Читать книгу Die Dracheninsel - Irmela Nau - Страница 6
Kapitel 1
ОглавлениеVergnügt schlenderte Emily über das sonnenbeschienene Kopfsteinpflaster der Dorfstraße. Der morgendliche Nebel hatte sich schon aufgelöst und auf den wenigen Grashalmen, die sich hartnäckig zwischen den Steinen durchbohrten, Tautropfen zurückgelassen, die jetzt wie kleine Diamanten in der Morgensonne glitzerten. Emily war schon früh auf den Beinen gewesen, denn ihre Mutter hatte sie gebeten auf den umliegenden Wiesen und im nahegelegenen Wald Wiesenkräuter und Heilpflanzen zu sammeln. Nun trug sie in der einen Hand ihren reich gefüllten Weidenkorb und mit der anderen strich sie sich ihr langes Haar aus dem Gesicht. Neidische Blicke folgten ihr, aber das störte sie schon lange nicht mehr. Seit sie den Kinderschuhen entwachsen war, wurde sie von den anderen Mädchen beneidet und von den Müttern argwöhnisch begafft, denn sie war zu einer wunderschönen Frau herangewachsen. Emily fand sich gar nicht so umwerfend, aber wo immer sie auch hinkam, schauten ihr die Menschen hinterher. So auch heute. In ihrem einfachen dunkelgrünen Wollkleid, das ihre helle Hautfarbe noch unterstrich, und mit dem langen rotbraunen Haar, in dem der Wind spielte und die Sonne kupferne Lichtpunkte aufleuchten ließ, war sie einfach eine Augenweide. Ihre schmale Taille wurde durch eine einfache goldene Kordel noch betont, und ihr Rocksaum schwang im Takt ihrer federleichten Schritte. So mancher junge Bursche im Dorf träumte wohl davon sie zu erobern, doch Emily war noch nicht bereit, ihr Herz zu verschenken. Und so hielt sie ihre manchmal etwas zu aufdringlichen Verehrer mit intelligentem Witz und schlagfertigen Worten und wenn das nicht ausreichend war, auch schon mal mit einem kleinen Dolch auf Abstand. Ihre offensichtliche Weigerung auch nur einen zu erhören, schürte den Neid der anderen Mädchen nur noch mehr, denn sie wussten, dass die jungen Männer des Dorfes sich nur nach Emily sehnten und sie als Ersatz für unerfüllte Träume herhalten mussten.
Emily hatte es nicht eilig. Ihre Mutter hatte ihr ausdrücklich gesagt, sie solle sich Zeit nehmen beim Kräutersammeln, und Emily wusste genau, warum. Heute war ihr Geburtstag, und ihre Eltern planten gewiss eine Überraschung für sie. Ein glückliches Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie an ihre Eltern dachte. Denn obwohl es nur ihre Pflegeeltern waren, so liebte sie die beiden doch von ganzem Herzen, und sie sorgten für sie wie für ein leibliches Kind. Der einzige Wermutstropfen war, dass niemand etwas über ihre eigentliche Herkunft wusste.
Auch das machte Emily in den Augen der jungen Männer ungleich attraktiver, denn sie könnte ja vielleicht sogar eine Prinzessin aus einem anderen Land sein. In den Augen der Mädchen allerdings machte es sie zu einer Außenseiterin. Emilys Miene verdüsterte sich, als sie daran dachte, dass sie früher bei den Spielen der anderen immer ausgeschlossen worden war. Es hatte immer kleine unerklärliche Zwischenfälle in ihrer Gegenwart gegeben und die anderen Kinder mochten nichts mit ihr zu tun haben. So war sie nie ganz in die Dorfgemeinschaft aufgenommen worden. Und manchmal hatte sie sich gefragt, ob sie nicht doch nach ihren leiblichen Eltern suchen sollte, aber sie wollte nicht undankbar sein. Sie lebte mit ihren Zieheltern ein glückliches liebevolles Leben. Von ihrer Mutter lernte sie viel über Kräuter, die zur Heilung verwendet wurden, sowie die Zubereitung von Salben und Tränken, die Heilung, aber auch den Tod bringen konnten. Ihr Vater unterrichtete sie im Umgang mit Dolch und Schwert, doch auch in der Kunst des Lesens und des Schreibens, und natürlich sollte ihr auch der Umgang mit Pferden nicht fremd bleiben. So hatte Emily den ganzen Tag genug zu tun und keine Zeit für die albernen Spielchen und Tratschereien der anderen Mädchen, die nur sich selbst und den nächstbesten Jungen im Kopf hatten. Sie liebte ihr Leben, so wie es war.
Natürlich war Emily mittlerweile in einem Alter, in dem sie über das Heiraten nachdenken sollte, aber sie wollte erst wissen, wer sie war und woher sie kam, bevor sie sich einen Gemahl suchen würde. Sie musste leise lachen, als sie daran dachte, dass Maude, ihre Mutter, erst vor wenigen Tagen versucht hatte, mit ihr über Männer im Allgemeinen und über die Ehe im Besonderen zu reden. Auch der Name Robin war immer wieder gefallen. Robin war der Sohn des Schmieds und ganz nett, aber als Gemahl? Emily kicherte. Robin brachte doch keinen …
»Einen schönen guten Tag wünsche ich«, wurden ihre Gedanken von einer gehässigen Stimme unterbrochen und Emily fuhr herum.
»Ihr scheint ja heute besonders gut gelaunt zu sein.«
»Euch auch einen guten Tag, Leah«, grüßte Emily zurückhaltend. Wenn Leah sie freiwillig ansprach, dann konnte das kein gutes Zeichen sein. Sie beäugte das Mädchen, das langsam auf sie zugeschlendert kam misstrauisch. Das feuerrote Haar hing wie immer strähnig um ihr rundes Gesicht und ihr Kleid war so eng, das sich Emily darüber wunderte, das es nicht an den Nähten einfach auseinander platzte.
»Ich habe gehört, dass heute Euer Geburtstag ist. Stimmt das?«, fragte Leah mit einem merkwürdigen Unterton in der Stimme und blieb vor Emily stehen. Sie schielte zu Emily hoch, die sie um einen halben Kopf überragte.
Emily zog verwundert die Augenbrauen hoch.
»Ja, da habt Ihr wohl recht gehört. Ich habe heute Geburtstag.«
»Wenn das so ist, dann wünsche ich Euch alles Gute. Wie alt seid Ihr denn geworden? Neunzehn? Zwanzig?«
»Das ist sehr freundlich von Euch. Ich bin heute einundzwanzig geworden«, antwortete Emily misstrauisch. Hinter ihrer Stirn arbeitete es. Was mochte Leah nur von ihr wollen?
»Soso. Schon einundzwanzig. Es wird langsam Zeit, dass Ihr Euch einen Mann sucht, meint Ihr nicht auch?« Leah lachte spöttisch.
Das war es also. Emily fiel ein Stein vom Herzen.
»Ach wisst Ihr, ich bin, soviel ich weiß, ein Jahr jünger als Ihr. Ich denke, ich lasse Euch den Vortritt.«
Freundlich lächelte Emily das dralle Mädchen an. »Es wäre doch nicht schön, wenn ich noch vor Euch verheiratet wäre.«
Wütende Röte machte sich auf Leah‹s Gesicht breit. »Aber glaubt bloß nicht, dass Ihr Elric bekommt. Ich weiß, dass er Euch geküsst hat, aber das bedeutet gar nichts. Er gehört mir. Merkt Euch das!«
Emily wurde blass, aber sie bemühte sich ihre Stimme unter Kontrolle zu halten, als sie sprach: »Wie kommt Ihr nur darauf, dass ich mich für Elric interessieren könnte? Er war ein verzogener Bengel, als er von hier fortging, und er hat seinen Eltern immer nur Kummer bereitet. Soviel ich weiß, hat er sich nicht ein einziges Mal bei ihnen gemeldet. Mit so einem selbstsüchtigen Menschen möchte ich gar nichts zu tun haben. Und was den Kuss angeht: den hat er sich genommen, ohne dass ich es ihm gestattet habe. Ihr dürft ihn also gerne nehmen, wenn er denn jemals wieder hierher zurückkommen sollte.«
»Oh, keine Sorge. Er kommt zurück. Schon heute. Es ist ein großes Willkommensfest für ihn geplant, zu dem Ihr allerdings nicht geladen seid«, zischte Leah gehässig.
Emily schluckte den Kloß hinunter, der ihr den Hals zuschnüren wollte.
»Nun, so groß, wie Ihr zu meinen scheint, ist mein Kummer darüber nicht. Ich feiere lieber mit meinen Eltern meinen Geburtstag und überlasse es anderen, einem großtuerischen Wicht die Stiefel zu lecken.«
Damit trat Emily entschlossen an der wütenden Leah vorbei und ließ sie einfach stehen. Sie bemühte sich um einen gleichmäßigen und ruhigen Schritt. Niemand, besonders Leah nicht, sollte merken, dass ihre Gefühle in Aufruhr waren. Und doch zuckte sie zusammen, als Leah hinter ihr hasserfüllt schrie:
»Er gehört mir. Mir allein!«
Aufgewühlt, wie sie war, wollte Emily nicht nach Hause gehen. Stattdessen verließ sie das Dorf und lief über eine Wiese zum nahen Wald, wo sie einem Pfad folgte, der sich durch dichtes Gebüsch schlängelte und sie zu einer scheinbar undurchdringlichen Hecke aus Eldersträuchern führte. Emily schob zwei dicke Äste zur Seite, zwängte sich durch die so entstandene Lücke und stand nun auf einer kleinen Lichtung. Dort ließ sie sich ins weiche Moos sinken und versuchte sich zu beruhigen.
›So‹, dachte sie bitter. ›Elric kommt also wieder. Na wie schön für ihn. Ich hoffe nur, dass er mir aus dem Weg geht.‹
Elric war drei Jahre älter als sie, und sie erinnerte sich an ihn als einen großen schlaksigen Jungen, dessen Hände und Füße zu groß für den dünnen Körper schienen. Er war stolz gewesen, als der erste Bartflaum wuchs und lief damit herum, weil er glaubte, das würde ihn männlicher erscheinen lassen, aber Emily hatte es nur lächerlich gefunden. Er war mit neunzehn von zu Hause fortgegangen, um sich die Hörner abzustoßen und ein heldenhafter Krieger zu werden. So hatte er geprahlt, doch bevor er in die Welt hinauszog, hatte er ihr eine Zeitlang den Hof gemacht. Sie dagegen wollte einfach nichts mit ihm zu tun haben, aber so eingebildet, wie er war, wollte er das nicht akzeptieren und hatte ihr eines Tages im Wald aufgelauert und sie wild geküsst. Sie hatte sich verzweifelt gegen ihn gewehrt und ihm mit ihrem Dolch einen kleinen Schnitt auf der linken Wange zugefügt. Dafür hatte er sie brutal ins Gesicht geschlagen und sie dann alleingelassen. Da ihm die anderen Mädchen des Dorfes ständig hinterherliefen, hatte er von Emily das gleiche erwartet und bevor er das Dorf endgültig verlassen hatte, drohte er ihr, dass er sich bei seiner Rückkehr mehr von dem holen wollte, was ihm seiner Meinung nach zustand und was ihm die anderen nur zu gerne gaben. Elric war, wie man so sagte, eine gute Partie. Sein Vater war ein reicher Mann und hatte ein hohes Ansehen im Dorf, so dass man seinem Sohn selten etwas abschlug. Vor allem, weil viele der Dorfbewohner in Brot und Arbeit bei ihm waren. Doch Emily hatte nie eingesehen, dass sich Elric anscheinend alles erlauben konnte, und hatte sich widersetzt. Nur von diesem Vorfall hatte sie nie jemandem erzählt. Auch ihren Eltern nicht, denn sie wusste, dass ihr Vater Elric zur Rechenschaft ziehen würde und diese Demütigung wollte sie sich ersparen, denn der Übergriff war schon demütigend genug gewesen. ›Allerdings‹, sie nagte an ihrer Unterlippe, ›woher wusste Leah von dem Kuss? Niemand war dabei gewesen und sie hatte es niemandem gesagt.‹ Verdrossen rupfte sie Moos und Gras aus dem Boden. Leah’s Überlegungen waren ja geradezu lachhaft. Als ob sie mit diesem eingebildeten Schnösel etwas zu tun haben wollte. Sie stand auf, schüttelte Gras und Moos von ihrem Rock und beschloss, nicht mehr an Elric zu denken. Schließlich war er jetzt fünf Jahren fort gewesen und er hatte sie bestimmt schon längst vergessen. Jedenfalls hoffte sie das von ganzem Herzen.
Emily nahm Ihren Korb und machte sich eilig auf den Heimweg. Ihre Mutter würde sich bestimmt schon fragen, wo sie so lange blieb und unter keinen Umständen wollte sie ihr Kummer bereiten. Der schnelle Schritt half ihr sich zu beruhigen und so betrat sie beschwingt und mit klarem Kopf das kleine Haus ihrer Eltern. Sie stellte ihren Korb auf den einfachen Holztisch, der unter dem Fenster stand und an dem sie jeden Morgen ihr Frühstück einnahmen. Von dort hatten sie einen wunderbaren Ausblick auf die weiten Felder des Vaters und konnten während der ersten Mahlzeit des Tages die Sonne aufgehen sehen. Erwartungsvoll schaute sich Emily um. Doch die Stube war leer. Nicht nur leer, sondern es stand auch kein Kuchen auf dem Tisch oder eine kleine Überraschung, wie sie sie sonst an ihrem Geburtstag immer bekommen hatte. Vorsichtshalber schaute Emily in die Schlafstube ihrer Eltern, in ihre eigene und sogar in die kleine Kammer, wo die Vorräte lagerten. Doch ihre Eltern waren verschwunden. Ratlos stand Emily schließlich wieder in der Stube. Was war denn bloß los? Hinter ihr knarrte die Eingangstür und die massige Gestalt ihres Vaters füllte den Türrahmen.
»Da bist du ja endlich, Mädchen. Wir haben schon gedacht, du hättest den Weg nach Hause vergessen.« Mit gerunzelter Stirn blickte er seine Ziehtochter streng an. »Wir haben Probleme im Stall. Du solltest besser mitkommen und deiner Mutter zur Hand gehen.« Mit diesen geknurrten Worten drehte er sich um und ging zurück zum Stall. Verwirrt schüttelte Emily den Kopf. Was war denn das? Leichtfüßig eilte sie hinter ihrem Vater her und betrat die dämmerige Scheune.
Ihre Mutter stand liebevoll lächelnd vor einem fremden Pferd, und ihr Vater stand neben ihr und hielt ein längliches Paket in Händen.
Mit runden Augen starrte Emily ihre Eltern an.
»Du hast wohl geglaubt, wir hätten deinen Geburtstag vergessen, wie?«, lachte ihr Vater. »Schaut nur mal, Maude. Eure Tochter scheint ein wenig durcheinander zu sein.«
»Ach, nu lasst doch den Unsinn, Horace.« Emilys Mutter, eine kleine rundliche Frau, stieß ihrem Mann, der sie um gut anderthalb Köpfe überragte, den Ellenbogen in die Seite und kicherte. »Ihr verwirrt sie ja noch mehr. Komm, Emily«, sie ging auf Emily zu, nahm ihre Hand und zog sie zu dem Pferd.
»Hier ist dein Geburtstagsgeschenk. Dein Vater und ich dachten, du bist alt genug, um ein eigenes Pferd zu haben.«
Emily bestaunte die Fuchsstute, die vor ihr stand. Sie war größer und kräftiger als jede andere Stute, die sie jemals gesehen hatte, und doch hatte sie einen eleganten Körperbau. Temperamentvoll warf die Stute den Kopf hoch und schnaubte, wie zur Begrüßung. Emily lachte begeistert auf.
»So ein wunderschönes Tier. Womit hab ich das bloß verdient?«
Glückselig umarmte sie ihre Eltern und das Pferd.
»Warte«, unterbrach Horace ihre Dankbarkeitsbekundungen.
»Das ist noch nicht alles.« Er streckte ihr das Paket entgegen.
»Hier ist noch etwas. Es ist an der Zeit, dass du es endlich bekommst.«
Durch die seltsamen Worte ihres Vaters neugierig geworden, nahm Emily das Paket an sich und war erstaunt über das Gewicht, das sie plötzlich in Händen hielt. Sie legte es vor sich auf den Boden, riss das Papier auf und schlug das Tuch, welches darunter zum Vorschein gekommen war, vorsichtig zurück. Vor ihr lag ein Schwert. Dass es sehr wertvoll war, erkannte Emily sofort. Der Knauf bestand aus Gold, in das ein tiefroter Rubin in Form eines Drachens eingelegt war. Auf der Klinge war eine mysteriöse Inschrift in einer ihr unbekannten Sprache eingraviert. Sprachlos blickte Emily auf die Kostbarkeit in ihren Händen und dann zu ihren Eltern. Sie wusste, dass ihre Eltern nicht reich waren und sich niemals solch wertvolle Geschenke leisten konnten.
»Was soll das alles?«, stammelte sie. »Das ist doch viel zu kostbar für mich.«
»Nein, Emily. Das ist es nicht.« Horace zog seine Tochter vom Boden und hielt sie an den Händen fest. »Wir haben nur die Stute gekauft. Das Schwert gehört dir sowieso. Wie du weißt, haben wir dich als Baby im Wald gefunden. Nicht weit von der Lichtung, auf der du so gerne deine Zeit verbringst. Du warst in die Decke gewickelt, die du in deinem Zimmer aufbewahrst, und hast jämmerlich geweint, sonst hätten wir dich vermutlich gar nicht gefunden, und dieses Schwert lag neben dir. Deine Mutter und ich haben es vor dir versteckt, weil wir nicht sicher waren, was wir damit machen sollten. Aber jetzt haben wir uns dazu entschlossen, es dir zu geben und dich deine eigenen Entscheidungen treffen zu lassen. Es ist das Einzige, was dir helfen kann, etwas über deine Herkunft herauszufinden, und wir wissen, dass es dich sehr betrübt, nicht zu wissen, wer du wirklich bist.«
In Emilys Augen schwammen Tränen, als sie ihrem Vater um den Hals fiel. »Ich bin eure Tochter, das ist alles, was ich wissen muss.«
Verstohlen wischte sich Horace ebenfalls eine Träne aus den Augen und klopfte ihr beruhigend auf den Rücken.
»Ist ja gut, mein Kind.« Er schluckte den Kloß in seinem Hals herunter und räusperte sich. »So, und jetzt gehe mit deiner Mutter rüber in die Stube und decke den Kaffeetisch. Ich freue mich schon den ganzen Tag auf den Kuchen, den deine Mutter vor mir versteckt hat.«
Emily lachte unter Tränen. Hand in Hand mit ihrer Mutter eilte sie ins Haus, um dem Wunsch des Vaters nachzukommen, während er noch im Stall blieb.
Seufzend ließ Horace sich auf einen Ballen Heu sinken und starrte trübe auf seine Füße. Er und Maude hatten oft und lange darüber geredet, ob Emily das Schwert bekommen sollte. Die beiden hatten es bewusst vermieden, Nachforschungen darüber anzustellen, wer Emily ausgesetzt hatte. Sie hatten beide viel zu viel Angst davor, dass sie ihre Tochter verlieren könnten. Doch sie wussten auch, wie unglücklich Emily war, weil sie nichts über ihre Herkunft wusste und wenn ihr das Schwert dabei helfen konnte etwas herauszufinden, dann wollten sie ihr diese Chance nicht länger verwehren. Emily hatte ein Recht auf ihr Erbe und zu wissen, wer sie war. Deshalb hatten die beiden schweren Herzens entschieden, ihr das Schwert zu geben, wohl wissend, das sich Emily sehr wahrscheinlich aufmachen würde, um ihre Wurzeln aufzuspüren. Noch einmal seufzte er, schlug sich auf die Oberschenkel und stand auf, um den beiden Frauen ins Haus zu folgen. Köstlicher Duft von frischem Apfelkuchen und aufgebrühtem Kräutertee stieg ihm in die Nase und nachdem er sich an den nun festlich gedeckten Tisch gesetzt hatte, ließen sie es sich gut schmecken.
Emilys Blick fiel immer wieder auf das Schwert, das neben ihr auf der Bank lag. Verstohlen strich sie mit der Hand darüber, um sich davon zu überzeugen, dass es wirklich echt war. Doch als sie merkte, dass ihr Vater sie dabei beobachtete, ließ sie es sein. Aber ihre Gedanken kreisten unablässig um diesen wertvollen Gegenstand. Nicht nur wertvoll, weil er aus Gold und Edelsteinen bestand – nein – wertvoll vor allem, weil sie endlich etwas hatte, was sie mit einer bisher ungreifbaren Vergangenheit verband und ihr vielleicht helfen würde, etwas über sich herauszufinden.
Nach der gemütlichen Runde half Emily ihrer Mutter bei der Zubereitung des Nachtmahls. Zur Feier des Tages sollte ein Kaninchen gebraten werden, ein seltener Genuss, den Maude nur an ganz besonderen Tagen auf den Tisch brachte. Gegen Abend bat sie Emily frisches Wasser am Dorfbrunnen zu holen und so machte sie sich mit dem Wasserkübel auf den Weg zum Dorfplatz, wo der alte Brunnen stand.
Gedankenverloren füllte Emily ihren Eimer mit Wasser und wollte gerade wieder gehen, als sie aus der Gaststube lautes Gelächter hörte. ›Das ist wohl Elrics Fest‹, dachte sie und wollte weiter. Doch sie war trotz allem ein wenig neugierig und schließlich konnte es auch nicht schaden, einen kurzen Blick auf Elric zu werfen. Natürlich nur, um zu erfahren, wie der Feind nun aussah. Sie schlich zu einem der hell erleuchteten Fenster und blickte verstohlen in den Gastraum. Am Schanktisch stand ein großer, kräftiger, junger Mann mit einem Krug Ale in der Hand und schien seinen begeisterten Zuhörern eine tolle Geschichte zu erzählen, denn alle hingen wie gebannt an seinen Lippen.
›Oh Gott … war das … konnte es sein, dass … ‹ Emily schluckte schwer und presste sich dicht an die Mauer zwischen zwei Fenstern. Wenn dieser Berg von einem Mann wirklich Elric war, dann hatten ihn die letzten fünf Jahre völlig verändert. Nichts erinnerte noch an den dünnen, flaumbehaarten linkischen Jüngling, den sie im Gedächtnis hatte. Sie warf erneut einen vorsichtigen Blick durchs Fenster. Ein helles Leinenhemd umspannte einen mächtigen Brustkorb, breite Schultern und muskelbepackte Arme. Die kräftigen Beine steckten in engen rehfarbenen Hosen und hohen schwarzen Stiefeln. Sein kastanienbraunes Haar fiel ihm bis auf die Schultern und Bartstoppeln malten dunkle Schatten auf sein markantes Gesicht. Die Augen strahlten eine Härte aus, die sie früher nicht hatten. Seine gesamte Statur zeugte von Kraft und ihn umgab eine Aura von Gefahr, die Emily schaudern ließ. Sollte er es sich in den Kopf gesetzt haben, sie wirklich noch einmal zu bedrängen, hätte sie nichts dagegenzusetzen. Über ihren Dolch würde er wahrscheinlich nur noch lächeln. Während sie ihn weiter anstarrte, drang lautes Gegröle aus der leicht geöffneten Tür der Gaststube. Sie spitzte die Ohren und wurde blass, als sie ihren Namen hörte. Elric prahlte damit, dass er sie am nächsten Tag besuchen wolle und sich dann mehr als nur einen Kuss holen würde.
Emily hatte mehr als genug gehört. Voll Entsetzen schnappte sie sich den Wassereimer und rannte zurück nach Hause. Elric würde also seine Drohung wahr machen. Wenn er sich auch körperlich stark verändert hatte, dann doch nicht im Geiste. Am ganzen Körper zitternd blieb sie vor dem Haus ihrer Eltern stehen. So aufgelöst konnte sie ihnen unmöglich unter die Augen treten. Natürlich würden sie wissen wollen, was geschehen war, aber das konnte sie einfach nicht erzählen. Ihre Eltern würden fragen, warum sie nicht schon vor Elrics Weggang etwas gesagt hatte und Horace würde sich mächtig aufregen. Er konnte sehr jähzornig werden, aber Emily wollte keinen Ärger. Schon gar nicht, wenn es um ihre Person ging. Auch hatte sie Angst, Elric könnte ihren Vater verletzen, wenn die beiden aneinandergerieten. Krampfhaft versuchte sie sich zu beruhigen. Was sollte sie bloß tun? Schwere Schritte, die sich von Innen der Eingangstür näherten, riss sie aus ihren Gedanken. Während Horace die Tür öffnete und Maude über die Schulter zurief: »Ich schau nur mal, wo sie bleibt«, hatte Emily Zeit, tief durchzuatmen und ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern.
»Was ist heute los mit dir, Emily?«, dröhnte Horace, als er ihrer gewahr wurde. »Beeil dich. Das Essen steht schon längst auf dem Tisch.«
Geschwind schlüpfte Emily an ihm vorbei und beeilte sich, das Wasser aus dem Eimer in einen Krug zu schütten und auf den Tisch zu stellen.
Gemütlich schmausend erzählten sie sich viele kleine Begebenheiten aus Emilys Leben. Das war bei ihnen schon längst Tradition geworden – immer wenn einer Geburtstag hatte, wurde sich zurückerinnert. Maude schwelgte in Erinnerungen: »Emily war immer ein liebes Mädchen. Wisst Ihr noch Horace. Nie kam sie schmutzig vom Spielen nach Hause …«
Emily hörte nur mit einem Ohr zu. Das, was ihre Mutter erzählte stimmte. Sie war wirklich nie verschmutzt nach Hause gekommen, aber das lag nicht daran, dass sie so artig gewesen wäre, sondern vielmehr, das die anderen Kinder sie nie hatten mitspielen lassen. Manchmal hätte sie alles gegeben, sich mit Matsch zu beschmieren, wenn sie an den Vergnügungen der anderen hätte teilnehmen dürfen. Doch davon wussten ihre Eltern nichts. Für einen Moment lauschte sie wieder den Erzählungen ihrer Mutter und bemühte sich um eine heitere Miene, doch hinter ihrer Stirn tobte ein wahrer Sturm. Was sollte sie nur tun? Sie wusste nun, dass Elric seine Drohung nicht vergessen hatte und sie wusste auch, dass er sehr unbeherrscht sein konnte, wenn er nicht bekam, was er wollte. Um ihre Eltern und sich selbst zu schützen, blieb ihr nur ein Ausweg – sie musste das Dorf verlassen. Nur wie sie das bewerkstelligen sollte, wusste sie noch nicht. Ihr Blick fiel auf das Schwert, das immer noch auf der Sitzbank lag und plötzlich hatte sie die rettende Idee. Sie konnte ihr Verlangen, etwas über sich herauszufinden vorschieben und musste vielleicht gar nichts von Elric erzählen.
»He Mädchen. Träumst Du?«, wurden ihre Gedanken von der tiefen Stimme ihres Vaters unterbrochen. »Du musst noch die Pferde versorgen, bevor du dich schlafen legst. Ich bin zu müde.« Horace stemmte sich in die Höhe und gähnte ausgiebig.
»Vater, Mutter …«, begann Emily mit zittriger Stimme. »Hört mich bitte an.«
Horace setzte sich wieder und schaute seine Tochter erwartungsvoll an. Auch Maude richtete sich ein wenig auf, eine leise ungute Ahnung beschlich sie.
»Ihr habt immer gut für mich gesorgt und ich glaube ganz fest, dass keine Tochter so sehr von ihren Eltern geliebt wurde wie ich von Euch. Aber ihr habt mir heute etwas gegeben …«, sie nahm das Schwert und legte es vor sich auf den Tisch.
»Ihr habt mir dieses Schwert gegeben und so schwer es mir auch fallen mag von Euch fortzugehen, glaube ich, ist es an der Zeit und mir kommt das Schwert wie ein Zeichen vor, mich auf die Suche nach meinen Wurzeln zu begeben. Ich will nicht undankbar erscheinen, aber ihr habt immer gewusst, wie wichtig mir das ist zu erfahren, wer ich wirklich bin.« Emily schluckte, hielt ihren Blick starr auf das vor ihr liegende Schwert gerichtet und wartete auf eine Reaktion ihrer Eltern. So entging ihr der Blick, den sich Horace und Maude zuwarfen. Sie hatten damit gerechnet, aber insgeheim gehofft, es würde sich noch hinauszögern. Dass Emily schon bald würde aufbrechen wollen …
Horace räusperte sich. »Nun Tochter …« Er räusperte sich noch einmal, um den Kloß in seinem Hals loszuwerden. »Deine Mutter und ich haben natürlich schon darüber gesprochen, dass du dich auf die Suche nach deiner Herkunft machen wirst, sobald du irgendeinen Anhaltspunkt für deine Suche bekommst. Das Schwert scheint das für dich zu sein und wir akzeptieren deine Entscheidung, wenn es uns auch sehr, sehr schwer fällt, dich gehen zu lassen …«
Er verstummte und ergriff die Hand seiner Frau. Maude nickte nur stumm, während ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Emily sprang auf und umarmte ihre Eltern verzweifelt. Sie wusste, wie weh sie ihnen tat, aber sie hatte begonnen und musste es nun auch zu Ende führen.
»Ich habe Euch so lieb«, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme. »Aber ich muss gehen – noch heute.« Sie rannte aus dem Haus und lief in den Stall, um zu tun, was sie tun musste. Sie versorgte den alten Gaul, den sie für die Feldarbeit brauchten und den großen, schwarzen Hengst ihres Vaters mit Heu und frischem Wasser. Ihrer eigenen Stute legte sie nach dem Füttern Zaumzeug an und sattelte sie. So brauchte sie nur noch einmal ins Haus zurück, um ihre Sachen zu holen und konnte dann ohne weitere Verzögerung aufbrechen.
Tief in ihre Arbeit versunken und sich immer wieder die Tränen abwischend, hört sie das leise Knarren der Stalltüre nicht. Sie schrak erst auf, als ein Schatten über ihre Hände fiel. Hinter ihr stand Horace. Er hielt ihr das Schwert und einen Beutel hin.
»Hier. Das wirst du brauchen. Deine Mutter und ich dachten uns zwar, dass du uns irgendwann verlassen würdest, aber nicht, dass es so überstürzt sein würde. Auf jeden Fall solltest du nicht ohne vernünftige Kleidung und Proviant gehen. Deshalb hat deine Mutter schnell etwas eingepackt. Es sind auch einige Kräuter dabei. Und das …«, er wühlte ein wenig in dem Beutel herum und zog seinen eigenen Schwertgurt heraus, »… wirst du auch gut gebrauchen können. Wie du mit einem Schwert umzugehen hast, weißt du ja. Deine Mutter kommt nicht, um sich zu verabschieden, denn sie weint zu sehr und sie sagt, du kommst eines Tages wieder zurück. Aber sie gibt dir ihren Segen. Und meinen bekommst du natürlich auch.« Tränen trübten die grauen Augen, die sonst klar unter den dichten Augenbrauen funkelten. »Warum auch immer du nun so plötzlich von uns fort willst, es muss sehr wichtig für dich sein«
Er nahm die nun heftig schluchzende Emily noch einmal kräftig in die Arme und hob sie dann in den Sattel. »Leb wohl, Kind. Und komm gesund wieder. Das ist alles, was ich von dir verlange.« Horace schlug der Stute auf die Seite und sie jagte mit Emily in die Nacht hinaus.