Читать книгу Ma chère Frieda - Irene Zoch - Страница 7
I
ОглавлениеAugust 1907. Vor drei Tagen ist Frieda in Cuxhaven an Bord des Passagierdampfers „President Lincoln“ gegangen. Viele Wochen zuvor hatte sie sich Schiffsfahrpläne für die Reise nach New York besorgt und preisgünstige Angebote in ihr kleines, in Leder gebundenes und mit goldenen Lettern versehenes Taschennotizbuch fein säuberlich eingetragen. Ursprünglich wollte sie sich für einen Platz auf der Holland-Amerika-Linie entscheiden, aber schließlich buchte sie bei der HAPAG einen Platz 2. Klasse für 230 Mark. Sie hätte auch für 160 Mark auf dem Zwischendeck reisen können, wobei sie 70 Mark von ihrem sauer verdienten Geld als Erzieherin eingespart hätte. Aber sie entschied sich gegen das Zwischendeck. Der Grund dafür war weniger dessen spartanische Einrichtung, als vielmehr die Aussicht, zwei Wochen lang mit anderen Passagieren in einem riesigen Schlafsaal, wo Bett an Bett stand, verbringen zu müssen und am Ende der Reise auf Ellis Island in dem weithin bekannten Backsteingebäude mit seinen mächtigen Türmen stundenlang Papiere und Gesundheit überprüfen zu lassen. Der Abschied von ihrer Familie und ihren Freunden war ihr schon schwer genug gefallen.
Bevor die vierundzwanzigjährige Frieda die lange Reise über den Atlantik antrat, besuchte sie für einen Tag Hamburg, das durch seinen Hafen mit den Landungsbrücken, die Kontor- und Bürgerhäuser, die Brücken und Kanäle, edle Geschäfte und Restaurants einen unauslöschlichen Eindruck auf sie machte. Über den kurzen Aufenthalt in dieser Stadt schreibt Frieda in ihr Notizbuch1: „Fast erschrak ich vor dem Glanz und der Fülle der Lichter, den dunkelblauen Gasflammen, die mir entgegen leuchteten. Der Anblick hatte etwas Märchenhaftes. Jungfernstieg. Wer einmal dort war, weiß, was das zu bedeuten hat. Hier wogt das Leben mit ganzer Kraft und riesiger Geschäftstätigkeit. Hier ist der Markt des Lebens mit seinen Licht- und Schattenseiten.
Wenn sich die Letzteren auch erst in den abgelegenen Gassen bemerkbar machen.“ Nachdem Frieda am späten Abend mit uneingeschränktem Vergnügen die Uferpromenade der Binnenalster entlangspaziert war, fand sie eine kleine Pension, wo sie die Nacht bis zu ihrer Abreise verbringen konnte. Sie ging auf ihr Zimmer, öffnete das Fenster und ließ die Sonnenstrahlen herein. Ein sanfter Wind bewegte die Blätter der Bäume auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Fröhliche Stimmen drangen von draußen herein. Frieda aber war das Herz schwer, sie hatte Heimweh. Am frühen Morgen des nächsten Tages, es war der 24. 8. 1907, fuhr Frieda mit einem Sonderzug der HAPAG ohne Zwischenaufenthalt von Hamburg nach Cuxhaven und ging dort an Bord des Passagier- und Postdampfers „President Lincoln“, der pünktlich 12.00 Uhr ablegte und seinen Weg über Boulogne-sur-Mer und Southampton nach Amerika nahm. Sie suchte ihre Kabine auf und begegnete dort einer aufgeschlossenen jungen Frau. Wie sich in einem ersten kurzen Gespräch herausstellte, war diese mit ihrer Herrschaft, bei der sie als Kindermädchen arbeitete, unterwegs nach Übersee. Frieda legte ihr Gepäck ab und ließ die junge Frau wissen, dass sie erst einmal aufs Promenadendeck gehen wolle, um frische Luft zu schnappen. Wie verzaubert stand die kleine zarte Frau mit ihren großen braunen Augen und mit ihrem dunkelbraunen Haar an der Reling und schaute aufs Meer. Es war schön in seinem Blau und ruhig. Die Sonne brillierte am Himmel. Die Luft war atemberaubend rein, anders als die in ihrer Heimatstadt Leipzig. Frieda sah hinreißend aus in ihrer weißen Bluse mit an den Achseln gepufften Ärmeln und einem Stehkragen, den eine silberne Brosche schmückte, und in einem eng an den Hüften anliegenden und am Saum schwingenden Rock. Das Haar trug sie nach oben gekämmt und zu einem Dutt zusammengefasst. Frieda genoss die Weite des Meeres, die Leere, den Augenblick der Sorglosigkeit. Alles Traurige in ihr wurde von der gelassenen Stimmung überlagert. Bis dann doch die Erinnerungen an den Abschied von ihrem Zuhause und all die Überlegungen, was ihr das neue Leben wohl bringen würde, die Oberhand gewannen. Hoffnung, Trauer, Ungewissheit, Freude – ein Wirrwarr in ihrem Kopf.
Die „Lincoln“ hatte abgelegt und zog eine vom Kielwasser geformte weiße, glitzernde Spur hinter sich her. Während Frieda ihren Gedanken nachhing, gesellten sich zwei jüngere Männer in dunkelgrauen Anzügen und weißen Hemden mit geöffnetem Kragen zu ihr. „Entschuldigen Sie bitte, wir würden Sie gern mal etwas fragen.“
„Bitte, tun sie das!“, forderte Frieda sie auf.
„Kommen Sie nicht aus Leipzig? Wir glauben, Sie häufiger in der Dreilindenstraße in Lindenau gesehen zu haben.“ Frieda schaute etwas überrascht und sagte dann zögernd: „Das kann stimmen. Ich habe dort bei meinen Eltern gewohnt.“
„Und wir bei unseren Eltern am Lindenauer Markt“, fügten die beiden Herren hinzu.
„Und warum sind Sie an Bord der Lincoln?“, interessierte sich Frieda. Der jüngere Bruder berichtete, dass es für sie beide in Leipzig keine Arbeit mehr gäbe. Der Fabrikherr, bei dem sie in Lohn und Brot waren und recht gut verdient hätten, wäre seine Ware nicht mehr los geworden. Deshalb hätte er sie entlassen müssen, und durchhungern wollten sie sich auch nicht. So sei die Idee geboren worden, das Glück in Amerika zu suchen.
„Wir sind gut ausgebildete Schlosser. Die da drüben werden uns bestimmt brauchen.“ Frieda versuchte, den beiden Mut zu machen. Dann meinte sie: „Auch ich hoffe auf eine Stelle. Ein ehemaliger Arbeitskollege meines Vaters, der vor ein paar Jahren mit seiner Frau und seinem Sohn nach New York ausgewandert ist, hat mir in einem Brief geschrieben, dass ich als ausgebildete Kindergärtnerin gute Aussichten hätte, eine Stelle zu finden. Er erwartet mich am Übersee-Kai des New Yorker Hafens. Wie es dann weitergeht, das wird sich finden.“ Dann wurden die drei still. Sie schauten auf die riesigen Wogen des Meeres, und ihre Gedanken verloren sich schließlich in der Weite der See. Nach geraumer Zeit stand die junge Frau aus Friedas Kabine neben ihnen. Eine große und hübsche Frau. Sie trug eine taillierte dunkelgrüne Bluse mit Biesen und einen knöchellangen braunen Rock. Auch sie hatte ihr dunkles Haar zu einem Knoten gesteckt. „Guten Tag, darf ich mich zu Ihnen gesellen?“, fragte sie etwas schüchtern.
„Aber gern“, antworteten die anderen im Chor.
„Ich bin Margarete und komme aus Dresden.“
„Auch eine Auswanderin?“, wollten die anderen wissen.
„In Dresden habe ich als Kindermädchen gearbeitet, und jetzt bin ich mit meiner Herrschaft, einem Arztehepaar, nach New York unterwegs. Die Herrschaften reisen erster Klasse, und ich zweiter Klasse, genauso wie Frieda“, erklärte sie. Kaum hatten sich dann auch die anderen Margarete kurz vorgestellt, kam ein mächtiger Sturm auf. Das Meer schlug hohe Wellen, die sich an den Flanken der „Lincoln“ brachen. „Kommt in den Rauchsalon“, rief Frieda, „dort können wir uns weiter unterhalten.“ Die vier flüchteten in den als Rauchsalon bezeichneten Aufenthaltsraum, wo schon andere Passagiere saßen und Bridge, Poker, Domino, Dame oder Schach spielten, etwas in ihr Notizbuch eintrugen und dabei Gin, Whisky oder Cocktails tranken. Die vier jungen Leute nahmen in einer Sitzecke Platz, die durch eine Holzbrüstung abgeteilt und mit lederbezogenen Bänken und einem Tisch ausgestattet war, und begannen erneut, über ihre Zukunft zu sprechen und sich vorzustellen, was sie auf der anderen Seite des großen Wassers erwarten würde. Dabei schwangen Freude und Neugier mit, aber gleichzeitig auch eine gewisse Furcht vor der Neuen Welt. Können wir dort unser Leben meistern? Können wir in New York heimisch werden? „Ich kenne mich in New York überhaupt nicht aus und spreche doch kein Englisch“, äußerte Frieda mit Bedenken. „Denkst du etwa, uns geht es anders?“ meinten die beiden Brüder. „Aber wir sind doch jung und können noch schnell lernen. Und ein bisschen Abenteuer muss sein. Wichtig ist, dass wir Arbeit finden.“
Nach etwa zwei Stunden beschlossen Frieda und Margarete, ihre Kabine aufzusuchen. Mit den jungen Männern vereinbarten sie, sich mit ihnen am Abend im Gesellschaftszimmer zu treffen. Dort sollten ein Konzert und anschließend ein Ball stattfinden. Als Frieda und Margarete in ihre Kabine kamen, legten sie sich erst einmal auf ihrer Betten, um sich etwas auszuruhen. Es dauerte aber gar nicht lange, da begannen sie zu erzählen. Vor allem Frieda, die allein reiste und für ihr neues Leben viel zu bedenken hatte, lief der Mund über. Auf diese Weise erfuhr Margarete viel über sie. Und auch dann, wenn sie sich mit den anderen, den beiden „Jungs“ und Margarete, im Speisesaal an einen der blütenweiß gedeckten Tische setzte oder sich mit ihnen im Aufenthaltsraum oder auf dem Promenadendeck traf, erzählte sie über ihr bisheriges Leben. Und erzählen konnte Frieda hervorragend.
KLEID UM 1900