Читать книгу Glückliches Ende - Isaac Rosa - Страница 8

Epilog

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Wir wollten zusammen alt werden. Ich sage es laut, um mich zu hören, und merke, wie melodramatisch es klingt: Wir wollten zusammen alt werden. Ich wiederhole es mit mehr Nachdruck, lasse es durchs leere Schlafzimmer hallen: Wir wollten zusammen alt werden! Ich versuche es mit einem Lächeln, wie ein Werbeanrufer am Telefon: Wir wollten zusammen alt werden. Nichts. Es klingt immer noch pompös. Jetzt eher theatralisch, ein Knie auf dem Boden, Totenkopf in der Hand, mit dramatischen Pausen. Wir. Wollten. Zusammen. Alt werden. Ich breite die Arme aus, fülle die Lunge wie ein Tenor, das Orchester hebt an, das Publikum erzittert, Klirren im großen Kronleuchter über dem Parkett: Wir wooollten zusaaaammen alt weeeeeeeerden. Tot sinke ich auf die Bühnenbretter, der Vorhang fällt, Applaus, Schluchzer. Ich tippe den Satz ins Handy, brauche mehrere Anläufe: Wir wollt, nein, löschen. Wir wollten zus, nein, wieder löschen. Wir wollten zusammen alt werden. Ein paar Sekunden lang betrachte ich die Worte, die selbst auf dem grellen Bildschirm noch hochtrabend wirken, ich lösche sie wieder, sperre das Telefon, ich gehe ins Wohnzimmer, setze mich auf das Wackelsofa, das einzige in der Wohnung verbliebene Möbelstück. Ich wippe ein paar Mal, lasse es auf dem Parkett klackern. Nächster Versuch: Wir wollten zusammen alt werden. Ich lese es einmal, zweimal. Gehe in meine Kontakte, wähle deinen Namen aus, er ist immer noch der erste, der, den die Leute vom Rettungsdienst anrufen würden, wenn ich irgendwo tot aufgefunden würde. Ein letzter Blick auf den Text, und ich schicke die Nachricht ab. Fertig. In der leeren Wohnung weicht mein Körper Möbeln aus, die nicht mehr da sind. An den Wänden die schmutzig grauen Umrisse von Regalen und Schränken, Fotos und Postern, ich sehe sie noch an jedem einzelnen Haken. Überall bemerke ich Flecken, Filzstiftgekritzel, Kratzer auf dem Holzfußboden, schwarze Abdrücke um die Lichtschalter, ich sehe den kaputt gehämmerten Türknauf, wo einmal eine Tür klemmte. Ich könnte zu jeder dieser Lebensspuren etwas sagen und ihr ein Datum zuordnen. Du hast mich ausgelacht, wenn ich sie so nannte: Lebensspuren. Gespenstische Überbleibsel, die unter dem Pinsel und Schwamm des Nachmieters verschwinden werden. Im Schlafzimmer zum Beispiel, über dem hellen Umriss, den das Kopfteil des Betts hinterlassen hat, ist rechts ein rätselhaftes Bélmez-Gesicht zu bewundern: der Abdruck, den deine Füße an der Wand hinterlassen haben, nachdem du über ein Jahrzehnt lang vor dem Schlafengehen die Beine ein paar Minuten hochgestellt hast, zur besseren Durchblutung. Die Kerben in einem Türrahmen, die das Wachstum der Mädchen anzeigen. Ich streiche mit den Fingern darüber wie über die Tasten eines Klaviers, liebkose jede Kerbe, lese das Datum und die Initialen ab. Ich liebkose und betrachte sie, auch wenn mir dabei unweigerlich einfällt, dass ich mich früher über derlei Gefühlsduseleien immer lustig gemacht habe, aber gerade kann ich meine Trauer nur dadurch äußern, dass ich gerührt über den bunten Türrahmen streiche. Denn auch wenn du es nicht glaubst, auch wenn ich vorhin in dem leeren Schlafzimmer den Clown gespielt habe, bin ich doch traurig. Mehr als traurig. Deshalb habe ich dir diese Nachricht geschickt, deshalb schrecke ich auf, als der Klingelton deine Antwort ankündigt, und ich lese sie ungeduldig, auch wenn ich fürchte, dass sie spät kommt, sehr spät.

Natürlich kommt sie spät. Du hättest mir deine Nachricht gestern schicken können. Ich habe ständig aufs Telefon geschaut, bis die vier Männer vor der Tür standen, die die Wohnung dann in wenigen Stunden leer geräumt hatten, eifrig wie Termiten. Du hättest sie sehen sollen. Sie haben die Bücher eingepackt, unsere Kleider in Pappschränke gehängt, die Schubladen geleert, ein gespenstisches Treiben um mich herum, als würden sie mich nicht sehen. Das Stockbett der Mädchen, das du damals so mühsam aufgestellt hast, hatten sie in Minutenschnelle abgebaut. Wie Diebe liefen sie die drei Stockwerke runter, mit den Matratzen, dem Kühlschrank, der Waschmaschine. Stück für Stück wurden Teller und Gläser eingewickelt, Töpfe und Schüsseln ineinandergesteckt wie Matrjoschkas. Der Teppich wurde zusammengerollt, Bilder und Fotos abgehängt und stoßsicher verpackt. Was noch? Eine Lampe abzuschrauben dauerte bei ihnen so lange, wie du brauchen würdest, um diesen Satz zu sprechen. Sie stapelten Stühle, rollten die alte Kabeltrommel weg, die uns als Tisch gedient hatte. Sie schichteten Kartons in den Aufzug, klammheimlich, du weißt ja, was der Hausmeister für einen Stress macht. Ich sah sie durchs Fenster, es war wie im Zeitraffer, Figuren aus einem Chaplinfilm, die Möbel und Kartons in dem Lkw auftürmten, ich hatte ihn ja für zu klein gehalten, um eine ganze Wohnung aufzunehmen, all diesen Kram aus dreizehn Jahren. Aber von wegen, es blieb Platz genug, um säckeweise Winterkleidung aus dem Abstellraum zu bergen, drei Fahrräder, die alte Wiege, keine Ahnung, wozu ich die mitnehme. Fünf Stunden, und es war nichts mehr da. Also, bis auf das Wackelsofa. Wie ein Sturmwind, der die Fenster aufreißt und im Wohnzimmer einen Strudel bildet, in dem sich Möbel, Bücher und aufgewirbelte Kleidungsstücke drehen, und dann verschwinden sie zum Balkon hinaus und steigen zum Himmel auf. Oder wie eine Lawine: Sicher wäre dir das Bild eines Erdrutschs lieber, die Zunge aus Schlamm, die langsam den Berg hinabgleitet, Türen eindrückt, Möbel gegen die hinterste Wand schiebt, bis diese unter der Last einstürzt. Wie lieben wir doch Metaphern, was für eine beschissene Angewohnheit, alles, was uns widerfährt, muss zur Katastrophenmetapher werden, ein ganz normaler Umzug, eine Trennung wie so viele andere, eine Liebe, die vorbei ist, fertig, aus. Nach fünf Stunden waren in der Wohnung nur noch zerfetztes Verpackungsmaterial, lose Schrauben, eine vergessene Wandgarderobe, das Sofa. Und Dreck, viel Dreck. Du glaubst gar nicht, wie viel Dreck sich über die Jahre ansammelt, auch wenn man jede Woche putzt. Hinter jedem beiseitegerückten Möbelstück kam Abhandengekommenes zum Vorschein, Dinge, die wir verloren gegeben und vergessen hatten: ein einzelner Ohrring, Bleistifte, Spielfiguren, von den Mädchen gemalte Bilder, der Schlüssel, wegen dem wir damals diesen Streit hatten und das Schloss austauschen mussten. Aber auch Brotkrümel, Keksstückchen, mumifiziertes Obst. Papierschnipsel, zu Staub zerfallende Kakerlaken und Motten. Und Fusseln, ein Abgrund von Fusseln, genährt von mehreren Jahrgängen abgestorbener Haare, Schuppen, Nägel, von Wundschorf und geschälter Haut am Ende jedes Sommers, das alles gehört nun in einer anderen Wohnung ersetzt, der Wohnung, zu der sich der Lkw aufmachte, als die letzte Lampe untergebracht war. Fahren Sie schon mal los, ich komme gleich nach, sagte ich den Umzugshelfern und fuhr ein letztes Mal nach oben. Und während ich durch die leeren Zimmer ging, sah ich aufs Handy, vielleicht war ja eine dringende Nachricht eingegangen, kurz vor Toresschluss, in letzter Minute, die Vollstreckung wurde ausgesetzt, brechen Sie die Mission ab, halten Sie den Lkw an, warten Sie, holen Sie die Sachen wieder raus und stellen Sie alles zurück an seinen Platz, falscher Alarm. Aber nein.

Nein, gestern habe ich dir die Nachricht nicht geschickt, aber letzte Woche war ich nah dran, an dem Nachmittag, als ich all die persönlichen Dinge wegräumte, die wir nicht der Umzugsfirma überlassen wollten, die Kisten hatte ich mir in den Geschäften im Viertel erbettelt. Ich habe alles zusammengepackt, für den Tag, an dem es uns nicht mehr so schmerzt und wir die Sachen aufteilen können: Nippes aus den Regalen, Handarbeiten aus der Schule, Schächtelchen mit Milchzähnen und Nabelschnüren, der Schwangerschaftstest von Ana, eine rostige Patronenhülse, Weinflaschen, die noch auf eine besondere Gelegenheit warteten, Erotikspielzeug aus der hintersten Ecke einer Schublade. Den cuornuciello, unser Glückshorn aus Neapel. Ein Schild aus dem Hotel mit der Aufschrift Bitte nicht stören. Das vergilbte Programm eines Kongresses von vor dreizehn Jahren. Fotos, viele gerahmte Fotos, die über die ganze Wohnung verteilt waren. Fotos von uns in verschiedenen Lebensphasen, Fotos von Hochzeiten, von unseren Töchtern direkt nach der Geburt, von Geburtstagen und Urlauben. Das sepiafarbene Bild eines jungen Mannes im Zweireiher, das Haar glänzend, im Blick der frühe Tod. Die Hefte zu den Mädchen, die Chronik ihrer Leben seit der Geburt, die ich künftig allein weiterschreiben werde. Und Unterlagen, das pralle häusliche Archiv von Rechnungen, Verträgen, Arztberichten und Steuererklärungen, die auch von uns erzählen. Eine Schachtel von dir, die ich lieber nicht aufmachen wollte: ein Schuhkarton voll mit handgeschriebenen Briefen, wir könnten sie direkt an das Museum der Zerbrochenen Beziehungen schicken, damit sie dort gerahmt und von gerührten oder belustigten Touristen gelesen und fotografiert werden, außerdem dieser ganze sentimentale Plunder, den wir einfach nicht wegwerfen können: Postkarten, Stadtpläne, Konzerttickets, abgegriffene Mutter- oder Vatertagsgeschenke, gebrauchte Geburtstagskerzen, Trockenblumen, Steine und Muscheln vom Strand. All diese häuslichen Schätze, die eine Familie in einem guten Jahrzehnt ansammelt. All diese Dinge, die wir, wenn wir auswandern, wenn ein geliebter Mensch stirbt, oder wie jetzt, bei einer Trennung, betrübt betrachten und deren Geschichte wir dann noch einmal durchleben müssen. Manche Leute schreiben sogar Romane, deren Ausgangspunkt dieser bange Augenblick ist, in dem wir die Kiste mit den Familienerinnerungen öffnen. Schlechte Romane. Dieser ganze Krempel, irgendwann werden ihn die zu Waisen gewordenen Kinder, die Polizisten bei der Zwangsräumung, die Rettungsmannschaften nach einer Gasexplosion, die zum Kilopreis einkaufenden Trödler, die Einbrecher oder, in ein paar Monaten, sogar wir selbst in einen Container werfen, und dann ist Schluss.

Fast hätte ja ich alles weggeschmissen, bei meiner eigenen Säuberungsaktion ein paar Tage vor deiner sentimentalen Packerei und ohne so viele Bedenken: sechs Müllsäcke voller Zeug, eingesammelt von einem Zimmer zum nächsten, das nehme ich doch nicht alles mit in eine kleinere Wohnung. Dann stand ich vor den Containern, die Sachen fein säuberlich getrennt, mit norjdeuropäischem Bürgersinn: auf der einen Seite das Papier, all die Zeitschriften, die du seit Jahren aufbewahrt hattest, weil darin ein Artikel von dir abgedruckt war. Zerfledderte Märchenbücher, ausgeschnittene Kochrezepte. Eine vollständige Themenliste für meine Staatsprüfung, Hefte und Arbeitsblätter von der Kinderkrippe aufwärts, meine Güte, kann man denn nie etwas wegwerfen. Noch mehr Papierkram: Planzeichnungen, Entwürfe für den Umbau des Hauses, der nicht mehr stattfinden wird. Eine Mappe mit Dutzenden von Weinetiketten, die wir über Jahre hinweg abgelöst und aufbewahrt hatten, um damit die Wände eines Weinkellers zu tapezieren. Die fünfzehnbändige Enzyklopädie, die du aus der Wohnung deiner Ex mitgebracht hattest, aufgeschlagen hast du sie meines Wissens nie. Und ein Dutzend Moleskine-Kladden; tut mir leid, aber die habe ich alle weggeworfen, ohne dich zu fragen. Es war einfach der falsche Moment, und ich fand die Vorstellung schrecklich, über Monate darin zu lesen und herumzuflennen wie eine Blöde. In einem zweiten Sack das Plastik: kaputtes Spielzeug, abgenutzte Küchenutensilien, das Campinggeschirr, tja, vielleicht hättest du es ja haben wollen, Scheidungsväter stehen doch so auf Camping in den ersten Jahren. Die Flaschen in den grünen Container: Parfümflakons, ausländische Biere von jeder deiner Reisen, die Likörflasche, die sechs Jahre darauf gewartet hat, als originelle Lampe wiedergeboren zu werden. Einmachgläser mit gefärbtem Salz, Sand von diversen Stränden, Reste von naturwissenschaftlichen Experimenten, nicht mehr identifizierbare Substanzen, zerfallen, nur noch Dreck. Das alles habe ich ausgeleert und hinter dem Rücken unserer zwei Diogenestöchter weggepackt, und während sie mit dir eine Kleinigkeit essen waren, habe ich einen weiteren Sack mit Technikschrott aus diversen Schubladen gefüllt. Dann hatte ich noch die Kraft, bestimmt den halben Inhalt unserer Kleiderschränke in den am Ende berstend vollen Altkleidercontainer zu stopfen, beim Umzug in eine neue Wohnung und ein neues Leben soll man ja die Chance zum Ausmisten nutzen. Alte Klamotten wegzuwerfen ist ein billiges Mittel, die Vergangenheit auszutreiben, das habe ich mal auf irgendeiner bekloppten Website gelesen, die Trauernde mit Ratschlägen versorgt, und ich hätte alles liebend gern zu einem Scheiterhaufen aufgeschichtet und im Hof verbrannt. Ich hätte weitere Tüten gefüllt und Fahrten zur Sammelstelle unternommen, bis die Wohnung leer und kein Umzug mehr nötig gewesen wäre. Am liebsten hätte ich mit allem kurzen Prozess gemacht, wäre durch die Zimmer gegangen und hätte ohne sentimentale Anwandlungen Schubladen ausgekippt und Bücherregale leer gefegt, weg mit den vollgepfropften Hochschränken, den Möbeln, von denen beim Umzug sicher ein paar Schrauben verloren gehen, und dann kann ich sie nicht wieder aufbauen, den zerschlissenen Teppichen und Lampen voll toter Insekten, mit den Matratzen, Türen, Fenstern, die ganze Wohnung hätte ich in einen großen Sack gestopft und zu der verdammten Sammelstelle gebracht, bis am Ende nur ich noch übrig geblieben wäre, um mich herum Leere wie im Schlussbild eines Comics. Mir ging es in diesem Moment so beschissen, dass ich sogar selbst in einen gelben Sack gestiegen wäre, den hätte ich dann mit einem Doppelknoten verschnürt und mich darin in den Hauseingang gelegt: eine halb erstickte Houdini, bis ich den Lkw gehört und den Atem angehalten hätte, damit zwei Müllmänner mich ächzend hochhieven und in die Presse werfen.

Vor deinem Recyclingrausch gerettet habe ich das wenige, das ich bereits an einem früheren Nachmittag mitgenommen hatte, als ich in die Wohnung kam, die ich damals immer noch als mein Zuhause ansah, und sagte: Hallo, ich komme meine Sachen holen. Nimm mit, was du willst, hast du mir schlecht gelaunt hingeworfen, nimm mit, was du willst, und verschon mich mit Fragen. Ich sagte, ich würde ganz wenig mitnehmen, bei meiner Mutter sei ja kaum Platz, und außerdem wäre es mir lieber, du würdest unsere gemeinsamen Dinge in der Wohnung aufbewahren, die das Zuhause unserer Töchter wird. Es ist alles für sie, sagte ich, und du hast mich mit diesen zusammengepressten Lippen angesehen, so typisch für dich, und dir vermutlich eine sarkastische Antwort verkniffen: Alles für sie? Oh, danke, unser großer Familienbesitz, IKEA-Möbel, altersschwache Haushaltsgeräte, Taschenbücher, Billigkram, alles für sie, danke. Du bist mit den Mädchen in den Park gegangen, und ich habe meine Sachen eingepackt, und glaub mir, es war kein Spaß. Beim Erzählen mag es jetzt lächerlich klingen, und in ein paar Monaten kann ich bestimmt darüber lachen, aber es gab mehrere Momente, in denen ich weinen musste. Ich sage das nicht, um dein Mitleid zu erregen, ich habe wirklich geweint. Beim Durchblättern der Hefte, die du dann später weggeworfen hast. Beim Wühlen in einem Oberschrank, als auf einmal deine Schwangerschaftshose zum Vorschein kam. Als hinter den Socken das Album auftauchte, die Fotos von unserer heimlichen Hochzeit.

Du hattest feuchte Augen, als ich ankam, ja. Aber ich dachte, das sei nur Theater, ich hatte dich von der Straße aus gesehen: deine Silhouette vor dem hell erleuchteten Hintergrund, du sahst aus dem Fenster, hast auf mich gewartet; aber als ich reinkam, warst du vor Überraschung wie festgefroren, in einer zweifellos einstudierten Pose: im Wohnzimmer vor dem Regal, mit einem gerahmten Foto in der Hand und einem Gesicht wie ein ausgesetzter Hund. Was für ein Idiot, dachte ich. Als ich deine zwei Koffer sah, die Carrefour-Tüten und den Einkaufswagen, war ich froh, die Mädchen bei meiner Mutter gelassen zu haben. So blieb ihnen das jämmerliche Bild erspart, wie ihr Vater ein Wägelchen mit Carrefour-Tüten zur U-Bahn schiebt. Entschuldige, hast du gesagt, ich bin gleich fertig, sag mal, willst du dieses Foto haben, sonst würde ich es mitnehmen. Ich habe nicht mal hingeschaut: Kannst du haben, nimm alles, was du willst. Dann saßest du auf einmal auf dem Sofa, auf der Seite, wo es wackelt, weil das Bein kaputt ist. Das Sofa nimmst du am besten auch mit, sagte ich, ich werfe es sonst weg. Warum willst du es wegwerfen? Weil es kaputt ist. Du hast gelächelt und ein bisschen gekippelt, um das Sofa zum Wackeln zu bringen: Weiß ich doch. Wirf’s nicht weg, ich behalte es, lass es einfach hier, ich hole es ab, sobald ich kann. Dann hast du ein paar Mal auf die Sitzfläche geklopft: Setz dich doch kurz zu mir. Ich schüttelte den Kopf, du gabst nicht nach: Na, komm schon, vielleicht ist es das letzte Mal, dass wir uns zusammen hier hinsetzen können, bitte. Und um mir das nicht länger anhören zu müssen und dich so schnell wie möglich wieder loszuwerden, setzte ich mich schnaubend ans andere Ende des Sofas, das zu schaukeln begann wie eine Wippe. Du bist ein Stück näher gerückt und hast leise gefragt: Darf ich dich in den Arm nehmen? Und als ich nicht antwortete, nahmst du das als stillschweigendes Einverständnis, und schon lag dein Arm um meine Schultern.

Seit zehn Tagen hatten wir nicht mehr auf diesem Sofa gesessen: seit dem Vormittag, den du dir freigenommen hattest, die Kinder waren in der Schule, um in Ruhe über alles Anstehende zu reden. Da saßen wir dann an diesem Freitag im November um halb zehn auf dem Wackelsofa, um uns herum eine muffige Stille wie in einem Wartesaal. Wie im Wartesaal eines Gerichts, sagte ich scherzhaft, du warst gleich wieder genervt, vielleicht war es ja keine gute Idee, diese alte, Jahre zurückliegende Erinnerung an einen Wartesaal wachzurufen, der sich damals tatsächlich in einem Gericht befand. Doch die Erwähnung hatte durchaus ihren Sinn, schließlich saßen wir nun auch zusammen, um uns zu verständigen, uns nicht wehzutun, um zu einer guten Einigung zu kommen, zu einer Mindestregelung, und um zu vermeiden, dass alles verquer und hässlich wurde und wir in ein paar Monaten stumm, verstört und wütend im Wartesaal des Familiengerichts saßen, in Begleitung unserer jeweiligen Rechtsbeistände in zerschlissenen Talaren. Aber eigentlich ließ sich der Vormittag gut an: Wir waren uns einig, dass wir uns beide um die Kinder kümmern würden, auch wenn wir noch keine konkrete Vorstellung von der praktischen Umsetzung hatten: Du warst dagegen, dass die Kinder abwechselnd bei dir und bei mir oder wir alle in einer Wohnung wohnen würden, wolltest sie lieber bei dir haben, aber ich könnte sie täglich sehen, ohne eine feste Regelung oder Beschränkung. Wir notierten in einem Heft ein paar Grundregeln für den Fall von Unstimmigkeiten bei der Zeitaufteilung, der Organisation von Ferien, Geburtstagen, Familienfesten, bei medizinischen und schulischen Fragen, diese ganze spannungsgeladene Zwischenkriegsdiplomatie, die Paare mit Kindern betreiben müssen, wenn sie sich trennen. Beim Finanziellen lagen wir auch nicht so weit auseinander, du erinnerst dich vielleicht: Das Sparbuch wollten wir auflösen, das Auto uns weiterhin teilen, die Möbel kämen in die Wohnung, in der du mit den Mädchen wohnen würdest und wo ich meine Wochenenden mit ihnen verbringen wollte, aber bei diesem Punkt waren wir uneins, weshalb wir ihn auf später verschoben. Beim Landhaus kamen wir auch nicht recht weiter: Ich schlug vor, es zu verkaufen, das wäre das Einfachste, dann könnten wir das Familiendarlehen zurückzahlen und den Rest unter uns aufteilen. Doch als wir in unserem Heft herumrechneten, wurden wir uns nicht einig, wie viel Geld wir in das Haus gesteckt, wie viel wir deiner Familie schon zurückgezahlt hatten und ob wir den Kaufpreis zugrunde legen oder es neu schätzen lassen sollten. Das war alles nicht dringlich, konnte später wieder aufgegriffen werden, doch von da an verhakten wir uns, rangelten und stritten, und es ging nur noch abwärts. Du fingst damit an: Wie viel willst du mir für die Kinder überweisen? Überweisen, wieso überweisen?, wir wollen uns doch beide um sie kümmern. Aber die Mädchen wohnen bei mir. Na ja, wir kümmern uns beide, also schlage ich vor, dass wir die Ausgaben schätzen und dann ein Konto eröffnen, auf das jeder monatlich die Hälfte einzahlt. Und die Wohnung, was ist damit, die kann ich mir alleine nicht leisten, das habe ich dir gesagt, bevor ich den Mietvertrag unterschrieben habe, ich dachte, darüber seien wir uns einig. Ich kann mir auch keine Wohnung leisten, deswegen ziehe ich ja zu meiner Mutter. Aber die Mädchen brauchen eine Wohnung. Wenn wir die Miete zu zweit bezahlen, sollten wir auch beide drin wohnen dürfen. Jetzt komm mir nicht wieder mit deinem Hirngespinst von getrennten Eltern, die weiterhin wie Freunde zusammenleben. Ich kann dir keinen Unterhalt zahlen, das weißt du. Ich will keinen Unterhalt, Antonio, aber du weißt genau, dass ich diese Wohnung nicht alleine bezahlen kann. Dann such dir eine kleinere. Es ist doch eh nur eine kleine Dreizimmerwohnung, verdammt noch mal, wo sollen wir denn unterkommen? Lass uns nicht die Nerven verlieren, Ángela, wir wollen doch zu einer Einigung kommen. Das nennst du Einigung? Lief doch ganz gut, bevor wir angefangen haben, übers Geld zu reden. Da siehst du’s, wir sind kein bisschen besser als andere Trennungspaare, scheußlich. Wir müssen uns zusammenreißen. Ich habe es satt, mich zusammenzureißen, ich habe einfach keine Kraft mehr. Mach es für die Mädchen. Genau das tue ich doch, ich mach mir Sorgen um sie. Du weißt doch, bei mir läuft’s im Moment nicht so toll, lass uns zu einer vorläufigen Einigung kommen, und wenn es bei mir besser läuft, reden wir noch mal übers Geld. Den Moment hast du doch selbst gewählt. Das ist unfair. Die Trennung geht von dir aus. Früher oder später musste jemand diese Entscheidung treffen. Ja, aber jetzt war es früher, weil du nicht mehr warten konntest. Meinst du, ich habe es eilig, mich zu trennen? Ja, das meine ich, sehr eilig sogar, weil du was Besseres vorhast. Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Wie kannst du erwarten, dass wir uns auf was einigen, wenn du mir nicht die Wahrheit sagst?, hast du noch einen draufgesetzt. Und dann erzählte ich dir, spät, das, was du sowieso schon wusstest.

Ich hatte es ein paar Tage vorher erfahren. Am ersten Abend, an dem du nicht zu Hause schlafen würdest. Ich saß auf dem Sofa, nachdem ich die Mädchen ins Bett gebracht hatte, und zum ersten Mal seit zwei Wochen war meine Stimmung gelassen, überraschend gelassen. So sehr, dass es mir sogar als eine gute Idee erschien, uns zu trennen. Ein Kreis, der sich schließt. Ein neues Leben. Kein Weltuntergang. Ana und Sofía hatten sich mit der Erklärung zufriedengegeben, Papa müsse sich um die Oma kümmern. Ich schätze, sie hatten noch im Kopf, wie deine Mutter letztes Weihnachten geweint hatte, und glaubten wohl, sie sei irgendwie krank. Ich hatte an dem Abend schon eine Weile mit Luisa hin- und hergeschrieben, dieser verrückten Nudel, sie wollte mich unbedingt dazu bringen, ein Buch von Helen Fisher zu lesen, das hätte ihr nach ihrer Trennung geholfen. Die Gefühle von Wut und Verzweiflung sind evolutionäre Mechanismen, die hat uns die Natur gegeben, erklärte mir Luisa, wir sollen Beziehungen, die keine Zukunft haben, abschreiben und unser Leben schnellstmöglich neu einrichten. In drei Monaten, versicherte sie, würden wir über meinen gegenwärtigen Schmerz Witze reißen, sie wettete sogar ein Abendessen darauf. Anschließend führte sie mir die Vorteile vor Augen, die es mit sich brächte, jedes zweite Wochenende nicht für die Kinder zuständig zu sein und freie Nachmittage zu haben. Am Ende schlug sie mir für den nächsten Sommer eine absurde Mütter-Töchter-Reise vor, als ersten Schritt zu der Amazonen-WG, die wir unverzüglich gründen würden, dort, in unserem Haus auf dem Land, würden wir unsere Töchter in schwesterlichem Geist erziehen und Männer jagen, zum freien und allgemeinen Gebrauch, du kennst sie ja. Ich musste gerade darüber lachen, als eine Nachricht von Germán reinkam, eigentlich war es zu spät für ihn, aber er hatte seine wachsame Mutter mal wieder ausgetrickst und das Handy mit ins Bett geschmuggelt. Die Nachricht lautete: Hallo, Ángela, mein Dad hat mir erzählt, dass ihr euch trennt, wie krass, hat mich echt umgehauen, und danach eine ganze Latte von Emoticons, offene Münder, weit aufgerissene Augen, aufgeplatzte Lippen, Tränen, gebrochene Herzen, Blitze. So ist das Leben, tippte ich und wunderte mich, dass ich auf einmal Lust bekam, mit deinem Sohn zu chatten. Germán schrieb zurück: Ja, aber echt schade, Mann, und noch mehr tränenüberströmte Gesichter und gebrochene Herzen in allen verfügbaren Farben. Wird mir fehlen, deine böse Stiefmutter zu sein, schrieb ich und hängte mein eigenes Emoticon an, eines, das Tränen lachte, er antwortete mit der Königin aus Schneewittchen und schrieb: Mal sehen, wie’s mit der Neuen wird, aber die wird dich als Stiefmutter kaum toppen können, und dann wieder eine Menge Gesichter, die mir Küsschen zuwarfen, dazu knallrote Münder und pochende Herzen. Was für eine Neue?, fing ich an zu tippen, aber dann löschte ich es wieder und schrieb stattdessen: Ach, die Neue, kennst du sie schon? Wie findest du sie? Germán antwortete sofort: Weiß nicht, hab nur ein Foto gesehen, sieht nett aus, aber du sahst auch nett aus, als ich dich kennengelernt habe, und jetzt warf sich sein Emoticon auf den Boden und strampelte vor Lachen. Wie heißt sie noch mal?, fragte ich, und dein Sohn schrieb zurück, mit der Naivität eines Vierzehnjährigen, wie ich damals glaubte: Inés.

Meine Blödheit, wieder mal. Genau an dem Nachmittag hatte ich mit Germán geredet. War mit ihm was essen gegangen in einem VIPS voller Trennungsväter, die ihren Kindern am vereinbarten Tag nach der Schule Entschädigungs-Pancakes und Entschuldigungs-Milchshakes spendierten. Du kennst doch diese Cafés, in denen man nur uns Väter reden hört, aufgekratzt, während die Kinder kauen und nicken, dieses Bedürfnis der Geschiedenen, alles Fragbare zu fragen und alles Erzählbare zu erzählen, damit bloß kein Schweigen aufkommt. Ich war an dem Nachmittag auch der Einzige, der geredet hat, während Germán seinen Milchshake schlürfte und nickte und einsilbig auf mein Geschwätz antwortete. Ich begann ihn auszufragen, wie läuft’s so (gut), wie läuft’s in der Schule (gut), wie sind die Klassenarbeiten gelaufen (gut), steht eine neue an (nein), irgendeine neue Note (nein), Hausaufgaben für morgen (nein), wie läuft’s mit deinen Freunden (gut), wie läuft’s mit Mama (gut), hast du am Wochenende was vor (keine Ahnung). Als die Routinefragen abgehakt waren, zögerte ich den Hauptgrund für den Cafébesuch noch etwas hinaus, ich wollte es ihm nicht einfach so hinknallen, ohne Aufwärmphase. Also erzählte ich ihm von einem Artikel, den ich gerade veröffentlicht hatte, »Der Download von Glückshormonen. Ein Klick, ein Kick«, ein aus wissenschaftlichen Veröffentlichungen rasch zusammenkopierter Überblick zum Thema Dopaminausschüttung und soziale Netzwerke, der zum meistgelesenen Artikel des Tages geworden war. Doch als ich Germán von Neurotransmittern und Technologiesucht erzählte, dachte er wohl, jetzt kämen gleich neue Beschränkungen beim Handygebrauch, oder sein Vater würde versuchen, seine Bewunderung zu erlangen, indem er sich als erfolgreicher Journalist präsentierte. Als ich sein genervtes Gesicht sah, beschloss ich also, zur Sache zu kommen. Ich wechselte einen solidarischen Blick mit einem anderen Vater, der am Nebentisch mit einer stummen Vorpubertierenden monologisierte, und überfiel Germán nach einem kurzen einleitenden Gestammel mit den Worten: Ángela und ich trennen uns, das haben wir beschlossen, aber sag deinen Schwestern nichts, die wissen es nämlich noch nicht. Da Germán lediglich nickte und keinerlei Gefühlsregung zeigte, redete ich weiter und vergaß wieder mal die goldene Regel für Problemgespräche mit Jugendlichen: Gib ihnen die nötige Information, nicht mehr und nicht weniger, und antworte nur, wenn sie dich was fragen. Aber nein: Der horror vacui des Trennungsvaters zwang mich weiterzureden, immer schneller und wahlloser, je weniger Germán reagierte, denn der blieb einfach stumm wie diese gerissenen Journalisten, die mit ihrem Schweigen erreichen, dass die Interviewten mehr sagen, als sie sollten: Mit ihr und mir laufe es schon länger nicht so gut, erzählte ich, das kommt vor, so ist das Leben, die Liebe ist ewig, bis sie aufhört, manchmal lieben sich Paare einfach nicht mehr, und dann ist es besser, sich in aller Freundschaft zu trennen, als die Beziehung noch zu verschlimmern, deine Freunde haben fast alle getrennte Eltern, bei dir ist es ja auch so, und du siehst, wie gut Mama und ich uns verstehen und wie lieb wir dich haben, Eltern trennen sich, aber von unseren Kindern trennen wir uns nie, ich kenne mehr unglückliche Kinder aus intakten Familien als glückliche, und dafür viele glückliche Kinder, die zwei Zuhause haben, zwei Zuhause zu haben ist ja kein Problem, es kann sogar ein Vorteil sein, wenn man zwei Zuhause und zwei Zimmer hat, zwei Geburtstage und zwei Weihnachten und zwei was weiß ich, zwei von allem. Germán stocherte mit seinem Strohhalm im Glas herum und vermied es, mich anzusehen, auf seinem Gesicht ein Ausdruck, dem ich nicht entnehmen konnte, ob er betroffen war, seine Interessen abwog oder einfach nur vollkommen gelangweilt, weshalb ich noch tiefer einstieg, obwohl mich niemand darum gebeten hatte: Ich erzählte ihm, dass es da jemand anderen gebe, auch das kommt vor, plötzlich taucht jemand in deinem Leben auf und alles wird umgekrempelt, das wirst du auch noch erleben, wenn du groß bist und dich verliebst. Und da keiner der geschiedenen Väter ankam und mir mitfühlend empfahl, doch verdammt noch mal meinen Mund zu halten, ritt ich mich noch mehr rein: Sie ist sehr nett, heißt Inés, du wirst sie bald kennenlernen, ihr werdet euch gut verstehen, vom Alter her ist sie dir fast näher als mir, sie ist Historikerin, kann dir also in Geschichte helfen, falls du das mal brauchst, soll ich dir ein Foto von ihr zeigen? Erst als Germáns Handy klingelte und er ranging, hörte ich endlich auf zu reden. Ich hätte ihm wohl besser eine knappe Nachricht geschickt, aber dafür war es nun zu spät. Willst du noch was fragen?, drängte ich ihn, und da er den Kopf schüttelte, ritt ich mich vollends hinein: Also das mit Inés, das erzähl aber bitte nicht Ángela, die weiß es nämlich noch nicht, ich hab’s dir erzählt, damit du siehst, dass ich dir vertraue.

Hätte mir dein Sohn nur früher davon erzählt, wenn schon du Inés vor mir verstecken musstest. Warum eigentlich? Um mir einen Schmerz zu ersparen, der zu dem Zeitpunkt keinen großen Unterschied mehr gemacht hätte? Damit die Trennungsvereinbarung weniger kompliziert wird, ohne sentimentale Verzerrungen, und du kein emotionales Kapital verlierst? Oder eher, wie ich vermute, um die Verantwortung für das Ende zu teilen? Was sage ich: um sie komplett bei mir abzuladen, ich sollte mich verantwortlich fühlen für unser endgültiges Scheitern. Wenn du von Anfang an ehrlich gewesen wärst, hätte mich das geschmerzt, sogar mehr, als du denkst. Aber ich hätte es akzeptiert, ohne melodramatisches Getue. Und vor allem hättest du mir zwei Wochen erspart, die zwei Wochen zwischen deiner Trennungsankündigung und deinem Auszug. Zwei Wochen, die ich bis zu Germáns Nachricht als eine Zeit des Waffenstillstands und der Neuorientierung gesehen hatte, in denen ich es noch für möglich hielt, du könntest es dir anders überlegen. Nachher jedoch, als ich von deiner Inés erfahren hatte, gab ich den zwei Wochen einen neuen Namen, die Große Zeit der Erniedrigung. Einer Erniedrigung, die du mir nicht hast ersparen wollen, von der ich aber lieber annehmen möchte, dass du sie nicht gesucht hast. Zwei Wochen, in denen wir noch zusammenlebten, vor den Mädchen Ehetheater spielten, wir hatten ja ausgemacht, ihnen noch nichts zu sagen. Wir schliefen sogar zusammen in diesen zwei Wochen, die wir uns eingeräumt hatten, um nichts zu überstürzen und alles richtig hinzubekommen, und ich dachte, dieser Aufschub wäre ein Beweis für die Schwäche deiner Entscheidung: In Wirklichkeit würdest du mir nur einen Warnschuss verpassen und mir die Chance geben, unsere Beziehung in der zusätzlichen Zeit neu auszuhandeln. Am ersten Abend, nachdem du mir gesagt hattest, dass du dich trennen wolltest, hast du dich aufs Sofa gelegt, ohne viel Aufhebens zu machen, hast dich mit einem Laken zugedeckt und Gute Nacht gesagt. Aber am nächsten Tag war ich so blöd und bat dich, zurück in unser Bett zu kommen, die Mädchen sollten dich nicht auf dem Sofa vorfinden, wenn sie früher wach würden, außerdem sah ich diese zwei Wochen wirklich als einen Rückeroberungsfeldzug. War ich bescheuert. Wir schliefen zusammen, oder besser gesagt, wir lagen zusammen im Bett, denn geschlafen haben wir wenig: Wir redeten stundenlang, hielten uns fest an den Händen, und beim Aufwachen überraschte uns der Morgen eng umschlungen. Und das kam nicht von mir, du hast dich im Schlaf an mich geschmiegt, meine Hände genommen und deine Finger mit meinen verschränkt, auch wenn du jetzt sicher sagen wirst, das war nur die Gewohnheit der Körper. Im Halbdunkel des Schlafzimmers redeten wir pausenlos, ich hielt das alles für einen Teil deiner verqueren Strategie, unsere Verbindung über die Trennungsangst zu erneuern. Wir redeten stundenlang, erinnerten uns an gemeinsame Momente, gingen zurück an unsere Anfänge. Wir amüsierten uns in der Dunkelheit über das Repertoire an alten Anekdoten, die wir einander seit Jahren erzählten und dabei immer weiter abwandelten. Eine Trennung ist auch, ist vor allem der Verlust einer gemeinsamen Sicht auf die Dinge, und im Moment des Bruchs spürt man noch mal den Drang zu erzählen, ein letztes Mal. Und das taten wir in jenen Nächten: Wir erzählten uns. Hand in Hand ließen wir der Erinnerung die Zügel schießen und weinten am Ende und küssten uns die Tränen weg, und ich deutete deine Rührung falsch und schlug dir vor, uns Zeit zu lassen, abzuwarten, unsere Beziehung neu anzugehen, es mit einer Paartherapie zu versuchen, zusammenzubleiben, bis die Mädchen etwas größer wären, weiter zusammenzuwohnen, als Familie, auch wenn jeder sein eigenes Leben lebte. Du versuchtest, mich davon zu überzeugen, dass eine Scheidung nicht das Ende der Welt sei, nicht einmal eine Scheidung mit Kindern, viele unserer Freunde haben sich getrennt, sogar unsere eigenen Eltern, und alle sind okay, das Leben geht weiter, die Leute fangen sich wieder, die Kinder stellen sich darauf ein, eine Scheidung ist ein Ereignis unter vielen, so gängig wie das Heiraten. Ich widersprach, wollte es nicht so sehen: Was schert mich, was die Leute machen, das hier ist unsere Scheidung, mein Schmerz, und es sind meine Töchter, die sich darauf einstellen müssen, dass die Ehe ihrer Eltern gescheitert ist, geteiltes Leid ist kein halbes, mich interessiert nicht, warum sich die Leute trennen, ich will nur wissen, warum wir, warum du und ich, warum, warum. Warum. Am Ende lagen wir schweigend da, du stelltest dich schlafend, ich wälzte mich hin und her und atmete heftig, du solltest merken, dass ich nicht schlafen konnte, und dann hakte ich nach: Und was ist mit dem Haus? Über das Haus reden wir schon noch, sagtest du leise. Wir haben so große Hoffnungen auf das Haus gesetzt. Nein, du hast große Hoffnungen darauf gesetzt. Nach dem ganzen anstrengenden Weg fühlt es sich jetzt an, als würden wir am Ufer ertrinken, erinnerst du dich an diese armen Leute am Strand?, das sind wir beide, Antonio, wir ersaufen an dem Scheißufer, wo man fast schon stehen kann, wir gehen unter wie Steine. Da hast du mich an deine Brust gezogen wie auf ein Kissen und mir den Kopf gestreichelt wie einer Hündin, und so sind wir dann doch eingeschlafen. Auch tagsüber drückten wir einander die Hand, wenn wir uns in diesen zwei Wochen in der Wohnung begegneten, trösteten uns gegenseitig, du nahmst mich in den Arm, wenn du mich mit geröteten Augen ertapptest. Ich dachte wirklich, die Entscheidung sei umkehrbar, und die Uhrzeiger vom Ende der Welt ließen sich zurückdrehen, bevor die Stunde ganz erreicht wäre. Deshalb habe ich alles versucht in diesen Tagen und Nächten, die ich für eine Zeit der Wiederherstellung hielt und jetzt als erniedrigend sehe. Tagsüber konzentrierte ich mich darauf, aufmerksam und liebevoll zu sein, aber ohne dir auf die Nerven zu gehen. Ich schrieb dir laufend Nachrichten, um in Verbindung zu bleiben. Ich bemühte mich sklavisch, alles zu vermeiden, wovon ich wusste, dass es dich störte. Ich dachte mir Unternehmungen aus, die wir zu viert machen mussten, bezog die Mädchen in mein Projekt zur Rettung der Familie ein, stiftete sie an, morgens zu uns ins Bett zu kommen. Abends, wenn ich sie schlafen gelegt hatte, holte ich dich dazu, und wir betrachteten sie von der Zimmertür aus, gewiss ein unwiderstehlicher Anblick für einen Vater, der sich mit Scheidungsabsichten trägt. Umso mehr für dich, du hattest ja immer davon geredet, wie sehr es dich berührte, deine schlafenden Töchter zuzudecken, und über die Jahre sehr bedauert, dass das in so vielen Nächten bei Germán nicht ging. Ein unwiderstehlicher Anblick, es sei denn, du hättest schon einen Ausstiegsplan. Aber sooft ich dich fragte, ob da eine andere wäre, kam von dir ein Nein. Wir setzten uns zusammen auf das Wackelsofa, und ich legte Musik auf, wenn ich daran zurückdenke, komme ich mir wie ein Trottel vor, aber wir haben wirklich da gesessen, Händchen haltend die alten 69 Love Songs gehört und leise mitgesungen: »The book of love is long and boring / And written very long ago.« Was war ich bescheuert in diesen zwei Wochen, und du hast es mitgemacht, dich auf die nostalgischen Gespräche eingelassen, in denen wir die Greatest Hits unserer gemeinsamen Geschichte Revue passieren ließen, hast dich an meiner Hand mitziehen lassen durch die Ruinen des Themenparks unserer Liebe. Dir angehört, wie ich um Verzeihung bat, denn in diesen Nächten bat ich dich ständig um Verzeihung, am Boden, herabgewürdigt, voller Schuldgefühle wegen der Trennung. Aber du bliebst stumm gegenüber meinem monotonen Verzeih mir, verzeih mir, verzeih mir. Du hast mich auch nicht aufgehalten, als ich eines Nachts alles auf eine Karte setzte: Immer noch weinend, drückte ich mich an dich, küsste dein Gesicht, den Hals, das Ohr, griff dir ins Haar und streichelte unter dem T-Shirt deine Brust. Dann schob ich mich auf dich, um deine schnelle Erektion festzustellen, holte deinen Schwanz aus der Pyjamahose, du hast schwach widersprochen: Das ist keine gute Idee, Ángela, nein, besser nicht. Und ich hatte kein bisschen Lust zu vögeln. Am Ende lagen wir Arm in Arm da, und obwohl du weiterhin sagtest, wir würden einen Fehler machen, kroch ich noch etwas weiter durch den Staub: Was ist schon Schlechtes dabei, wir könnten das doch ein paar Jahre so beibehalten, zusammen wohnen, dafür sorgen, dass unsere Töchter glücklich sind, vögeln, wenn uns danach ist, wir lieben uns doch immer noch mehr als die meisten Paare in unserem Bekanntenkreis, wenn wir uns jetzt trennen, verlieren wir alle, du und ich und vor allem die Mädchen. Von da waren es nur noch ein paar Schritte bis zum nervösen Schluchzen und qualvollen Betteln, Verzweiflung wie aus einem Groschenroman, in einiger Zeit werde ich eher lachend als leidend daran zurückdenken: Bitte geh nicht fort, gib mir noch eine Chance, mehr will ich nicht, nur eine Chance, ein bisschen Zeit, tu’s für die Mädchen, warte, bis sie älter sind, warte zwei Jahre, ein Jahr, ein halbes. Mit dieser jämmerlichen Leier und unterstützt durch je ein Bromazepam schliefen wir endlich ein: Dir fiel es leichter, bei mir war es ein unruhiger Dämmerschlaf, der das Zimmer verformte, unbestimmte Geräusche anzog, die Mädchen am Fußende des Bettes auftauchen ließ, wie wenn sie nachts aus einem Albtraum hochschreckten und zu mir ins Bett kamen. Nur standen sie jetzt gar nicht da, das waren Gespenster-Mädchen, Ausgeburten der Schlaflosigkeit und Erschöpfung: Ich redete mit ihnen, breitete die Arme aus, um ihnen Geborgenheit zu geben, doch wenn ich dann die Augen aufschlug, waren sie nicht da. Ich stand auf, um mich zu vergewissern, dass sie noch in ihren Betten lagen, deckte sie zu, legte mich wieder hin, nur um wenige Minuten später erneut aufzustehen und meine übertriebene Darstellung der gebrochenen Frau fortzusetzen. Denn mir ging es zwar schlecht, ja, sehr schlecht, vor allem aber hatte ich das Bedürfnis, dir meinen Schmerz vor Augen zu führen, der sollte nicht an dir vorübergehen. Also stand ich auf, ließ die Matratze quietschen, schlurfte in Hausschuhen herum, stieß auf dem Weg durchs Zimmer gegen einen Stuhl, schaltete das Licht im Flur an. Dann ließ ich mich aufs Sofa fallen, hüllte mich in eine Decke und setzte die kummervolle Miene auf, mit der du mich überraschen solltest, wenn du nach langen Minuten im Bett, wo du dich schlafend stelltest, endlich aufstehen und nach mir schauen würdest. Wie melodramatisch das alles. Der Gedanke, dass ich es für die Mädchen tat, tröstet mich. Aber ich verzeihe dir nicht, dass du zugesehen hast, wie ich vor dir im Staub kroch, dass du nicht gesagt hast: Lass gut sein, Ángela, ich habe mich in eine andere verliebt, ich kann nicht mehr mit dir zusammen sein. Stattdessen bist du immer wieder entnervt aufgestanden, ins Wohnzimmer gekommen und hast mich an der Hand durch den Flur geführt. Und ich habe deine Umarmung angenommen, wenn ich dann dalag und wieder in einen überreizten Halbschlaf tauchte, in die Träume, die ich hinterher nie zu erzählen weiß, oder in obsessive Gedanken die ganze aufgewühlte Nacht hindurch. Ich dachte zum Beispiel, und daran kannst du meinen Gemütszustand in diesen zwei Wochen ablesen und wie sehr eine drohende Trennung uns verstört, ich dachte, Ana oder Sofía würden irgendwann nachts aufstehen, nachdem sie mich vergeblich gerufen hätten: Mama, Mama! Sie würden ins Schlafzimmer kommen und mich auf dem Boden vorfinden, mit steifer Hand die Laken umklammernd, den Kiefer starr, die bereits glasigen Augen weit geöffnet, wie einsame Frauen eben sterben, und ihre Töchter bleiben mit dem doppelten Schmerz zurück, verwaist und traumatisiert vom Anblick der Leiche. Wut und Verzweiflung, da hast du sie. Die Art von Gedanken, über die ich in einigen Monaten mit Luisa Witze reißen werde. Ich stand also wieder auf, lief durch die Wohnung, Panther im Käfig, Panther in Not. Ich schaltete Lichter an: Du solltest mich retten und zurück ins Bett bringen, in die erschöpfte Umarmung. Und wenn ich dann wach lag, nun ruhiger, mit deinem schlafenden Atem neben mir, dachte ich an uns in all den Jahren. Ich blickte zurück und suchte nach dem Moment, in dem alles zum Teufel gegangen war, die Abwärtsspirale begonnen hatte, aber es gelang mir nicht, über das Unmittelbare, die jüngsten Ereignisse hinauszusehen. Die Vergangenheit erschien mir wie eine zugeschüttete Grube, von der wir lediglich die oberste Schicht abtragen können, das oberflächliche Erdreich mit seinen dünnen Wurzeln und Würmern. Darunter sammeln sich allerlei Materialien an: Reste eingestürzter Bauten, Tonscherben, Glas, Steine, Knochen und Müll, über Jahre achtlos weggeworfen und jetzt nur noch schwer auseinanderzuhalten. Hacke und Schaufel würden da nicht genügen, wir müssten mit Präzisionswerkzeugen hantieren: kleinen Rechen, geduldigen Borstenpinseln, Spateln, Feinpinseln, sogar mit den Fingernägeln, um Stück für Stück zu bergen und es im Licht betrachten, datieren und identifizieren zu können; manches würde dabei zerbrechen und uns in die Finger schneiden. Und erst am Ende, wenn wir die letzten Ablagerungen entfernt hätten, die lose Erde, würde die Ausgangsform hervortreten: ein Ellbogen, ein Knie, ein Schädel, man würde den Pinsel einsetzen müssen, die Finger, und dann pusten, um den Sand vom Totenkopf zu entfernen. Da würden wir nun sichtbar, in der untersten Schicht, wir, die Damaligen: prachtvolle Leichen, umschlungen wie Liebende in Pompeji. Und mit diesem Bild, dem Bild von uns beiden, wie wir in diesen Nächten dalagen, im selben Bett, aber erdrückt von tonnenschwerem Schutt, schlief ich endlich für ein, zwei Stunden ein. Beim Aufwachen, emotional verkatert, fand ich noch die Kraft, unser Gespräch wieder aufzunehmen: Ich frage mich, wann alles zum Teufel gegangen ist, wann es unumkehrbar wurde und nicht mehr zu ändern. Das frage ich mich auch, sagtest du leise, worauf ich nachhakte: Wenn wir in der Zeit zurückgehen könnten, unserem Leben wie einem Fluss von der Mündung aufwärts folgen, uns vertikal durch unsere Vergangenheit graben, Schicht um Schicht abtragen, bis wohin, glaubst du, müssten wir da gehen, wann hätten wir noch eine Chance gehabt, alles in Ordnung zu bringen? Und dann du, nach einer dramatischen Pause: Da müssten wir weit zurück, Ángela, sehr weit zurück.

Glückliches Ende

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