Читать книгу Das neue Leben / Maxi I - Isabel Tahiri - Страница 3
I
ОглавлениеSeit Tagen steigen immer wieder Erinnerungen in mir auf, an meine Anfänge, an mein Leben. Ich sehe alles ganz deutlich vor mir. Vielleicht sollte ich es jemandem erzählen?
„Auf jeden Fall, da kann manch einer noch etwas lernen.“
'Ach Scio, meinst Du, das ist so interessant?' Ich seufze.
„Na ja, ich fand es bis jetzt immer spannend, Dich zu begleiten.“
'Ich liebe Dich auch!' Ein warmes Gefühl breitet sich in mir aus. Ohne Scio zu leben, kann ich mir gar nicht mehr vorstellen.
„Wir sind jetzt schon sehr lange verbunden. Ich habe mich auch an Dich gewöhnt, und außerdem, Mädchen, Du bist immer wieder für eine Überraschung gut.“ Er lacht.
'Also gut, versuchen wir es, schließlich stamme ich aus einem Volk von Geschichtenerzählern. Was meinst Du, womit soll ich beginnen?'
„Am Anfang vielleicht...“
'Am Anfang, gut,...'
… die früheste Erinnerung, die ich habe, ist eher so ein Gefühl von Wärme, Geborgenheit und den Bewegungen meiner Geschwister. Eng aneinander gekuschelt liegen wir in einem Nest aus Gräsern, Papierresten, Fasern und verschiedenen weichen Materialien. Wir warten auf unsere Mutter, die oft vorbeikommt, um ihre Kinder zu säugen. Dabei erzählt sie immer Geschichten, die von Anorex, dem Futterfinder zum Beispiel, der unbändigen Hunger hatte, und deshalb das Essen schneller als jeder Andere fand. Oder von Tabitha, der Hohepriesterin der Göttin MUS, die eine neue Zuflucht entdeckte, nachdem die alte von einer Flutwelle zerstört wurde. Das ist die Aufgabe einer Mutter, zumindest bei uns Mäusen, ihre Kinder alles zu lehren, was man wissen muss. Mäusejunge sollten nach dem Öffnen der Augen notfalls in der Lage sein selbstständig zu überleben. Die Geschichten enthalten viele Ratschläge und den gesamten Wissensschatz von MUS. Von der Frage was wir gefahrlos essen können, über das Spuren hinterlassen, um zurückzufinden, bis hin zu Gebeten.
Eines Tages erzählte sie von der Namensgebungszeremonie, die bei uns enorm wichtig ist. Diese Tradition gibt es schon ewig, auch bei meiner Mutter war es so. An dem Tag, an dem wir erstmals Mal die Augen öffnen, kommt eine Priesterin der MUS zum Nest, um uns einen Namen zu geben. Angeblich ist sie in der Lage direkt in unsere Seele zu sehen, das hilft ihr Stärken und Schwächen zu erkennen und lässt sie die passenden Benennungen für das jeweilige Mäusekind finden. Ich bin so aufgeregt und kann es kaum erwarten. Die vielen Gerüche, die durch den Eingang unserer Erdhöhle, hereingeweht werden, machen mich überaus neugierig auf die Welt außerhalb des Nestes.
Gleich nach dem Aufwachen höre ich sie schon leise reden. Die Dienerin der MUS möchte wissen, ob es Mutter einwandfrei gehe, sie sich kräftig fühle und wir Kinder gedeihen. Josselyns Fell glänzt seidig, ihre Augen strahlen, sie bejaht alle Fragen. Sie bemerkt, dass wir wach sind, und kommt sofort herüber, wir werden gesäugt und gründlich geputzt.
Dann tritt die Priesterin an unser Lager und setzt sich.
„Meine lieben Kleinen, ich bin Tara und werde nun jedem der die Augen öffnet einen Namen geben, der zu ihm passt. Manche Namen tragen eine Bestimmung in sich, andere zeichnen eher den Charakter des Mäuschens auf. Ihr müsst keine Angst davor haben, Euer Name wird Euch beschützen und den Weg weisen, wenn Ihr mal nicht mehr weiter wisst. Ah, da öffnet ein kleiner Mäusejunge seine Lider, lass dich anschauen...“ Eine Weile schaut sie tief in die Augen meines ersten Bruders. „Er hat sehr ruhige und freundliche Augen,“ sagt sie, „Er wird seinen Geschwistern immer ein gutes Vorbild und ein Freund sein. Sein Name soll Beneficus sein, der Hilfreiche.“
Endlich gelingt es auch mir, zu blinzeln, und sie wendet sich in meine Richtung. Lange schaut sie mich an. „Hier haben wir wohl eine kleine Priesterin vor uns, es ist schwierig sich auf einen Namen zu einigen, Priesterinnen der MUS bekommen in ihrem Leben meist viele Namen, die sie sich alle verdienen müssen. Für den Anfang wird wohl Maxi der geeignete sein. Sie wird im Alter von einundzwanzig Tagen in die Klosterhöhle einziehen, davor aber soll sie sich austoben und ihre Kindheit genießen.“
Meiner Mutter steht vor Erstaunen der Mund offen, sie hat eine Erhobene geboren, noch dazu bei ihrem dreizehnten Wurf. Sie wird langsam alt, dieser Kindersegen könnte möglicherweise ihr Letzter gewesen sein.
Ich bin gar nicht so begeistert, Priesterin, was bedeutet das für mich? Nun, ich werde es sicher herausfinden. Aus den Geschichten weiß ich, das Priesterinnen nur geboren werden können, normale Mäuse sind in der Lage sich das Wissen aneignen, aber sie haben keine Gaben der MUS. Ich bin gespannt, was bei mir für eine Gabe auftaucht. Seelenblick, Heilkräfte unterschiedlichster Art, prophetische Träume, ... es gibt viele Talente. Üblicherweise offenbart sich die jeweilige Gabe zwischen dem sechzehnten und einundzwanzigsten Tag. Meistens wird, wie in meinem Fall, die junge Erhobene nach dem Abstillen in der Klosterhöhle zu einer vollwertigen Priesterin erzogen. Sie hat zwar all diese Gaben und würde auch herausfinden, wie sie diese beherrschen kann, aber es geht schneller, wenn es ihr jemand zeigt. Meine Brüder sind normal, aber Männchen werden auch wesentlich seltener mit einer Erhöhung geboren. Auf einhundert weibliche kommt nur ein männlicher Priester. Möglicherweise liegt es daran, dass wir eine feminine Göttin haben und sie Priesterinnen vorzieht. Na ja, egal, das wird in den Geschichten nicht erwähnt.
Manchmal macht jemand etwas Neues oder geht eine Sache anders an. Das wird dann so schnell wie möglich in eine Geschichte verpackt und bereits der nächsten Generation erzählt. Inzwischen öffnen meine Geschwister ebenfalls die Augen, auch sie bekommen von Tara ihre Namen Bella, Joana und Berti.
Dann dürfen wir aufstehen und die Umgebung erkunden.
„Entfernt Euch nicht zu weit vom Nest,“ ruft meine Mutter uns noch hinterher. Und schon sind wir aus der Wohnhöhle hinaus in den Gang gerannt. Bene erinnert sich an die Geschichte von den Spuren und weist uns an, Markierungen zu hinterlassen.
„Wisst Ihr noch, was Mutter gesagt hat? Ohne Spuren zu legen, kann es passieren, dass wir nicht mehr zurückfinden“. Wir machen uns sofort ans Werk und lassen alle paar Schritte etwas Kot oder einen Tropfen Urin zurück. Der Gang macht eine Biegung nach rechts und wir erstarren.
Was ist das?
Da sitzt eine riesige Gestalt mitten im Tunnel und schaut uns an. Wir springen fluchtartig übereinander. Bella, Berti und Joana flüchten zurück ins Nest.
*
Als nur drei ihrer fünf Kinder zurückkamen und etwas von einem Riesen erzählten, machte Josselyn sich Sorgen um die anderen zwei. Sie waren alle noch so jung, wie leicht kann da ein Unglück passieren. Sie befahl Berti, Bella und Joana im Nest zu bleiben und begab sich auf die Suche nach Maxi und Bene.
*
Bene und ich bleiben neugierig stehen.
Die Gestalt grinst breit. „Na, wen haben wir denn da? Wenn das mal nicht Josselyns neueste Brut ist.“
„Sie kennen uns?“ Vorsichtig frage ich, bereit, sofort loszurennen.
„Ja, an diesem wunderbaren silbergrauen Fell würde ich die Kinder meiner Freundin immer erkennen.“ Er lächelt uns an.
„Meine Mutter ist ihre Freundin?“ Jetzt bis ich zu neugierig zum Wegrennen, Bene scheint es genau so zu gehen, er starrt die große Maus mit offenem Maul an.
Die Augen des Fremden funkeln belustigt. „Schon so lange ich denken kann. Wir wuchsen zusammen auf und für die eine oder andere Brut bin ich wohl verantwortlich.“
Das ist ja eher selten, das man seinen 'beinahe' Vater trifft. Erzeuger kümmern sich normalerweise nicht um ihre Kinder, das sagen jedenfalls die Geschichten.
„Ich wollte mal nachsehen, wie es Euch so geht“, sagt er „mein Name ist Amorosom, aber das ist etwas lang, nennt mich einfach Amo. Ich bringe Euch jetzt besser wieder zurück zu Euer Mutter, sonst macht sie sich noch Sorgen.“
Wir nicken, drehen um, und gehen mit Amo in Richtung der Wohnhöhle. Unterwegs erzählt er Bene und mir, dass er ein Wächter ist, einer, der die Stadt der Mus bewacht und beschützt. Das ist ein wichtiger Beruf, sie warnen die Bewohner vor Gefahren aller Art, schlichten Kämpfe unter männlichen Artgenossen und beschützen die Kinder. Inzwischen sind wir wieder bei unserem Zuhause angekommen. Mutter tritt gerade heraus und schaut sich suchend um, erwartet sie uns schon?
Erleichterung klingt in ihrer Stimme durch. „Ich habe mir Sorgen gemacht, wo wart Ihr denn bloß? Ich wollte Euch gerade suchen gehen. Ach Amo, danke, dass Du sie zurückgebracht hast.“
Er lächelt sie warm an. „Kein Problem, Josselyn, ich war sowieso gerade auf dem Weg hierher zu euch, um mir die Kinder anzusehen.“
Mutter lächelt dankbar zurück. Meine Geschwister und ich sind noch nicht abgestillt, das heißt, wir essen zurzeit keine feste Nahrung. Wenn wir verloren gehen, könnte das unseren sicheren Tod bedeuten. Dann begrüßt sie Amo mit einem freudigen Nasenreiben und schnüffelt besorgt an uns herum. Als ob auf dem kurzen Weg irgendetwas mit uns passiert wäre. Auf einmal werde ich müde, es ist ein anstrengender kleiner Ausflug gewesen. Mutter schickt uns kurzerhand ins Nest. Kaum liege ich zwischen meinen Geschwistern, da fallen mir die Augen zu.
*
Ich habe einen seltsamen Traum. Alles ist hell, grellweiß, es blendet. Zwischen halbgesenkten Lidern sehe ich mich um. Riesige gelbe Monster stehen still um eine große Wohnhöhle herum. Merkwürdige Wesen bewegen sich auf zwei Beinen vorwärts darauf zu. Ich erschrecke, die Kreaturen erwachen zum Leben. Sie versuchen, die Heimstatt zu zerstören, und die Zweibeiner helfen auch noch mit.
Es ist ein grauenhafter Anblick. Die Höhle bricht zusammen, es gibt ein schrecklich lautes Geräusch und die Erde bebt. Mit einem Schrei wache ich auf.
Sofort ist Mutter bei mir und versucht mich zu beruhigen. Während ich ihr schluchzend berichte, wird sie um die Nase herum ganz blass.
„Das ist ja ein schlimmer Traum gewesen, mein Schatz, ich glaube, den musst Du später Tara erzählen. Jetzt versuche noch etwas zu schlafen.“ Sie streichelt meine Stirn, das liebe ich besonders, bis ich erneut eingeschlafen bin. Diesmal ruhig und völlig traumlos.
*
Als ich wieder erwache, sitzen Mutter, Tara und Amorosom um mich herum. Meine Geschwister sehe ich nicht.
„Nun erzähl uns Deinen Traum, Maxi, es könnte wichtig sein,“ sagt die Priesterin zu mir, „außerdem scheint er Dich sehr mitgenommen zu haben. Es ist immer besser, so schnell wie möglich jemandem seine Träume zu erzählen. Sonst kann es passieren, dass man etwas davon vergisst. Und, Du wirst sehen, es geht Dir gleich besser. Es ist leichter zu ertragen, wenn Dir jemand zuhört und Dich tröstet.“
Also berichte ich, was ich im Traum gesehen habe.
Nachdenklich sieht Tara mich an. „Also, ich verstehe es nicht, Du bist noch so jung, erst sechzehn Tage alt, wie kann das sein? Du bist eine Prophetin, aber so etwas habe ich noch nie von so einer jungen Maus gehört, Du bist wirklich etwas Besonders.“
Na ja, es war nur ein Traum, oder? Ich werde eines besseren belehrt, Tara berichtet mir, dass es höchstwahrscheinlich so passieren würde, wie es mir gezeigt wurde. Sie erklärt mir, was ich da alles gesehen habe. Die große Wohnhöhle nennt man Haus, die gelben Monster sind Maschinen und die Wesen auf zwei Beinen heißen Menschen.
Seit Tagen träumen die Prophetinnen der MUS schon davon, dass er auch mir offenbart wurde, macht ihn noch wichtiger, womöglich dringender, sagt sie. Unsere Stadt wird mit ziemlicher Sicherheit bald zerstört werden, und wir müssen uns ein neues Zuhause suchen, wenn wir nicht alle der Gefahr aussetzen wollen, zu sterben oder verletzt zu werden.
Tara erhebt sich. „Amorosom wird bei Dir bleiben, Maxi, ich muss zum Rat und sie überzeugen, endlich etwas zu tun.“
Tara geht rasch davon und lässt mich rätselnd zurück. Mutter und Amo erklären mir, wie wichtig es ist, schnell etwas zu unternehmen. Wir alle könnten heimatlos werden, wenn der Rat nicht endlich vernünftig wird und Kundschafter ausschickt, um wenigstens nach einer Zuflucht Ausschau zu halten. In der Stadt leben über achthundert Mäuse und es erfordert einiges an Arbeit, so viele umzusiedeln. Dabei ist ja noch gar niemand auf der Suche, kein neuer Unterschlupf in Sicht, weil der Rat, allen voran Meister Karl, die Sache nicht ernst nimmt. Aber man muss doch unbedingt etwas unternehmen, ich verstehe das nicht.
Amo hat die Absicht, mich ein bisschen in der Stadt herumzuführen, als Ablenkung sozusagen. Er zeigt mir verschiedene Wohnhöhlen in unserem Viertel, die aber im Moment leer sind. Erst drei Höhlen weiter treffen wir eine Familie beim Essen an. Es gibt Weizenkörner und alle lassen es sich schmecken.
Nach der Begrüßung erkundigt sich die Mutter. „Wollt Ihr mitessen? Wir haben genug hergebracht.“
Aber Amo lehnt ab und erzählt ihnen von der möglichen Zerstörung der Stadt. Sie werden auf einmal ganz aufgeregt, es habe schon Gerüchte gegeben, aber nie etwas Konkretes, man hat nur gehört, dass die Prophetinnen träumen. Ein junges Männchen fragt, was der Rat dagegen unternehmen wird, darauf haben wir natürlich noch keine Antwort.
„Ich will mithelfen,“ sagt ein Junge, „man muss doch etwas tun!“ Jemand, der genau so tickt wie ich.
„Wer bist Du?“ Ich schaue ihn mir genau an, während er meine Frage beantwortet. Er ist ein bisschen älter als ich, und größer.
Sein Name sei Cito und er könne schnell und lange rennen. Er würde deshalb gerne Kundschafter werden und versuchen eine neue Wohnmöglichkeit zu finden. Cito gefällt er mir.
Er hat funkelnde Augen, die mich ebenso neugierig mustern. „Und Du? Wie ist Dein Name?“
„Maxi.“ Mit einem Mal werde ich leicht verlegen. Noch nie war ich einem fremden Jungen so nah.
Er lächelt mich an. „Maxi also, den Namen habe ich noch nie gehört, aber irgendwie passt er zu Deinem spitzen Näschen.“
Meine Verlegenheit wächst, ich weiß nicht, was ich sagen soll.
Amo rettet mich sozusagen. „Gut, Cito, dann komm mit uns zum Rat,“ sagt er.
Damit unterbricht er den seltsamen Zustand in dem ich mich befinde. Rasch verabschieden wir uns von der Familie und gehen, zusammen mit Cito, weiter.
*
Tara suchte Meister Karl in seiner Wohnhöhle auf.
„Meister Karl, wir müssen reden.“ Ihr Ton war eindringlich.
„Priesterin Tara, was kann ich für Euch tun?“ Er erhebt sich und schaut sie an.
„Die Träume der Prophetinnen, ich bin sicher, dass wir auf eine Katastrophe zusteuern. Heute hat sogar eine ganz junge Priesterin, eigentlich noch ein Kind, davon geträumt. Wir müssen das ernst nehmen.“
Meister Karl kratzte sich am Kinn. „Tara, Ihr Priesterinnen träumt doch immerzu, wenn wir jedes mal in Aktion treten würden, kämen wir zu nichts anderem.“ Er schüttelte den Kopf, „Nein, ich finde es besteht noch kein Handlungsbedarf. Die Menschen haben die Maschinen noch nicht in Bewegung gesetzt. Wir wissen also nicht, was passieren wird...“
Tara unterbrach ihn. „Hören Sie mir nicht zu, wir wissen, was passieren wird, das versuche ich Ihnen doch die ganze Zeit klar zu machen. Prophetische Träume, wie sie die Priesterinnen haben, werden immer wahr.“
„Tara, jetzt übertreiben Sie nicht, sie können mir ja nicht einmal sagen, wann diese Katastrophe eintreten wird.“ Er schüttelte den Kopf und setzte sich wieder.
Tara erwiderte, „bald, alle fühlen es.“
Er erhob sich erneut und setzte sich auf die Hinterbeine. „Auf Gefühle kann ich mich nicht verlassen, ich brauche Tatsachen, um etwas unternehmen zu können, bringen Sie mir handfeste Beweise und wir berufen den Rat ein, ansonsten, wünsche ich Ihnen einen schönen Tag.“ Damit entließ er Tara, die wütend aus der Höhle stürmte.
*
Schon von Weitem sehen wir Tara auf uns zukommen, sie sieht frustriert aus, anscheinend hat sie inzwischen mit Meister Karl gesprochen. Er ist der Vorsitzende des Rates.
„Ich habe schlechte Neuigkeiten, der Rat lehnt es ab, etwas zu unternehmen, nur weil ein paar Priesterinnen schlecht träumen. Ich habe gerade mit Meister Karl gesprochen, er ist so ignorant, ich fasse es nicht. Wir müssen uns also selbst überlegen, ob wir irgendetwas tun können.“ Das sind enttäuschende Nachrichten.
In unserer Wohnhöhle zurück, beratschlagen wir, was man unter Umständen unternehmen könnte. Das ist gar nicht so leicht.
„Gibt es außer uns noch irgend jemanden der sieht, dass Not an der Maus ist, abgesehen von den Priesterinnen? Wir sind nur eine Handvoll Mäuse und ein paar davon sind noch Kinder. Wir müssen mit den Leuten reden, sie informieren, vielleicht erreichen wir damit etwas.“ Amo hat recht, abwarten wird nichts bringen. Wir brauchen einen Plan. Tara schlägt vor, dass alle essen und schlafen, und wir uns morgen früh wieder treffen. Inzwischen trommeln sie und Amorosom ein paar Freunde zusammen, sie wollen mit ihnen reden und sie gegebenenfalls mitbringen. Cito läuft heim und ich falle todmüde ins Nest. Mein erster Tag außerhalb der Höhle war aufregend. Ich sinke praktisch sofort in einen traumlosen Schlaf.
Beim Erwachen höre ich fremde Stimmen. Alle sprechen durcheinander. Mindesten ein Dutzend Mäuse quetschen sich in unserem Heim zusammen. So viele habe ich noch nie auf einmal gesehen. Nun ja, ich sehe auch noch nicht lang. Ich kichere in mich hinein. Mein Blick fällt auf Cito, der mich angrinst. Ich winke ihm zu und er kommt herüber.
„Na, ausgeschlafen?“ Er lächelt mich lieb an.
Ich nicke. „Wo kommen die alle her?“
„Amos und Taras Freunde, die einzigen die auch besorgt sind,“ meint Cito.
Sie reden über das bevorstehende Unglück und den Rat, der nichts unternehmen will. Nach einer Weile höre ich nicht mehr zu, sondern konzentriere mich auf Cito. Er verfolgt gebannt das Gespräch, das gibt mir Zeit, ihn näher zu betrachten. Sein Fell ist etwas dunkler als meins, er ist schlank und hat kräftige Beine.
„Das kann es doch nicht gewesen sein?“ Amos Frage reißt mich von Citos Anblick los.
Tara schüttelt den Kopf. „Ach, ich weiß auch nicht...“
*
Meister Karl lief nervös auf und ab, seine Gedanken überschlugen sich, was, wenn die Priesterin recht hatte? Tara war ja, alles in allem, eine vernünftige Person. Aber käme es erst in vielen Tagen zur Katastrophe, würde er die Leute nur kopfscheu machen. Er überlegte hin und her. Unternahm er nichts, würde man ihm vorwerfen, den Kopf in den Sand zu stecken. Veranlasste er etwas, und es passierte doch kein Unglück, hätte er auch den schwarzen Peter, dann werden die Leute ihn für unfähig halten, die Lage richtig einzuschätzen und ihn nicht mehr wählen. Egal, wie er sich entschied, immer würden sie ihm die Schuld geben. Da blieb nur eines, eine Ratsversammlung einberufen, und die Mäuse selbst entscheiden lassen, dann, und nur dann werden sie ihn, vielleicht, nicht zur Verantwortung ziehen.
*
Wir hören auf einmal einen schrillen, lang gezogenen Pfiff. Er wiederholt sich noch zwei Mal. Das ist das Signal, dass der Rat gleich tagen wird. Ratssitzungen sind immer Pflicht, auch für die Kinder. Alle ab fünfundvierzig sind verpflichtet abzustimmen, für die Jungmäuse ist das eine Lerneinheit, so erfahren wir etwas über unser Rechtssystem.
Mir fällt gerade ein, dass ich jetzt schon siebzehn Tage alt bin, noch ein oder zwei, und ich werde meine erste feste Nahrung zu mir nehmen. Es ist auch die erste Ratssitzung in meinen kurzen Leben, und ich bin gespannt darauf. Wir machen uns alle auf den Weg zum großen Ratssaal. Das ist eine riesige Höhle, in der Mitte der Stadt gelegen. Heute werde ich sie zum erstmals sehen. Und gleich bei einer so wichtigen Abstimmung, von der vielleicht unser aller Leben abhängt. Ich bin ziemlich aufgeregt und kann es kaum erwarten, bis es endlich losgeht.
„Ich halte uns einen Platz ganz vorne frei, Maxi,“ ruft Cito und rast davon. Wir anderen bewegen uns wesentlich langsamer hinterher. Von überall strömen Mäuse, meist mit der Familie im Anhang, Richtung Ratssaal. Wenn man das Gewusel sieht, wir sind wirklich viele, erinnert es an eine Plage. Mutter hat mal eine Geschichte darüber erzählt.
Nach einem endlos scheinenden Weg, na ja, mir kommt es so vor, aber ich bin ja auch das erste Mal so weit weg von unserem Zuhause, erreichen wir den Ratssaal. Er ist sehr groß und brechend voll. In der Mitte gibt es einen kleinen Hügel, dessen Spitze abgeflacht ist. Darauf liegt der Redestab, der einen geregelten Ablauf der Sitzung gewährleisten soll. Die Wände sind zum Teil aus Steinen aufgeschichtet, der Rest besteht aus Erde und Sand. Seitlich sieht man ein Stück des großen Wassers. So nennen wir einen See, der von unzähligen Flussarmen gespeist wird, und unsere primäre Trinkquelle ist. Ohne ihn müssten wir ständig die Stadt verlassen, wenn wir Durst haben.
Der Rat besteht aus dem Meister der Mus, der die weltlichen Angelegenheiten regelt, und der Hohepriesterin, die für die spirituelle Seite zuständig ist. Sie haben jeweils zwei Berater. Alle einhundert Tage werden die Meister neu gewählt. Die Priesterinnen werden, so wie ich, geboren und ausschließlich ihre Fähigkeiten bestimmen, wer die erwählte Hohepriesterin sein wird. Ich erinnere mich wieder, das kam in den Geschichten meiner Mutter vor.
Der Ratssaal ist relativ rund. Auf dem Hügel in der Mitte nehmen jetzt die beiden Anführer ihren Platz ein. Die Berater stehen in einem Kreis darum herum, mir fällt auf, dass die Wirkung von Macht, beabsichtigt scheint. Alle Augen sind unverwandt auf den Hügel gerichtet. Meister Karl hält den Redestab in den Pfoten, wer etwas zu sagen hat, bekommt ihn und gibt den Stab dann an den nächsten Redner weiter. Er ist eine ziemlich große, fast dunkelgraue Maus mit listigem Blick und einer sehr runden Schnauze. Er überragt die zierliche silbergraue Tabitha mit ihren leuchtenden Augen und dem spitzen Näschen um einiges. Weit vorne erregt Cito meine Aufmerksamkeit, indem er auf und ab hüpft. Ich schlängle mich durch die Menge, klettere und springe über andere Mäuse, bis ich bei Cito angekommen bin.
Er grinst. „Endlich bist Du da, wie versprochen habe ich Dir einen Platz aufgehoben, es war zum Schluss gar nicht mehr so einfach, als das Gedränge immer größer wurde.“
Ich lächle zurück. „Aber zum Glück, hast Du es geschafft, danke Dir, Cito, so kann ich alles gut sehen.“ Ich schaue mich nach dem Rest meiner Familie um, aber im Moment entdecke ich sie nirgends.
*
Ein grelles Pfeifen erschreckt uns, alles wird mucksmäuschenstill. Die Ratssitzung beginnt. Die Hohepriesterin intoniert ein Gebet.
„Wir bitten MUS alle Mäuse zu beschützen,
besonders die Jungen, denn sie sind die Zukunft.
Wir bitten MUS uns weise und gerecht entscheiden zu lassen,
auch davon hängt unsere Zukunft ab.
Wir danken MUS für ihren Schutz,
und ihre Liebe zu jedem Einzelnen.
Wir danken MUS für das Leben“.
Alle sagen „Danke, MUS!“ Die traditionelle Antwort auf ein Gebet.
Damit ist die Sitzung eröffnet. Meister Karl erhebt den Redestab.
„Mir ist zu Ohren gekommen, dass wilde Gerüchte die Runde machen. Gerüchte über Zerstörung und Tod. Ich kann diese Panikmache nicht unterstützen.“ Er gibt den Redestab mit einer kleinen Verbeugung an Tabitha weiter.
Sie nimmt ihn mit einem Kopfnicken entgegen. „Meine Prophetinnen träumen seit drei Tagen von der möglichen Zerstörung der Stadt, sogar ein Kind hat schon davon geträumt. Meinen Erfahrungen nach sollte man das ernst nehmen und Kundschafter ausschicken, die nach einer Zuflucht suchen, sonst werden wir im Ernstfall plötzlich heimatlos, ohne die Möglichkeit zu haben den Überlebenden zu helfen. Machen wir uns nichts vor, sollte die Stadt zerstört werden, wird es auch viele Tote geben. Ich möchte gar nicht daran denken, was diese Verluste für uns bedeuten würden. Ich habe das schon einmal erlebt, und nur durch einen Zufall damals diese Anlage hier gefunden. Ich bitte Euch, einer Expedition zuzustimmen, für unser aller Wohl“. Es erhebt sich ein erregtes Gemurmel unter den Mäusen. Die Hohepriesterin gibt den Stab an Amo weiter, der die Hand erhoben hat.
„Was schadet es schon, ein paar Kundschafter zu schicken um zu erfahren, was vorgeht. Wenn nichts weiter zu befürchten ist, können wir ja weitermachen wie immer“. Es folgt ein wilder Schlagabtausch über die Situation, alle reden durcheinander, der Redestab, das Werkzeug einer gesitteten Diskussion ist vergessen. Meister Karl schreitet ein. Er pfeift durchdringend und die Menge kommt wieder einigermaßen zur Ruhe.
Da erhebt ein alter Mann die Hand und verlangt den Stab. „Ich bin sehr alt, immerhin neunhundertsiebzig Tage. Schon zwei mal in meinem Leben musste ich vor einer Katastrophe fliehen. Ich finde eine bevorstehende Bedrohung sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Im Namen von MUS bitte ich darum, dass ein paar Kundschafter ausgeschickt werden, um die Bedrohung einzuschätzen und sich auch in der näheren Umgebung nach einer Zuflucht umzusehen. Selbst wenn nichts Bedrohliches auf uns wartet, wäre eine Ausweichmöglichkeit zu haben, doch etwas Gutes.“
Das stimmt die meisten nachdenklich. Wir werden immer mehr, und unser Platz ist beschränkt. Viele Höhlen kann man nicht mehr graben. Eine Frau sagt, sie habe die Maschinen beim Sammeln gesehen, aber sie würden ganz still dastehen und keine Bedrohung darstellen. Der Stab wandert zum Meister der Stadt zurück.
„Ich finde das alles reichlich übertrieben, nur weil vor der Stadt ein paar Maschinen stehen, heißt das noch lange nichts. Die Leute haben andere Dinge zu tun, die wichtiger sind. Auch wenn wir kein großes Volk von Sammlern sind, muss doch für den Winter Nahrung eingelagert werden. Am Ostende der Stadt regnet es herein, da müssen viele Mäuse helfen alles wieder abzudichten. Es gibt einige solcher Probleme, die unmittelbar gelöst werden müssen, aber wegen eines Traumes unser ganzes Leben umzuwerfen, nein, das halte ich für stark übertrieben.“ Er macht eine kleine Pause und fährt dann fort „Wir kommen jetzt zur Abstimmung, wer für das Auskundschaften der Bedrohung und näheren Umgebung ist, soll jetzt seinen Schwanz heben“. Er hält kurz inne und wartet, bis die Schwänze erhoben werden. Nur ungefähr ein Drittel der Stimmberechtigten sind dafür.
„Und wer sich entscheidet, lieber in der Stadt für Ordnung zu sorgen, als irgendwelchen Hirngespinsten nachzujagen, der sollte jetzt abstimmen.“ Wesentlich mehr Schwänze gehen in die Höhe.
„Das war es, wir werden nichts weiter unternehmen. Geht nach Hause Leute, die Sitzung ist beendet“.
Das ist eine große Enttäuschung. Die Hohepriesterin versucht, noch etwas zu sagen, aber niemand hört mehr zu. Die Mäuse zerstreuen sich ziemlich schnell. Nur Beraterin Tara, die Priesterin, die ich kenne, Amo, Cito, Bene und ich sind noch da.
„Was jetzt?“ Frage ich. Wir schauen uns im leeren Ratssaal um. „Das kann es doch nicht gewesen sein, wir müssen doch etwas unternehmen können! Ich bin zwar noch ein Kind, aber ich möchte nicht einfach abwarten, was kommt.“
Tara sieht Amo an und überlegt kurz. „Am Besten gehen wir jetzt auch nach Hause, essen und schlafen uns aus. Danach treffen wir uns alle in meiner Wohnhöhle. Amo weiß, wo das ist und wird Euch mitnehmen. Dann machen wir Pläne, ok?“ Sie schaut jeden von uns liebevoll an und verabschiedet sich dann. Wir sind noch so jung, und trotzdem steht unsere Zukunft schon auf dem Spiel. Bedrückt machen wir uns auf den Heimweg.
*
Tara ging nachdenklich zurück in den Klosterbereich. Dieses Kind, die neue kleine Priesterin hatte recht, man musste einfach etwas unternehmen. Abwarten ist keine Option, jedenfalls nicht für sie. Als sie auf den runden Platz des Gebets und der Meditation trat, sah sie einige Priesterinnen erregt miteinander sprechen. Sie trat näher, sie wollte wissen, was die Anderen so beschäftigte.
„Wir werden hier noch alle sterben, dieser Meister Karl hat die Mäuse ganz schön beeinflusst mit seinem Gerede über wichtige Reparaturen. Gut abgelenkt, nenne ich das!“
Eine andere Priesterin regte sich auf. „Wenn alle sterben müssen, nur weil man nicht mal nach einer Zuflucht suchen will, wäre das furchtbar. Ich habe gute Lust, selber los zu gehen.“
„Aber Meister Karl wird doch wohl wissen, was los ist. Ich glaube kaum, dass er unser aller Leben riskieren würde!“ Das kam von Angelica, sie war eine glühende Anhängerin des Rates, für sie konnte der keine falsche Entscheidung treffen.
„Hört mir bitte mal kurz zu,“ rief Tara, „später kommen ein paar Mäuse vorbei. Wir wollen darüber reden, ob wir nicht selbst etwas unternehmen können, ohne den Rat vor den Kopf zu stoßen. Wer interessiert ist sollte nachher wieder hierher kommen.“ Einige nickten Tara zu, der Rest stand auf und verschwand in den Wohnhöhlen.
*
Während des Schlafes träume ich wieder. Diesmal klettere ich an einer sehr hohen Mauer nach oben, der Weg scheint endlos zu sein. Es ist auch in diesem Traum ziemlich hell, aber langsam gewöhne ich mich daran. Beim Versuch, hinauf zu kommen, höre ich hinter mir ein lautes Geräusch. Eine der Maschinen setzt sich in Bewegung. Aus der Höhe kann ich das ganze Tal unter mir ausgezeichnet überblicken. Das Gerät gräbt ein großes Loch ins Erdreich. Ich sehe eine Menge Mäuse um ihr Leben rennen. Das macht mir so viel Angst, dass ich vor Schreck den Halt verliere und in die Tiefe stürze. Ich schreie noch, als ich schweißgebadet aufwache.
Mutter steht über mir und ich werfe mich in ihre Arme. Nachdem ich mich beruhigt habe, finde ich keinen Schlaf mehr. Es hat sich so real angefühlt, ich glaube daran, dass es wirklich passieren wird, egal was Meister Karl sagt, ich fühle, er hat Unrecht. Die große Katastrophe steht unmittelbar bevor.
*
Während ich darauf warte, dass Amo uns abholt, kreisen die Gedanken in meinem Kopf. Ich bin jetzt siebzehn Tage alt, habe ich überhaupt eine Überlebenschance? Ist die Bedrohung nah? Oder noch in weiter Ferne? Kann man es abwenden? Sind meine Träume echt oder nur ein Hirngespinst? Kann ich helfen, um das abzuwenden? Gibt es andere, die auch Angst haben? Wer wäre bereit, etwas zu unternehmen? Auf alle Fragen fehlen mir die Antworten. Sicher, so eine Prophezeiung ist echt, aber niemand kann genau sagen, wann sie eintrifft. Die Anwesenheit von Menschen und Maschinen, spricht allerdings sehr für die nahe Zukunft. Ich nehme mir jedenfalls fest vor, und wenn ich es ganz allein bewerkstelligen muss, eine neue Zuflucht zu finden. Nachdem ich, für mich, diesen Entschluss gefasst habe, es fühlt sich einfach richtig an, geht es mir besser.
Amos Eintritt in unsere Höhle beendet meine ungeduldige Wartezeit, ich bin froh, ihn zu sehen. Er begrüßt Mutter und ruft dann nach Bene und mir. Auf dem Weg zu Tara sammeln wir Cito ein, er hat, wie es scheint, genau so begierig, gewartet. Unterwegs sind wir dennoch alle sehr still, jeder ist in Gedanken versunken.
Endlich treffen wir im Klosterbereich ein, es ist etwas abgelegen, damit die Priesterinnen die nötige Ruhe für ihre Gebete finden. Die Wohnhöhlen sind kreisförmig um einen freien Platz angelegt. Dieser innere Kreis ist die Plattform für alle Rituale der Priesterschaft. Jede Priesterin hat die Möglichkeit einfach aus ihrer Wohnung herauszutreten und sofort ihre Gedanken auf MUS richten. Es ist auch der Treffpunkt für gemeinsame Gebete und Beratungen. Hier werden die Kranken behandelt und bekommen seelischen Beistand, sofern sie den benötigten und wünschen. MUS drängt sich nie auf. Sie hilft bei unseren Sorgen und Nöten, bei Entscheidungen, sie berät uns, allerdings nur, wenn wir es wünschen. Sie spricht in den meisten Fällen durch die Priesterinnen, gelegentlich durch einen Priester, zu uns, es sind aber auch direkte Kontakte in den Geschichten überliefert. Kommt man in Bedrängnis, wird sie immer einen Weg finden zu helfen.
In Taras Wohnbereich angekommen, sehen wir, dass noch mehr Bewohner sich Sorgen machen. Einige Priesterinnen sind anwesend. Tara stellt uns vor und kommt dann gleich zur Sache.
„Wir wollten es erst draußen machen, aber ein paar warfen uns schiefe Blicke zu, deshalb hier drin bei mir. Also, habt Ihr Euch überlegt, was man tun könnte, außer beten natürlich, und das werde ich auf jeden Fall tun.“
„Ich könnte mit den Kindern einen Ausflug nach oben machen und nachsehen, wie die Dinge stehen. Wir brauchen erst mal gesicherte Informationen,“ meint Amo.
„Ich habe wieder geträumt, Tara, es war schrecklich!“ Tara fordert mich auf zu erzählen. Während ich meinen Traum beschreibe, werden die Gesichter, die mich anblicken, immer besorgter. Tara wendet sich an Amo.
„Macht das am Besten, schaut selbst nach. Wenn Ihr zurück seid, könnt Ihr uns alles erzählen.“
*
Wir verlassen Tara und machen uns auf den Weg hinaus. Bene läuft einen kleinen Umweg, um Zuhause Bescheid zu geben. Wir Kinder haben heute zum ersten Mal die Gelegenheit, aus der Stadt zu gelangen. Eigentlich hätte es aufregend sein sollen, aber die Sorge, was wir oben vorfinden werden, überwiegt. Es führt bergauf und ist etwas anstrengend, ich bin halt nichts gewöhnt. In der Ferne wird es hell, wir gehen geradewegs darauf zu.
„Maxi, Bene, Cito, hört mir zu,“ sagt Amo, „wir kommen gleich nach draußen, dort bleiben wir erst mal einen Moment stehen, um uns an das Licht zu gewöhnen. Das Wichtigste, und das sage ich Euch nur einmal, ist zusammen zu bleiben. Die Welt ist groß und jetzt können wir keine verlorenen Mäuse gebrauchen. Wir haben eine wichtige Mission. Verstanden!“ Wir nicken.
Dann treten wir in den Sonnenschein. Es ist wirklich sehr hell, so hell, wie in meinen Träumen und viel wärmer als in unserer Erdhöhle. Erst kneife ich die Augen zusammen, aber nach einer Weile merke ich, dass ich mich daran gewöhnt habe. Ich sehe eine hügelige Landschaft und über allem – das Haus – riesig, so etwas Großes habe ich mir, trotz des Traumes, nicht vorgestellt. Auch die Maschinen sind da, sie bewegen sich nicht, es sind keine Menschen zu sehen. Vorsichtig gehen wir weiter. Bene hält sich dicht bei Amo, Cito rennt voraus und ich laufe langsam hinterher, um mich in Ruhe umsehen zu können. Das Gelände ist von einer hohen Mauer umgeben, auf den ersten Blick sieht es nicht so aus, als könne man sie überwinden. Das müsse man vielleicht auch nicht, meint Amo, nachdem ich ihn gefragt habe, manchmal gibt es geheime Gänge um durch oder darunter hindurch zu kommen. Und wenn nicht, kann man immer noch einen Tunnel graben, darauf sind wir Mäuse doch spezialisiert.
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Josselyn war in Gedanken bei Bene und Maxi. Heute sind sie zum ersten Mal draußen. Eigentlich wäre sie gerne selbst mit den Kindern hinausgegangen, aber die gegenwärtige Situation erforderte es eben anders. Sie vertraute Amo, er würde vorsichtig sein und auf ihre Kinder aufpassen. Wenn sie genau darüber nachdachte, waren es auch die seinen. Amo war mit ziemlicher Sicherheit der Erzeuger ihrer Brut. Hoffentlich erklärte er ihnen alles sorgfältig, es gibt schon einige Gefahrenquellen da oben. Insbesondere für so junge Mäuse, wie ihre Kinder.
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Es wachsen einzelne Grasinseln, aber der größte Teil der Grundfläche ist umgegraben und mit tiefen Kratern übersät. Überall liegen gleichförmige Steine zu kleinen Bergen aufgehäuft.
„Man könnte sich gut verstecken hier. Wenn wir zur Mauer gehen wollen, glaube ich, dass wir relativ ungesehen hinkommen würden.“
„Maxi, Du erstaunst mich immer wieder, woher weißt Du das alles?“
„Nun, das Meiste weiß ich aus den Geschichten, aber als ich mich hier umsah, sprang mir der Gedanke durch den Kopf.“
Amo schüttelt den seinen. „Also, die Bedrohung ist echt, so wie es aussieht, sollen die Maschinen irgendetwas bauen oder zerstören. Das würde sich auf jeden Fall auf unsere Stadt auswirken.“
Cito kommt angerannt, „Es ist gar nicht so weit zur Mauer, wir könnten schnell da sein, wenn wir wollen.“
„Stimmt, Ich werde auf jeden Fall mitgehen,“ sagt da Bene, „Ich bin überzeugt, das es das Richtige ist.“ Ich bin froh, dass er mein Bruder ist, wie Tara schon gesagt hatte, auf ihn kann man sich verlassen. Leider haben wir nicht genug Zeit, um mehr herauszufinden. Daheim wird sich Mutter um uns sorgen. Aber ich nehme mir fest vor, so bald wie möglich nach einer Zuflucht zu suchen. Natürlich nicht allein, Bene hat ja schon von sich aus zugesagt, auch die Anderen teilen meine Meinung. Eine Expedition muss sofort geplant werden, so ruhig, wie im Moment wird es nicht bleiben. Wenn die ganzen Maschinen zum Leben erwachen, wird es hier nicht mehr sicher sein. Auf dem Rückweg vereinbaren wir, nach einer Runde Schlaf aufzubrechen, auf die Suche zu gehen. Wir schlafen oft, wenn wir jung sind, vier bis fünfmal am Tag, sonst sind wir einfach nicht aufnahmefähig. Amo verspricht Tara zu informieren und sich später wieder hier einzufinden.
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Nach ein paar Stunden treffen wir uns wieder, Amo hat Tara und einen Freund mitgebracht, der ebenfalls bei den Wächtern dient. Er heißt Autax und kennt die Mauer.
Unsere Mutter Josselyn umarmt Bene und mich ganz fest und ermahnt uns.
„Seid vorsichtig meine Lieben, ich werde für Euch beten... ach jetzt muss ich doch noch weinen, aber dass die Kinder schon mit Siebzehn aus dem Haus und auf eine lange Reise gehen, ist auch etwas Besonderes. Passt auf Euch auf und denkt daran, Eure Geschwister und ich warten hier auf Euch. Ich hoffe, Ihr findet was Ihr sucht.“
Mein Hals ist ganz trocken und mir versagt die Stimme.
Ich küsse sie auf die Nase und renne aus der Höhle.