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Der Sterbeprozess
ОглавлениеWenn du bei Nacht den Himmel anschaust,
wird es dir sein, als lachten alle Sterne,
weil ich auf einem von ihnen wohne,
weil ich auf einem von ihnen lache. (…)
Und wenn du dich getröstet hast (…),
wirst du froh sein, mich gekannt zu haben.
Antoine de Saint-Exupéry: Der kleine Prinz
Die Thanatopsychologie unterteilt den Prozess des Sterbens in drei Stufen: Sterben, Tod und Danach. Das verweist sachgemäß auf die Tatsache hin, dass der Tod ein dynamisches Geschehen ist, welches einen fortschreitenden Verlauf impliziert. Dementsprechend ist auch zu erklären, dass der Tod nicht erst im Augenblick des physischen Absterbens wahrgenommen werden kann, sondern in vielfältiger Weise bereits schon im Voraus.
Als Sterbeerlebnisse werden diejenigen Erlebnisse betrachtet, die in der gesamten Phase vor dem Tod stattfinden. Sie beziehen sich zunächst auf Zustände, die mit dem körperlichen Zerfall und mit der psychischen Beschäftigung mit dem Tod in dieser letzten Phase zu tun haben. Hier setzt die klassische psychologische Sterbebegleitung ein. Das Regeln noch ungelöster Dinge, das Abschiednehmen von Familie und Freunden gehört unmittelbar zu dieser Arbeit. Den meisten Sterbenden ist es auch ein Bedürfnis, ihr Testament und den Nachlass zu regeln. Manche möchten ihre Beisetzung abklären, andere wiederum scheuen sich gerade davor, diese Thematik anzugehen. Diese Angelegenheiten bilden den äußeren Rahmen und somit die erste Ebene dieser Arbeit.
Eine zweite Ebene in der Begleitung Sterbender ist die Auseinandersetzung des betroffenen Menschen mit der eigenen Lebensgeschichte. Falls sein Zustand es erlaubt, ist eine abrundende und verständnisbildende Gesamtschau über seine irdische Biografie ein überaus wichtiger Prozess. Dieser biografische Blick ermöglicht es ihm, seinen Selbstbezug zu klären, den großen Bogen seines Lebenswegs zu erkennen und den Übergang über die Schwelle annehmend vorzubereiten.
Eingebettet in diesem Geschehen der Klärung und Loslösung tauchen bei einigen Menschen geistige Erlebnisse auf, die durch die Anwesenheit von Engeln und bereits Verstorbenen ihren herannahenden Tod vorzeichnen. Diese Erlebnisse bilden die dritte und innigste Ebene des Sterbeprozesses eines Menschen. Sie zeigen auf, dass der Tod geistig vorbereitet wird und sich übersinnlich ankündigt.
Ich erinnere mich an eine siebenundsechzigjährige Patientin im Krankenhaus, die einen äußerst schwierigen Krankheitsverlauf gehabt hatte. Ihr Wesen war liebevoll und mild, sie nahm die Hilfe der Pflegenden bescheiden und überaus dankbar an. Eines Tages betrat ich ihr Zimmer, und das Erste, was sie sagte, war: «Ich werde erwartet, wissen Sie? Ich werde erwartet», und ein Lächeln erhellte ihr grau gewordenes Gesicht. Ihr Körper war stark von der Krankheit gezeichnet, sie atmete schwer, die Schmerzen wurden von Tag zu Tag unerträglicher. «Ja, ich werde erwartet», wiederholte sie. Ihre Augen leuchteten dabei, und von ihrem Wesen ging ein freudevoller Glanz aus. «Möchten Sie mir davon erzählen?», fragte ich sie.
«Es ist mein Engel. Ich weiß, dass er es ist. So liebend ist er, er wartet geduldig. Meistens am Kopfende steht er, sehen Sie? Hier …», sagte sie und deutete auf die Wand hinter ihrem Bett. «So liebend ist er … Und manchmal sehe ich ihn in der rechten Ecke des Zimmers, dort am Fenster, neben dem Vorhang, sehen Sie? Aber das ist seltener. Meistens spüre ich ihn hier hinten, bei mir. – An manchen Tagen sind es auch andere Gestalten, die im Zimmer auftauchen. Meine Mutter ist darunter. Oh, es ist so lange her, dass sie starb …» Der Blick der Patientin wandte sich wie nach innen, Kindheitserinnerungen aus einer längst vergangenen Zeit wurden in ihr lebendig. Sie berichtete von der Mutter, von den gemeinsamen Jahren, vom Tod der Mutter. «Und wissen Sie, sie ist so jung jetzt, viel jünger als damals, und so schön, so strahlend! – Es wird Zeit für mich zu gehen. Ich werde dort erwartet. Ich habe auch keine Angst mehr, es ist nur ein Übergang. Das weiß ich jetzt.»
Wenige Tage später verstarb die Patientin im Beisein ihres Lebensgefährten, ruhig, gefasst und bei klarem Bewusstsein.
Szenenwechsel, ein anderes Patientenzimmer: eine Dame, Mitte fünfzig, die noch sehr mit ihrer Erkrankung hadert. Es fällt ihr schwer zu akzeptieren, dass ihr Leben nun schon so früh zu Ende gehen sollte. Eines Tages flüstert sie mir unerwartet zu:
«Ich sehe ständig eine Gestalt am Fenster. Ich habe nie an so etwas geglaubt, aber sie ist immer wieder da. Ich bin zwar krank, aber nicht verrückt. Können Sie sie auch sehen?»
Ich sehe hin und schaue ihren Engel. «Ja, da ist jemand. Können Sie selbst erkennen, wer das ist?»
«Sie kommt mir so vertraut vor, die Gestalt, als ob ich sie schon immer kennen würde. Aber ich habe sie bisher noch nie gesehen.» Sie dachte und spürte nach, und nach einem langen Schweigen erhellte sich das Gesicht der Patientin. Ganz leise sagte sie: «Es ist meine ‹Engelin›. Man spricht sonst immer von Engeln, aber für mich erscheint sie wie eine Engelin.»
Es war ein ganz besonderer, inniger Augenblick. Der Ausdruck «Engelin» klang für mich selbst überraschend, umso wichtiger fand ich es, dass die Patientin ihre Wahrnehmung zulassen und entsprechend auch ganz authentisch bezeichnen konnte. Ab diesem Augenblick veränderte sich ihr seelischer Zustand. Es war für sie wie ein Aufatmen, sie begann, ihre Erkrankung anzunehmen, und wir konnten bis zu ihrem Tod intensive verarbeitende Gespräche führen.
Eine andere Patientin, eine recht ruppige und wenig freundliche ältere Frau, die schon seit längerer Zeit bettlägerig war, empfing mich eines Tages zwar wie immer in ihrem Bett, aber wie zum Ausgehen fertig angezogen. Sie hatte ihren Schmuck angelegt, ihr schön gestricktes Wolljäckchen angezogen, die Schuhe standen fein nebeneinander direkt am Bett.
«Was ist denn los?», fragte ich sie, «wo möchten Sie denn hin?»
«Wissen Sie, ich werde abgeholt. Meine Mutter ist gekommen.»
Mein Verstand fing kurz an nachzurechnen: Die Patienten ist Anfang achtzig, die Mutter müsste mindestens hundert Jahre alt sein, das kann sie also nicht gemeint haben. Mir wurde klar, um was es ging, ich wollte aber nicht vorgreifen und fragte:
«Wie meinen Sie das? Lebt Ihre Mutter noch?»
«Nein, natürlich nicht», antwortete sie barsch, «aber sie ist trotzdem gekommen! Heute Morgen, da …» und zeigte auf das Eck des Zimmers, «da stand sie. Ich habe sie ganz deutlich gesehen.»
«Ach ja? Und was hat denn Ihre Mutter gesagt?»
«Sie hat gesagt: ‹Ich komme dich holen. Wir warten schon auf dich.› Und sie war so schön und so jung, meine Mutter. Wissen Sie, sie hat so jung ausgesehen wie zu meiner Kinderzeit, und sie hat so lieb ausgeschaut und war ganz aus Licht.»
Und nach einer Pause fügte die Patientin wieder in ihrer ruppigen Art hinzu: «Also, das heißt: Ich gehe jetzt! Ich muss jetzt gehen, oder?»
Ich schaute mir die Dame noch einmal genauer an. Sie machte, trotz des fortgeschrittenen Alters und der sehr schweren Erkrankung, keinesfalls den Eindruck, unmittelbar an der Schwelle zu sein. Bis zur besagten Begegnung war es ihr nicht möglich gewesen, auf ihr Leben zurückzublicken oder ihren eigenen Sterbeprozess in irgendeiner Form zu gestalten. Recht schroff zu allen, die sie umgaben, hatte sie bis dahin tiefer gehende Gespräche verweigert. Ihre trotzige Haltung war durch die Begegnung mit ihrer verstorbenen Mutter jedoch einer staunenden Klarheit und Offenheit gewichen. Ich sagte ihr dann: «Wir gehen alle irgendwann, und Sie natürlich auch, aber ich habe nicht den Eindruck, dass Sie jetzt gleich gehen müssen. Es ist sehr schön, dass Ihre Mutter da war, und es ist wunderbar, dass Sie wissen, Sie werden erwartet. Aber jetzt lassen Sie uns doch mal schauen, ob Sie hier noch etwas zu erledigen haben. Gibt es noch etwas, was Sie tun möchten? Sind Sie wirklich bereit, Abschied von diesem Leben zu nehmen?»
Nun wurden endlich Gespräche möglich. Durch die Erscheinung der Geistgestalt ihrer Mutter gerührt, ließ die Patientin nun Kindheits- und Lebenserinnerungen zu. Vom Krieg geprägte Erlebnisse und Schicksalsschläge, auch schöne und freudevolle Augenblicke ihres Lebens kamen zur Sprache. Sie litt nun schon an Altersdemenz, sodass wir ihren Lebenslauf nicht strukturiert durcharbeiten konnten, aber einzelne Bilder und farbenfrohe Stimmungen leuchteten in ihrer Seele wieder auf. Nach nur wenigen Wochen starb sie befriedet. Ganz ihrem Wesen entsprechend, hat sie sich hierfür einen Augenblick ausgesucht, in dem sie ganz allein war.
Durch die Arbeit mit sterbenden Menschen ist mir überaus deutlich geworden, wie wichtig die biografische Arbeit ist, auch wenn diese erst ganz am Ende eines Menschenlebens erfolgt. Dadurch, dass da ein Gegenüber ist, jemand, der achtsam Fragen stellt und aufmerksam zuhört, bildet sich ein feiner, reiner Wahrnehmungsraum. Je vertrauensvoller und offener der Patient dabei ist, desto empfänglicher wird er für die innere Wahrheit seines eigenen Lebens. Ereignisse seines irdischen Weges erscheinen ihm dabei in einem neuen Licht, Zusammenhänge und Rhythmen seines Lebenslaufs lassen sich erschließen, Verdrängtes kann zumindest teilweise noch zum Vorschein kommen. Auch Schmerzhaftes kann seelisch noch heilen. Der Mensch vor der Schwelle erhält so die Möglichkeit, vieles zu klären und zu lösen, was sowohl auf den eigenen Todesprozess als auch auf die spätere nachtodliche Entwicklung positive Auswirkungen hat.
Ungelöste und verdrängte Erlebnisse wirken nach dem Tod stark hemmend, von daher hat es eine befreiende Wirkung, wenn solche Dinge noch vor dem Schwellenübertritt erkannt, benannt und als zu sich selbst gehörend angenommen werden. Entscheidend in diesem Prozess ist das Verzeihen und Vergeben, anderen und – nicht minder von Bedeutung – sich selbst. In vielen Lebensläufen begegnet man ungeklärten zwischenmenschlichen Verhältnissen, Vorwürfen oder Groll, unbewältigter Wut und ungelöstem Zwist. Wenn es die Situation ermöglicht, ist es hilfreich, wenn der Sterbende diese Sachen mit den entsprechenden Menschen noch persönlich klärt und bereinigt. Doch wenn keine gemeinsamen Aussprachen mehr möglich sind, ist auch ein allein vollzogener Reinigungsprozess förderlich und entlastend. Dieser Akt bildet eine geistige Realität und hat somit Auswirkungen auf das weitere Verhältnis dieser Menschen.
Es geschieht auch wiederholt, dass Menschen am Ende ihres Lebens noch etwas mit jemandem abklären möchten, der bereits verstorben ist. In diesen Fällen wird stets das Bedauern ausgesprochen, dass man denjenigen nicht mehr erreichen kann, um ihn beispielsweise um Verzeihung zu bitten. Doch auch hier kann der Sterbende dazu ermutigt werden, sich dem entsprechenden Verstorbenen innerlich zuzuwenden und aufrichtig das auszusprechen, was ihm auf dem Herzen liegt. Dies übt ebenfalls eine reale Wirkung aus und wird von der nachtodlichen Welt viel unmittelbarer aufgenommen, als man sich dies allgemein vorstellt.
Insgesamt bewirkt der bewusste Umgang mit dem eigenen Lebenslauf Klärung und Reinigung. Durch diese Arbeit entsteht meist tiefe Dankbarkeit für das Gewesene, für die Wunder und die Geschenke der eigenen, ganz einmaligen Biografie. Jeder Lebensgang hat seine eigene Signatur, seine Reichtümer, seinen Schmerz, der wiederum seinen Beitrag zur Entwicklung leistet und somit einen tiefen Sinn erfüllt. Im Anschauen des biografischen Lebensbogens leuchtet die Kraft des eigenen höheren Ichs auf, welches diese Inkarnation angelegt hat und welches der Lenker in den entscheidenden Lebensereignissen gewesen ist.
Davon ausgehend kann auch aufmerksam darauf geschaut werden, welche Impulse in diesem Leben nicht umgesetzt werden konnten. Welche Versäumnisse gab es, welche Chancen wurden nicht genutzt? Es geht dabei keinesfalls darum, diese Dinge als persönliches Versagen zu werten, sondern sie als Keime für eine weitere Zukunft mitzunehmen. Das zu Ende gehende Leben eines Menschen spannt nicht nur einen nach hinten gerichteten Bogen über die bereits gelebte Vergangenheit, sondern entwirft auch einen Schicksalsbogen in die Zukunft hinein. Der eigene Engel hütet diese Erkenntnisprozesse und enthüllt sie dem Verstorbenen erneut während seiner Zeit in der nachtodlichen Astralwelt. Je bewusster wir all das, was zu uns gehört, als Antrieb für eine weitere Entwicklung mitnehmen, umso wachsamer und konkreter können wir diese Themen und Motive in einer künftigen Inkarnation aufgreifen und ausgestalten.
Es ist wünschenswert, dass solche Aspekte biografischer Arbeit, die den gelebten Lebensbogen abrunden, stärker in die Sterbebegleitung einfließen. Ähnlich bedeutend ist es, die geistigen Wahrnehmungen und Erlebnisse, die während des Sterbeprozess gemacht werden, ernst zu nehmen und sie einzubeziehen. Man kann den Sterbenden darin ein würdiger Gesprächspartner werden, indem man seine eigene Wahrnehmung verfeinert und schult.
Eines Tages betrat ich das Zimmer einer an Krebs erkrankten Frau. Sie war etwa Ende vierzig, Mutter von vier Kindern. Ihre gesamte Familie bangte seit Wochen darum, ob die Therapie anschlagen würde oder nicht. Als ich an diesem Tag in ihr Zimmer ging, lag ein heilig-tiefer Ernst vor, mir stockte dabei der Atem. Ich blieb erst stehen und versuchte zu erspüren, was da vorlag. Es schienen viele Gestalten anwesend zu sein. Am Kopfende der Patientin stand ihr Engel, die Arme in einer umhüllenden Geste um sie ausgebreitet. Es war, als ob er sie tragen würde, obwohl sie im Bett lag. Das Haupt des Engels war über sie gebeugt, sein Ausdruck war würdevoll, mitfühlend und wartend. Seitlich am Bett standen die bereits verstorbenen Schwiegereltern der Patientin, milde lächelnd und ebenfalls in einer schweigend-abwartenden Haltung. Da wurde mir klar, dass ihr Schwellenübertritt auf der geistigen Ebene bereits entschieden wurde, was wenige Wochen später auch geschah.
Nicht die Anwesenheit von geistigen Wesenheiten ist Anzeichen dafür, dass ein Mensch an der Schwelle steht, denn diese sind natürlich auch in anderen Krankheits- und Lebenssituationen gegenwärtig. Doch die Schwelle hat ihre besondere Stimmung, sie kann wahrgenommen und bewusst begleitet werden. In früheren Zeiten wurden kranke und sterbende Menschen überwiegend im Kreise ihrer Familie gepflegt, sie konnten zu Hause, von der vertrauten Umgebung geachtet, Abschied von diesem Leben nehmen. In unserer Gesellschaft sterben die meisten Menschen jedoch in Krankenhäusern oder in Altersheimen. Umso wichtiger ist es, dort Bewusstseinsräume für sie zu gestalten und eine schützende, heilende Atmosphäre zu schaffen, damit sie diesen Übergang in Würde und in Frieden erleben können.