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CHRISTOPHER UND DIE ANDEREN

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Am nächsten Morgen im Bus fühlte ich mich unbehaglich. »Wir müssen reden«, hatte Shird noch gesagt, ehe ich zu Franzi aufgebrochen war. Ein Satz, der wegen meines stets latent schlechten Gewissens bei mir schon immer unangenehme Erwartungen ausgelöst hatte.

Und wer war dieser Christopher?

Das hatte mir Shird nicht mehr verraten. Er war doch hoffentlich nicht wieder einer dieser Gurus, die Ordnung ins Leben zu bringen versprachen. Shird hatte keine Ahnung, wie viele Bücher solcher Gurus ich in meinem Leben schon geschenkt bekommen hatte, von wohlmeinenden oder genervten Freundinnen, Ex-Freunden, Arbeitskollegen und Verwandten.

Denn im Prinzip waren schon immer alle gegen mich gewesen. Unter den Menschen, die mich etwas näher kennengelernt hatten, gab es kaum welche, die mich nicht chaotisch oder zumindest schlampig gefunden hätten, und die das nicht irgendwann auch mehr oder weniger freundlich angemerkt hätten.

Ich hatte diese Ratgeber tatsächlich alle gelesen. Von »Magic Cleaning«, über »Minimalismus« bis »Simplify your life« kannte ich sie alle. Ich kannte ihre Powertipps, wie ich durch Aufräumen und Entrümpeln mit weniger leben und dabei Zeit und Geld sparen konnte, wie ich meinen Konsum kontrollieren und dabei gelassener und entspannter, freier und glücklicher werden konnte.

Fast wie eine Sekte kam mir diese Aufräumfraktion inzwischen vor, die ewiges Glück durch Ordnung versprach. Bloß hatte sie mir nie wirklich geholfen. Ich verstand zwar die Botschaft und fand sie theoretisch auch richtig, aber letztendlich schien sie mir für Streber und penible Listenschreiber gemacht zu sein, nicht für mich. Ich war einfach die Falsche dafür.

Unseren Ambulanzoberarzt Shird mochte ich eigentlich. Er war kompetent und gut darin, sein Wissen weiterzugeben. Dabei war er nie überheblich, sondern einfühlsam und verständnisvoll. Keine menschliche Schwäche schien ihm fremd zu sein, und er schien alle Schwächen weniger als Makel, sondern vielmehr als Macken zu betrachten, die Menschen immer auch zu etwas Besonderem machten.

Heute hatten wir miteinander Nachtdienst und wie immer bei solchen Gelegenheiten trafen wir einander vor der Dienstübergabe zum Mittagessen in der Kantine unseres Krankenhauses, die in dem geschichtsträchtigen Jugendstilgebäude am westlichen Rand Wiens eingerichtet war und mit Terrasse samt Blick auf Magnolien und Birken punktete.

Wir nahmen beide das Wiener Schnitzel, das hier jeden Tag auf der Speisekarte stand. »Wer ist dieser Christopher, den du gestern erwähnt hast?«, fragte ich Shird, als wir uns in die Sonne setzten. Ich fragte das weniger aus Interesse, sondern eher um ihm zuvorzukommen. Ich wollte diese Neuauflage eines Gesprächs, das ich schon oft genug geführt hatte, so rasch wie möglich hinter mich bringen.

Shird erzählte mir, dass er vor vielen Jahren als Assistenzarzt an der Wiener Universitätsklinik einen Neurologen namens Christopher kennengelernt hatte. Christopher war fachlich brillant. Er wusste immer alles bis ins letzte Detail, konnte bei seinen Patienten mehr Differentialdiagnosen aufzählen, als in den neurologischen Lehrbüchern standen, bemerkte die kleinste Lähmung des winzigsten Augenmuskels, kannte sämtliche Befunde seiner Patienten auswendig und spürte selbst in kilometerlangen EEG-Kurven noch eine auffällige Zacke auf.

Dieser Christopher suchte vor jeder Diagnose so lange und so genau nach Symptomen, bis er ganz sicher die richtige gefunden hatte, und er war dabei ein ruhiger, besonnener und verlässlicher Mensch, der immer von allem in feinsäuberlicher Schrift Tabellen führte. Das war ihm besonders wichtig. Wenn am Abend sein Tagesverlauf mit all seinen Ereignissen nicht in diverse Tabellen eingeflossen war, konnte er angeblich nicht schlafen.

Shird hatte Christopher bewundert und ihn für sich zu einem lebenslangen Vorbild gemacht. »Kommt dir dieser Typ Mensch aus deinem Studium bekannt vor?«, fragte er mich.

Ich dachte nach. Pflichtbewusst, zielstrebig, zuverlässig und eventuell etwas pedantisch, was für einen diagnostizierenden Arzt ja durchaus günstig war. »Christopher ist eine klassische zwanghafte Persönlichkeit«, antwortete ich. »Und mit dem soll ich mich jetzt anfreunden? Warum? Damit etwas von ihm auf mich überspringt? Worum geht es hier?«

»Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust«, antwortete Shird. »Kennst du dieses Zitat aus Goethes ,Faust‘? Darum geht es hier, bloß dass auch das nur die halbe Wahrheit ist. In Wirklichkeit wohnen vier Seelen in der Brust von jedem von uns. Jeder von uns birgt vier Persönlichkeiten in sich. Nicht irgendwelche Persönlichkeiten, sondern ganz bestimmte. Es sind bei jedem von uns die gleichen vier, bloß sind sie bei jedem unterschiedlich stark ausgeprägt. Kennst du den Psychologen und Psychoanalytiker Fritz Riemann? Er hat das bereits 1961 dokumentiert.«

»Riemann sagt mir natürlich etwas«, log ich. »Aber was hat das mit deinem Christopher zu tun?«

»Christopher steht für mich für eine dieser vier Persönlichkeiten, die wir in uns vereinen«, sagte er. »Für die zwanghafte, wie du ganz richtig bemerkt hast. Sie hat wie jede dieser Persönlichkeiten Vor- und Nachteile. Sie sorgt für Ordnung, aber sie kann auch pedantisch sein. Sie ist genau, aber sie kann auch übergenau sein. Ist die zwanghafte Persönlichkeit bei dir zu stark ausgeprägt, wirkst du pedantisch und übergenau. Ist sie zu schwach ausgeprägt, wirkst du wie eine Chaotin.

Ich würde sagen, wie der Fall bei dir liegt, ist ziemlich eindeutig. Würdest du dich mit dem Christopher in dir anfreunden und mehr von ihm zulassen, käme schnell Ordnung in dein Chaos.«

»Wow«, sagte ich. »Plötzlich Patientin.«

»Ach was«, sagte Shird. »Die vier Persönlichkeiten, die jeder von uns in sich vereint, sind bei den wenigsten von uns im Gleichgewicht. Denk nur an unsere Kolleginnen und Kollegen. Da fallen dir bestimmt welche ein, die eher zu viel Christopher haben.«

»Du meinst Therese, diese Spinnerin«, sagte ich. »Sie ist heute wieder wegen meiner Mäntel und Bücher auf mich losgegangen.«

Shird winkte ab. »Ich nenne keine Namen, aber es tut jedem von uns gut, am Gleichgewicht zwischen den vier Persönlichkeiten in uns zu arbeiten. Es ist immerhin eine Voraussetzung dafür, glücklich oder zumindest zufrieden leben zu können. Denke an ein vierköpfiges Team. Jeder der vier in diesem Team hat bestimmte Stärken und bietet in Krisensituationen bestimmte Lösungsmöglichkeiten an. Dominiert ein Mitglied des Teams oder fällt eines ganz aus, haben alle ein Problem.«

»Ehrlich gesagt habe ich noch nie von diesem Riemann gehört«, gab ich jetzt zu. »Aber deine Geschichte erklärt wirklich manches. Wo finde ich den Psychiater, der den Christopher in mir mit meinen anderen drei Persönlichkeiten in Einklang bringt, damit ich nie wieder Patienten gleichzeitig bestelle und immer pünktlich bin, wenn ich mit meiner Nichte in den Zirkus will?«

»Du brauchst keinen Psychiater«, sagte Shird. »Das Schöne an der Sache ist, dass die vier Teile unserer Seele beziehungsweise die Verhältnisse zwischen ihnen unser Leben lang wandelbar bleiben. Wir haben jederzeit die Möglichkeit, schwächere Anteile zu stärken und dominante etwas in den Hintergrund zu drängen, und wir können das selbst.«

»Ich bin also kein hoffnungsloser Fall?«

Als ich Shird lächeln sah, fragte ich mich, wie oft er diese Geschichte wohl schon Patienten erzählt hatte. Aber egal, dachte ich. War ich eben die mit dem unterentwickelten Christopher.

»Du bist weder ein hoffnungsloser noch ein schlimmer Fall«, sagte er.

Während Shird für uns Apfelstrudel und zwei Espressi holte, fiel mir ein, dass auch ich einen ziemlich lupenreinen Christopher kannte. Ich hatte ihn vor einigen Monaten kennengelernt, nachdem mir ein Freund, angesichts des Chaos in meinen Finanzen, den Steuerberater seines Vertrauens empfohlen hatte. In dessen Kanzlei war ich mit einer Reisetasche voller Ordner und Zettel aufgekreuzt.

Als in seinem Besprechungszimmer mit den säuberlich geordneten Büchern und Ordnern der Inhalt meiner Tasche auf einen großen, leeren Glastisch gequollen war, war mir mein Chaos richtig peinlich gewesen. Um die Peinlichkeit noch zu steigern, begleiteten ein paar Federn, Tannenzapfen und Gräser vom letzten Waldspaziergang mit Franzi, meiner jüngsten Tochter und meinem Hund die Unterlagen.

Ich kam mir erbärmlich wie eine Obdachlose vor, die bei einer Polizeikontrolle ihr Hab und Gut auf dem Gehsteig ausbreiten muss. Der Steuerberater schenkte mir ein Lächeln, in dem kein Vorwurf lag, sondern nur ehrlich empfundenes Mitleid, und nach anderthalb Stunden mit ihm hatte ich die beruhigende Gewissheit, dass selbst mein Chaos zu bändigen war.

Er gab mir das Gefühl, dass ich, wenn ich nur wollte, wie eine dieser Frauen aus amerikanischen Fernsehserien werden konnte, die in einem schlichten Kleid und mit perfekter Frisur an einem Schreibtisch saßen, auf dem nur drei gespitzte Bleistifte lagen, nicht wie auf meinem eine undurchdringliche Dokumentation der Vielfalt des Lebens. Die daheim einen Schrank voller nach Farben geschlichteter und nach Lavendel duftender Wäsche hatten, nicht wie ich einen immerzu voll behängten Wäscheständer, den auch noch ständig mein für die Wohnung viel zu großer Hund umwarf. Die sich Anfang der Woche überlegten, was sie kochen würden, die nicht wie ich regelmäßig hungrig zum Supermarkt liefen, um sich Baguette, Ziegenkäse und Rotwein zu holen.

Bloß, wollte ich so sein? Nein. Und jetzt fragte ich mich auch, was diesen Frauen aus den amerikanischen Serien oder meinem Steuerberater dafür wohl fehlte. Spontane Besäufnisse mit Freunden gab es in ihrem Leben wohl eher nicht, womit ihnen meiner Meinung nach etwas sehr Wesentliches fehlte.

Beim Nachtisch sprachen Shird und ich weiter über die geteilte Seele. Riemann hatte in den 1960er-Jahren offenbar viel Aufmerksamkeit für seine Forschung erhalten, dennoch fanden wir beide, dass die Psychologie das Thema stiefmütterlich behandelte und es im öffentlichen Bewusstsein zu wenig präsent war.

»Vielleicht liegt es an den wissenschaftlichen Bezeichnungen der vier Persönlichkeiten, die wir in uns vereinen«, sagte Shird. »Neben der zwanghaften gibt es noch die schizoide, die depressive und die hysteriforme. Damit kann sich niemand identifizieren.«

»Es klingt tatsächlich nicht besonders sexy«, sagte ich. »Es klingt, als hätten die vier Persönlichkeiten in uns nur schlechte Seiten, was ja nicht der Fall zu sein scheint.«

Shird nickte. »Ich tue mir bei meinen Patienten immer leichter, wenn ich von dem Christopher in ihnen statt von ihren zwanghaften Persönlichkeitsanteilen spreche«, sagte er.

Wusste ich es doch. Plötzlich Patientin. Aber egal. »Hast du für die anderen drei auch neue Namen gefunden?«, fragte ich.

»Ich arbeite daran. Es sollten neutrale Namen wie eben ,Christopher‘ sein.«

Es war tatsächlich ziemlich unfair von Riemann und Konsorten gewesen, den vier Persönlichkeiten, die miteinander unser Wesen ausmachten, so abschreckende Namen zu geben. Denn jede davon hatte definitiv auch positive Seiten.

Der Typ Christopher konnte nicht nur ein fantastischer Steuerberater sein. Mit ihm war zum Beispiel auch das Reisen angenehm. Er kümmerte sich um Planung, Flugzeiten und Buchungen. Er fertigte dabei auch gleich Kopien von Reisepässen, Kredit- und Bankomatkarten sowie den Kontaktdaten an.

Wer auf einem Flug mit einem Begleiter des Typs Christopher ein Gepäckstück verlor, konnte sicher sein, dass sich Christopher bis zum Zuständigen der betreffenden Fluglinie vorkämpfen und das Gepäckstück auch noch in die versteckteste Bambushütte auf der entlegensten Insel nachliefern lassen würde.

Christopher steht für Ordnung, Genauigkeit, Planung.

Hartnäckigkeit war überhaupt eine Stärke des Typs Christopher. Ich musste sie sogar meiner ungeliebten Kollegin Therese zubilligen. »Ich habe jetzt einen Termin beim Chef«, hatte ich sie einmal zu einer Krankenschwester sagen gehört, »und ich werde erst vom Sessel aufstehen, wenn ich alles erreicht habe, das ich erreichen will. Soll es meinetwegen zwei Stunden oder noch länger dauern. Das ist dann sein Pech.«

Die Schattenseiten, die der Typ Christopher neben dem Hang zur Pedanterie hat, sind allerdings auch bemerkenswert. So kann sein Bedürfnis, Projekte abzuschließen, zu einer regelrechten Verbissenheit führen. Für ihn ist es unbegreiflich, wie jemand lesen, dösen oder Musik hören kann, wenn noch Dinge zu erledigen oder zu ordnen wären. Er bringt Arbeiten zu Ende, gnadenlos, egal um welche Uhrzeit und wie es seinen Mitmenschen dabei geht.

Ich kannte das von Theo, meinem Ex-Freund, der eindeutig einen starken inneren Christopher hatte. Er wollte auch dann noch die Vorhangstange montieren, wenn ich nach einem Nachtdienst vor Müdigkeit schon doppelt sah und fast von der Leiter fiel.

Dabei läuft der Typ Christopher auch noch ständig Gefahr, sich in unwichtigen Details zu verlieren und sich in Nebenschauplätze zu verbeißen. Es ist dann, als stünde er direkt vor einem großen impressionistischen Gemälde und als starre er immer nur einen einzigen Punkt an, statt ein paar Meter zurückzutreten und entspannt das ganze Bild zu betrachten.

Jetzt fiel mir eine ganze Reihe von Menschen mit ausgeprägtem inneren Christopher ein. Eine Oberärztin an der Neurochirurgie zum Beispiel, eine frühere Kollegin von mir. Sie war für das Erstellen der Dienstpläne verantwortlich. Dabei verrannte sie sich regelmäßig mit ihrem Perfektionswahn und saß nächtelang an Korrekturen und Verbesserungen. Ihre Dienstpläne waren immer voller überflüssiger Details in rot, blau, grün und gelb.

Oder eine andere Ärztin, mit einem ebenfalls stark ausgeprägten inneren Christopher. Eine Krankenschwester rief sie einmal wegen eines Notfalls an, wegen eines epileptischen Anfalls. Die Ärztin meinte, sie könne nicht gleich kommen, denn sie müsse erst noch die Laborbefunde fertig ordnen. Zum Glück war gerade ein anderer Arzt vor Ort und konnte sich um den Patienten kümmern. Die Ärztin kreuzte erst auf, als der epileptische Anfall längst vorbei war.

Auch das Bedürfnis des Typs Christopher, alles genau zu planen, kann sich zu einer Schattenseite entwickeln. Mein Theo, zum Beispiel, wäre niemals zu einer Straßenbahnhaltestelle gegangen, ohne die nächsten fünf Abfahrtszeiten zu kennen. Wollte ich unterwegs dahin bei einem Straßenmusiker oder vor einem Schaufenster stehenbleiben, löste das bei ihm ein geradezu körperliches Unbehagen aus, so wie ihn überhaupt Dinge, die nicht nach seinen Plänen liefen, ungemein stressten.

Der Typ Christopher versucht deshalb, seine Umgebung zu kontrollieren und seine Ansichten anderen aufzudrängen. Dementsprechend angespannt ist er, wenn sich jemand seiner Kontrolle entzieht. Er hat immer Angst, Chaos könnte entstehen.

Eine meiner besten Freundinnen hatte einen Mann geheiratet, dessen innerer Christopher ebenfalls dominant war. Er konzentrierte seinen Hang zum Ordnen und Zählen am liebsten auf seine Finanzen und war unglaublich geizig. Sogar im Urlaub rechnete er jeden Abend genau aus, wer wie viel Geld wofür ausgegeben hatte. Er vergaß dabei weder das Eis am Vormittag noch den Toiletteneintritt am Nachmittag. Allerdings kotzte er regelmäßig das Klo voll, weil er aus Sparsamkeit verdorbene Lebensmittel gegessen hatte.

Ich habe Tränen gelacht, als mir diese Freundin vom Ordnungswahn ihres Christopher-Mannes, der selbst im Schlafzimmer seinen Ausdruck fand, erzählte. »Zuerst von vorne, dann von hinten, dann von der Seite, immer nach Plan«, sagte sie. Sie hatte den Verdacht, dass er dabei auch einem genauen Zeitplan folgte und ständig auf die Uhr sah.

Ein Freund von mir bekam auf die Frage, warum sich seine Frau, die ebenfalls einen ausgeprägten inneren Christopher hatte, von ihm trennte, die Antwort: »Weil du, egal wie oft ich es dir sage, immer die Klopapierrolle verkehrt herum aufhängst. Ich halte das nicht mehr aus.«

In den Wohnungen des Typs Christopher ist nicht nur alles geometrisch angeordnet, sondern auch spiegelblank. Schuhe im Schuhregal sind nicht nur millimetergenau nebeneinander abgestellt, nach Farben, Absatzhöhe und Jahreszeiten sortiert, sondern auch auf Hochglanz poliert. In den Kleiderschränken sind oft sogar die Abstände zwischen den einzelnen Kleiderbügeln genau gleich.

Der Typ Christopher macht uns auch in vielerlei Situationen des Alltags das Leben schwer. Diese Menschen sind diejenigen, die als Beamte, Lehrer oder Vorgesetzte eisern an ihren Regeln und Grundsätzen festhalten und niemals ein Auge zudrücken. Sie sind die Busfahrer, die keine Sekunde warten, die Finanzbeamten, die sich auch noch den kleinsten Beleg vorlegen lassen, und die Verkäuferinnen, die hinter der um Punkt 18 Uhr verschlossenen Ladentür den Kopf schütteln, wenn wir dringend noch etwas brauchen.

In ihrer übermäßigen Korrektheit äußert sich auch, oft ohne dass es ihnen selbst bewusst ist, die Aggression von Menschen mit dominantem innerem Christopher. Sie kann bis ins Sadistische gehen und so zu einer Art von Machtausübung werden. Dementsprechend fühlt sich der Typ Christopher auch von Berufen angezogen, die ihm Macht verleihen. Er geht gerne zum Militär oder wird Polizist, Richter, Lehrer oder Staatsanwalt.

Die guten Eigenschaften des inneren Christopher: Er ist stabil, pflichtbewusst, belastbar, fleißig, zielstrebig, verantwortungsbewusst, zuverlässig und gewissenhaft.

Die schlechten Eigenschaften des inneren Christopher: Er ist pedantisch, starr, geizig, unflexibel, zwanghaft, engstirnig, kontrollierend und stur.

Shird musste wegen eines Notfalls in die Ambulanz zurück und ich ging inzwischen zur Dienstübergabe. Während ich unter den großen Tannenbäumen des Krankenhausparks zu unserem Pavillon schlenderte, fiel mir ein Interview mit Isabel Marant ein, das ich jüngst beim Friseur in der Vogue gelesen hatte.

Ich hatte die französische Designerin immer für ihren Stil, ihre Kreativität und ihr Leben bewundert. Unzählige Artikel hatte ich schon davor über sie gelesen, und wenn ihre Mode auch nie meine Preisklasse gewesen war, hatte ich doch stets versucht, ihren lässigen Stil zu imitieren.

Ich kannte Fotos der Ateliers von Isabel Marant, die voll mit Skizzen, Kleiderständern, Kleidungstücken, Stiften, Fotos, Büchern, Models und Accessoires waren. Sie hatten mich darin bestätigt, dass Kreativität nur im Chaos entstehen konnte. In jenem Interview erzählte sie allerdings, dass sie überaus strukturiert und geordnet sei, und dass sie gut rechnen und überhaupt gut mit Zahlen umgehen könne.

Ich war überrascht. Nichts von dem, wie ich mir Isabel Marant immer vorgestellt hatte, war danach noch gültig. Jetzt wurde mir klar, dass unter ihren vier Persönlichkeiten Christopher eine tragende Rolle spielte und in ihrem der Kreativität gewidmeten Leben für Ordnung sorgte. Vielleicht machte er damit ihre Erfolge sogar erst möglich.

Wenn Isabel Marant so einen starken Christopher hat, will ich auch einen, grübelte ich, vielleicht müsste ich mich wirklich mit ihm anfreunden, so wie es Shird vorgeschlagen hatte. Allerdings mit der netten Version von ihm. Der penible, kontrollierende und potenziell geizige Christopher fühlte sich für mich nach wie vor eher wie ein bösartiger Gehirntumor an.

Mit einem dominanten Christopher …

… haben wir einen ausgeprägten Wunsch nach Beständigkeit. Wir haben eine Sehnsucht nach Dauer, nach einer verlässlichen Wiederkehr des Gewohnten und Vertrauten.

Das ist an und für sich nichts Schlechtes, auch wenn es in einer dynamischen Welt wie unserer, mit ständigen Veränderungen, so scheinen mag. Dauer und Wiederkehr der gleichen Eindrücke sind schon in unserer Kindheit wichtig für die Entwicklung unseres Gedächtnisses und für unsere Orientierung in der Welt.

Beides gilt auch für uns als Erwachsene. Nur wenn wir so etwas wie Beständigkeit in uns selbst entwickeln, können wir mit den laufenden Veränderungen und dem Chaos des Lebendigen umgehen und es einordnen.

Wenn unser innerer Christopher aber zu dominant ist, dann ist unsere Sehnsucht nach Dauer und damit nach Sicherheit zu stark ausgeprägt. Wir haben dann Angst vor Veränderungen. Wir wollen dann immer alles beim Alten belassen und halten eisern an Gewohnheiten und Grundsätzen fest. Wir sind skeptisch gegenüber allem Neuen. Wir sind besonders vorsichtig und handeln vorausblickend.

Das macht uns dann einerseits zu genauen Planern, andererseits wollen wir aus Angst vor Veränderungen immer die Oberhand gewinnen. Wir wollen so viel wie möglich von unserer Umgebung kontrollieren und alles in Schemata und Regeln zwängen. Wir würden unseren Mitmenschen am liebsten vorschreiben, wie sie zu sein haben, statt uns darauf einzulassen, wie sie nun einmal sind.

Wir neigen mit einem dominanten inneren Christopher dazu, Selbstbeherrschung und Kontrolle zu idealisieren und unsere Aggressionen äußern sich häufig in übermäßiger Korrektheit oder pedantischer Ordentlichkeit. Durch unseren ständigen Drang, uns zusammennehmen zu müssen und unsere ständige Selbstkontrolle entwickeln wir mit einem dominanten Christopher auch besonders leicht hypochondrische Symptome.

In der Liebe kennen wir uns mit einem dominanten Christopher nicht wirklich aus, denn das Irrationale ist für uns beunruhigend. Wir versuchen, uns in einer Beziehung an Vereinbarungen zu halten, doch wirklich sicher fühlen wir uns nur, wenn wir diejenigen sind, die alle Entscheidungen treffen.

Von unseren Partnern verlangen wir, sich auf genau die Art von Beziehung einzulassen, die wir uns vorstellen. Gleichzeitig erleben wir Beziehungen oft als schicksalhaft und können uns gar nicht vorstellen, dass sie einmal enden könnten.

Mit einem besonders schwach ausgeprägten Christopher …

… haben wir Probleme damit, uns zu organisieren und eine gewisse Konstanz im Leben zu entwickeln und zu erhalten. Wir verlieren oft den Überblick, denn so wie unsere schnelllebige, sich ständig verändernde Welt Anpassungsfähigkeit und Flexibilität verlangt, verlangt sie auch die Fähigkeit, Ordnung und Stetigkeit zu bewahren. Mit einem schwach entwickelten Christopher überfordern uns diese ständigen Veränderungen schnell, Stress und Burnout sind nicht selten die Folge.

Partner und Freunde sind häufig die Leidtragenden. Allzu oft vergessen wir Geburtstage oder sagen ein Treffen im letzten Moment ab, weil wir den Überblick über unsere Termine und Verpflichtungen verloren haben. Insbesondere für den Partner ist es schwer, uns als verlässlich wahrzunehmen, worunter häufig einer der wichtigsten Bausteine einer Beziehung leidet, das Vertrauen.

Im Beruf kann es häufig zu Fehlern kommen, besonders in stressigeren Zeiten. Wir verlegen Akten, vergessen wichtige E-Mails und Termine, machen das, was im Volksmund als Schlampigkeitsfehler bezeichnet wird.

Mit einem schwachen Christopher leben wir häufig einfach in den Tag hinein, machen uns wenig Gedanken über Verpflichtungen gegenüber uns und anderen Menschen. Dies kann eine Zeit lang durchaus ein entspannter Zugang zum Leben sein, bis sich unsere Verpflichtungen so weit aufgetürmt haben, dass sie auf uns herabstürzen und uns zu erdrücken erscheinen.

Während vor mir die Bettenstation in Sichtweite kam, suchte ich Namen für die drei anderen Persönlichkeiten, die wir in uns vereinten. Sie sollten inspiriert von Menschen sein, die ich kannte, und bei denen die jeweilige Persönlichkeit klar dominant war.

Diese mit Christopher dann insgesamt vier Namen würden es mir leichter machen, mich mit den hinter ihnen stehenden Persönlichkeiten zu beschäftigen. Von einer quasi medizinischen, psychiatrischen Auseinandersetzung mit mir selbst, den Menschen in meiner Umgebung und meinen künftigen Patientinnen und Patienten würde das Ganze zu einem kleinen Spiel mit großer Wirkung werden.

Wie sollte ich die von der Wissenschaft so trocken und abfällig als »schizoid«, »depressiv« und »hysteriform« eingestuften Persönlichkeiten nennen?

Die geteilte Seele

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