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KAPITEL 3: ETAPPE 1 ODER: SCHRÄGE BEGEGNUNGEN
(Ferrol – Xubia (18,4 km), 16. Mai 2017)

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„Mein erster Lauftag.

Er ist da.

Und er ist schräg.

Aber hatte ich tatsächlich etwas Anderes erwartet?

Um 8 Uhr stiefele ich – nach einer fantastischen Dusche und endlich mal wieder ausgeschlafen (sollte ich auch daheim mal wieder häufiger sein) – aus dem Zimmer.

An der Rezeption weist mich die liebe Dame von gestern darauf hin, dass ich doch ‘nen Stempel bei ihr abzuholen hätte. Stempel? Ach ja. ;) Der Pilgerausweis ist ja jetzt wieder mein treuer Begleiter. Fast vergessen.

Nun ja, der Morgen und ich – wir konnten uns halt noch nie sonderlich gut leiden.

Auf dem Weg zum offiziellen Startpunkt am Hafen laufe ich den ersten Teil des Caminos quasi rückwärts ab. Aber das merke ich erst, als ich nach einem kleinen Frühstück mit Croissant und Cola Cao (es gibt übrigens keine Tostadas hier in diesem Café, wie ich sie von meinen letzten Caminos kenne. Ich bin durcheinander.) loslaufe. Zwei Engländerinnen stinkt es, dass sie vom Startpunkt aus wieder auf demselben Wege zurücklaufen sollen, weshalb sie ‘ne Abkürzung nehmen.

Ich schaue ihnen nach und überlege kurz: Soll ich mir auch die Rosinen rauspicken?

Och nööö. Scheiße passiert. Und wer weiß, wofür es gut ist, dass ich nun ‘nen anderen Laufrhythmus habe als die beiden Mädels. Vielleicht hätten sie mich ja genervt.

Der Weg raus aus Ferrol ist sehr asphaltlastig. Und am Anfang auch nicht wirklich schön. Die Aussicht zumindest ändert sich dann aber, als ich in die Nähe des Rías und damit auch in die Nähe des Wassers komme. Doch die Sonne brennt wie Bolle und zu allem Überfluss sind die Muscheln, denen ich ja folgen soll, hier noch Mangelware.

Ich will schon missmutig werden, da habe ich plötzlich eine echte Erscheinung.

Diese Erscheinung nennt sich Pepa, ist eine kleine, offene und sehr fit wirkende Spanierin, 63 Jahre jung, hat ein breites Lächeln auf den Lippen und wohnt in Ferrol. Sie trägt einen Schlapphut und einen Minirucksack.

Und sie spricht mich an, als sie meine Muschel sieht:

,Hallo! Ich bin Pepa. Läufst du den Camino?‘

Das kann ich wohl nicht abstreiten und nicke, breit grinsend wie ein Honigkuchenpferd, denn Pepa lacht mich äußerst fröhlich an.

Daraufhin gesellt sie sich zu mir und plappert gleich weiter. Schnell. Sehr schnell.

Und natürlich auf Spanisch, sodass ich mich sehr konzentrieren muss, um ihr auch nur ansatzweise folgen zu können.

Das ist ‘ne echte Herausforderung bei dieser Hitze.

Pepa findet es ,fantastisch!‘, dass ich den Camino Inglés alleine gehen will. Genau so müsse das sein! Ich lächle wieder.

,Weißt du – viele Menschen halten mich für bekloppt, dass ich sowas alleine mache. Viel zu gefährlich als Frau, langweilig… blablabla… aber ich finde, man ist ja eigentlich nicht allein auf den Jakobswegen. Man trifft unterwegs viele Menschen – und die sind doch gerade das Salz in der Suppe…‘, werfe ich ein.

,Ja, genau!‘, strahlt sie mich an. ,Und wenn du heute zum Beispiel nicht allein gewesen wärst, wäre ich nicht mit dir mitgelaufen! Ich hätte dich vielleicht gar nicht erst angesprochen – stell‘ dir das mal vor! Wie blöd das gewesen wäre!‘ Sie lacht.

Zuckersüß ist die ja – denn eines tut sie tatsächlich kurzerhand auf den nächsten 4 Kilometern: mit mir mitlaufen.

In dieser Zeit treffen wir ein Mädchen aus dem Ort, das darüber philosophiert, wie hübsch doch der Löwenzahn sei. Und wie dumm Donald Trump. Unsere Unterhaltung zeichnet sich durch einen extrem lustigen Mix aus Englisch und Spanisch aus. Deutsch beherrscht nämlich keine meiner beiden neuen Zufallsbekanntschaften. Ist aber auch vollkommen egal.

Pepa fragt mich gerade, wann ich Geburtstag hätte?

Ich habe null Ahnung, wie sie ausgerechnet jetzt auf dieses Thema kommt und bin deshalb mehr als irritiert. Ich hab‘ mir das Datum nämlich nicht auf die Stirn tätowieren lassen – aber mein Geburtstag ist HEUTE. Und das überrascht mich gerade selbst sehr, denn ich hatte ihn schon gar nicht mehr auf dem Schirm.

Als Pepa meine Antwort hört, hüpft sie aufgeregt auf und ab wie ein äußerst lebhafter Flummi und freut sich wie ein kleines Kind. Sie besteht darauf, mir zum Geburtstag zwei Küsschen geben zu dürfen. Ich weiß nicht, wie mir geschieht – ich finde das alles gerade schon ziemlich schräg. Und ich bin eigentlich auch nicht so der Typ für dieses Geknuddele und Geknutsche. Unter anderem aus diesem Grund mag ich es, an meinen Geburtstagen in fremden Gegenden allein unterwegs zu sein. Da weiß wenigstens niemand darüber Bescheid, wann ich wieder mal ein Jahr älter werde. Aber heute will ich mich mal nicht so zieren und nehme die beiden herzlichen Knutscher auf die Wangen in Empfang.

Is‘ ja Camino. Und irgendwie auch toll.

Wir laufen jetzt gut gelaunt und nun wieder zu zweit weiter – durch die immer noch brütende Hitze.

Pepa spricht von Zeit zu Zeit ihr und natürlich auch mir gänzlich fremde Leute an, um diese zu fragen, wie wir zu einer bestimmten kleinen Bar in der Nähe kämen? Ich sage ihr, dass ich nicht unbedingt dorthin müsse, denn ich wolle heute sowieso noch bis zur Herberge in Xubia oder Neda laufen.

,Noch so weit? Bei DER Hitze?! Bist du irre? Viiiel zu weit. Ich komme aus O‘Cebreiro - DA ist es heute vielleicht nicht so warm, weil das auf ‘nem Berg liegt. Aber HIER musst du erst mal aus dieser fürchterlichen Sonne raus – es ist gleich Mittag!‘

Hmm. Okay. Wenn Pepa das sagt, dann muss ich mich wohl fügen…

Also suchen wir ,ihre‘ Bar, wobei Pepa nun registriert, dass ,die Pfeile ja ziemlich dumm aufgemalt sind! Das ist doch ein riesiger Umweg!‘.

Ja, so isser halt, der Camino. ;) Sie schimpft wie ein Rohrspatz. Ich lache.

Als wir endlich an der von ihr gesuchten Bar ankommen – ich habe nun etwa 8 Kilometer hinter mir – scheucht sie mich energisch in den Laden. Ich solle bloß Tortilla essen und gaaanz viel Cola trinken und auf jeden Fall noch die Mittagshitze abwarten, bevor ich wieder aufbreche!

,Jawoll!‘, denke ich. Und ich weiß, ich werde gehorchen. Denn zu wenig zu essen und zu trinken – den Fehler habe ich anfangs, als Pilgerneuling, tatsächlich oft gemacht. Mehr als einmal bin ich daraufhin abends in irgendwelchen Herbergen umgekippt. Das kenn‘ ich schon und das brauch‘ ich nicht noch mal. Pepa erinnert mich netterweise daran. Und dann – will sie plötzlich weg. Ich bin überrascht; ich war darauf eingestellt, noch eine Weile mit der kleinen, lustigen Frau zusammen in der Bar sitzen zu können. Kaffee mag sie aber nicht (ich habe ihr gerade einen angeboten) und sie ist heute Nachmittag auch noch mit einer Freundin verabredet, hat daher keine Zeit mehr.

Wir machen also stattdessen fix ein Foto von uns, sie drückt mich kurz, verpasst mir noch ‘nen fetten Knutscher und dann ist sie so schnell wieder verschwunden, wie sie vorhin aufgetaucht war.

Ich genieße dafür nun eine ausgedehnte Pause – schließlich ist das ja kein Wettrennen hier, sondern Camino – und grinse ein weiteres Mal in mich hinein.

Anschließend geht der Weg viel charmanter weiter als er begonnen hat. Landschaftlich meine ich. Denn Pepa war ja schon ziemlich charmant.

Der Asphalt ärgert mich jetzt auch nicht mehr ganz so häufig. Gut so, denn meine Füße mögen ihn nicht.

Immer wieder genieße ich den leider eher raren Schatten. Ich habe nämlich eine starke Ahnung, dass ich doch besser direkt heute Morgen Sonnencreme hätte kaufen sollen, anstatt das – clever wie ich bin – auf den morgigen Tag zu verschieben. Aber das muss jetzt halt warten. Übrigens nicht aus Faulheit, sondern weil es hier ganz einfach weit und breit keine Shops gibt.

Dafür knallt es auf der gegenüberliegenden Ría-Seite plötzlich gewaltig. Immer wieder. Und hört auch nicht wieder auf. Ich sehe Rauch und andauernd so etwas wie… ja tatsächlich… Mündungsfeuer?

Was zum Henker…?! Ich mach‘ mich lieber vom Acker.

Ich komme dem Wasser jetzt immer näher. Neben mir läuft plötzlich ein weißhaariger Mann mit Hund. Und ohne Shirt. Es scheint derzeit selbst für spanische Verhältnisse heiß zu sein, denn so laufen die älteren Männer hier heute fast alle rum. Das ist mir auf anderen Jakobswegen bisher nie aufgefallen. Auf eine sehr seltsame Art schaut der Mann mich immer wieder an. Ich registriere das, bin irgendwie peinlich berührt und ignoriere ihn deshalb. Aber bald merke ich: Nett ist der Typ. Warum? Ganz einfach: Ich bin so sehr damit beschäftigt, meine Füße zu beobachten (ich habe nämlich gerade so etwas wie Marschmusik im Kopf und zähle in Gedanken laut den Takt mit), dass ich doch glatt die nächsten Muscheln übersehe und die Abzweigung zu verpassen drohe, die ich eigentlich nehmen müsste. Ich kreische erschrocken auf, als der Typ mich deshalb plötzlich von der Seite anspricht. Er zuckt auch zusammen. Kurz starren wir uns mit großen Augen gegenseitig an – und dann müssen wir beide schallend lachen. Ich bin ihm dankbar, dass er mich nicht in die falsche Richtung hat laufen lassen. Und schwupps – ist er auch schon wieder weg. Hat was von Pepa, der Herr.

Manchmal trifft man solche Menschen auf dem Weg. Interessanterweise sind sie bei mir bisher auch immer, auf jeder einzelnen Tour, genau in dem Moment aufgetaucht, in dem ich sie brauchte. Und Bauchgefühl braucht man. Gutes Bauchgefühl. Hier und im Leben.

Hier zu laufen, das ist dem Leben an sich übrigens nicht ganz unähnlich. Mir geht es in beiden Fällen eindeutig besser, wenn ich mich auf mein Bauchgefühl verlasse. Auch mal anderen Menschen vertraue, was ich lange Zeit eher selten getan habe. Heute galt das vor allem für den Herrn, der mir zunächst suspekt gewesen ist. Doch tatsächlich habe ich ebenfalls von Anfang an gedacht, dass er etwas Nettes an sich hat. Ein Bauchgefühl, das sich ja dann auch bewahrheitet hat.

Was wäre, wenn wir auch daheim ein wenig mehr auf unsere innere Stimme hören würden? Vermutlich würden wir viel mehr interessante Begegnungen erleben, viel mehr interessante Menschen in unser Leben lassen. Aber vielleicht würden wir auch mit mehr Menschen brechen, die uns eigentlich gar nicht gut tun. Für beide Varianten braucht es Mut. Ob sich das lohnt?

Seltsame Gedanken hat man hier auf dem Camino. Und das gleich am ersten Tag.

An der Herberge in Xubia (Neda) stehe ich erst einmal vor verschlossenen Türen. Irgendwann gesellt sich endlich ein finnischer Pilger – Timo – zu mir und verrät mir den Zahlencode. Nett ist er. Timo hat schon 400 Kilometer auf dem Camino del Norte hinter sich. Er befindet sich jetzt aus zwei Gründen auf dem Inglés: Zum einen hat er auf dem Norte herausgefunden, dass seine finnischen Vorfahren einst den englischen Weg gegangen sind. Zum anderen wurde ihm der Norte selbst langsam zu voll. Timo ist übrigens sehr interessiert daran, dass ich heute in meinem Zelt schlafen möchte, statt in der Herberge. Daher denke ich, dass wir bestimmt später noch einmal miteinander quatschen werden, wenn ich meine Schlafstätte aufbaue.

Jetzt muss ich aber erst mal duschen. Ich müffele. Einkaufen (Sonnencreme – natürlich NACH dem ersten Brand, der sich schon deutlich abzeichnet) und nach etwas Essbarem suchen beziehungsweise nach einem Restaurant, das auch Menschen in Wanderklamotten reinlässt, muss ich auch noch. Ich finde Gott sei Dank schnell ein solches Restaurant, muss aber zunächst noch darauf warten, dass der Koch eintrudelt. In Spanien geht man aufgrund der Hitze ja erst viel später zum Abendessen als bei uns. Daher beschäftige ich mich vorher noch mit etwas Wunderschönem – und zwar mit Geburtstagsbriefen und -wünschen aus der Heimat, die mir mit der Anweisung mitgegeben worden sind, sie erst hier in Spanien zu öffnen.

Beim Lesen vergeht die Zeit bis zum Eintreffen des Kochs wie im Fluge. Als ich vom Essen zurückkehre, platziere ich dann endlich mein Zelt auf dem Rasen neben der Herberge – mit Blick auf das Wasser. Anschließend lade ich diverse Geräte an der Steckdose in der Küche auf. Als ich wieder an meinem Zelt stehe, gesellt Timo sich erneut zu mir.

,Ey – du hast ja ein Tarptent!!! Ich auch! Was wiegt deines denn?‘, fragt er neugierig.

Ah! Ein Ultraleicht-Fanatiker – wie ich. Ich muss grinsen. Ich glaube, ich habe gute Karten.

,770 Gramm.‘

,Verdammter Mist! Meins wiegt 950!‘, antwortet er enttäuscht.

Wir müssen beide lachen, so blöd ist diese Grammzählerei. Wir fachsimpeln trotzdem weiter, albern rum. Das Zelt lässt ihn jedoch nicht los.

,Bist du ganz sicher, Iris? 770 Gramm?!‘

Ich bejahe.

,Ach, verdammte Kacke, tu‘ mir das nicht an! Ich kann das nicht glauben. Davon werde ich heute Nacht Albträume kriegen...‘, jammert er, betont weinerlich.

Ich kann nicht mehr. Mein Bauch tut mir weh vor Lachen.

,Also Iris – dann schlaf‘ heute mal gut – in deinem VERDAMMTEN 770 GRAMM-ZELT!!!‘, tut Timo gespielt böse und verdreht dabei auch noch die Augen. ,Bestimmt hält das dumme Ding weder Wind noch Regen ab!‘, versucht er dann, sich selbst zu trösten.

,Doch, doch… es hat gerade ‘ne Tour durch Schottland überlebt…‘, grinse ich lässig.

,Aaarghhh – geh‘ einfach schlafen, du Pilgernuss!‘, brüllt Timo laut, bricht aber schon Sekunden später wieder in Gelächter aus. Wir wünschen uns eine gute Nacht und ich verziehe mich in mein Zelt. Vermutlich werden wir uns nicht wiedersehen. Er kann ja mittlerweile viel längere Distanzen gehen als ich. Aber er hat meinen tollen Tag noch abgerundet. Ach ja, diese Begegnungen – sie sind es doch, die nicht nur den Camino, sondern auch das Leben an sich so schön machen, oder?

Der ,UP‘-Schrittzähler an meinem Handgelenk – ein Geburtstagsgeschenk einer lieben Pilgerfreundin – hat mir übrigens gerade verraten, dass das mit Verlaufen, Startpunktsuche und Essengehen heute rund 18,4 Kilometer und knapp 26.000 Schritte für mich waren. Und ich habe tatsächlich jeden davon genossen. Ohne Blasen zu entwickeln. Ich bin gespannt auf den morgigen Tag.“

Fluchend pilgern geht auch

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