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SOPHIE

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Der Dienst verlief zum Glück ruhig, weshalb ich mich schon am späten Nachmittag mit einer Gymnastikmatte aus dem Physiotherapieraum auf dem Flachdach unseres Pavillons in die Sonne legen konnte. Aus Sicherheitsgründen war es streng verboten, das Dach zu betreten, und ich musste dafür durch das Fenster unseres Dienstzimmers klettern, aber UV-Strahlung erhöht bekanntlich den Spiegel des Glückshormons Serotonin im Gehirn, was wiederum gut für meine Leistung im Job war. Ich fand das relevanter als pingelige Vorschriften.

Während ich überlegte, meine Sonnencreme und die mit Wasser gefüllte Sprühflasche aus dem Dienstzimmer zu holen, läutete mein Telefon. Eine ehemalige Kollegin von der Neurochirurgie, Sophie, war dran. Sie beschwerte sich, dass sie gerade Nachtdienst gehabt hätte und trotzdem den ganzen Tag in der Klinik bleiben musste, weil eine Patientin bei einer nächtlichen Operation verstorben war. »Konnte die nicht warten, bis sie in der Intensivstation liegt?«, schimpfte sie.

Auch wenn Sophie schrecklich empathielos war, hatte sie recht. Ich hatte es selbst oft genug erlebt. Tote am OP-Tisch machen Probleme. Für Neurochirurgen in unserem System war es besser, wenn sie erst nach einer Operation starben. Starben sie während der Operation, bedeutete das jede Menge Erhebungen und Bürokratie.

»Sie hatte wegen der Verletzungen von ihrem Autounfall sowieso keine Chance mehr«, sagte Sophie, »aber wir konnten sie natürlich nicht einfach liegen lassen. Du weißt ja, wie es ist. Jetzt habe ich sie alle am Hals, den Chef, den Anästhesie-Chef, den Gerichtsmediziner, und ich muss sinnlose Protokolle schreiben.«

Dass sie sich so gar keine Gedanken über diesen traurigen Fall und das Schicksal dieser armen Frau und ihrer Familie machte, wunderte mich nicht, denn so kannte ich Sophie. Sie war immer distanziert, immer unabhängig, und mir wurde klar, dass ihr Anruf ausgerechnet jetzt kein Zufall sein konnte. Ich schien ihn bei meiner Suche nach lupenreinen Vertretern der übrigen drei Persönlichkeiten, die es in uns zu vereinen gilt, magisch angezogen zu haben.

Als ich an der Neurochirurgie angefangen hatte, war Sophie bereits seit mehreren Jahren dort gewesen. Sie unterschied sich auf den ersten Blick wohltuend von den anderen Neurochirurgen. Die prügelten sich geradezu um interessante Gehirnoperationen, weil jede einzelne davon ihren Lebenslauf attraktiver machte. Doch Sophie konzentrierte sich vor allem auf Wirbelsäulenoperationen, einen unter Neurochirurgen eher unbeliebten, weniger prestigeträchtigen Bereich. »Brain is fine, but money is spine«, sagte sie gerne – »Gehirn ist nett, aber Geld bringt der Rücken.« Für sie war der Arztberuf auch keine großartige Berufung, sondern nur eine gute Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Was genau sie dabei machte, war ihr weniger wichtig, und je geringer ihr Aufwand war, desto besser.

Sophie mochte weder die narzisstischen Neurochirurgen, die sich über ihre Operationen definierten, noch die – nach ihren Worten – »aufopfernden Heuchler, die einzig für den Arztberuf leben«. »Am liebsten wäre es mir, ich könnte einfach nur vor mich hin operieren«, sagte sie einmal zu mir, »mich nur mit der Materie beschäftigen, ohne mit anderen Menschen zu tun zu haben und ohne mir das ständige Gequatsche von Kollegen, Krankenschwestern oder Patienten anhören zu müssen.«

An einfühlsamen Gesprächen mit Angehörigen nach Dienstschluss hatte sie erst recht kein Interesse. »Gefühlsduselei ist nicht mein Job«, sagte sie. »Was für einen Chirurgen will ein Patient? Einen, der ihn rational und gut operiert oder einen, der am offenen Schädel oder am offenen Rücken wegen der schlechten Diagnose zu plärren beginnt?«

Bei Patienten mit irreversiblen Hirnschädigungen, bei denen absehbar war, dass sie in der darauffolgenden Nacht sterben würden, schrieb sie bereits am Abend neben ihrer Pizza die Karten vor, die sie für die Pathologie an den Händen und den Zehen der Leiche befestigen würde. Nur den genauen Zeitpunkt des Todes ließ sie noch offen.

»Ich kann ihm sowieso nicht mehr helfen«, meinte sie einmal lapidar über einen jungen Mann, der in einer Kurve mit seinem Motorrad gestürzt und gegen eine Leitplanke geprallt war. »Warum soll ich diese Arbeit auch noch um drei Uhr morgens machen, wenn ich sie schon jetzt nebenbei erledigen kann?«

Sophie war dabei eine immer wieder überraschend gute Wissenschaftlerin, denn sie dachte analytisch und informierte sich laufend über neue Forschungsergebnisse. Sie hinterfragte und überprüfte alles und ließ sich nichts vormachen oder sich gar täuschen.

Es gab für sie nie einen Grund, Dinge auch weiterhin auf eine bestimmte Art zu machen, nur weil sie bisher so gemacht wurden. »Sie können gerne um 17 Uhr Visite machen«, hatte sie gleich in ihrem ersten Ausbildungsjahr dem leitenden Oberarzt der Station erklärt, »aber ohne mich. Denn pünktlich um 15.30 Uhr, wenn meine Dienstzeit endet, fahre ich aus der Tiefgarage.« Die Usance, dass wir Neurochirurgen trotzdem bis zur Visite blieben, ohne unseren Mehraufwand gegenüber irgendjemandem auch nur zu erwähnen, war ihr egal.

Sophie war ein Mensch, den fast alle wegen ihrer Stärke und Unabhängigkeit bewunderten, wobei viele auch Angst davor hatten, ihre unverblümte Meinung direkt ins Gesicht gesagt zu bekommen. Ihre Kommentare waren klar und kompromisslos. Besonders die Apparatschiks im System empfanden sie ob ihrer scharfen Beobachtungsgabe und ungefilterten Meinung als unangenehm.

»Hast du wirklich Medizin studiert, oder bist du einer dieser Spinner, die einen Arztmantel klauen und dann auf wichtig machen?«, hatte sie einmal einen der Neurochirurgen in der Morgenbesprechung vor allen anderen gefragt, nachdem er einem nierenkranken Patienten von zehn gängigen antiepileptischen Medikamenten genau jenes gegeben hatte, das die Niere am stärksten belastete. »So etwas macht doch nur ein Laie, der keine wirkliche Ahnung von Medikamenten hat. Kein richtiger Arzt hätte dieses Medikament bei einem nierenkranken Patienten verordnet.« Das alles sagte sie sachlich und frei von jeglicher Emotion.

Dass der betreffende Kollege sich später über sie beschwerte und beide schließlich zum Chef mussten, ließ sie kalt. Sich vor Schuldirektoren, Praktikumsleitern oder Vorgesetzten wegen Aussagen, die andere als frech empfanden, und wegen Betragens, das andere als ungehörig empfanden, verantworten zu müssen, war sie schließlich gewohnt.

Sophie war es dabei herzlich egal, was andere von ihr dachten. Sie sah sich als unabhängigen Menschen, der von niemandem etwas brauchte und niemandem Rechenschaft schuldig war. »Wenn der Chef glaubt, dass ich mich bei diesem Pfuscher entschuldige, wird er sich wundern«, hatte sie vor dem betreffenden Gespräch zu mir gesagt. »Der soll froh sein, dass er etwas von mir lernen kann.«

Sophie steht für Unabhängigkeit und Distanz.

Menschen ihres Typs arbeiten gerne selbstständig und unabhängig. So hatte Sophie kein Problem, als sie gleich an ihrem zweiten Arbeitstag allein in die neurochirurgische Ambulanz musste. Sie hatte ein Buch über das Fach dabei und machte sich in Ruhe ein Bild von den Patienten. Das war ihr lieber, als den Belehrungen eines Oberarztes lauschen und sich wie eine unselbstständige, hilflose Idiotin zu fühlen. »Ich brauche niemanden neben mir, der mir die Hand hält«, sagte sie einmal zu mir. »Wenn ich Hilfe nötig habe, dann frage ich danach.«

Der Typ Sophie, den die Wissenschaft veraltet und so wenig schmeichelhaft, dass es irreführend klingt, »schizoid« nennt, ist unbestechlich, lässt sich nicht blenden und viele empfinden ihn deshalb als lästig. »Ihre Ergebnisse können nicht stimmen«, hatte der Oberarzt einmal zu Sophie gesagt, nachdem sie Messungen an einem Hirntumor nach einer Strahlentherapie durchgeführt hatte. »Es ist unmöglich, dass ein Tumor nach der Bestrahlung größer ist als davor.«

Sophie hatte sich aber bereits mit der Sache befasst und war auf einen Beitrag in der renommierten neurochirurgischen Zeitschrift Neurosurgery gestoßen, deren Reviewern ebensolche Fälle auch schon aufgefallen waren, eine entsprechende Studie war zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht publiziert. Tumore, die nach der Bestrahlung anschwollen, gab es tatsächlich. Es hatte anscheinend jemanden wie Sophie gebraucht, damit dieses Wissen öffentlich gemacht werden konnte.

Der Typ Sophie ist somit sachlich, analytisch und bevorzugt Berufe, bei denen er möglichst wenig Kontakt mit anderen Menschen hat. Unter uns Ärzten sind es oft Wissenschaftler, Radiologen oder Chirurgen, die diesen Typ verkörpern. Ihre Schattenseiten fallen dort weniger ins Gewicht, auch wenn sie sich trotzdem bemerkbar machen: Kühle und Distanz. »Ich interessiere mich nicht für die Lebensgeschichte der Patienten, hatte Sophie einmal im Umkleideraum zu mir gesagt, »ich interessiere mich nur für die neurologische Symptomatik und die MRT-Bilder.« Im Grunde waren Patienten Arbeits- und allenfalls auch Übungsmaterial für sie.

In privaten Beziehungen fällt es dem Typ Sophie oft schwer, Nähe zuzulassen. Zu groß ist die Angst vor Bindung und der daraus resultierenden Abhängigkeit, welche sich für den Typ Sophie oft so anfühlt, als würde ihn der Partner überrennen. Er braucht viel Zeit für sich allein und viele Freiräume.

Mit jemandem zusammenzuziehen war für meine ehemalige Kollegin Sophie deshalb nie ein Thema gewesen. »Ich würde es niemals aushalten, wenn ständig jemand an mir kleben würde«, hatte sie einmal zu mir gesagt. »Was kommt denn dann als Nächstes? Gemeinsam in ein Einrichtungshaus fahren oder vielleicht sogar noch heiraten und sich damit komplett aufgeben? Ich könnte niemals die Frau von jemandem sein. Diese Symbiosen, dieses Miteinanderverschmelzen würde mir die Luft zum Atmen nehmen. Allein schon der Gedanke daran macht mich ganz krank.«

Der Typ Sophie fühlt sich frei und autonom und kann deshalb auch am besten von allen Menschen mit Einsamkeit umgehen. Schließlich ist es für ihn das Wichtigste, niemanden zu brauchen, von niemandem abhängig zu sein und alles allein zu schaffen.

An Gemeinschaft ist der Typ Sophie deshalb kaum interessiert und gängigen gesellschaftlichen Normen wie »Es ist üblich, dass …« steht er zynisch und ablehnend gegenüber. Er ist Einzelgänger, lebt zurückgezogen, verschanzt sich in seiner Freizeit oft tagelang zuhause und widmet sich am liebsten Büchern oder Musik.

Der Typ Sophie hat so auch eine gewisse Vorliebe für Anonymität. Er meidet kleine Buchgeschäfte, in denen ihn Verkäufer beobachten, um ihn im richtigen Moment anzusprechen. Da sind ihm große Filialen lieber, auch wenn er dort zehn Minuten lang einen Verkäufer suchen muss, wenn er dann doch einen braucht.

Als Arzt auf Kongressen oder Tagungen gehört der Typ Sophie zu denjenigen, die sich zu Mittag oder an den Abenden, wenn die anderen gemeinsam essen gehen oder etwas unternehmen, komplett zurückziehen. Denn meist versteht sich der Typ Sophie nur mit wenigen richtig gut und hat deshalb keine Lust auf große Runden. Es belastet ihn schon genug, bei solchen Gelegenheiten den ganzen Tag mit Kollegen verbringen zu müssen.

»Bei den Jahrestagungen der Neurochirurgen wäre es mir jedes Jahr das Liebste, ich könnte unsichtbar sein«, erzählte mir Sophie einmal. »Dann könnte ich mir in Ruhe die Vorträge anhören, ohne ständig Small Talk führen zu müssen. Dann könnte ich auch in Ruhe durchs Ausstellungsgelände gehen, ohne dass mich ständig Pharma-Vertreter anquatschen.«

Nach einem Kongress in München meinte sie: »Der beste Abend war der mit dem Abschiedsdinner. Da sind die ganzen neurochirurgischen Trotteln fein ausgegangen und ich konnte mich in aller Ruhe in ein gemütliches Wirtshaus setzen, ohne ständig eines dieser blöden Gesichter sehen zu müssen.«

Jemand hatte einmal von Sophie behauptet, sie würde Friseuren und Taxifahrern Trinkgeld fürs Schweigen geben. Ich konnte mir gut vorstellen, dass das stimmte.

Die guten Eigenschaften der inneren Sophie: Sie ist stark, unabhängig, direkt, realistisch, selbstständig, authentisch, hartnäckig und lässt sich nicht täuschen.

Die schlechten Eigenschaften der inneren Sophie: Sie ist distanziert, kühl, emotionslos, grob, unsensibel, wenig einfühlsam, abweisend und unnahbar.

Mit einer dominanten Sophie …

… haben wir den dringenden Wunsch, einmalige Einzelwesen und unverwechselbare Individuen zu sein. Wir versuchen, so unabhängig wie möglich zu sein und ja niemanden zu brauchen. Wir distanzieren uns gerne von unseren Mitmenschen, halten Abstand, vermeiden vertraute Nähe, haben Angst, uns zu öffnen, uns hinzugeben und sind misstrauisch und überaus rational. Nähe, Sympathie oder Zuneigung erleben wir leicht als Bedrohung.

Wir entwickeln das Bedürfnis, unverletzbar zu sein und unsere Gefühle kontrollieren zu müssen. Zu diesem Zweck legen wir uns eine Fassade zu, hinter die niemand mehr blicken kann. Von außen wirken wir distanziert, kühl und sachlich, aber allzu leicht auch schroff und seltsam. Kein Wunder, dass wir mit dieser Prägung leicht Singles bleiben.

Mit einer besonders schwach ausgeprägten Sophie in uns …

… haben wir Probleme damit, uns als unabhängig von anderen wahrzunehmen. Wir fühlen uns schnell einsam und sind am besten immer von vielen Menschen umgeben. Unsicherheit gegenüber unseren eigenen Gedanken und Überzeugungen führt dazu, dass wir uns stark an den Meinungen anderer orientieren.

In der Arbeit fragen wir häufig, wie genau eine bestimmte Tätigkeit gemacht werden sollte und ob wir auch alles richtig machen. Dies kann in anderen den Eindruck entstehen lassen, wir wären unsicher, unselbstständig oder sogar inkompetent.

In einer Beziehung zeigt sich ein ähnliches Muster. Wir haben es am liebsten, wenn unser Partner uns genau sagt, was wir machen sollen. Getrieben von unserer eigenen Unsicherheit und Unselbstständigkeit suchen wir die permanente Bestätigung des Partners und wären am liebsten zu jeder Zeit mit ihm zusammen.

Diese Faktoren können oft erdrückend für den Partner sein, da er das Gefühl haben kann, die Verantwortungs- und Entscheidungsgewalt auf seinen Schultern tragen zu müssen.

Die geteilte Seele

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