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Der Augenblick des Todes

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(…) der Körper wird wie ein Kleid zerreißen,

aber Ich, das wohlbekannte Ich, Ich bin.

Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre

Wer beim Tod eines Menschen anwesend gewesen ist, weiß, wie unaussprechlich ergreifend dieses Geschehen ist. Der Übergang einer Seele aus der physischen in die geistige Welt ist ein Ereignis von realer Auferstehungsqualität. Während eines natürlichen Sterbeprozesses vollzieht sich meist ein friedvoller, leuchtender Übergang über die Todesschwelle, bei dem man Zeuge eines wahrhaft geheiligten Augenblicks werden kann.

Phänomenologisch betrachtet, ziehen sich im Todesmoment die oberen Wesensglieder – Ich, Astralleib und Ätherleib – aus dem physischen Leib heraus. Geistig schauend kann wahrgenommen werden, wie die Geistgestalt des Sterbenden sich aus dem Körper löst und darüber schwebt. Meist geschieht dieses Sich-Herausziehen der Wesensglieder über den Kopf, also über das Kronenchakra, in einzelnen Fällen aber auch über den Herzensraum, also über das Herzchakra. Der Astralleib löst sich schnell aus dem physischen Leib heraus, er trägt weiterhin das Bewusstsein des Menschen und ist vom Ich durchzogen. Beim Ätherleib geschieht dies in einer schwingenden und langsameren Weise. Auch wenn dieser die physische Hülle in einer unumkehrbaren Weise verlässt, so ist über einen längeren Zeitraum hinweg noch ein Vibrieren des Ätherleibes im Umraum des physischen Körpers zu vernehmen. Das dauert in der Regel in etwa drei Tage, es gibt allerdings auch erhebliche zeitliche Abweichungen. Bei Tieren wiederum vollzieht sich das vibrierende Herauslösen des Ätherleibes in nur einigen Minuten, beispielsweise bei einer Maus oder einem kleinen Vogel. Bei Haustieren, die einen starken Bezug zu ihrem menschlichen Umfeld hatten, kann dies bis zu einer oder mehreren Stunden dauern.

Die Geistgestalt des verstorbenen Menschen ist im Augenblick seines Todes in ätherischen Umrissen als Menschengestalt deutlich erkennbar. Sie schwebt über dem leblosen physischen Leib und ist von Licht umgeben. Gleichzeitig leuchtet sie in gewisser Weise auch aus sich heraus. Da der Ätherleib der Träger des Gedächtnisses ist, entfaltet sich nun in seiner Ausdehnung das gesamte Lebenstableau des soeben verstorbenen Menschen, welches von diesem als umfassender Lebensrückblick erlebt wird. Meist treten hier alle Erlebnisse gleichzeitig auf, der Verstorbene sieht auf sein Leben wie von einem Berg in eine weite Landschaft.

Neben und um die Geistgestalt des Verstorbenen sind immer mehrere Engelwesenheiten gegenwärtig. Sinnbildlich gesprochen tritt der Schutzengel, der während der Inkarnation meist hinter seinem Menschen stand, nun einen Schritt vor, an die Seite des exkarnierten Menschen, und wird für diesen «sichtbar». Ihm gesellen sich weitere Engelwesenheiten zu, die den über die Schwelle Getretenen umgeben. Für all diese Engelwesenheiten ist in diesem Augenblick die ewige Ich-Gestalt dieses Menschen und seine vollständige Inkarnationskette von Urbeginn an und durch all ihre Stadien deutlich wahrnehmbar.

Auch Gestalten verstorbener Menschen, die in der Zeit der Inkarnation mit dem nun soeben Exkarnierten verbunden waren, erscheinen beim Übergang in die geistige Welt. Meist sind es nahe Angehörige, enge Freunde oder Weggefährten, die bereits früher über die Schwelle gegangen sind. Ihre Stimmung ist von einer mitfühlenden, verständnisvollen und liebegetragenen Milde durchströmt. Sie empfangen den Neuankömmling mit inniger Freude und bilden für sein Seelenerleben eine Brücke zwischen den Welten.

Die Elementarwesen im Raum reagieren ebenfalls sehr stark auf den Todesaugenblick eines Menschen. Sie versammeln sich wie lernbegierige Kinder um den Geschehensort und schauen ganz gebannt und aufmerksam auf das Ereignis. Auch ihnen offenbart sich die aufleuchtende Ich-Gestalt des soeben Verstorbenen, wenn auch in einer anderen Form als den Engeln. Sie erblicken eher die Bedeutung dieses Menschen für das Werden der Erde wie auch die Spur, die dieser durch seine Inkarnationen hindurch der Erde eingeschrieben hat.

Der Sterbeaugenblick eines Menschen ist also nie ein Einsamkeitsmoment. Das irdische Licht des über die Schwelle Gehenden verlöscht, doch sein geistiges Licht leuchtet auf. Die Hierarchien erwarten und empfangen ihn in einer erhabenen Feierstunde. Das, was sich für die Welt der Hinterbliebenen verdunkelt, erstrahlt auf der anderen Seite in einem lichtvollen geistigen Festakt. Der sich Exkarnierende erlebt, dass er sich aus dem Physischen «herausatmet», dies bedeutet für ihn eine Befreiung und eine Ausweitung seines Wesens. Er schaut auf seinen Leib und erkennt, dass dieser Teil von ihm lediglich seine abgelegte physische Hülle ist. Sein Bewusstsein in der geistig-ätherischen Wirklichkeit, in der er sich nun befindet, ist klar und wach, er erkennt die Wesenheiten, die ihn nun empfangen. Für den Verstorbenen selbst ist es ein sakraler Augenblick, in welchem seine Individualität, eingebettet im Licht einer höheren geistigen Wirklichkeit, zu sich selbst aufersteht.

Es ist nicht zwingend erforderlich, physisch anwesend zu sein, um den Schwellenübertritt eines Menschen wahrzunehmen. Aus der Zeit der Weltkriege sind beispielsweise Berichte bekannt, in denen beschrieben wird, wie im Augenblick des Todes eines Soldaten dieser seiner daheim gebliebenen Mutter oder Frau in ätherischer Gestalt erschien. Spätere Überprüfungen belegten dann, dass der Zeitpunkt solcher Erlebnisse mit dem tatsächlichen Zeitpunkt des Todes des im Kampf Gefallenen übereinstimmten. Auch in unserer Zeit berichten immer häufiger Menschen davon, dass sie den Tod eines nahen Freundes oder Angehörigen aus der Entfernung wahrnehmen konnten, der ihnen als Lichtgestalt erschien. Tiefe Liebe und innige Herzensverbundenheit bilden hier die Verbindung zwischen den Verstorbenen und den Hinterbliebenen.

Gleich zu Beginn meiner Krankenhaustätigkeit hatte ich mit einer älteren Patientin eine sehr berührende Begegnung. Während meiner ersten Visite mit den Ärzten mussten bei der neunundachtzigjährigen Dame die Verbände ausgewechselt werden. Die Wunden sind tief, die Patientin versucht ein Stöhnen zu unterdrücken, doch bei jeder Berührung zuckt sie gequält zusammen. Ihr Gesicht ist schmerzverzerrt, ihre Augen schauen mich weit aufgerissen an. Ich beuge mich zu ihr, halte dabei ihre Hand, und wir blicken uns nur schweigend an. – Am Nachmittag begebe ich mich erneut in ihr Zimmer, dieses Mal allein. Die Dame schläft, erschöpft von der anstrengenden Prozedur am Morgen, und schnarcht mit offenem Mund. Ich setze mich leise auf einen Stuhl und schaue sie an. Ihr Leib ist regelrecht abgemagert, die Knochen drücken sich durch die Bettdecke hindurch, ihre schmerzgekrümmte Gestalt wirkt wie die eines kleinen, dürren Mädchens. Ich frage mich, welches Schicksal wohl diese Frau in ihrem langen Leben zu tragen gehabt hat, und beginne, schweigend ein Gebet für sie zu sprechen.

Am Abend komme ich wieder, um mit ihren Angehörigen zu reden. Die Patientin bemerkt mich sofort, ihre kleinen, dunklen Augen funkeln, und sie sagt:

«Ah, Sie waren heute schon einmal da!»

«Ja», entgegne ich ihr, «morgens bei der Visite.»

«Nein, nein, Sie waren am Nachmittag auch da, als ich schlief.»

Ich bin etwas verwundert darüber und denke nach, in welchem Augenblick sie mich hätte wahrnehmen können: «Sie haben doch tief geschlafen, woher wissen Sie das?»

Sie lächelt: «Ach, Kind, zwischen den Welten sieht man doch nach beiden Seiten hin. Da, wo ich jetzt bin, öffnen sich immer wieder die Türen, hierhin und nach drüben hin.» Sie rückt dann mühsam etwas näher und fügt hinzu: «Schön war das Vaterunser, wie Sie es gesprochen haben.»

«Ich habe kein einziges Wort gesprochen, es war ein inneres Gebet.»

«Meinen Sie, das macht einen Unterschied?», sagt sie und lächelt wieder. «Gedanken, alles Innere ist auf der anderen Seite Wirklichkeit. Die Schwelle, ja …»

Es folgen noch viele intensive Gespräche in den kommenden Tagen, biografische Lebenserinnerungen vermischen sich mit geistigen Wahrnehmungen, die die Patientin in dieser letzten Zeit im Krankenhaus hat. Das scheinbare Durcheinander ihrer Erzählungen, welches die sie liebevoll begleitenden Angehörigen manchmal überfordert, ist keinesfalls ein wirrer, unzusammenhängender Gedankenknäuel. Wenn man sich ihr innerlich ganz aufmerksam zuwendet, erspürt man, wann sie die Ebenen wechselt und in welchem Bewusstseinsbereich sie sich gerade befindet. Man begleitet sie auf wunderbare Reisen durch ihr langes, bewegtes und ereignisvolles Leben. Die fünf Sprachen, die sie in ihrer Jugend fließend sprach, treten nun hervor, sich gegenseitig abwechselnd, die unterschiedlichen Lebensereignisse kolorierend. Die hochbetagte Dame hat eine ansteckende Freude daran, aus dem Französischen ins Englische zu wechseln, bald darauf mit ihrer dünnen Stimme italienische Lieder anzustimmen und russische Gedichte zu rezitieren, um dann wieder mühelos bei Goethes Faust zu landen. – Und dann schläft sie nach diesen «Eskapaden» vor Erschöpfung ein, der Raum ist noch voll von ihrem Lachen und ihrer spitzbübischen Freude. Man fragt sich stets, woher sie diese Kraft noch hat, denn ihr Leib gibt kaum noch eine Grundlage dazu.

Andere Male aber wechselt leise ihre Stimmung, sie verlässt das Land der Erinnerungen und führt einen in eine andere Wirklichkeit ein, die sie unmittelbar umgibt:

«In manchen Momenten wird es so hell im Zimmer, es ist ein wunderschönes, helles Licht! Es ist eine solch liebende Kraft darin. Alles ist Licht, alles ist Wärme, alles ist Liebe! Alles ist eins, und wir sind Teil davon, wir sind darin eingebettet … Und da ist eine Gestalt, sie sitzt in der Ecke des Zimmers und wartet. Sie ist meistens da, wenn ich allein bin; aber auch manchmal, wenn Sie da sind. Können Sie sie sehen? Da, im Eck des Zimmers, da sitzt sie.»

«Können Sie mir diese Gestalt beschreiben?»

«Ja, sie ist hell und schön, sie ist aus Licht. Ich kann sie auch sehen, wenn ich die Augen geschlossen halte. Sie sieht aus wie eine Frau, ich meine, sie ist keine Frau, wir sagen das nur so, weil sie so schön ist wie eine Frau. Für uns ist eine Frau das Schönste, das wir kennen, aber es ist eine wunderschöne Gestalt, noch viel, viel schöner, und ganz aus Licht.»

«Wer ist diese Gestalt?»

«Ich weiß es nicht. Ich glaube, es ist mein Engel. Aber ich weiß es nicht genau. Ich werde es wissen, wenn ich drüben bin.»

Auf eindrucksvolle Weise teilt die Patientin in diesen Tagen weitere Erlebnisse dieser Art mit. Als mir einige dienstfreie Tage bevorstehen und wir beide innerlich wissen, dass die Zeit des Abschieds gekommen ist, bittet sie mich, noch einmal das Vaterunser zu sprechen, dieses Mal gemeinsam mit ihr. Ich halte ihre kleine, knöcherne Hand, wir schauen uns intensiv in die Augen und sprechen gemeinsam dieses Gebet, Wort für Wort, Zeile für Zeile. Tiefe Ernsthaftigkeit und gleichzeitig eine lichte, getragene Stimmung prägen diesen Augenblick. Ich fahre weg, mit Tränen in den Augen, zutiefst bewegt von der nahezu magischen Begegnung mit dieser besonderen Frau.

Zwei Nächte später wache ich gegen 4.00 Uhr auf. Es ist eine stille, kalte Winternacht, der Mond wirft leichte Schatten ins Zimmer. Auf einmal spüre ich rechts oberhalb von mir eine Gestalt und erkenne das Geistwesen dieser lieben Patientin. Es geht eine sanfte, lichte Stimmung von ihr aus. Sie sagt, dass sie nun gehen wird, ihre Zeit sei gekommen und sie fühle sich nun ganz frei und voller Friede. Sie wolle sich verabschieden und mir noch einmal für unsere so innige Begegnung danken. Wir würden uns eines Tages wiedersehen und sie sei immer da, das solle ich nicht vergessen. Ich spürte noch einmal ihre ganze Seelenwärme, und ihre Gestalt löste sich dann für meine Wahrnehmung auf. Ich empfand, kaum merklich, nur noch einen zarten Windhauch, der mich wie ein sanftes Lächeln leise berührte.

Ich schaute auf die Uhr, es war 4.07 Uhr. Nach dem Morgengrauen zog ich mich an und fuhr in die Klinik. Die Pflegenden auf der Station empfingen mich sehr überrascht:

«Frau Doktor, was machen Sie hier? Sie haben heute doch gar keinen Dienst.»

«Frau B. ist heute Nacht gestorben, oder? Wissen Sie, um wie viel Uhr das war?»

«Ja, sie starb um kurz nach 4.00 Uhr. Aber woher wissen Sie das?»

«Nur so ein Gefühl …», erwiderte ich.

Dann betrat ich das Patientenzimmer, wo die Dame von den Pflegenden gewaschen und zurechtgemacht wurde. Sie hatten ihr ein weißes, schönes Kleid angezogen, sie wirkte, trotz der unzähligen Falten, fast wie ein junges Mädchen. Auf ihrem Bett waren überall Blumen gestreut worden, es war ein unbeschreiblich schöner Anblick. Ich schaute ihr Gesicht an, ein liebevolles Lächeln hatte sich ihm eingeprägt. Und ihr Antlitz blieb bis zur Beisetzung sanft strahlend, so wie ich sie in der Nacht ihres Todes erlebt hatte. Sie war meine erste Patientin, die starb. Ich bin ihr bis heute zutiefst dankbar dafür, dass sie mich in dieser Weise an ihrem Tod hat Anteil nehmen lassen.

Selten habe ich einen ähnlich harmonischen Sterbe- und Todesprozess erlebt. Trotz physischer Schmerzen und einer zermürbenden Krankheitsphase war diese Frau ihrem Schicksal gegenüber annehmend und bejahend geblieben. Sie lebte ganz dem Augenblick hingegeben, ihre Seele war freudig und offen wie die eines Kindes. All dies hat ihrem Schwellenübergang diese anmutige, würdevolle Prägung gegeben. Wenn der Tod eines Menschen in dieser Weise geschehen kann, so ist das eine Gnade.

Es ist jedoch nicht unbedingt der Regelfall, dass ein Mensch in dieser Weise stirbt. Sein physischer Zustand, seine seelische Verfassung, die bewusste und unbewusste Haltung gegenüber dem Tod wie auch die Art seines Todes spielen dabei eine entscheidende Rolle. Somit hat der Schwellenübertritt eine ebenso individualisierte Signatur wie auch die Geburt eines Menschen.

Brücken zwischen Leben und Tod

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