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Werfen wie ein Mädchen1

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Eine Phänomenologie weiblichen Körperverhaltens, weiblicher Motilität und Räumlichkeit

Erwin Straus stolpert bei der Diskussion der grundlegenden Bedeutung der lateralen Raumausdehnung, die eine einzigartige durch die aufrechte menschliche Haltung hervorgebrachte räumliche Ausdehnung darstellt, über den »bemerkenswerten Unterschied in der Art des Werfens bei den beiden Geschlechtern«.2 Um dies zu belegen, führt er eine Untersuchung und Photographien junger Mädchen und Jungen an und beschreibt den Unterschied folgendermaßen:

Das fünfjährige Mädchen nutzt den lateralen Raum überhaupt nicht. Sie streckt ihren Arm nicht seitwärts aus; sie dreht ihren Rumpf nicht; sie bewegt ihre Beine nicht, sie bleiben nebeneinander stehen. Alles, was sie tut, um den Wurf vorzubereiten, ist, den rechten Arm nach vorne in die Horizontale zu heben und den Unterarm nach hinten in eine nach vorne gebeugte Position zu bringen […]. Der Ball fliegt ohne Kraft, Geschwindigkeit und exakte Zielgebung los […]. Bereitet ein Junge desselben Alters einen Wurf vor, so streckt er seinen rechten Arm seitwärts und nach hinten aus; nimmt den Unterarm zurück; dreht, wendet und beugt den Rumpf; stellt den rechten Fuß zurück. Aus dieser Position heraus vermag er seinen Wurf mit der Kraft fast des ganzen Körpers zu unterstützen […]. Der Ball verlässt die Hand mit beachtlicher Beschleunigung; er bewegt sich in einer langen flachen Kurve auf sein Ziel zu.3

Obwohl er sich nicht lange mit diesem Problem aufhält, formuliert Straus einige Kommentare, die diesen »bemerkenswerten Unterschied« erklären sollen. Da dieser Unterschied in einem so frühen Alter zu beobachten ist, scheint er, so Straus, »die Manifestation eines biologischen, nicht eines erworbenen, Unterschieds« (157) zu sein. Er tut sich jedoch schwer damit, die Ursache dieses Unterschieds genauer anzugeben. Da der weibliche Wurfstil bereits bei jungen Kindern beobachtet wird, kann er nicht mit der Entwicklung der Brust zusammenhängen. Straus führt gegen dieses Argument an, dass »es offensichtlich ist«, dass die Amazonen, die ihre rechte Brust abschnitten, »einen Ball gerade so wie unsere Bettys, Marys und Susans warfen«. Nachdem er auf diese Weise die Brust als Erklärungsgrund aus dem Felde geschlagen hat, betrachtet Straus die geringere Muskelkraft des Mädchens als mögliche Erklärung für den Unterschied. Er schließt jedoch, dass man in diesem Fall von dem Mädchen erwarten könnte, dass es seine relative Schwäche durch einen zusätzlichen Schwung des Arms von hinten nach vorne kompensiere. Straus erklärt den Unterschied im Wurfstil, indem er sich auf eine »weibliche Haltung« gegenüber der Welt bezieht. Für ihn ist der Unterschied zwar biologisch begründet, er leugnet jedoch, dass er spezifisch anatomisch sei. Mädchen werfen anders als Jungen, denn Mädchen sind »weiblich«.

Was noch mehr erstaunt als diese »Erklärung«, ist die Tatsache, dass ein Standpunkt, der Haltung und Bewegung als bestimmend für Struktur und Bedeutung menschlich gelebter Erfahrung ansieht, nur am Rande auf einen solch »bemerkenswerten Unterschied« zwischen der Körperhaltung und dem Bewegungsstil von Männern und Frauen eingeht, denn Werfen ist beileibe nicht die einzige Aktivität, bei der ein solcher Unterschied beobachtet werden kann. Falls es tatsächlich so etwas wie typisch »weibliche« Stile von Körperhaltung und Bewegung gibt, dann sollte doch gerade dem Existentialphänomenologen daran gelegen sein, eine solche Unterschiedlichkeit der Modalitäten des gelebten Körpers näher zu untersuchen. Straus ist jedoch bei weitem nicht der einzige, der bei der Beschreibung von Modalitäten, Bedeutung und Implikationen des Unterschiedes zwischen »männlicher« und »weiblicher« Körperhaltung und Bewegung falsch vorgeht.

Ein Vorzug von Straus’ Wiedergabe des typischen Geschlechterunterschiedes beim Werfen besteht darin, dass er darauf verzichtet, diesen Unterschied mit Hilfe körperlicher Charakteristika zu erklären. Straus ist jedoch davon überzeugt, dass das geringe Alter, in dem der Unterschied sich beobachten lässt, zeigt, dass es sich dabei nicht um einen erworbenen Unterschied handelt. Dadurch kommt er nicht umhin, eine geheimnisvolle »feminine essence« anzunehmen, um den Unterschied erklären zu können. Die feministische Leugnung irgendeiner natürlichen und ewigen weiblichen Essenz als Erklärungsgrund für tatsächlich bestehende Unterschiede in Verhalten und Psychologie zwischen Männern und Frauen wurde am gründlichsten von Simone de Beauvoir formuliert. Jede menschliche Existenz ist durch ihre Situation definiert; die einzelne Existenz der weiblichen Person ist also genauso durch die historischen, kulturellen, sozialen und ökonomischen Grenzen ihrer Situation bestimmt. Wir reduzieren die Voraussetzungen der Frauen einfach auf Unbegreiflichkeit, wenn wir sie unter Bezugnahme auf irgendeine natürliche und ahistorische weibliche Essenz »erklären«. Wenn wir eine solche weibliche Essenz ablehnen, sollten wir jedoch auch nicht in einen »Nominalismus« verfallen, der die wirklichen Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Verhaltensweisen und Erfahrungen leugnet. Obwohl es keine ewige weibliche Essenz gibt, gibt es doch »eine gemeinsame Basis, die jeder individuellen weiblichen Existenz im gegenwärtigen Stand von Erziehung und Gebräuchen zugrunde liegt«4. Die Situation von Frauen in einem gegebenen soziohistorischen Rahmen von Umständen kann trotz der individuellen Abweichungen in der jeweiligen Erfahrung, in den Möglichkeiten und Chancen jeder einzelnen Frau einheitlich verstanden werden. Diese gemeinsame Grundlage kann beschrieben und begreifbar gemacht werden. Es sollte jedoch betont werden, dass diese gemeinsame Basis jeweils von der einzelnen Epoche abhängt, deren soziale Formation sie prägt.

Beauvoir gibt einen Überblick über die Situation der Frauen von bemerkenswerter Tiefe, Klarheit und Brillanz. Jedoch gelingt es auch ihr weitgehend nicht, dem Status und der Orientierung des weiblichen Körpers einen Platz zuzuweisen, sofern er sich in lebendiger Handlung auf seine Umgebung bezieht. Wenn Beauvoir über das körperliche Sein der Frau und ihre physische Beziehung zu ihrer Umgebung spricht, neigt sie zur Konzentration auf die offensichtlicheren Umstände der weiblichen Physiologie. Sie behandelt die weibliche Erfahrung des Körpers als eine Last und beschreibt, wie die hormonellen und physiologischen Veränderungen des Körpers während der Pubertät, während Menstruation und Schwangerschaft als undurchschaubar und beängstigend empfunden werden. Nach ihrer Auffassung belasten diese Erscheinungen die Existenz der Frau, weil sie sie an die Natur, an die Immanenz und die Erfordernisse der Arterhaltung fesseln – was auf Kosten ihrer eigenen Individualität geht.5 Indem sie die Situationsgebundenheit der wirklichen Körperbewegung der Frau weitgehend ignoriert, kommt bei Beauvoir der Eindruck auf, dass es die weibliche Anatomie und Physiologie als solche sind, die zumindest teilweise den unfreien Status der Frau bestimmen.6

Dieser Aufsatz versucht zuallererst, eine Lücke zu füllen, die sowohl in der Existentialphänomenologie als auch in der feministischen Theorie besteht. Ich möchte zunächst versuchen, einige der grundlegenden Modalitäten weiblicher Körperhaltung, Bewegungsweisen und Raumbeziehung nachzuzeichnen. Bestimmte beobachtbare und ganz alltägliche, typische Verhaltensweisen von Frauen in unserer Gesellschaft sollen einsichtig und in ihrer Bedeutung verständlich gemacht werden, sofern sie sich von männlichen Verhaltens- und Bewegungsweisen unterscheiden. Genau wie die existentialistische Beschäftigung mit der Situationsgebundenheit menschlicher Erfahrung beanspruche auch ich keine Allgemeingültigkeit dieses typischen weiblichen Körperverhaltens und der daraus abgeleiteten phänomenologischen Beschreibungen. Der hier entwickelte Ansatz nimmt lediglich für sich in Anspruch, die Modalitäten weiblicher Körperexistenz für Frauen in zeitgenössischen, fortgeschritten industrialisierten, städtischen Handelsgesellschaften zu beschreiben. Teile dieser Darstellung können auf die Situation der Frau in anderen Gesellschaften und Epochen zutreffen oder auch nicht; es ist jedenfalls nicht das Anliegen dieses Aufsatzes zu entscheiden, auf welche anderen sozialen Umstände diese Beschreibung außerdem – wenn überhaupt – zutrifft.

Auch das Ausmaß, in dem ich mich mit Körperexistenz und Bewegung befasse, ist begrenzt. Ich konzentriere mich hauptsächlich auf jene Arten von körperlichen Aktivitäten, die auf die Haltung oder Orientierung des Körpers als ganzen bezogen sind. Diese Aktivitäten erfordern große Bewegungen, Kraftanstrengung und die Konfrontation der körperlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten mit dem Widerstand und der Formbarkeit der Dinge. Ich befasse mich mit Bewegungen, in denen der Körper einen bestimmten Zweck erfüllen oder einer bestimmten Aufgabe gerecht werden will. Es gibt viele Aspekte weiblicher Körperexistenz, auf die ich nicht eingehen kann. Der wichtigste unter ihnen ist der des Körpers in seinem sexuellen Sein. Ein weiterer Aspekt der Körperexistenz, den ich unberücksichtigt lasse, ist strukturierte Körperbewegung ohne ein bestimmtes Ziel – Tanzen zum Beispiel. Abgesehen von Platzgründen beruht diese Begrenzung des Untersuchungsgebiets auf der hauptsächlich von Merleau-Ponty abgeleiteten Überzeugung, dass es die alltägliche, zweckgerichtete Orientierung des Körpers als ganzen ist, die die Beziehung eines Subjekts zu seiner Welt zuallererst bestimmt. Die Konzentration auf typische weibliche Verhaltensweisen und Bewegungen soll Aufschluss über die Strukturen weiblicher Existenz im Allgemeinen geben.7

Bevor ich die Analyse beginne, sollte ich klären, was ich hier mit »weiblicher« Existenz meine. Genau wie für Beauvoir bezeichnet »Weiblichkeit« für mich nicht eine mysteriöse Qualität oder Essenz, die allen Frauen aufgrund ihres biologischen Frauseins zukommt. »Weiblichkeit« besteht vielmehr aus einer Reihe von Strukturen und Bedingungen, die die typische Situation des Frauseins in einer bestimmten Gesellschaft abstecken, ebenso wie auch die typische Weise, in der diese Situation von den Frauen selbst gelebt wird. Definiert man »Weiblichkeit« so, dann muss nicht notwendigerweise jede Frau »weiblich« sein – das heißt, es gibt nicht notwendigerweise unverkennbare Strukturen und Verhaltensweisen, die typisch für die Situation von Frauen wären.8 Diese Auffassung von »weiblicher« Existenz ermöglicht es zu sagen, dass einige Frauen der typischen Situation und Definition von »Frau« in unterschiedlichem Maß und unterschiedlichen Hinsichten entkommen oder diese überschreiten. Ich erwähne dies hauptsächlich, um darauf hinzuweisen, dass die hier angebotene Darstellung der Modalitäten weiblicher Körperexistenz nicht durch die Bezugnahme auf einzelne Frauen falsifiziert werden kann, auf die einzelne Aspekte dieser Darstellung nicht zutreffen – oder auf einzelne Männer, auf die sie auch zutreffen.

Die hier entwickelte Darstellung verbindet die Einsichten der Theorie des gelebten Körpers, wie Maurice Merleau-Ponty sie formuliert hat, mit der Theorie über die Situation von Frauen, wie sie sich bei Beauvoir findet. Ich gehe davon aus, dass auf der allgemeinsten Beschreibungsebene Merleau-Pontys Beschreibung der Relation des gelebten Körpers zu seiner Welt, wie er sie in der Phänomenologie der Wahrnehmung entwickelt, allgemein auf jede menschliche Existenz zutrifft. Auf einer höheren Ebene gibt es allerdings einen besonderen Stil des Körperverhaltens, der typisch für die weibliche Existenz ist; dieser Stil setzt sich aus bestimmten Modalitäten der Strukturen und Bedingungen der Körperexistenz in der Welt zusammen.9

Den Rahmen für die Entwicklung dieser Modalitäten steckt Beauvoirs Darstellung der Existenz der Frau in der patriarchalischen Gesellschaft ab. Sie fasst sie als von einer grundlegenden Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz bestimmt auf.10 Die Kultur und die Gesellschaft, in der die weibliche Person sich bewegt, definiert die Frau als die Andere, als das nicht essentielle Gegenstück des Mannes – als bloßes Objekt und als bloße Immanenz. Damit wird die Frau sowohl kulturell als auch sozial ausgeschlossen aus der Subjektivität, Autonomie und Kreativität, die ein menschliches Wesen definieren und die in der patriarchalischen Gesellschaft ausschließlich dem Mann zugeschrieben werden. Zugleich jedoch ist die weibliche Person aufgrund ihrer menschlichen Existenz notwendig auch Subjektivität und Transzendenz – und sie weiß, dass sie es ist. Die weibliche Person, die die weibliche Existenz von Frauen in der patriarchalischen Gesellschaft darstellt, lebt demzufolge einen Widerspruch: Als Mensch ist sie ein freies Subjekt, das an der Transzendenz teilhat, ihre Situation als Frau jedoch spricht ihr diese Subjektivität und Transzendenz ab. Meine These ist nun, dass die Modalitäten weiblicher Körperhaltung, Motilität und Räumlichkeit eben diese Spannung zwischen Transzendenz und Immanenz, zwischen Subjektivität und bloßem Objekt-Sein zum Ausdruck bringen.

Teil I bietet einige spezifische Beobachtungen über Körperhaltung, körperliche Beschäftigung mit Dingen, über Weisen, den Körper bei der Erfüllung von Aufgaben einzusetzen, und körperliches Selbst-Bild, die ich für typisch für die weibliche Existenz halte. Teil II ist eine allgemeine phänomenologische Darstellung der Modalitäten der weiblichen Körperhaltung und Motilität. Teil III entwickelt diese Modalitäten weiter mit Rücksicht auf die Räumlichkeit, die sie hervorbringen. Schließlich ziehe ich in Teil IV aus dieser Darstellung einige Folgerungen für ein Verständnis der Unterdrückung von Frauen; in diesem Teil werde ich auch einige weitergehende Fragen über weibliches In-der-Welt-sein stellen, die noch der Aufhellung bedürfen.

Werfen wie ein Mädchen. Ein Essay über weibliches Körperbewusstsein

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