie gebannt starrte sie auf die zerstörten Fäden, die vor wenigen Augenblicken voll filigraner Schönheit gewesen waren. Die Generalin berührte mit einem Finger vorsichtig eines der Bruchstücke. Es zerfiel zu Staub.
„Ausgezeichnet...,“ murmelte Ulante. Auf ihren Zügen mischte sich Zufriedenheit mit einem befremdlichen Hunger.
Erdrees Ehrfurcht vor der Generalin neigte sich noch stärker zur Furcht. Um nichts in der Welt hätte die Glasbrecherin es gewagt, nach der Bedeutung dieser seltsamen Fäden zu fragen.
Die Generalin fiel wieder in ihren geschäftsmäßigen Ton zurück: „Gut. Mehr brauche ich nicht von dir – vorerst. Solange wir hier im Winterlager auf Glynwerk sind, wirst du vor allem eines tun: Die Sprache der Ronn lernen. Ich erwarte, dass du bis zum Frühjahr zumindest die Grundbegriffe ihrer Sprache beherrschst. Wiralin wird für dich verantwortlich sein. Du bleibst immer in seiner Nähe, wenn du das Wohngebäude verlässt – und am besten bleibst du auch im Wohngebäude in seiner Nähe. Er wird ebenfalls die Sprache der Ronn lernen und deshalb ohnehin meistens bei dir sein. Folge seinen Anweisungen immer sofort und ohne Widerrede. Wenn du dich krank fühlst, geh unverzüglich zu Oredion. Mach keinen Ärger und misch dich nicht in die Angelegenheiten der Soldaten. Wenn ich deine Dienste brauche, werde ich dich rufen lassen. Das wird allerdings nicht so bald der Fall sein – voraussichtlich werde ich dich erst im Frühjahr brauchen, wenn der neue Feldzug gegen die Ronn beginnt.“
Noch mehr Fragen, die sie nicht zu stellen wagte, begannen in Erdrees Kopf umherzuschwirren. Ulante löschte die beiden Fackeln, die in den Wandhalterungen steckten, und schritt zur Tür. Rasch huschte Erdree hinter ihr hinaus. Kaum war die Tür wieder versperrt, eilte Ulante im Sturmschritt davon. Diesmal versuchte Erdree vergeblich, das Tempo der Generalin zu halten. Zuletzt hielt sie keuchend auf der Wendeltreppe inne. Nach einer Pause nahm sie den Aufstieg viel langsamer in Angriff. Ihre Gedanken waren immer noch bei den glitzernden Fäden, die unter dem Kreischen ihrer Stimme zerfallen waren. Sie mussten aus Glas sein. Konnte man wirklich derart dünnes, feines Glas herstellen? Es schien unmöglich. Aber woher sollte ausgerechnet eine Glasbrecherin etwas darüber wissen – wie viel Glas hatte sie schon im Lauf ihres Lebens gesehen? Ein paar Trinkgefäße und die eine oder andere Fensterscheibe... Ein dumpfes Pochen hinter ihren Schläfen erinnerte Erdree daran, dass heftiges Grübeln ihrer Gesundheit schadete. Gerade jetzt war nur eine Frage wichtig: Was wurde als Nächstes von ihr erwartet? Hatte die Generalin ihr etwas befohlen? Nein. Sie hatte nur gesagt, dass Wiralin für sie verantwortlich sein würde. Und dass sie immer in seiner Nähe bleiben sollte. Der Gedanke an den kalten Blick und an die scharfe Stimme des Obersten Bogens ließ Erdrees Kehle eng werden. Zumindest war nun klar, warum sie die Uniform eines Läufers der Bogenschützen bekommen hatte. Unschlüssig biss Erdree sich auf die Lippen. Erwartete Wiralin, dass sie gleich nach ihrer Begegnung mit der Generalin zu ihm kam? Oder plante er, sie später abzuholen – aus dem Krankenquartier, wo sie bisher gewesen war? Sie wollte Wiralin keinesfalls noch mehr gegen sich aufbringen. Sein Verhalten auf der Reise hatte deutlich genug gezeigt, wie sehr er sie verabscheute. Das Pochen hinter Erdrees Schläfen wurde schneller und stärker. Mit dem Pochen wuchs auch der Wunsch, zu Oredion ins Krankenquartier zurückkehren zu dürfen. Dieser Wunsch wurde übermächtig, als ihr der Blick durch ein kleines Fenster verriet, dass sie nun in jenem Stockwerk angekommen war, in dem das Krankenquartier lag. Sofort bog Erdree in den Gang ein – nur um nach einigen Schritten erneut innezuhalten. Sie musste gleich zu Wiralin gehen. Wenn es ihm missfiel, dass sie zu früh auftauchte, konnte er sie wieder fortschicken. Aber wenn er vergeblich auf sie wartete, würde sein Zorn mit jeder Minute zunehmen. Erdree rieb sich die Augen und seufzte. Im nächsten Moment fiel ihr glühend heiß ein, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie Wiralin suchen sollte. Lag das Quartier des Obersten Bogens in der Nähe der Generalskanzlei oder ganz woanders? Und würde Wiralin zu dieser Tageszeit überhaupt in seinem Quartier sein? So schnell es in den klobigen Stiefeln ging, eilte Erdree zurück ins Krankenquartier. Oredion würde wissen, wo sie Wiralin um diese Stunde finden konnte. Und ob sie ihn tatsächlich aufsuchen sollte. Im Behandlungszimmer blieb Erdree verzweifelt stehen. Der Raum war leer. Vielleicht kümmerte Oredion sich gerade in einem der Krankenzimmer um einen Patienten. Aber sie konnte doch nicht wahllos an Türen klopfen! Nach Oredion zu rufen, war erst recht undenkbar – im Behandlungsraum standen unzählige Fläschchen mit Medizin! Und ein Flüstern würde nicht durch die geschlossenen Türen dringen... Erdree schlug ihre Arme um ihren Körper. Das unheilvolle Bild des Obersten Bogens, der irgendwo auf Glynwerk immer ungeduldiger auf sie wartete, stieg vor ihrem inneren Auge auf. Ein Geräusch in ihrem Rücken ließ Erdree herumfahren. Ihr erschrockener Blick fiel auf Kelroy. Wieder schien er wie aus dem Nichts aufgetaucht zu sein. Obwohl Erdree nun wusste, dass er Oredions Bruder war, blieb ihr der Mann unheimlich. Aus seiner ausdruckslosen Miene stachen seine Augen beinahe lauernd hervor. Erdree starrte so gebannt auf Kelroys Gesicht, dass sie seine Geste nicht gleich bemerkte. Er hielt die Fläche seiner rechten Hand nach oben gewandt. Mechanisch beantwortete Erdree die stumme Frage mit dem Zeichen für „suchen“ – ihr Finger zog einen Kreis um ihr Auge – dann stockte sie. Sie kannte kein Zeichen für „Oberster Bogen.“ Zum Glück fiel ihr gleich darauf ein, dass Kelroy zwar stumm war, aber nicht taub.
„Ich suche den Obersten Bogen,“ flüsterte sie. „Wiralin. Das heißt – ich weiß nicht, ob ich ihn wirklich suchen soll. Wisst Ihr vielleicht, ob ich den Obersten Bogen aufsuchen soll, oder ob er mich später holen wird?“
Kelroy schüttelte den Kopf. Nach einer kurzen Pause legte er eine Hand über sein rechtes Auge, deutete auf den Boden und winkte Erdree dann, mitzukommen. Offenbar war Wiralin in einem der unteren Stockwerke zu finden, und Kelroy würde sie zu ihm führen.
Erdree folgte bereits Kelroys stämmiger Gestalt den Gang hinunter, als ihr bewusst wurde, wie mühelos sie sich mit dem Stummen verständigen konnte. Die Fingerzeichen der Glasbrecher wurden anscheinend nicht nur in Mooresruh verwendet. Die stummen Linländer gebrauchten sie ebenfalls. Kelroy führte Erdree einen Stock tiefer und um einige Ecken. Vor einer Tür, an der das grüne, goldbestickte Banner der Bogenschützen hing, blieb er stehen. Mit einer theatralischen Geste wies Kelroy Erdree an, durch die Tür zu schreiten. Viel zu schnell kehrte er ihr den Rücken zu und ging davon. Sie kam nicht einmal mehr dazu, ihm einen Dank hinterherzuflüstern. Was, wenn Wiralin sich doch nicht in seinem Quartier aufhielt? Dann wäre sie hier gestrandet. Erdree hob eine zitternde Hand. Sie hätte nicht sagen können, wovor sie sich mehr fürchtete: Davor, keine Antwort zu erhalten, oder davor, Wiralin wiederzutreffen. Zaghaft klopfte sie an.
„Herein!“ befahl die kalte Stimme des Bogenschützen.
Erdree öffnete die Tür und zerrte ihre bleiernen Füße über die Schwelle. Unter Wiralins Blick fühlte sie sich plötzlich wie ein verprügelter Hund vor seinem Herren. In der schlotternden Uniform bot sie gewiss einen noch jämmerlicheren Anblick als in der Kutte der Glasbrecher. Zumindest schien Wiralin sie erwartet zu haben. Er deutete mit dem Kopf auf eine schmale Tür zu seiner Rechten.
„In dieser Kammer dort drüben wirst du schlafen. Am besten bleibst du auch sonst so viel wie möglich dort. Glaub nicht, dass du mein ständiger Schatten sein wirst! Du wirst ohnehin oft genug mein Schatten sein müssen. Jedenfalls verlässt du das Festungsgebäude nicht allein! Und du wanderst nicht auf eigene Faust im Festungsgebäude herum! Deine einzigen eigenständigen Wege werden zwischen diesem Quartier, dem Speiseraum und dem Krankenquartier verlaufen! Allenfalls noch zu Agotons Quartier! Und wenn wir das Festungsgebäude verlassen, wirst du wirklich zu meinem Schatten: Bleib immer in meiner Nähe, aber rück mir nicht zu dicht auf den Pelz! Verhalte dich still und mach keine Probleme! Ignoriere die Soldaten und nimm Anweisungen nur von mir entgegen – und natürlich von der Generalin. Folge diesen Anweisungen immer sofort und ohne eine Frage. Wenn dir hier im Quartier langweilig sein sollte, lies diese Bücher hier – kannst du lesen?“
Erdree nickte rasch. In Mooresruh gab es zwar nicht viele Bücher, aber sie wurden hoch geschätzt.
„Es sind Bücher über das Heerwesen.“ Wiralin legte eine Hand auf den kleinen Stapel, der auf dem Tisch neben ihm lag. Man sah den dünnen, kleinen Bänden an, dass sie schon oft gelesen worden waren. „Ich würde es begrüßen, wenn du mehr über die Arbeit eines Soldaten weißt – damit du im Feld weißt, worauf es ankommt, und keine Schwierigkeiten machst. Im Feld können die Soldaten keine Rücksicht nehmen – auch nicht auf eine Glasbrecherin. Lern, die Zähne zusammenzubeißen! Das schont nicht zuletzt Fensterscheiben und Trinkgefäße. Und meine Ohren. Jetzt komm mit zu Meister Agoton!“
Meister Agoton entpuppte sich als ein sauertöpfisch dreinblickender Mann um die Vierzig. Auf seiner dick wattierten, dunkelvioletten Samtjacke prangte das silbergestickte Wappen der königlichen Hochschule von Sandborn. Sein blonder Schnurrbart schien die Mundwinkel in dem hageren Gesicht noch tiefer herunterzudrücken. Über Agotons Stirn zogen sich einige tiefgründige Furchen. Auf seinem Scheitel glänzte eine kahle Stelle.
„Die Ronn bedienen sich einer unglaublich primitiven Sprache,“ beschwerte Agoton sich, sobald seine Schüler vor ihm Platz genommen hatten. „Dagegen macht selbst der vierte Unterdialekt des Alt-Tafip von der Südspitze der Plockinsel einen höchst entwickelten Eindruck. Ein Gelehrter wie ich, der es sich zu seiner Lebensaufgabe erkoren hat, den Schönheiten der komplexen Sprachen unserer Welt nachzuspüren, verschwendet mit dem Gestammel der Ronn seine Zeit! Die drei Übersetzer, die ich inzwischen ausgebildet habe, tun ihre Dienste gut genug. Ich sollte längst wieder zurück in Sandborn sein, um mich bedeutenderen Arbeiten zu widmen, statt vergeblich zu versuchen, ein vernünftiges Wort aus den gefangenen Ronn herauszubekommen. Von Sprachunterricht ganz zu schweigen! Generalin Ulante hat keinen Respekt vor der Welt des Gelehrten, sonst hätte sie schon längst meinem Ersuchen stattgegeben, Glynwerk zu verlassen und endlich an meine Hochschule zurückzukehren!“
Wiralin feuerte einen warnenden Blick in Agotons Richtung. Doch der Gelehrte warf gerade mit der Miene eines Märtyrers seinen Kopf in den Nacken. Dann zog er seine Samtjacke straff.
„Ich habe vor Kurzem meinen Traktat über die Sprache der Ronn beendet. Er ist jämmerlich dünn – nur fünfzig Seiten – aber mehr war beim besten Willen nicht herauszuholen. Diesen Traktat habe ich vor zehn Tagen mit einer Nachricht an den Rektor von Sandborn gesandt. Ich gehe deshalb davon aus, dass ich bald von hier abberufen werde. Unsere Heerführerin vergisst, dass nicht ich dem Heer diene, sondern dass die Arbeit des Heers in diesem Fall der Wissenschaft dient. Selbstverständlich nicht nur der Wissenschaft, aber auch.“ Agoton strich sich über die kleine Glatze. „Der Rektor von Sandborn wird unsere hochverehrte Generalin gewiss daran erinnern. Glaubt also nicht, dass ihr lange auf meine Dienste zählen könnt, und lernt lieber schnell! Natürlich wird sich jeder halbwegs kluge Kopf die Grundbegriffe der Sprache der Ronn rasch aneignen können.“
Agoton ließ seine blassblauen Augen hochmütig auf seinen Schülern ruhen. Es war offensichtlich, dass er sie nicht für halbwegs kluge Köpfe hielt.
„Höhere Gedanken in Ronn auszudrücken ist ohnehin unmöglich. Ich bin davon überzeugt, dass die Ronn sich nur deshalb untereinander verständigen können, weil sie keine hohen Gedanken kennen und diese also auch nicht ausdrücken müssen. Denn ihre Sprache ist so primitiv, dass sie nicht einmal die einfachsten Gesetze einhält, denen sonst jede Sprache folgt. Ein und dasselbe Wort hat in Ronn immer mehrere Bedeutungen. Dies kommt zwar auch in unserer Sprache hin und wieder vor, aber in diesen wenigen Fällen sind die Bedeutungen so weit voneinander entfernt, dass ein Missverständnis fast unmöglich ist. Ganz anders verhält es sich in Ronn. ,Jostim’ beispielsweise heißt sowohl ,Wald’ als auch ,Baum’ und ,Holz’ – haarsträubend, diese fehlende Prägnanz! Überdies unterscheiden die Ronn nicht zwischen Fragen und normalen Aussagen – weder durch die Wortstellung noch durch die Sprachmelodie. Und sie kennen keine Vergangenheits- oder Zukunftsform der Verben. Wenn ein Ronn also sagt: ,Oplin nat jostim’, kann dies ebenso gut heißen: ,Ich gehe in den Wald’ wie ,Ich ging zum Baum’ oder ,Ich werde zum Holz gehen.’ Oder sogar ,Soll ich in den Wald gehen?’ Wir müssen viel raten, wenn wir versuchen, die Ronn zu verhören, und wir haben auch große Schwierigkeiten, ihnen Fragen zu stellen. Die vier Ronn, die schon länger unsere Gefangenen sind, haben zumindest begriffen, welche Rolle die Sprachmelodie für uns Linländer spielt, und erkennen deshalb meistens eine Frage. Aber es ist äußerst mühsam, mit ihnen zu sprechen. Sie sehen einem fast nie in die Augen, diese verschlagenen Biester. Und sie wollen beim Sprechen immer die rechte Hand vor ihre Brust halten, als wäre dies eine religiöse Pflicht – als müssten sie ihre Stimme festhalten. Ich bin davon überzeugt, dass dies nichts ist als ein Trick. Die Ronn wollen damit den Handfesseln entkommen. Diese Kreaturen sind so unglaublich primitiv...“ Agoton zückte ein Taschentuch und tupfte sich damit die Stirn ab.
„So primitiv können sie nicht sein,“ bemerkte Wiralin rau. „Es ist nie klug, seinen Gegner zu unterschätzen. Die Waffen und die Kleider der Ronn sind nicht gröber oder schlechter als unsere. Und im Kampf – wenn sie sich endlich einmal einem Kampf stellen – arbeiten die Ronn perfekt zusammen.“
„Gemeinsamer Instinkt,“ winkte Agoton ab. „Auch ein Rudel Wölfe teilt sich die Aufgaben bei der Jagd perfekt. Gewiss hilft den Ronn dieser gemeinsame Instinkt auch bei der Verständigung untereinander, während wir höherentwickelten Linländer rätseln müssen, was sie meinen. Glaubt mir, die Ronn sind unfassbar primitiv. Ich habe ihre Sprache ganze zwei Jahre lang nach allen methodischen Regeln der Sandborner Schule der Sprachlehre erforscht. Und niemand in ganz Linland würde ernsthaft das Urteil eines Sandborner Gelehrten in Frage stellen wollen!“
Über Wiralins Miene breitete sich ein sardonisches Lächeln aus. Mit plötzlicher Hast ergriff Meister Agoton ein Stück Kreide und wandte sich der Schreibtafel zu.
„Fangen wir also mit ,plin’ an – gehen. Oplin: ich gehe – koplin: du gehst – toplin: er, sie, es geht – iplin: wir gehen – kiplin: ihr geht – tiplin: sie gehen...“
„Warte, Wiralin!“
Der Bogenschütze unterdrückte ein Knurren und blieb widerwillig in dem düsteren Gang stehen. Heute schien ihm kein einziger einsamer Augenblick vergönnt zu sein. Endlich war er Agotons Lektionen entkommen, und die Glasbrecherin hatte sich in ihre Schlafkammer zurückgezogen – und nun rief Oredion hinter ihm her. Der Arzt schloss zu ihm auf und streckte ihm einen dunkelgrünen Mantel entgegen.
„Nimm den bitte mit – für Erdree. Sie soll ihn anziehen, wenn sie hinausgeht – nicht diesen dünnen Wollmantel, den sie zu ihrer Uniform bekommen hat.“
Fassungslos starrte Wiralin den Mantel an. Dann ließ er einen Blick in Oredions Augen wandern, der unmissverständlich den Geisteszustand des Arztes in Frage stellte. Oredion erwiderte den Blick ungewöhnlich freimütig – beinahe selbstsicher. Erst als seine Arme unter dem Gewicht des Mantels nachzugeben begannen, wurde seine Miene wieder angestrengt.
Wiralin schnappte den Mantel mit einer Hand und hielt ihn dicht unter Oredions Nase. „Fuchspelz? Warum denn nicht gleich Hermelin?“
„Das ist kein Fuchspelzmantel,“ wehrte Oredion ab. „Nur der Kragen und die Säume sind mit Fuchspelz verziert. Das Futter ist aus Hirschfell.“
„Das ändert natürlich alles,“ höhnte Wiralin. „Schließlich tragen im Linländer Heer ja alle Soldaten Hirschfell! Im Ernst, Oredion – du kannst die Glasbrecherin nicht in Pelz hüllen! Sogar Ulante trägt ihren Pelzmantel nur beim stärksten Frost – oder an Festtagen! Der einzige, der ständig in Pelz herumstolziert, ist dieser eitle Gockel Agoton! Aber Agoton dient nicht im Heer! Die Glasbrecherin schon – oder zumindest soll sie das tun. Aber nicht in diesem Mantel! Wo kommt dieses Ding überhaupt her?“
Oredion zögerte kurz. „Der Mantel gehört mir. Vor dem ersten Winter, den ich hier auf Glynwerk verbrachte, ließ ich ihn mir von zu Hause schicken. Mir ist zu spät eingefallen, dass ich als Arzt nicht die Farbe der Bogenschützen tragen sollte. Also blieb der Mantel in einer Truhe liegen. Glücklicherweise muss ich im Winter nicht unbedingt hinaus. Wenn es mir für den Wollmantel zu kalt wird, bleibe ich einfach drinnen. Im Krankenquartier ist ja immer gut geheizt.“
Wiralin nahm den Mantel aus Oredions Gesicht. Fahrig legte er sich den Pelz über den Arm. Er brachte es nicht fertig, dieses edle Stück aus Trotz in den Schmutz hängen zu lassen.
„Die Glasbrecherin soll nicht zur Königin von Linland gekrönt werden,“ zischte er zwischen den Zähnen hervor. „Sie soll im Heer dienen. Die Linländer beschweren sich oft genug darüber, dass sie die nutzlosen Glasbrecher durchfüttern müssen – und dann soll eine von ihnen plötzlich über alle gesunden, hart arbeitenden Bürger gehoben werden?“
Oredion neigte seinen Kopf ein wenig zur Seite und ließ seinen bedächtigen Blick auf Wiralin ruhen. „Erdree soll dem Heer dienen, und sie wird dem Heer dienen. Aber sie kann ihren Dienst nur dann erfüllen, wenn wir die nötigen Voraussetzungen dafür schaffen. Ein dünner Wollmantel ist zu wenig. Wenn du sie nur in einem Wollmantel draußen herumlaufen lässt, wird sie mehr im Krankenquartier sein als sonst wo.“
Wiralin meinte, eine Spur von Überlegenheit auf Oredions Zügen zu erkennen. Er schnaubte. „Sie ist eine Glasbrecherin. Dass sie mehr Zeit im Krankenquartier verbringen wird als sonst wo steht also jetzt schon fest. Offen ist nur, wann sie es nicht mehr auf ihren eigenen Beinen verlassen kann, sondern auf einer Bahre hinausgetragen wird.“
Oredion blieb fest. Allerdings klangen seine Worte wie auswendig gelernt: „Du widersprichst dir selbst, Wiralin. Auf der einen Seite pochst du darauf, dass Erdree genauso behandelt werden muss wie die anderen Soldaten. Auf der anderen Seite weißt du genau, dass sie nie wie die anderen Soldaten sein kann, weil sie eine Glasbrecherin ist. Entweder behandeln wir Erdree also so gut, dass sie dazu imstande ist, ihren Dienst zu erfüllen. Dann müssen wir hundertmal mehr Rücksicht auf sie nehmen als auf einen gewöhnlichen Soldaten. Oder wir behandeln Erdree genauso wie einen gewöhnlichen Soldaten. Dann können wir wirklich Wetten darüber abschließen, wie viele Wochen sie noch leben wird. In diesem zweiten Fall wäre deine Fahrt nach Mooresruh völlig umsonst gewesen, und Ulantes Pläne wären durchkreuzt. Man könnte sogar sagen, dass wir dann Ulantes Befehle missachtet hätten. Unsere Generalin wünscht, eine Glasbrecherin beim Heer zu haben. Erdree ist wichtig – so wichtig wie dein Bogen und deine Pfeile. Ich habe unzählige Male zugesehen, wie du deinen Bogen ölst und jeden Pfeil einzeln inspizierst. Erdree einen Pelzmantel zu geben und ein wenig auf ihr Wohlergehen zu achten, ist viel weniger Aufwand als das.“
„Wofür ich meinen Bogen und meine Pfeile brauche, weiß ich. Welchen Dienst die Glasbrecherin für uns leisten soll, ist mir schleierhaft. Und für eine nutzlose Waffe ist jeglicher Aufwand zu groß!“
Wiralin fixierte Oredion gnadenlos mit seinem verbliebenen Auge. Doch zum ersten Mal in diesem Gespräch wich der Arzt seinem Blick aus. Wusste er selbst nicht, welchen Dienst die Glasbrecherin erfüllen sollte? Oder wusste er es, durfte aber nicht darüber sprechen – auf Ulantes Befehl? Eine unangenehme Hitze breitete sich in Wiralins Nacken aus.
„Es würde auch dir zugute kommen, wenn Erdree einen ordentlichen Mantel hat,“ lenkte Oredion ab. Wiralins heiseres Lachen brachte wieder größere Entschlossenheit auf seine Miene. „Als Erdrees Arzt ordne ich nämlich an, dass sie nicht ständig im Festungsgebäude bleiben darf. Sie braucht täglich Tageslicht, frische Luft und ein wenig Bewegung – anfangs natürlich nur in geringen Maßen, dann stetig mehr. So viel ich weiß, soll Erdree das Festungsgebäude nur in deiner Begleitung verlassen. Du hast also die Wahl: Entweder gehst du mehrmals ganz kurz mit Erdree hinaus – länger als je eine Viertelstunde kann ich nicht erlauben, solange Erdree nur einen Wollmantel hat. Oder du verschaffst dir mehr Freiheit, indem du Erdree diesen Pelzmantel gibst. Dann könnte sie länger draußen bleiben. Wenn Erdree einen Pelzmantel hat, könntest du sie sogar auf deine Ausritte mitnehmen. Du liebst deine Ausritte doch und es würde dir sicher schwer fallen, darauf zu verzichten, weil dir nicht genug Zeit dafür bleibt. Außerdem wäre es ohnehin besser, Erdree schon längere Zeit vor dem Feldzug an den Pferderücken zu gewöhnen. Aber, wie gesagt: Es ist deine Entscheidung.“
Mit aufgesetzter Unbekümmertheit hob Oredion die Schultern und ließ Wiralin mit dem Pelzmantel über seinem Arm stehen. Dem Bogenschützen war die Hitze inzwischen bis in die Wangen gestiegen. Er starrte Oredion verächtlich nach. Wenn er diesem Kerl nur irgendwie seine Heuchelei austreiben könnte! Was hatte das Wort „Entscheidung“ hier noch zu suchen? Das war reinste Erpressung! Entweder trug die Glasbrecherin Pelz, oder er war ein Gefangener dieser Festung. Wiralin ballte die Fäuste. Die Finger seiner linken Hand schlossen sich dabei um den Mantel. Sogar in seinem Grimm nahm er wahr, wie flauschig und edel der Pelz war. Wiralin strich prüfend über das Rotfuchsfell am Kragen und über den dicken Wollstoff. Zuletzt begutachtete er auch noch das Futter aus Hirschfell. Dies war der Mantel eines überaus wohlhabenden Mannes. Oredion musste aus einer sehr vornehmen Familie stammen. Die meisten Linländer würden sich einen solchen Mantel nicht einmal nach einem ganzen Leben harter Arbeit leisten können. Die einfachen Soldaten konnten von einem solchen Mantel ohnehin nur träumen – jene Soldaten, die Jahr für Jahr ihr Leben riskierten, froren in ihren Wollmänteln. Und die jämmerliche, völlig nutzlose Glasbrecherin wurde in einen Mantel gesteckt, der einer Tochter aus höchstem Hause würdig gewesen wäre.
Rastlos versuchte Erdree, ihre Schultern unter dem schweren Mantel in eine angenehme Haltung zu bringen. Obwohl sie für die Wärme dankbar war, konnte sie sich mit dem dunkelgrünen Ungetüm nicht anfreunden. Der Pelz lastete schwer auf ihrem dürren Körper. Der Saum hing gerade hoch genug, um nicht über den Boden zu schleifen – aber nur, solange sie sich kerzengerade hielt. Wenn Erdree ihre Hände brauchte, musste sie zuerst die Ärmel zurückschieben. Ihr Gesicht verschwand bis über das Kinn im Kragen. Die längeren Haare des Fuchspelzes kitzelten sie immer wieder an der Nase. Mit schlechtem Gewissen dachte Erdree an den Sprung, der nun in einer Fensterscheibe im Quartier des Obersten Bogen prangte – die Folge eines plötzlichen Niesens, als sie morgens zum ersten Mal in den Mantel geschlüpft war. Wiralins kalter Blick hatte daraufhin eine geradezu tödliche Qualität angenommen. Entsprechend niedergedrückt war Erdree zum Krankenquartier gegangen, um ihre tägliche Medizin zu nehmen. Doch Oredion hatte ihre Bedenken gegen den edlen Mantel nicht gelten lassen.
„Wir werden noch mindestens acht Wochen lang kaltes Winterwetter haben,“ hatte er gesagt. „Und du musst dich langsam daran gewöhnen, dich im Freien aufzuhalten. Schließlich werden wir im Frühjahr Glynwerk verlassen und auf den Feldzug gehen. Mit einem Pelzmantel kannst du dich jetzt schon daran gewöhnen, draußen zu sein. Was geschieht, wenn du nicht warm genug angezogen bist, haben wir ja an deiner Reise nach Glynwerk gesehen.“
Also war Erdree an diesem Nachmittag auf Wiralins Befehl erneut in den Mantel geschlüpft – mit einem Knoten im Magen. Weil sie ständig auf den kostbaren Pelz achten musste, stolperte sie beinahe blindlings hinter Wiralin her. Irgendwann verrieten Tageslicht und frische, kalte Luft, dass sie das Festungsgebäude verlassen hatten. Erst als der Bogenschütze stehen blieb, blickte Erdree auf. Sie standen vor den Ställen und vor zwei gesattelten Pferden.
„Bist du schon einmal geritten?“ erkundigte Wiralin sich schroff.
Entsetzt schüttelte Erdree den Kopf. Worauf hätte sie in Mooresruh denn reiten sollen – auf einer Kuh?
„Macht nichts.“ Wiralin zog das kleinere der beiden Pferde näher heran. „Dieser Braune hier ist ein ziemlich träges Tier, und ich werde ihn am langen Zügel nehmen. Du brauchst nur darauf zu achten, im Sattel zu bleiben – und natürlich darauf, keinen lauten Ton von dir zu geben. Die Stimme einer Glasbrecherin würde sogar dieses Pferd scheu machen. Von jedem anderen Pferd ganz zu schweigen.“ Sein Blick wanderte zu dem zweiten Tier, einer unruhig tänzelnden Grauschimmelstute. „Bei Lin! Wann werden diese Stallknechte endlich lernen, ein Zaumzeug richtig anzulegen?“ Ärgerlich machte Wiralin sich an dem Grauschimmel zu schaffen.
Inzwischen war der Knoten in Erdrees Magen so groß, dass er ihren Atem knapp werden ließ. Ihr wurde schwindlig, und ihr Herz hämmerte. Hilfesuchend trat Erdree zu dem stämmigen Braunen und legte einen Arm über seinen Widerrist, um Halt zu finden. Das Pferd wandte seinen Kopf in ihre Richtung, wich aber nicht von der Stelle. Mehr zu ihrer eigenen Beruhigung als zu seiner begann Erdree, die Mähne des Braunen zu kraulen. Nicht einmal dieses brave Tier konnte ihre Angst bändigen. Kein Glasbrecher war jemals auf einem Pferd gesessen! Sicher gab es in Mooresruh kein Pferd, weil die schlechte Gesundheit der Glasbrecher es ihnen nicht erlaubte, zu reiten! Denn eigentlich hätten die Bewohner von Mooresruh ein Pferd gut brauchen können. Der Transport des Torfs und des Grünfutters für die Kühe wäre mit einem Pferd um vieles einfacher gewesen. Also waren die Glasbrecher wohl zu schwach, um sich lange genug in einem Sattel halten zu können.
„Steig schon einmal auf,“ vernahm Erdree Wiralins Stimme wie durch ein Rauschen. „Ich stelle dir dann die Steigbügel auf die richtige Länge ein.“
Er konnte nicht ernsthaft von ihr verlangen, zu reiten! Erdree hob den Kopf und sah Wiralin flehentlich an. Sie begegnete einem beinahe nüchternen Blick, der sich jedoch sofort verhärtete. Zitternd schlug Erdree die Augen nieder. Anscheinend würde sie dieser neuen Prüfung nicht entkommen. Es schien ewig zu dauern, bis es ihr gelang, ihren klobigen Stiefel unter dem Mantel hervor und in den Steigbügel zu manövrieren. Sie zog sich mit aller Kraft hoch. Erst beim zweiten Versuch verwickelte sie sich nicht in ihren Mantel und konnte ihr rechtes Bein über den Pferderücken bringen. Oben kam es ihr vor, als ob der Braune schlagartig um mehrere Ellen gewachsen wäre. Die Höhe war schwindelerregend. Viel zu schnell hatte Wiralin ihre Steigbügel eingestellt und ihren Mantel geordnet. Er griff nach den Zügeln des Braunen und schwang sich auf die Grauschimmelstute.
Bevor er die Pferde zum Tor von Glynwerk lenkte, sagte er nur noch: „Halt dich am Sattelknauf fest, leg die Knie an, und pass dich den Bewegungen des Pferdes an!“
Wiralin rannte beinahe durch die Festung. Trotzdem konnte er dem Widerwillen nicht entkommen, der sein ständiger Begleiter geworden war. Nicht einmal auf dem Ausritt hatte er sich abschütteln lassen! Dabei war der Anfang durchaus vielversprechend gewesen: Ganz gegen seine Erwartung hatte die Glasbrecherin sich nicht vor den Pferden gefürchtet – obwohl sie sich sonst vor allem und jedem fürchtete. Warum sie trotzdem die ganze Zeit dreingeblickt hatte wie unter der schlimmsten Folter, war ihm schleierhaft. Sie waren auf ebenen Wegen geblieben und nicht etwa im wilden Galopp durch den Wald gejagt. Allein der Anblick des verschneiten Glynwalds musste doch lohnend für die Glasbrecherin sein – nach einem Leben mit öder Sumpflandschaft vor Augen! Vielleicht waren die Glasbrecher nicht nur schwächlich, sondern außerdem nicht ganz richtig im Kopf.
Vor dem Speiseraum der Obersten nahm Wiralin sich mühsam zusammen. Bei Ulantes Anblick besserte seine Laune sich ein wenig. Leider saß die Generalin bereits vor leeren Tellern. Ipentar und Oredion waren erst bei der Suppe.
Der Arzt hob alarmiert den Kopf. „Wo ist Erdree? Sie sollte sich nicht verspäten – die Essenszeit ist bald zu Ende.“
„Sie kennt die Essenszeiten,“ gab Wiralin kühl zurück. „Wenn sie nicht hier ist, hat sie vermutlich beschlossen, nicht zum Abendessen zu kommen.“
Oredion presste die Lippen zusammen. Dann gab er sich einen Ruck. „Erdree muss essen. Sie ist viel zu mager.“ Die Mahnung in seinem Ton war unverkennbar.
Herausfordernd funkelte Wiralin Oredion über den Tisch hinweg an. „Verlangst du von mir, dass ich sie in den Speiseraum schleppe und ihr wie einer Gans das Essen den Rachen hinunterstopfe?“
Ein unterdrücktes Seufzen leitete Oredions bedächtige Antwort ein: „Ich denke, dass man zumindest vor dir verlangen könnte, dich zu erkundigen, ob Erdree zum Abendessen mitkommt. Und falls sie nicht mitkommt, solltest du fragen, ob es ihr gut geht.“
„Sie hat eine grauenvolle Stimme, aber sie ist nicht stumm. Wenn es ihr nicht gut geht, kann sie es sagen. Solange sie schweigt, gehe ich davon aus, dass alles in Ordnung ist.“
Oredion runzelte die Stirn. „Ich bin nicht sicher, ob du es dir damit nicht zu einfach machst.“
Wiralin schnaubte verächtlich. „Dann richte dich doch nach mir: Ich bin sicher, dass ich es mir nicht einfach mache. Es ist einfach!“
„Du bist für Erdree verantwortlich!“ Oredion heischte mit einem Seitenblick auf die Generalin um Unterstützung. „Und sie ist eben kein Soldat, für sie muss ein anderer Maßstab gelten!“
„Der Maßstab für Geisteskranke ohne eine Spur gesunden Menschenverstand?“ Wiralin blickte zynisch über den Rand der Suppenschale, die ein Kadett des Generalstabs gerade vor ihm abgestellt hatte.
„Ach – du willst einfach nicht verstehen, dass die Welt für eine Glasbrecherin völlig anders aussieht! Wenn du wirklich Verantwortungsgefühl in dir hättest, würdest du in dein Quartier gehen und nach Erdree sehen!“ Oredions Stimme zitterte leicht.
Wiralin schüttelte den Kopf. „Du glaubst, dass es ihr nicht gut geht, und du bist der Arzt. Also ist es deine Aufgabe, dich um sie zu kümmern.“
Röte stieg in Oredions Wangen. „Ich bin der Oberarzt des Heers – des gesamten Heers. Du bist ausschließlich für Erdrees Wohlergehen verantwortlich. Also ist es deine Aufgabe, dich um sie zu kümmern!“
„Ich bin dafür verantwortlich, dass ihr nichts geschieht. Ob sie essen will oder nicht ist allein ihre Sache.“
Der Bogenschütze und der Arzt versanken in einem feindseligen Blickwechsel. Zuletzt ließ Oredion ihn abbrechen, um seine Augen erneut auf die Generalin zu richten – diesmal direkt. Auch Wiralin sah daraufhin zu Ulante hinüber. Sie säuberte scheinbar unbeteiligt ihre Nägel mit einem kleinen Messer. Als das Schweigen andauerte, hob sie kurz den Kopf. Ebenso knapp war die Bewegung, mit der sie zur Tür deutete:
„Oredion–“
Während der Arzt mit starrer Miene den Raum verließ, wandte Wiralin sich voller Genugtuung seiner Mahlzeit zu. Gut zu wissen, dass Ulante sich nach wie vor auf seine Seite stellte – sogar wenn es um die Glasbrecherin ging.
Eng zusammengerollt lag Erdree auf ihrem schmalen Bett. Das Gewicht des Pelzmantels lastete immer noch auf ihr. Nur die Stiefel hatte sie von ihren Füßen gezerrt nachdem sie in ihre Kammer getaumelt war. Der Ausritt war ein einziger langer Alptraum gewesen. Ständig hatte sie gefürchtet, dass ihre Finger vom Sattelknauf abrutschen würden. Jedes Mal, wenn ihre Knie für einen Augenblick vom Pferdekörper weggeschleudert worden waren, hatte sie einen neuen Gipfel der Panik erlebt. Ihr jetziger Zustand bewies, dass Glasbrecher tatsächlich nicht reiten durften – schon gar nicht im Winter. Trotz des Pelzmantels waren ihre Hände und Füße eisig kalt und steif. Ihr Magen zog sich unter heftigen Krämpfen zusammen. Jeder einzelne Muskel an ihrem Körper schmerzte.
Die Tür zu ihrer Kammer ging auf. Verzweifelt rollte Erdree sich noch fester zusammen. Als sie im Hof vom Pferd gerutscht war, hatte Wiralin sie angesehen wie ein Stück Abfall. Musste er sie noch weiter quälen? Warum ließ er sie nicht einfach in Ruhe? Um ein Stück Abfall würde er sich doch auch nicht kümmern...
„Erdree?“
Sie horchte auf. Das war nicht Wiralins kühle Stimme gewesen. Trotzdem hätte Erdree sich am liebsten tot gestellt. Musste Oredion nicht langsam einsehen, dass er vergeblich um ihre Gesundheit kämpfte? Doch solange er sich um sie bemühte, schuldete sie es ihm, eine brave Patientin zu sein. Mit größter Überwindung rappelte Erdree sich in eine sitzende Haltung auf.
Oredion betrachtete sie besorgt. „Du siehst nicht gut aus. Hast du Fieber oder Schmerzen?“ Er stellte seine Kerze auf dem Nachttisch ab und legte Erdree eine Hand auf die Stirn.
„Ich habe Magenkrämpfe,“ wisperte Erdree. „Und Schmerzen in den Armen und in den Beinen. Und im Rücken. Und im Nacken. Überall.“
„Aber zumindest deine Temperatur scheint normal zu sein... Kannst du den Mantel ausziehen? Durch den Pelz hindurch kann ich nicht gut feststellen, was das Problem ist.“ Während Oredion Erdree half, den Mantel loszuwerden, erkundigte er sich: „Was hast du denn heute gemacht?“
Erdree antwortete erst, als sie wieder still auf dem Bett saß. Sie fürchtete, dass sie ihre Stimme nicht unter Kontrolle hatte, während sie ihre schmerzenden Glieder bewegte. „Am Vormittag hatte ich Sprachunterricht bei Meister Agoton. Aber da ging es mir noch ziemlich gut. Die Magenkrämpfe und die Muskelschmerzen haben erst nachmittags begonnen – auf dem Ausritt...“
Beklommen wartete Erdree auf Oredions entsetzten Ausruf, dass ein Glasbrecher niemals auf ein Pferd steigen dürfte. Stattdessen setzte Oredion sich auf die Bettkante, verschränkte seine Finger ineinander und ließ seinen bedächtigen Blick auf Erdree ruhen.
„Es kann ohne Weiteres vorkommen, dass man mit schmerzenden Gliedmaßen von einem Ausritt zurückkehrt. Besonders, wenn man noch nie zuvor auf einem Pferd gesessen ist. Hattest du Angst?“
„Natürlich!“ gab Erdree so bestimmt zurück dass die Fensterscheiben klirrten und Oredion das Gesicht verzog. Sofort dämpfte sie ihre Stimme wieder. „Entschuldigung. Wie hätte ich keine Angst haben sollen? In Mooresruh reitet niemand. Ich weiß also nicht, ob Glasbrecher überhaupt reiten dürfen. Und Wiralin weiß es bestimmt auch nicht, er–“ Erdree stockte. Es stand ihr nicht zu, den Obersten Bogen zu kritisieren.
„Es mag schon sein, dass Wiralin nicht viel über Glasbrecher weiß.“ In Oredions ruhigen Ton schlich sich erstmals ein wenig Unmut. „Genau deshalb bekommt er auch Anweisungen von mir. Und wenn ich der Meinung wäre, dass du nicht reiten sollst, hätte ich es ihm gesagt.“ Nach einer Pause sprach Oredion mit der alten Freundlichkeit weiter: „Reiten kann am Anfang sehr anstrengend sein. Man gewöhnt sich aber schnell daran. Auch du wirst dich bald daran gewöhnen, und das ist auch notwendig. Wenn im Frühling der Feldzug beginnt, wirst du reiten müssen. Je weiter wir in den Glynwald vordringen, desto weniger können wir die Wagen verwenden. Die Bäume stehen dort zu dicht, es gibt noch keine Wege. Oft müssen wir alles – Verpflegung, Kochgeschirr, Verbandszeug, Medizin, Reservewaffen und sogar die Zelte – auf Packtiere laden. Wenn du nicht reitest, könntest du dann höchstens zu Fuß gehen, aber das kommt natürlich nicht in Frage.“
Erdree senkte den Kopf. Ihr ganzer Körper schrie Oredion schmerzhaft Widerspruch entgegen. Wenn jeder, der reiten lernte, solche Schmerzen leiden müsste, würde niemand je reiten lernen! Erst erklärte Oredion den Tee aus Schilfwürgerblüten für unnötig, und dann hegte er keine Bedenken gegen eine Glasbrecherin auf einem Pferd...
Obwohl sie seinem bedächtigen Blick auswich, schien Oredion ihr die Gedanken vom Gesicht abzulesen. „Ach komm, Erdree, vertrau mir.“ Er seufzte. „In Ordnung – ich schlage dir eine Wette vor: Wenn du nach fünf Ausritten immer noch Schmerzen hast, musst du nie wieder auf ein Pferd steigen.“
Ungläubig blickte Erdree auf. „Aber Ihr habt doch gesagt, ich muss reiten – weil das Heer auf dem Feldzug nicht überall Wagen verwenden kann...“
Oredion nickte. „Ja, das habe ich gesagt. Das zeigt dir hoffentlich, wie sicher ich mir meiner Sache bin. Ich gehe gerne das Risiko ein, diese Wette zu verlieren, wenn sie dich dazu bringt, mit einem Funken Zuversicht fünf weitere Versuche zu machen. Ich halte mein Risiko nämlich für gering. Und wenn ich doch verlieren sollte, müsste ich eben einen Weg finden, um zu meinem Wort stehen zu können. Wahrscheinlich müsste ich durchsetzen, dass du in einem Tragsessel getragen wirst. Das wäre sehr schwierig. Die Soldaten würden es nur ungern tun. Aber wenn du das Reiten wirklich nicht erträgst, bleibt uns sowieso nichts anderes übrig.“ Als Erdree immer noch zögerte, streckte Oredion ihr eine Hand entgehen. „Fünf Ausritte. Und ich werde Wiralin sagen, dass er sie kurz halten soll.“
Nach einem letzten Blick in die sanften braunen Augen schlug Erdree ein. Wenn Oredion sich so sicher war, und es trotzdem für möglich hielt, dass er sich irrte, durfte sie ihm vertrauen.
„Gut.“ Ein Lächeln huschte über Oredions Gesicht während er aufstand. „Und jetzt werden wir dich ins Krankenquartier bringen – nur für einen kurzen Besuch. Dort kann ich dir etwas gegen deine Magenkrämpfe geben und einer der Krankenpfleger wird deine verkrampften Muskeln ein wenig lockern. Danach wirst du hoffentlich etwas essen können. Hier, stütz dich auf mich.“
Erdree stemmte sich vom Bett hoch und hakte sich bei Oredion unter. Ihre Magenkrämpfe hatten bereits ein wenig nachgelassen. Dafür schlug ihr Herz plötzlich heftiger als sonst.
Trotz der Massage, die ein Krankenpfleger ihr gegeben hatte, kroch die Glasbrecherin am nächsten Morgen mühsam aus ihrem Bett. Jede Bewegung schmerzte. Erdree biss die Zähne zusammen, ließ keinen Ton über ihre Lippen kommen, und übte sich in Schicksalsergebenheit. Glücklicherweise war sie von Oredion vorgewarnt worden, dass sie einen starken Muskelkater haben würde. Das Brennen und Ziehen bei jeder Bewegung hätte sie sonst beunruhigt, obwohl sie es aus Mooresruh kannte. Jedes Mal nach dem Torfstechen war sie davon befallen worden. Beim Gedanken an die bevorstehenden Ausritte ballte ihr Magen sich immer noch zusammen. Während des Frühstücks lenkte Erdree sich ab, indem sie sich stumm das ganze Epos „Die Kinder Lins“ vorsagte. Auf diese Weise gelang es ihr, zumindest so viel – oder so wenig – zu essen wie sonst. Im Sprachunterricht bei Meister Agoton durfte Erdree es sich ohnehin nicht erlauben, ihre Gedanken abschweifen zu lassen. Agoton trug seine Lektionen sehr schnell vor und prüfte seine Schüler unablässig. Sein blonder Schnurrbar verbreiterte sich immer wieder unter einem höhnischen Lächeln, wenn jemand stockte oder ganz aufgeben musste. Erdree wurde immer verlegener und nervöser. Es war ihr unbegreiflich, wie Wiralin seine völlig ungerührte Miene bewahren konnte. Der Bogenschütze saß auf seinem Stuhl als ob der Unterricht ihn nicht das Geringste angehen würde.
Mit schwirrendem Kopf nahm Erdree ihr Mittagessen zu sich – bis sie Wiralins drängenden Blick auffing. Sofort zog ihr rebellierender Magen wieder all ihre Aufmerksamkeit auf sich. Dennoch fügte sie sich ins Unvermeidliche. Sie holte den dunkelgrünen Mantel aus ihrer Kammer, folgte Wiralin zu den Ställen und kämpfte sich auf den Rücken des Braunen. Irgendwann hielt sie die Schmerzen in ihren angespannten Muskeln nicht mehr aus. Sie musste den Krampf lösen, wenigstens für einen Moment. Voller Angst presste Erdree ihre Augen zu, bevor sie ihre Knie und ihre Schultern ein wenig lockerte. Bestimmt würde sie gleich vom Pferd fallen. Doch zu ihrem unermesslichen Erstaunen saß sie plötzlich sicherer im Sattel als zuvor. Ihr Körper passte sich den Bewegungen des Braunen an. Erdree hatte sich noch nicht von ihrer Verwunderung erholt, als Wiralin Schwierigkeiten mit seinem Pferd bekam. Die Grauschimmelstute bockte und versuchte ständig, auszubrechen. Auf einer Waldlichtung hielt der Bogenschütze an.
„Steig ab. Du machst hier eine Pause. Mein Pferd braucht einen scharfen Galopp.“
Der Befehl traf Erdree wie ein Peitschenhieb. Trotz ihres jähen Unbehagens bugsierte sie sich von dem Braunen und nahm seine Zügel aus Wiralins Hand entgegen. Der Bogenschütze entschwand in einer Wolke aufgewirbelten Schnees. Erdree stand allein neben einem Pferd auf einer verschneiten Lichtung mitten im Glynwald. Das Unbehagen schlug in Panik um. Wenn Wiralin nicht zurückkehrte, würde sie nie auf die Festung zurückfinden! Sie war wie ausgesetzt! Wieder presste Erdree die Lider zu, als ob sie dadurch der Wirklichkeit entfliehen könnte. Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie so gestanden war, als die Panik völlig unversehens von ihr abfiel. Verwundert öffnete sie die Augen. Was hatte sie so plötzlich beruhigt? Nach und nach begriff Erdree, dass sich einfach nichts in ihr gegen diese Lichtung wehrte. Hier gab es nur Schnee, Sonne und Bäume ringsum. Bis auf das gelegentliche leise Schnauben ihres Pferdes herrschte völlige Stille. Die Luft war klar und kalt – frei von jeglichem Geruch. Noch nie zuvor hatte Erdree so reine Luft geatmet. Die Kälte konnte ihr dank des Pelzmantels und der Stiefel nur wenig anhaben. Der Glynwald hatte nichts mit der Sumpflandschaft um Mooresruh gemeinsam, die ihr immer so feindlich erschienen war. Diese Waldlichtung umschloss sie mit tiefem Frieden. Erdree lehnte sich an den Braunen und ließ die Wintersonne auf ihr Gesicht scheinen. Magenkrämpfe und Muskelschmerzen waren völlig vergessen. Sie hätte ewig so stehen bleiben mögen. Viel zu schnell kündigten Hufschläge Wiralins Rückkehr an. Noch im Sattel lauschte Erdree über die Geräusche der Pferde hinweg auf die Stille des Waldes und hob ihre Nase in die saubere Luft. Am Tor von Glynwerk bemerkte sie, dass ihre Hand nur noch lose um den Sattelknauf lag.
„Hier ist deine Medizin.“
Erdree nahm die Tonschale mit der grünlichen Flüssigkeit aus Oredions Händen und setzte sie an die Lippen. Wie immer stieg ihr der scharfe Geruch unbekannter Kräuter in die Nase.
„Wie geht es dir heute?“ erkundigte Oredion sich beiläufig. „Hast du noch Schmerzen vom Reiten? Die fünf Ausritte sind jetzt vorüber...“
Erdree trank langsam aus und setzte die Schale sorgfältig auf den Tisch, um Oredions Blick ausweichen zu können. „Nein. Ich habe keine Schmerzen mehr.“
In Wahrheit waren die Schmerzen nicht vollständig vergangen. Nach der Rückkehr auf die Festung kletterte sie immer noch erschöpft und mit wackeligen Knien aus dem Sattel. Aber die Schmerzen hatten stark abgenommen. Bald würden sie verschwunden sein. Hoffentlich. Sie wollte nicht mehr auf ihre Ausritte verzichten. In diesen fünf Tagen hatte sie begonnen, den Wald zu lieben – besonders die stille Lichtung, auf der Wiralin sie stets zurückließ, um frei davonstürmen zu können. Für ihre Ausritte hätte Erdree sogar größere Schmerzen in Kauf genommen. Wie entsetzt Oredion gewesen wäre, wenn er das gewusst hätte! Schließlich tat er alles, um sie gesund zu halten. Zuerst hatte sie solch ein Theater wegen dieser Ausritte gemacht, und jetzt log sie sogar, weil sie nicht damit aufhören wollte... Schuldbewusst betrachtete Erdree Oredion aus dem Augenwinkel. Um seine Mundwinkel spielte ein zufriedenes Lächeln. Erdree fühlte, wie Wärme in ihre Wangen stieg. Ihre Verlegenheit kam nicht nur von ihrer Lüge. Es berührte sie außerdem, dass endlich jemand auf Glynwerk mit ihr zufrieden war – und dass Oredion sich nicht damit brüstete, recht gehabt zu haben. Nie wieder würde sie sein Urteil in Frage stellen! Sie würde ihm vollkommen vertrauen! Solange Oredion keine Bedenken hatte, brauchte sie vor nichts Angst zu haben, was Wiralin von ihr verlangte. Solange Oredions bedächtige Augen sie einmal am Tag musterten, würde es ihr gut genug gehen, um ihren Dienst für Linland zu erfüllen. Wenn sie irgendwie nützlich sein würde, dann wegen ihm.
„Gut, das wäre also geklärt,“ erklang Oredions ruhige Stimme. „Nun habe ich nur mehr eine Bitte an dich: Du isst zwar inzwischen etwas mehr, aber nicht genug Fleisch. Dabei würde dir Fleisch besonders guttun. Ich weiß, dass dir von fetten Gerichten übel wird, und dass das Fleisch aus der Küche hier meistens recht fett ist. Aber schneide lieber das Fett weg, statt gar kein Fleisch zu essen.“
„Aber dann wird so viel weggeworfen,“ wandte Erdree flüsternd ein. „Manche der Fleischstücke bestehen zur Hälfte aus Fett.“
„Meine Güte.“ Oredion seufzte. „Solche Gedanken kenne ich nur von Soldaten aus sehr armen Elternhäusern. Einige von ihnen musste ich schon davor bewahren, verdorbene Reste zu essen. Ist das Essen in Mooresruh denn dermaßen knapp, dass auf keinen Fall etwas verkommen darf?“
Erdree blickte erstaunt auf. „Wir bekommen so viel, wie die arbeitenden Linländer uns nutzlosen Glasbrechern geben können. Dass wir kein Essen verschwenden dürfen, gehört zu den ersten Dingen, die ein Kind in Mooresruh lernt. Unsere Vorräte werden sorgfältig eingeteilt – die Lieferwagen mit den frischen Nahrungsmitteln kommen ja nicht oft. Außerdem kommen sie nicht ganz regelmäßig.“
Ein Schatten legte sich über Oredions Gesicht. Nach einigen Augenblicken befreite er sich aus seiner Geistesabwesenheit: „Hier auf Glynwerk werden Essensreste nicht weggeworfen. Es gibt viele Hunde und einige Schweine. Du brauchst dir also keine Gedanken darüber zu machen, wenn etwas auf deinem Teller liegen bleibt. Achte nur auf dich selbst und darauf, was dir guttut. Vielleicht bringt dich ja das Festessen heute auf den Geschmack von Fleisch. Zum Fest des Pridat wird traditionell ein Ochse am Spieß gegrillt.“
Der Gedanke an das Fest zu Ehren des Halbgottes der Bauern und Viehzüchter weckte Erdrees Appetit keineswegs. Aus den Gesprächen im Speiseraum der Obersten hatte sie erfahren, dass die gesamte Truppe feiern würde – alle gemeinsam. Das bedeutete, Lärm, Trubel und unerträglich viele neugierige, verächtliche Blicke. Aber wenn Oredion es wünschte, würde sie mehr Fleisch essen.
Im Halbdämmer stapfte Erdree zu einem umgefallenen Baum am Rand der Lichtung, um sich darauf niederzulassen. Die Zügel des Braunen hingen lose um ihren Ellbogen. Das Fest des Pridat war genauso anstrengend gewesen wie sie befürchtet hatte. Ständig hatte sie im Gedränge um das Freudenfeuer und beim Festmahl darauf achten müssen, Wiralin nicht aus den Augen zu verlieren. Dabei wäre sie am liebsten aus dem Gewühl geflohen. Der Gesang, der zuletzt in Gegröle übergegangen war, hatte sie bis in ihre Schlafkammer verfolgt und sie lange wach gehalten. Auch jetzt noch klangen die Lieder in ihrem Kopf nach – weniger die spätnächtlichen Trinklieder, sondern die Chöre während der Zeremonie. Solch harmonischen, geordneten Gesang hatte Erdree noch nie gehört. In den Gasthöfen war bestenfalls gegrölt worden. Und in Mooresruh, wo kaum einmal ein Wort laut wurde, sang natürlich niemand. Dabei kam es Erdree nun so vor, als ob Singen und Sprechen zwei völlig unterschiedliche Dinge wären. Ob sie wohl singen könnte? Wenn sie es jemals versuchen wollte, musste sie es an einem Platz wie diesem hier tun – fern von allen Menschen und fern von allen Fensterscheiben. Erdree räusperte sich vorsichtig und versuchte es mit dem leisesten Summen. Rasch begriff sie, dass es unmöglich war, im Flüsterton zu singen. Sie holte tief Atem und nahm all ihren Mut zusammen. Einen Lidschlag lang glaubte Erdree, ein dunkles Vibrieren zu hören. Dann schnitt das grelle Kreischen der Glasbrecher durch die Luft. Etwas riss an Erdrees Ellbogen und ließ sie auf Händen und Knien im Schnee landen. Mit einem panischen Wiehern stob ihr Pferd davon. Erschrocken blickte Erdree dem Braunen nach. Schon nach wenigen Sprüngen wurde er langsamer und blieb schließlich am anderen Ende der Lichtung stehen. Erdree erlaubte es sich, aufzuatmen. Wenn ihr Schrei den trägen Braunen nicht tief in den Wald getrieben hatte, würde die Stille es erst recht nicht tun. Beschämt richtete Erdree sich auf und klopfte den Schnee von ihrem Mantel. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, den Mund aufzumachen, ohne ihr Pferd vorher festzubinden? Sollte sie nun versuchen, den Braunen einzufangen? Oder würde der kleinste Schritt in seine Richtung ihn verscheuchen, nachdem sie ihn so erschreckt hatte? Der Gedanke an Wiralin drängte Erdree vorwärts. Der Bogenschütze würde sie mit seinem Blick töten, wenn er ihr Pferd mit hängenden Zügeln auf der anderen Seite der Lichtung fand. Als sie näher kam, stellte der Braune alarmiert die Ohren auf. Sofort hielt Erdree wieder inne. Jeder andere Reiter würde beruhigend auf sein Pferd einreden. Vermochte sie denn gar keinen Ton hervorzubringen, der das Tier anlocken würde, statt es zu verscheuchen? Was würde sie in Mooresruh tun, um die Hühner um sich zu scharen? Im nächsten Moment schlug Erdree sich vor die Stirn. Natürlich! Pfeifen! Sogar ein Glasbrecher konnte pfeifen, ohne dabei zu kreischen. Erdree spitzte die Lippen und stieß einen sanften, abgehackten Pfeifton aus. Der Braune gab seine wachsame Haltung auf und scharrte unschlüssig mit den Hufen. Nach einem weiteren Pfiff setzte er sich in Bewegung und trottete auf Erdree zu. Erleichtert griff sie nach den Zügeln.
„Braves Tier,“ lobte sie ihn flüsternd. „Tut mir leid, dass ich dich so erschreckt habe.“
Während sie den Braunen hinter den Ohren kraulte, kehrten Erdrees Gedanken zu ihrem Singversuch zurück. War da wirklich dieses dunkle Vibrieren gewesen oder hatte sie es sich nur eingebildet? Bestimmt hatte sie es sich nur eingebildet. Sie war eine Glasbrecherin – warum sollte sie singen können, ohne zu kreischen, wenn sie nicht einmal sprechen konnte? Trotzdem ließ der Gedanke sich nicht abschütteln. Wie eine Schlafwandlerin führte Erdree den Braunen zurück an den Rand der Lichtung und band ihn dort fest. Dann kehrte sie zu ihrem Baumstamm zurück und bemühte sich erneut, einen Summton aus ihrer Kehle hervorzubringen. Im selben Moment, in dem sie erneut das dunkle Vibrieren vernahm, schlug es auch schon wieder in Kreischen um. Nach zwei weiteren Versuchen gab Erdree auf. Mit schmerzender Kehle richtete sie einen enttäuschten, sehnsüchtigen Blick zum Himmel. Hoch über der Lichtung kreiste ein Raubvogel. Sein schriller Schrei brachte den Hauch eines Lächelns auf Erdrees Gesicht. Zumindest dieser Ton war dem den Glasbrecher verwandt. Der Braune hob erstaunt der Kopf, als am anderen Ende der Lichtung der grelle Ruf eines Raubvogels erklang.