Читать книгу Novembertod - Iris Leister - Страница 5

Samstag, 9. November 1918

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AM 9. NOVEMBER 1918 - sieben Tage, bevor Heinrich von Brettin erschossen werden würde - standen Hermann und Klara Kappe vor den stumpfen Schaufenstern des Kaufhauses Wertheim am Moritzplatz und spielten das Spiel.

«Was meinst du - dahinten, das Seidenkleid in Altrosa?» Kappe sah Klara an. Hochschwanger, den Rücken durchgedrückt, stand sie neben ihm. Über ihrer Kluft aus seinen langen Unterhosen und ausgemusterten Militärunterhemden spannte sich das alte Reformkleid, das sie von ihrer Freundin Margarete geschenkt bekommen hatte. Darüber trug sie die beiden größten Pullover Kappes. Die Strickmaschen dehnten sich fast bis zum Zerreißen. Klaras Mantel klaffte offen. Sie war blass und hatte Augenringe, die aussahen wie gestempelt. Kappe wandte sich wieder den Auslagen zu. Sie waren leer.

«Das Kleid bekommst du zu Weihnachten. Und dann gehen wir zusammen ins Café Bauer.»

«Weihnachten ist das Kind da.» Sie sagte das mehr zu sich selbst. «Jetzt bist du dran.»

Vor Wertheim zu stehen und die gähnende Leere hinter den Schaufenstern mit ihren Träumen zu füllen war Klaras Spiel. Kappe spielte es mit, denn es lenkte sie beide für eine halbe Stunde von ihrer Rastlosigkeit ab. Außerdem war es gut, um für kurze Zeit den Hunger und die Trostlosigkeit, die mit dem Krieg gekommen waren, zu vergessen.

Kappe überlegte. Endlich fiel ihm etwas ein: «Der Präsentkorb hier vorne. Der mit der Gänseleberpastete. Den kaufen wir gleich, wenn sie aufmachen.» Klaras Magen knurrte. Seit Tagen hatten beide nichts als Wassersuppe gegessen. Kappe bereute seine Idee sofort.

«Ach Hermann, ein Walfisch wie ich braucht doch nichts zu essen.» Sie nahm seine Hand. Er war froh, dass sie lächelte.

«Ich könnte auch ein bisschen weniger vertragen.» Kappe legte Klara den Arm um die Schulter. «Komm. Die Öfen sind sicher bald durchgeheizt.»

Es war sieben Uhr morgens. Noch waren die Kreuzberger Straßen leer; es war die einzige Zeit, zu der Klara sich nach draußen traute. Seit zwei ihrer Freundinnen und ein Mann aus dem Nachbarhaus an der Spanischen Grippe gestorben waren, mied sie jede Menschenansammlung. Sie konnte seit Monaten nicht mehr richtig schlafen und wäre ab halb fünf Uhr morgens rastlos durch die kalte Wohnung getigert, wenn Kappe nicht die Idee mit den Morgenausflügen in die noch schlafende Stadt gehabt hätte. Tagsüber quoll Berlin über vor Menschen. Täglich trafen neue Kriegsheimkehrer ein. Es wurde immer enger.

Kappe und Klara gingen vom Moritzplatz in die Neanderstraße. Klara trug ihren Bauch vor sich her wie ein Fass. Ihr Körper war so angeschwollen, dass sie sich nicht mehr alleine ihre Schuhe anziehen konnte. Ihren Ehering hatte sie schon lange abgelegt, weil ihre Finger zu dick wurden.

Kappe dachte an den heutigen Morgen. Er war wie immer zähneknirschend mit Klara aufgestanden. Die Wohnung war völlig ausgekühlt, weil es schon lange nicht mehr genug Brennmaterial gab. Nachdem er sich mehrere Schichten aus langen Unterhosen, Hosen und Pullovern angezogen hatte, hatte er die Küchenmaschine mit den letzten Holzresten angeheizt und den Ersatzkaffee aus Zichorie aufgesetzt. Als er fertig war, hatte er Klara in der Wohnung gesucht. Er hatte sie im Schlafzimmer gefunden, wo sie reglos vor den polierten Türen ihres Kleiderschranks stand. Kappe hatte sie still beobachtet. Sie hatte ihr Spiegelbild in den blankpolierten Türen des Schranks betrachtet, sich langsam hin und her gedreht, die Handflächen flach an ihren Bauch gelegt und sich auf die Unterlippe gebissen. Sie hatte die Frau, die ihr blass und unförmig aus den Mahagoniflächen des Schranks entgegenblickte, angestarrt wie eine unheimliche Fremde. Dann hatte sie die Luft durch die Nase ausgestoßen, den Staublappen genommen und über die Türen gewischt, als wolle sie das Holz von ihrem Spiegelbild reinigen. Kappe, dem Klara während der letzten Monate immer fremder geworden war, überfiel plötzlich eine unbändige Zärtlichkeit. Er hatte sie umarmt. Doch sie war zusammengeschrocken.

«Hör auf! Ich muss hier noch saubermachen.»

«Wie oft willst du die Möbel denn noch polieren? Es blitzt doch schon alles.» Kappe hatte auf die Einrichtung gezeigt, deren Oberflächen von Klaras täglichen Putzorgien glänzten, als seien sie nass. Klara hatte ihn ignoriert und langsam und methodisch weitergewischt, während Kappe sich ratlos in die Küche zurückgezogen hatte. Später hatten sie schweigend den bittermalzigen Kaffee getrunken. Danach hatte Kappe die Kachelöfen mit ein paar wenigen Kohlen angeheizt und Klara die Schuhe zugebunden. Dann waren sie zu ihrem morgendlichen Spaziergang zu Wertheim aufgebrochen.

Über den Mariannenplatz waren sie in Richtung Heinrichplatz gegangen, vorbei an dem verlassenen Sandspielplatz. Kappe hatte sich gefragt, ob sein Kind hier demnächst spielen würde. Er hoffte, dass es ein Junge werden würde, mit dem er in ein paar Jahren vielleicht einmal Fußball spielen konnte. Aber wer wusste schon, was in ein paar Jahren war? Es war nicht einmal klar, was die Gegenwart bringen würde. In den letzten Wochen schien die Welt aus den Fugen geraten zu sein. Der Krieg war trotz aller Siegesparolen auf einmal verloren, die alte Regierung zurückgetreten.

«Ob die Revolution auch nach Berlin kommt?», hatte Klara plötzlich gefragt, als hätte sie Kappes Gedanken gelesen. «Margarete sagt, dass es an der Zeit ist.» Sie war stehengeblieben. «Was dann wohl kommt?»

Kappe hatte sie angesehen. Es war warm für November. Der Geruch von verbrannter Kohle hing wie ein Schleier in der Luft. Am 29. und 30. Oktober hatten sich die Matrosen in Wilhelmshaven geweigert, auf eine letzte Todesfahrt gegen die englische Flotte auszulaufen. Das Todeskommando war abgeblasen worden, aber Hunderte waren verhaftet und auf Schiffen nach Kiel verfrachtet worden, wo sie der Kriegsgerichtsbarkeit und damit dem sicheren Tod entgegengesehen hatten. Am 4. November hatten die Matrosen, denen der Aufstand ihrer Kameraden das Leben gerettet hatte und die seitdem protestierten, in Kiel ihre Offiziere entwaffnet und die verhafteten Kameraden befreit - Seite an Seite mit den Arbeitern, die sich mit ihnen solidarisiert hatten. Seitdem war das Land in Aufruhr. Die Machtverhältnisse hatten sich umgedreht in Kiel. Die angestammten Machthaber hatten in der Stadt nichts mehr zu sagen. Von Kiel aus rollte diese revolutionäre Welle nun durchs ganze Kaiserreich. Nicht nur in Hannover, Köln und Frankfurt wehten schon die roten Fahnen, auch die Münchner hatten am vorherigen Tag ihren König Ludwig davongejagt und in Bayern die Rätedemokratie ausgerufen. Einzig in der Hauptstadt war es bisher ruhig geblieben.

«Wer weiß das schon. Immerhin haben wir Glück, dass es nicht so kalt ist. Bei den wenigen Kohlenmarken, die es gibt.» Kappe hatte nicht gewusst, was er sonst hätte sagen sollen. Er hatte Klara vorsichtig den Arm um die Schulter gelegt. Sie hatte es geschehen lassen. Arm in Arm waren sie rechts in die Oranienstraße mit ihren erloschenen Kaufhäusern eingebogen. «Irgendwie ist das ein falscher Winter», hatte Klara gesagt.

Ein Geräusch holte Kappe aus seinen Gedanken. Sie waren fast an der Köpenicker Straße. Er sah zu Klara, die neben ihm lief und plötzlich die Nase verzog. «Riechst du das? Das stinkt bis hierhin.»

«Ach Klara, du und deine übersinnlichen Gerüche.» Kappe roch nichts. Seitdem Klara schwanger war, fühlte sie sich von den Gerüchen des Luisenstädtischen Kanals geradezu verfolgt.

«Das musst du doch riechen!»

«Sei mal still!» Kappe versuchte, das Geräusch zu orten. Es war eine Art trockenes Rauschen. Kappe hatte das Geräusch schon einmal gehört. Plötzlich erinnerte er sich: Die Menschenaufmärsche zu Kriegsbeginn und die Streiks im letzten Winter hatten sich genauso angehört. Es war das Geräusch von Hunderten von Schritten. Kappe erschrak. Er versuchte, Klara von der Straßenecke fortzuziehen. Doch es war zu spät. Tausende von Menschen quollen plötzlich aus der Köpenicker Straße. Arbeiter trugen rote Fahnen. Mütter zogen ihre Kinder hinter sich her. Sie schwenkten Transparente aus Bettlaken und Pappschilder, die notdürftig auf Latten genagelt waren. Brüder, nicht schießen!, stand hundertfach auf den Transparenten.

«Hermann!» Klara stand da wie angefroren. Ihre Stimme zitterte. Diese versuchte, sie wegzuziehen, aber der Strom der Demonstranten riss sie mit. Ein ausgemergelter Mann hustete Klara an. Diese wandte sich stöhnend ab. Sprechchöre brandeten auf:

«Schluss mit dem Krieg!» und «Frieden und Brot!»

«Marschiert mit uns, Genossen!», brüllte ein Mann, der ein Pappschild mit der Aufschrift Wir wollen Brot trug. Ein anderer drückte Kappe ein Flugblatt mit dem Aufruf zum Generalstreik in die Hand. Klara hielt sich ein Taschentuch vor das Gesicht. Kappe sah ihre aufgerissenen Augen. Mit einer Hand klammerte sie sich panisch an ihm fest. Er versuchte, sie zwischen den vorwärtsdrängenden Leuten zum Straßenrand zu ziehen. Klara hing wie ein Gewicht an ihm. Sie bewegte sich schwerfällig. Er kam kaum voran. Jemand rempelte Klara an. Kappe war wütend. «Passt doch auf!» Plötzlich spürte er ihren Griff nicht mehr. Er drehte sich um. Klara war weg. Kappe roch Angst. Er wusste nicht, ob es seine eigene war. Fieberhaft suchte er nach Klara, schob sich durch die dicht an dicht marschierenden Menschen, versuchte, irgendwie zwischen den Reihen nach vorne zu kommen. Er sah in ausgemergelte Gesichter, die vor grimmiger Entschlossenheit glühten. Das Geräusch der marschierenden Füße hallte hundertfach verstärkt von den Häuserwänden wider und vermischte sich mit den Sprechchören.

Kappe fühlte sich, als wäre er unter Wasser. Er rief nach Klara, wurde geschubst, stolperte, wurde von jemandem hochgerissen, rief wieder. Er hörte ihre Stimme. Es klang, als sei sie irgendwo auf der anderen Straßenseite. Er kämpfte sich durch ein Meer aus Armen, Beinen, Oberkörpern, rannte dagegen an. Er wurde mit Flüchen überschüttet. Einem Mann, der sich ihm in den Weg stellen wollte, rammte er den Ellenbogen in den Magen, dann kämpfte er sich weiter - froh, dass der Mann sofort weggedrängt wurde. Endlich sah er Klara. Sie saß am Straßenrand, die Beine breit, stützte den weit nach hinten gelehnten Oberkörper mit durchgedrückten Armen ab. Das Taschentuch war ihr auf den Bauch gefallen. Es hob und senkte sich stoßweise. Kappe stürzte auf sie zu. Klara schluchzte. Kappe wiegte sie hin und her. «Was ist passiert? Hat dir jemand weh getan?»

«Die haben mich angesteckt.» Sie zitterte.

Kappe streichelte sie. «So leicht kriegt man die Grippe nicht. Komm, ich bring dich nach Hause.»

Klara weinte. «Jetzt muss ich sterben. Und das Kind auch.» Kappe sah sich hilfesuchend um, aber die Demonstranten marschierten achtlos an ihnen vorbei. Er versuchte, Klara hochzuziehen. Sie wehrte sich, und Kappe fühlte sich inmitten der siedenden Menschenmassen völlig allein. Er setzte sich neben sie und hielt ihre Hand. «Du kannst doch hier nicht sitzen bleiben, Klara.»

Klara schluchzte nur.

«Komm, wir gehen nach Hause. Du wirst sehen, es ist alles in Ordnung.»

Klara schüttelte den Kopf. «Ist doch jetzt alles zu spät.»

«Quatsch mit Soße.»

«Für dich ist immer alles Quatsch mit Soße.»

«Mensch, Kappe, was macht ihr denn hier?» Kappe sah hoch. Trampe, sein alter Nachbar aus der Waldemarstraße, stand vor ihm. Er trug ein Schild in der Hand. «Sag bloß, es ist so weit.»

«Sie will nicht weiter.» Kappes Stimme war vor Aufregung ganz rau.

Trampe hockte sich vor Klara. «Kommt das Kind?»

Klara sah ihn an. «Ist sowieso egal. Ich hab ja jetzt die Grippe.» Trampe besprach sich kurz mit den Männern, mit denen er im Zug gelaufen war. Er gab ihnen das Pappschild. Kappe las die Aufschrift DeTeWe - Generalstreik - Schluss mit dem Krieg eher nebenbei. Die Männer zogen weiter.

Kappe und Trampe versuchten, Klara aufzuhelfen, doch sie stöhnte nur und klappte zusammen wie ein nasser Sack. «Klara, wir gehen am besten ins Krankenhaus. Da lassen wir dich untersuchen.» Kappe streichelte ihre Hand. «Bist du bereit?»

Sie zuckte mit den Schultern.

«Na los, wir versuchen es noch einmal.» Die beiden Männer nahmen Klara zwischen sich und zogen sie hoch. Sie gingen ein paar Schritte.

«Ich schaffe das nicht», schluchzte sie auf.

Die beiden Männer setzten sie vorsichtig ab. «Verdammt!» Kappe sah Trampe an. Der überlegte einen Moment. «Bin gleich zurück», sagte er dann und rannte gegen den Strom der Demonstranten so schnell wie möglich die Köpenicker Straße hinunter. Kappe sah ihm hinterher. «Bitte, Trampe, beeil dich», sagte er leise. Er nahm Klara in den Arm und redete auf sie ein. Er hoffte, es würde sie beruhigen.

Der Aufmarsch dünnte nach und nach aus. Nur noch wenige Nachzügler kamen. Meistens Schaulustige, die nichts verpassen wollten und nun zusahen, dass sie den Anschluss an den Demonstrationszug bekamen. Klara lag blass in Kappes Armen. Er wurde von Sekunde zu Sekunde nervöser. Trampe schien schon eine Ewigkeit weg zu sein. Plötzlich hörte Kappe das lauter werdende Geräusch eines schweren Motors.

«Ein Auto, Hermann!»

«Kannst du aufstehen?»

«Ich versuch’s.»

Kappe zog Klara hoch. Sie wimmerte, blieb aber stehen. Kappe stützte sie. Beide horchten angestrengt.

Der Mercedes schoss wie ein Schatten aus der Michaelkirchstraße. Kappe und Klara stolperten auf die Straße. Reifen quietschten. Der Wagen bremste. Kappe riss die Tür zum Fond auf. Die Innenbeleuchtung ging an. Eine Frau. Kappe sah ihre schwarzen Augen. Ihre schmale Nase. Darunter wölbten sich blutrote Lippen in einem blass geschminkten Gesicht, das von Locken umrahmt wurde, die glänzten, als wären sie feucht. Das Fell ihres großen Pelzkragens kräuselte sich ein wenig im Luftzug. Das Auto atmete den Geruch von Lilien.

«Frau Magno, was für ein Glück, bitte helfen Sie mir.» Klara versagte die Stimme.

«Meine Frau muss ins Krankenhaus.»

Die schwarzen Augen streiften Klara, ihr vom Weinen geschwollenes Gesicht, ihren klaffenden alten Mantel, den schwangeren Bauch, das fadenscheinige Kleid, die alten Pullover. Dann sahen sie Kappe an. Ihr Blick war wie eine Ohrfeige. In einer einzigen Bewegung beugte die Frau sich zu ihm, fasste den Innengriff und riss die Tür zu. Kappe war zu überrascht, um die Tür festzuhalten. Das Auto fuhr an, zog hart an ihm vorbei und verschwand.

Kappe starrte ihm einen Augenblick hinterher. Er war fassungslos. Er überlegte scharf, woher er dieses Gesicht kannte. Und dann fiel es ihm ein. «Das war diese Schauspielerin.» Kappe war von Klara, die eine glühende Verehrerin der Magno war, in mindestens zehn Filme geschleppt worden, in denen die Diva die Hauptrolle spielte.

«Ja. Renee Magno.» Klara lachte bitter. «Lässt uns einfach stehen. Ich muss mich hinsetzen, Hermann.» Sie ließ sich ungelenk am Straßenrand nieder. Kappe schob ihr seinen Mantel unter und setzte sich neben sie.

«Vielleicht kommt ja Trampe bald mit Hilfe.»

«Was für Zeiten! Ich weiß nicht, wann wir das letzte Mal etwas Richtiges gegessen haben.» Klara lehnte sich weit zurück.

«Und sie hatte Lilien. Und einen Wagen. Wahrscheinlich isst sie jeden Tag dreimal warm. Nicht zu fassen.» In ihre Bitterkeit mischte sich Unglauben. «Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, wenn jetzt hier alles zu Ende ist.»

«Jetzt hör aber auf!» Kappe war gereizt. «Nichts ist zu Ende.»

«Bitte hol Margarete.» Klara schloss die Augen. Sie lehnte sich an Kappe und schwieg.

Eine gefühlte Ewigkeit später kam Trampe zurück. Er saß neben dem Kutscher eines altertümlichen Fuhrwerks. Das Pferd, das es zog, war so mager und räudig, dass Kappe daran zweifelte, ob es bis zum Krankenhaus durchhalten würde. Der Kutscher sah Kappes Blick. «Ist das änziche, was se mir gelasst ham. Und selbst fir des krieg ich kein Futter nich. Aber ich quatsch schon wiedr zu viel. Wo isse nu, die scheene Frau?»

Gemeinsam hoben die drei Männer die apathische Klara auf, verfrachteten sie vorsichtig auf die Ladefläche und fuhren zum Krankenhaus Bethanien. Aus Mitte hörte man Schüsse.

Obwohl sie gestaltet war wie eine Kirche, kam Kappe die Eingangshalle des Krankenhauses vor wie der Vorhof zur Hölle. Sie war dämmrig und der Geruch von Krankheit und Armut in ihr so streng, dass er nur noch halbe Atemzüge machte. «Das wird Klara nicht ertragen», dachte er ungefähr zum hundertsten Mal. Vor zwei Stunden war sie auf einer Trage ins Innere des Krankenhauses gerollt worden, begleitet von einer besorgten Schwester, die sich als Schwester Hedwig vorgestellt hatte. Seitdem wartete Kappe in der dunklen Halle. Trampe und der Kutscher hatten sich längst verabschiedet. Patienten humpelten auf Krücken an ihm vorbei. Er sah einen Mann, dessen halbes Gesicht verbrannt schien. Es wurde überall gehustet. Aus den Krankenzimmern drang Stöhnen. Einmal schrie jemand laut.

Um die Kranken und Versehrten nicht mehr sehen zu müssen, hatte Kappe begonnen, die Architektur zu studieren. Doch die Säulchen, ihre blattgeschmückten Kapitelle und die in Rot und Blau bemalten Ornamente erschienen ihm wie Hohn. Er betrachtete die Stuckmedaillons an den Wänden. Kappe erkannte bibli sche Szenen der Heilung. Im Dämmerlicht, inmitten der furchtbaren Geräusche und der drückenden Ausdünstungen, war es ihm, als würden die Gipsgestalten plötzlich anfangen, sich vor Schmerzen zu winden.

«Herr Kappe?» Er schrak zusammen. Schwester Hedwig stand vor ihm. Sie war so mager, dass ihre Tracht an ihr herabhing wie ein Sack. Müdigkeit umgab sie wie ein Mantel.

«Was ist mit Klara? Geht es ihr gut? Ist mit dem Kind alles in Ordnung?»

Sie schüttelte den Kopf. «Ihre Frau hat sehr hohen Blutdruck und viel Wasser im Körper. Wir müssen sie erst einmal hierbehalten.»

Kappe sank das Herz. «Das wird ihr nicht gefallen. Sie hat schreckliche Angst, sich mit der Grippe anzustecken.»

Der Blick der Schwester war stumpf vor Erschöpfung. «Wir tun unser Bestes. Den Rest wird der Herr entscheiden.»

«Kann ich sie sehen?»

«Sie braucht Ruhe. Am besten, Sie gehen jetzt nach Hause. Kommen Sie morgen wieder.»

Kappe nickte resigniert. Er wandte sich dem Ausgang zu.

«Herr Kappe?» Sie war hinter ihm hergekommen. «Fast hätte ich es vergessen. Ihre Frau bittet Sie, einer gewissen Margarete Bescheid zu geben.»

Kappe verließ das Krankenhaus. Er war außer sich vor Sorge.

Kappe rannte zurück zu Wertheim, wo Margarete als Verkäuferin arbeitete. Das Kaufhaus hatte gar nicht erst aufgemacht. Die Belegschaft hatte sich dem Generalstreik angeschlossen und war irgendwo auf den Straßen Berlins unterwegs. Kappe überlegte. Margarete würde auf jeden Fall mit ihren Kollegen umherziehen. Das wird die Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen, dachte er. Er schlug sich zu Fuß in Richtung Mitte durch, immer in der Hoffnung, sie in einem der mit Transparenten gespickten Demonstrationszüge zu finden.

Die Straßen waren voll, doch Margarete war nicht zu sehen. Immer wieder fragte Kappe, ob jemand die Wertheim-Belegschaft gesehen hätte. Niemand wusste etwas. Er kämpfte sich weiter durch die Streikenden. Plötzlich fand er sich an der Jannowitzbrücke wieder. Ein Jägerbataillon war auf der Brücke postiert. Die Luft vibrierte von Sprechchören. Die Angst der Demonstranten war fast greifbar - aber ebenso auch ihre Entschlossenheit. Und plötzlich fiel Kappe mit ein in den Chor: «Schluss mit dem Krieg!», brüllte er und erschrak gleichzeitig über sich selbst. Er sah einem der Soldaten in die Augen. Die Zeit schien stillzustehen. Kappe fühlte plötzlich, dass sein Schrei aus tiefster Überzeugung kam. Er hasste diese Zeit des Hinschlachtens. Er hasste den ständigen Hunger. Und er hasste, was mit Klara passiert war. Er hielt den Atem an. Er hoffte, dass nicht geschossen würde. Und dann, auf einmal, sah er Verständnis in den Augen des Soldaten. Wie auf ein Kommando bildete das Bataillon eine breite Gasse. Die Offiziere drehten der Menge den Rücken zu. Niemand schoss. Der Zug zog ungestört zwischen den Männern hindurch.

«Die sind ja wirklich auf unserer Seite.» Die Frau neben ihm strahlte Kappe an.

«Das will ich meinen, jetzt, wo sogar die Naumburger Jäger sich den revolutionären Soldaten angeschlossen haben», mischte sich ein Mann ein.

«Der kaisertreue Haufen?» Die Frau konnte es nicht fassen.

«Wenn ich’s doch sage!»

«Hoffentlich bleibt das alles auch so.» Kappe drängte sich weiter. Er sah einen Photographen, der mitsamt seinem kiloschweren Apparat auf einen Baum geklettert war, um die Soldaten und die zwischen ihnen hindurchströmenden Menschen zu photographieren. Er schaute sich wieder und wieder nach Margarete um. Vergebens. Ein paar Straßenecken weiter wurden einem Zeitungsjungen die Zeitungen nur so aus der Hand gerissen, und Kappe blieb im allgemeinen Gedränge stecken. «Hast du die Leute von Wertheim gesehen?», fragte er ihn.

«Meester, ick bin froh, wenn ick meene Zeitungen seh.» Kappe kaufte ihm eine Zeitung ab. Der Junge drückte ihm glücklich grinsend eine Extra-Ausgabe des Vorwärts in die Hand. Es lebe die soziale Republik, stand dort zu lesen. Da Kappe fast am Alex war, beschloss er, sich zu seinem Büro durchzuschlagen. Vielleicht gab es dort Informationen über die einzelnen Demonstrationszüge. Als er endlich am Polizeipräsidium ankam, war das rote Gebäude umlagert. Revolutionäre Soldaten und Zivilisten standen Schulter an Schulter. Die Stimmung war eisig. Die Soldaten hielten die Gewehre im Anschlag. Ihnen gegenüber, hinter den Fenstern, standen die Schutzpolizisten. Ihre Waffen waren auf die Soldaten gerichtet.

Kappe versuchte, den burgförmigen Bau zu umrunden. Er drückte sich durch die Mauer aus Menschen, bis er zu einem Seiteneingang kam. Die Demonstranten trennte nur noch ein halber Meter von der Tür. In der Hoffnung, sich unauffällig hineinschlängeln zu können, drängte Kappe sich nach vorne. Er war fast an der Tür, da fühlte er einen Griff wie ein Schraubstock an seinem Oberarm. «Na, Bürschchen, du gehörst doch nicht etwa zu dem Adelsclub da drinnen?» Ein massiger Typ mit Boxernase hielt ihn fest. Bevor Kappe antworten konnte, klirrten Scheiben. Der Kampfruf «Nieder mit der Regierung!» brandete auf. Die Masse drängte nach vorne. Die Tür gab nach. Der Typ funkelte Kappe an. «Bist du vielleicht sogar einer von der Politischen?»

Kappe sah den blanken Hass in den Augen des Mannes. Er überlegte nicht lange. «Los, stürm mit, wenn du einer von uns bist!» Er machte sich los und schob sich nach vorne.

«Du jefällst ma.» Der Mann griff Kappe erneut und zog ihn hinter sich. «Lass mir ma machen. Bin ja viel jrößa.» Er stampfte vorwärts. Kappe hing an ihm wie ein Fisch an der Angel. Er wurde durch den Seiteneingang geschleift. Soldaten und Zivile, alle drängten durch die Tür. Die bewaffneten Schutzpolizisten, die den Eingang bewacht hatten, flohen. «Dit macht Laune, wa?» Der Boxernasige lachte. Kappe grinste gezwungen.

Die Schutzleute stoben vor ihnen her. Die Revolutionäre verfolgten sie. Der Boxernasige hatte Kappe immer noch fürsorglich umklammert. Gemeinsam rannten sie hinter den Schutzpolizisten her durch die Gänge bis fast zum Vordereingang. Dort standen die anderen Schutzpolizisten mit erhobenen Händen. Jäger und Gejagte prallten mit ihnen zusammen. In dem Durcheinander gelang es Kappe, sich von dem Mann mit der Boxernase loszumachen. Er zog sich vorsichtig zurück. Kappe wusste, dass auf dem Flur eine Kammer war, in der der Hausmeister seine Utensilien aufbewahrte. Schritt für Schritt näherte er sich der schmalen Tür. Immer wieder kamen Männer den Gang entlang und trieben Schutzleute vor sich her. Endlich hatte er es geschafft. Er öffnete die Tür und schlüpfte hinein. Der Geruch von Bohnerwachs schlug ihm entgegen. Gerade als er die Tür zuziehen wollte, spürte er einen Blick auf sich. Böhlke, einer der Schutzmänner seiner Abteilung, den sie nur «Die Bulldogge» nannten, hatte ihn gesehen. Die Bulldogge ging mit erhobenen Händen vor einem Revolutionär her. Seine Pickelhaube saß schief auf dem Schädel, und sein Gesicht, das wie bei jedem Choleriker sowieso immer leicht rötlich angelaufen war, pulsierte in dunklem Rot. Ihre Augen trafen sich. Böhlkes Ausdruck war reglos, aber sein Blick sprach Bände.

Kappe drückte die Tür zu. Bleierne Schwere überkam ihn.

«Bitte nicht jetzt», dachte er noch, bevor die Bewusstlosigkeit über ihm zusammenschlug wie eine Welle aus Öl.

Kappe kam inmitten von Eimern, Schrubbern und Lumpen zu sich. Das Erste, was ihm auffiel, war die unheimliche Stille im Haus. Er öffnete vorsichtig die Tür. Die Gänge waren leer. Kappe ging zu seinem Büro. Niemand war da. Er ging zum Telefon und wählte die Nummer des Kaufhauses Wertheim. Es klingelte endlos. Kappe fluchte und legte auf. Er sah gedankenverloren aus dem Fenster. Unten stand die gesamte Mannschaft der Schutzleute und wurde entwaffnet. Alles ging ruhig vor sich, nur ab und an pöbelte jemand herum. Eine Frau spuckte einen der Polizisten an. Die Männer, die die Polizisten entwaffneten, redeten beruhigend auf sie ein. Kappe wusste, dass die Schutzmänner als Büttel des Kaiserregimes verhasst waren. Es überraschte ihn, wie respektvoll die Revolutionäre mit ihnen umgingen. Er versuchte es noch mal mit dem Telefon. Wieder vergeblich. Er überlegte. Der Boxernasige und seine Bemerkung über die Politische Polizei kamen ihm in den Sinn. Die Spitzel der «Politischen» wussten sicher etwas. Kappe verwarf den Gedanken. Es war zu riskant, in der Abteilung zu fragen. Selbst wenn er äußerst geschickt vorging: Wenn die Revolution sich nicht durchsetzte, würde das Margaretes Fahrkarte ins Gefängnis bedeuten. Er musste wieder hinaus, sie suchen. Er riss die Bürotür auf. Vor ihm stand Galgenberg.

«Kommissar Kappe, wie schön, Sie zu sehen! Ick bin sicher, Sie hatten wat Wichtijet zu tun, während wir unsere politische Integrität bewiesen haben.» Galgenberg schaute ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Seitdem er aus dem Krieg zurückgekommen war und entdecken musste, dass Kappe an ihm vorbei Kommissar geworden war, hatte sich ihr Verhältnis merklich abgekühlt. Von dem fröhlichen Kollegen und Freund, der ihn oft mit seinen «Ein Satz mit …?»-Sprüchen gepiesackt hatte, war nicht mehr viel übriggeblieben. Besonders in den letzten drei Wochen schien Galgenbergs Laune noch weiter gesunken zu sein. Kappe hatte sich jedoch angesichts des ohnehin angespannten Verhältnisses nicht getraut, den Kollegen darauf anzusprechen.

«Galgenberg, ich muss los.»

«Freun Se sich, Herr Kommissar, gerade könnse ma Pause machen von Ihren unermüdlichen Bemühungen um die Reichshauptstadt. Audienz beim RR.»

Kriminalinspektor Waldemar von Canow und Dr. Konrad Kniehase, der Spezialist für kriminaltechnische Untersuchungen, waren schon da, als Kappe und Galgenberg im Büro des Regierungsrates von Unverth ankamen. Kappe hatte es bisher noch nie betreten. Er war überrascht, denn der Raum war weniger Büro als Herrenzim mer: mit dunklem Holz getäfelte Wände, ein massiger Schreibtisch aus Eiche, der mit einem Übermaß an Verzierungen und Drechseleien eher wie das Modell einer mittelalterlichen Burg aussah, schwere Samtvorhänge, gefüllte Bücherregale.

Von Unverth hatte sein Amt im Sommer 1917 angetreten, nachdem der alte Regierungsrat, der seine Amtsgeschäfte vorwiegend von seiner Privatwohnung in Schöneberg aus getätigt hatte, in Pension gegangen war. Er hatte sich sein Büro im Präsidium komplett neu einrichten lassen. Die teure Einrichtung, die eingebaut wurde, obwohl ringsum Mangel herrschte, gab dem Gerücht Nahrung, von Unverth habe außer dem unermesslichen Reichtum, den seine Familie mit riesigen Ländereien in Pommern angehäuft hatte, auch noch einen sehr guten Draht zum Kaiser. Dieses Gerücht sorgte dafür, dass der Regierungsrat als eine Art graue Eminenz angesehen wurde. Man sah ihn nicht, man hörte ihn nicht, aber alle bemühten sich, ihre Sache möglichst gut zu machen, um es sich nicht mit den Mächtigen zu verscherzen.

Das Büro roch nach teurem Pfeifentabak und Leder. Von Unverth stand hinter seinem Schreibtisch. Auf der blankpolierten Schreibtischplatte lag offen die BZ am Mittag. Säuberlich gefaltet lag daneben ein Stapel anderer Zeitungen. Kappe konnte den Reichskurier mit seinem blutroten Namenszug und dem Reichsadler erkennen.

Von Unverth strich über die Zeitung, als wolle er sie glätten. Kappe beobachtete die stumpfen, weichen Hände mit dem Siegelring, die immer wieder über die Überschrift fuhren: Der Kaiser hat abgedankt. Thronverzicht des Kronprinzen. Ebert wird Reichskanzler. Von Unverth sah auf. Sein Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart zitterte. Kappe hoffte, er würde endlich anfangen zu reden. Er ließ ungeduldig seinen Blick schweifen. Galgenberg stand mit undurchsichtigem Gesicht da. Von Canow saß in einem der mächtigen grünen Samtsessel und sah besorgt aus. Kniehase hatte etwas Eilfertiges an sich. Kappes Blick streifte den viereckigen hellen Fleck an der Wand hinter von Unverth. Der Kaiser hatte tatsächlich abgedankt. Zumin dest hier an der Wand, dachte Kappe und fragte sich, wie von Unverth wohl wirklich über die Ereignisse dachte.

«Meine Herren», sagte der Regierungsrat. «Die Ereignisse zwingen mich, Ihnen Folgendes mitzuteilen. Unser gegenwärtiger Polizeipräsident, Herr von Oppen, gibt sein Amt an Herrn Eichhorn ab. Unsere Abteilung wurde, wie Sie wissen, überprüft. Sie bleibt erhalten, und ich bleibe im Amt. Sie sehen: Gute Arbeit lohnt sich.» Von Unverth begann abzuschweifen. Kappe sah ungeduldig aus dem Fenster. Ein Schwarm von armseligen Gestalten kam aus dem Gebäude und wurde von Frauen und Kindern freudig begrüßt. Kappe fühlte ein wenig Genugtuung. Das mussten die politischen Gefangenen sein.

«Kommissar Kappe, Sie interessieren sich wohl nicht für meine Ausführungen?» Von Unverth sah ihn unverwandt an. «Ich frage mich, ob Sie überhaupt bei der Sache sind. Was haben Sie eigentlich gemacht, während ich und Ihre Kollegen uns vor einem Revolutionskomitee rechtfertigen mussten?» Von Unverth sah nach draußen, wo die politischen Gefangenen immer noch auf die Straße strömten. Sein Schnurrbart zitterte wieder. «Sie haben die Politische Abteilung tatsächlich geschlossen.» Er schüttelte kaum merklich den Kopf und wandte sich wieder Kappe zu. «Nun? Sie haben doch nicht etwa mitdemonstriert?»

Kappe spürte die Blicke der anderen drei auf sich. Es war ihm klar, dass er von Unverth viele Fragen beantworten müsste, wenn er von seiner Suche nach Margarete erzählen würde. Fragen nach Margarete. Fragen nach seinem Umgang. Solange er nicht wusste, auf welcher politischen Seite der Regierungsrat stand, wollte er diese Fragen nicht beantworten. Also beschränkte er sich auf das Wesentliche. «Meine Frau ist auf der Straße zusammengebrochen. Ich musste sie ins Krankenhaus bringen. Sie ist hochschwanger.»

«Was ist eine der wichtigsten preußischen Tugenden, Kommissar Kappe?» Von Unverths Augen funkelten kalt.

Kappe schluckte. «Pflichterfüllung?»

«Na, ich sehe, bei Ihnen ist Hopfen und Malz noch nicht ver loren. Und im Fall einer hochschwangeren Ehefrau drücken wir mal ein Auge zu. Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes.»

Kappe beobachtete verwundert, wie das kalte Funkeln in von Unverths Augen in Sekundenschnelle erlosch und einem jovialen Gesichtsausdruck wich. Fast, als wäre er zwei Personen, dachte Kappe. «Ich weiß es nicht, Herr Regierungsrat», sagte er. «Die Schwestern konnten mir nichts sagen.»

«Das wird schon, Herr Kappe. Hab das Vaterwerden selber fünfmal mitgemacht. Aber vergessen Sie vor lauter Sorgen nicht, dass das kriminelle Element nicht schläft.» Von Unverth sah in die Runde. «Das gilt für Sie alle. Wir sind hier, um gegen das Verbrechen zu kämpfen. Ganz gleich, welchem Herrn wir dienen müssen. Wir werden mit dem neuen Regime so gut wie möglich zusammenarbeiten. Tun Sie also Ihr Bestes, selbst wenn es vielleicht schwerfällt. Besprechung beendet, meine Herren.»

Die vier gingen schnell nach draußen. «Richten Sie Ihrer Frau gute Besserung aus», sagte von Canow, bevor er in seinem Büro verschwand.

Kniehase nickte. «Von mir auch.» Er verabschiedete sich in sein Labor. Zum Schluss liefen nur noch Galgenberg und Kappe den Flur zu ihrem Büro entlang. Kappe überlegte fieberhaft, unter welchem Vorwand er seine Suche nach Margarete wiederaufnehmen könnte. Er sah seinen Kollegen, der schweigend und mit verschlossenem Gesicht neben ihm her ging, von der Seite an. Ich könnte genauso gut auch nicht da sein, dachte Kappe. «Ich werde noch mal nach meiner Frau sehen», sagte er.

Galgenberg zuckte mit den Achseln. «Wenn Sie meinen, dass das hilft.»

«Ich denke schon.» Kappe hatte nicht vor, zum Krankenhaus Bethanien zu gehen. Er würde Margarete suchen.

Unter den Linden und am Brandenburger Tor blühten die roten Fahnen. Die Straßen waren schwarz von Menschen. Schaulustige hingen wie dicke Krähen in den kahlen Bäumen. Offene Lastautos kurvten durch die Massen, besetzt mit Soldaten, die rote Armbinden trugen. Auf manchen stand Soldatenrat. Kinder wuselten herum. Kappe schien es, als sei ganz Berlin auf den Beinen. Er driftete durch das revolutionäre Gedränge, immer auf der Suche nach Margarete, und fühlte sich dabei wie ein Fremder.

Die meisten Menschen schienen zum Reichstag zu streben. Kappe arbeitete sich bis zu dem klotzigen Gebäude vor, vor dem die Menschen wie Ameisen wimmelten. Abordnungen betraten den Reichstag, andere verließen ihn wieder. Plötzlich wurden Arme gereckt und Hüte geschwenkt. Kappe sah an der Fassade hoch, die sich klobig und grau in den Himmel reckte. Ein Fenster war aufgegangen, und ein schmaler älterer Herr, den Kappe an seinem Knebelbart als Philipp Scheidemann erkannte, lehnte sich weit hinaus und begann zu sprechen. Kappe verstand die Satzfetzen «Einig und stark» und «Es lebe das Neue, es lebe die Deutsche Republik». Die Menge jubelte. Beifall brandete auf.

Kappe wurde von einem sonderbaren Gefühl ergriffen. Das Kaiserreich und damit alles, was er bis dahin gekannt hatte, war wirklich und wahrhaftig untergegangen. Aber statt Wehmut spürte er vorsichtige Neugierde. Margarete fiel ihm wieder ein, und er lief weiter durch die Menge. Es wurde heftig diskutiert. Wer nicht verstanden hatte, was Scheidemann gesagt hatte, dem wurde es in einer Art Stiller Post weitergegeben. Immer wieder fand er sich in Menschenknäueln wieder, in deren Mitte rotwangige Zeitungsjungen den Vorwärts verkauften. Auch hier wurde den Jungen die Zeitung nur so aus den Händen gerissen. Kappe hastete weiter.

Am Abend hatte Kappe die ganze Stadt durchkämmt. Erschöpft lief er nun durch die schwach erleuchteten Straßen von Kreuzberg. Natürlich hatte er die ganze Zeit gewusst, dass die Chance, Margarete in dem Trubel zu finden, kleiner gewesen war als ein Sechser in der Kaiserlichen Lotterie. Ehemals Kaiserlichen Lotterie, fügte er für sich hinzu. Trotzdem - es war ihm bisher immer gelungen, die Nadel im Heuhaufen doch noch zu finden. Er fragte bei Margarete Klumps Zimmerwirtin nach. Die hatte sie seit heute Morgen auch nicht gesehen. Als sie ihn in eine erregte Diskussion über das, was sie «die Zustände» nannte, verwickeln wollte, ließ er sie einfach stehen.

Rastlos lief er die Oranienstraße hinunter. Ihm war kalt. Kurz hinter dem Oranienplatz fiel Licht aus einer Speisewirtschaft auf die Straße. Das «Max und Moritz». Kappe war plötzlich nach einem Schluck Bier. Er öffnete die Tür. Lärm und der Geruch von Alkohol und Tabak schlugen ihm entgegen.

Der Eigentümer hatte sich persönlich die Einwilligung von Wilhelm Busch geholt, sein Lokal nach den beiden Buschschen Übeltätern zu benennen. Der Schriftsteller hatte die Genehmigung unter der Voraussetzung erteilt, dass es einmal die Woche Erbsensuppe gebe - was das «Max und Moritz» mittlerweile seit elf Jahren zu einer Institution in Kreuzberg machte. Das Lokal erstreckte sich über vier Stockwerke. In den ersten beiden waren die Speisesäle, im vierten die Büroräume und im dritten die hauseigene Fleischerei, die jetzt, in den Zeiten des Mangels, verwaist war. Auch die wöchentliche Erbsensuppe gab es schon lange nicht mehr.

Kappe wühlte sich durch die Menge bis zum Tresen. Im hinteren Saal gab es eine Versammlung. Als die Pendeltür aufschwang, sah er Margarete, die, eine Rede haltend, in diesem Augenblick aufsah und ihn entdeckte. Sie nickte ihm kurz zu und redete weiter.

Kappe hatte sich oft gefragt, was die Freundschaft zwischen Klara und Margarete ausmachte. Sie waren nicht lange Kolleginnen gewesen. Kurz nachdem Klara im Kaufhaus Hertzog angefangen hatte, wechselte Margarete zu Wertheim. Beide hatten sich erst vor zwei Jahren zufällig auf der Ritterstraße wiedergetroffen. Margarete hatte gerade die Nachricht bekommen, dass ihr Mann gefallen war. Klara hatte die todtraurige Margarete in ihre Wohnung geschleppt und sie vor eine Tasse heißen Ersatzkaffee gesetzt. Kappes mädchenhafte, manchmal durchaus kokette Klara, die sich für Filmdiven und Mode interessierte, und die nüchterne, politisch engagierte Margarete wurden dicke Freundinnen. Sie schienen auf geheimnisvolle Art aufeinander abzufärben: Klara interessierte sich plötzlich ein wenig für Politik, und Margarete verlor das Grimmige und begann wieder zu lachen.

Kappe kämpfte sich zu Margarete durch. Sie hatte ihre Rede beendet und passte ihn an der Pendeltür ab. Und dann war es, als ob eine Schleusentür geöffnet würde: Er redete und redete, erzählte ihr alles. Sie hörte zu. Stellte Fragen. Sie versprach, ihn gleich morgen früh um acht abzuholen und mit ihm ins Krankenhaus zu gehen. Dann musste sie sich wieder ihrer Versammlung widmen.

Kappe kam zurück in seine Wohnung. Die Öfen standen genauso da, wie er sie heute Morgen verlassen hatte. Die Ofenklappen waren offen, die Briketts nutzlos zu Aschekrümeln verbrannt. Auf dem Küchentisch standen zwei benutzte Kaffeetassen. Kappe schien es, als wäre dieser Morgen ein ganzes Jahrhundert her. Er legte sich in sein feuchtkaltes Bett und schlief einen faden Schlaf.

Nur wenige Kilometer entfernt saßen drei Männer vor einem Kaminfeuer. Der Hass und die Verachtung, mit denen sie über den vergangenen Tag sprachen, füllten den Raum wie ein giftiges Gas. Während sie auf einen vierten warteten, heckten sie einen teuflischen Plan aus. Der Plan war perfekt.

«Und wenn er nicht mitmachen will?», fragte einer der drei. Der Mann, der neben ihm saß, nahm den Schürhaken und schürte das Feuer. «Dann machen wir es ohne ihn», sagte er. An seinem Gesichtsausdruck war abzulesen, dass dies ein Todesurteil bedeutete. Ein weiteres Todesurteil.

Das Feuer loderte auf und tauchte die drei in glühendes Licht.

Novembertod

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