Читать книгу Das neue Leben / Maxi I - Isabel Tahiri - Страница 4

II

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Als wir an die Oberfläche kommen, dämmert es bereits. Amo und Autax klären uns über die Gefahren der Nacht auf.

„Es gibt Jäger, die jagen uns nachts. Eulen zum Beispiel. Die sind viel größer als wir, hocken auf einem Baum und warten darauf, dass sie uns erwischen. Eulen gleiten meistens von oben auf uns herab und sind dabei relativ lautlos. Das ist gefährlicher, als ein brüllender Angreifer, Ihr erkennt es meist erst, wenn ihr Schatten auf Euch fällt.“

„Aber Amo,“ sagt Bene, „Wie können wir uns dann überhaupt schützen?“

„Kinder, wenn wir uns bemühen immer im hohen Gras und unter den Büschen laufen, können wir nicht so leicht gesehen werden und wären zumindest einigermaßen sicher. Am Besten ist es, zusammenzubleiben, sehr wenig oder gar nicht zu reden und rasch zu gehen.“

Autax erhebt seine Hand „Dann gibt es noch Katzen, auch wesentlich größer, sie lauern oft hinter einem Gebüsch. Ihnen ist sehr schwer zu entkommen. Sie haben die Angewohnheit, uns erst zu foltern bevor sie uns fressen.“

„Jetzt mach doch den Kindern keine Angst, Autax, wir haben ja nur ein kurzes Stück.“ Amo schüttelt den Kopf.

Autax zwinkert „Ok, ist ja schon gut, ich höre auf.“

Plötzlich hebt Amo die Pfote. „Psst“, er hört anscheinend ein Geräusch. Dann zeigt er auf einen Busch, in dem wir sofort verschwinden. Er schleicht schnell davon. Kurz darauf hören wir es rascheln, etwas quiekt verschreckt und Amo bricht mit Berti durchs Gebüsch.

Mein Bruder ist uns heimlich hinterher geschlichen. „Lasst mich mitkommen,“ ruft er. „Ich habe alles gehört und will helfen. Außerdem hört sich das sehr aufregend an.“ Er möchte auf jeden Fall auch ein Abenteuer erleben und unbedingt mitkommen.

„Hier können wir nicht reden, das ist zu gefährlich,“ erklärt Amo. „Ich kenne eine kleine Höhle gleich da hinter diesem Busch. Lasst uns dort weiterreden.“

Er läuft rasch voran und wir anderen folgen ihm schweigend. Kaum angekommen schlüpfen wir durch den Eingang und lassen uns zu Boden fallen. Alles ist herrlich weich mit Gräsern ausgelegt.

„Ich nutze die Höhle, wenn ich mal außerhalb der Stadt übernachten muss, ist sehr praktisch, wenn man ein paar Verstecke kennt,“ sagt Amo.

„Also,“ Tara fängt gleich an zu reden „Berti will mit. Einerseits ist es ja toll, das er soviel Motivation hat, aber vergesst nicht, ich habe ihm seinen Namen gegeben. Ich kenne ihn also ein wenig. Er ist ein kleiner Schlawiner,“ sie zwinkert freundlich in Bertis Richtung. „Ich schätze mal, er könnte viel Unsinn anstellen.“

Berti fällt ihr ins Wort „Ich werde ganz brav sein, ich verspreche es, bitte, nehmt mich mit.“

„Das müssen alle gemeinsam entscheiden, es ist wie auf der Ratssitzung, erinnert ihr Euch? Jeder darf dazu etwas sagen und danach stimmen wir ab.“

Amo räusperte sich „Also ich bin dafür, ihn mitzunehmen, er ist ganz wild drauf. Und sind wir mal ehrlich, weil wir jede Maus gebrauchen können. Für diese Aufklärungsmission sind wir sowieso viel zu wenig Leute.“

Autax zuckt mit den Schultern „Mir ist er auch willkommen, ich denke, er weiß, dass die Mission ernst ist, und benimmt sich entsprechend. Wenn er alles so genau gehört hat, muss ihm das eigentlich klar sein.“

Tara schaut Bene an „Er ist mein Bruder, warum nicht? Ich bin gern mit ihm zusammen.“ Wir müssen lachen.

„Na dann, ich bin auch dafür, wenn er nun schon da ist“. Seufzend erlaubt sie Berti, mit dabei zu sein.

„Ich gehe zurück, und sage Eurer Mutter Bescheid, sonst sorgt sie sich zu Tode,“ sagt Amo. „Ihr werdet schön hier warten, in dieser Höhle seid ihr einigermaßen sicher. Geht bitte nicht raus, und versucht Euch ruhig zu verhalten. Bis der Mond aufgeht, werde ich wahrscheinlich zurück sein und dann marschieren wir weiter.“ Er dreht sich grußlos um und verlässt schnell die Höhle.

*

Josselyn vermisste plötzlich Berti, eben war er doch noch da, wo ist der Bengel nur wieder hingelaufen? Sie rief laut nach ihm. “Berti....Berti, komm her, es ist Zeit fürs Nest.“ Aber sie erhielt keine Antwort.

Sie schaute auf den Gang vor der Höhle, von Berti war nichts zu sehen. Da fiel ihr wieder ein, wie aufmerksam er zugehört hatte, auch das Leuchten seiner Augen sah sie vor sich. Er war an der Expedition mehr als nur interessiert gewesen. Er wird ihnen doch nicht etwa nachgeschlichen sein? MUS hilf!

Zuzutrauen wäre es ihm, sie rief nochmals laut, „BERTI!“, aber sie bekam keine Antwort. Dann hörte sie ein Geräusch, vielleicht hatte er sie nicht gehört.

Auf ein Mal stand Amo vor ihr. „Vermisst Du nicht etwas?“ Fragte er lächelnd.

Josselyn ließ die Schultern hängen. „Er ist Euch nachgelaufen, stimmts?“

„Ja, er will unbedingt mit, sei ihm nicht böse. Er ist jung und abenteuerlustig...“

„Ach was, ich bin nicht böse, ich verstehe den Lausebengel sogar, aber er hätte wenigstens fragen können.“

„Hättest Du es denn erlaubt?“ Fragte Amo.

Josselyn lächelte, „Nein, natürlich nicht.“

*

Jeder sucht sich ein gemütliches Plätzchen und ruht sich aus. In der Wartezeit unterhalten wir uns leise über die Mission.

Berti sitzt in der Nähe des Eingangs und späht hinaus. „Meinst Ihr, wir werden eine Zuflucht finden?“

Tara winkt ihn zu sich her. „Wenn wir uns gründlich umsehen, und uns große Mühe geben, wird MUS uns beistehen. Sie versucht eigentlich immer ihren Kindern zu helfen. Ich habe Hoffnung, dass wir eine geeignete Stelle finden werden. Es muss ja noch irgendwo einen Ort geben, an der wir eine neue Stadt gefahrlos einrichten können.“

„Tara hat bestimmt recht,“ meint Autax, „wenn wir die Mauer überwinden können, und das ist im Moment das anstehende Problem, dann bin ich auch der Meinung, dass wir in dem neuen Land dahinter etwas finden werden. Ich glaube daran.“

Bene hat sich aufgerichtet und das Gespräch verfolgt. „Was muss denn getan werden, wenn wir etwas finden? Das wird ja nicht einfach auf uns warten, bestimmt muss einiges hergerichtet werden.“ Er hat offensichtlich nachgedacht.

Tara überlegt kurz. „Ja, das ist ein guter Gedanke, also, auf was müssen wir uns einstellen? Sollten wir eine Zuflucht finden, muss erst mal sichergestellt werden, dass kein anderer darauf einen Anspruch hat. Wir müssen den Ort und die Umgebung auf Spuren anderer Mäuse untersuchen, dann wissen wir auch gleich, ob dort vielleicht jemand lebt. Wenn das geklärt ist, und niemand die Höhle für sich beansprucht, geht die Arbeit erst richtig los. Die Räume, falls vorhanden, müssen gereinigt werden. Oder es gibt nur einen Raum, dann müssen wir uns ein paar Schlafhöhlen graben. Auch wenn wir nicht so gerne sammeln, als Stadtmaus sind wir das nicht mehr gewohnt, muss man doch ein paar Vorräte anlegen. Wenn die anderen nachkommen, sind sie von der langen Reise erschöpft und werden essen wollen. Wichtig ist auch der Zugang zu Wasser, wir können, ich schätze mal, höchstens vierundzwanzig Stunden ohne Wasser auskommen. Danach verdursten wir qualvoll.“

Autax unterbricht sie. „Ja, ich war mal acht Stunden ohne Wasser unterwegs, da litt ich schon schrecklichen Durst. Seitdem achte ich immer verstärkt auf jedes Rinnsal und jede Pfütze.“

Berti fragte „Kann man irgendwie erkennen, vielleicht anhand der Landschaft, ob es irgendwo Wasser gibt?“

„Ja, Berti, ich sehe, Du hast Dir bereits Gedanken gemacht, es gibt verschiedene Anzeichen.“ Tara erklärt gern. „Wenn zum Beispiel einige Libellen herumfliegen, kannst du ziemlich sicher sein, in einem Umkreis von dreihundert Mauslängen Wasser zu finden, oder hört man Frösche quaken, ist das Wasser sogar noch näher. Auch Bäume kann man für die Suche mit einbeziehen. Seht Ihr eine Pappel oder Weide, ist auch Wasser in der Nähe, diese Bäume lieben feuchte Untergründe. Manchmal sogar in Mulden und Talkesseln, da kann sich das Regenwasser oft lange halten. Auch andere Pflanzen sind Wasseranzeiger, wie Schilf oder Rohrkolben zum Beispiel. Ihr seht, es gibt viele Möglichkeiten.“

„Das ist ja toll,“ sagt Cito „Das wusste ich gar nicht, ist in den Geschichten nicht vorgekommen.“

„Ich könnte vielleicht auch davon träumen.“

„Ja, Maxi, das stimmt. Das ist auch einer der Gründe, auf eine lange Reise immer eine Priesterin mitzunehmen. Um wieder zum Anfangsthema zurückzukommen, wenn alles überprüft und gereinigt ist, sollte eine Priesterin ein Gebet über den neuen Wohnort sprechen. Der Segen von MUS ist wichtig, damit sich eine Siedlung gut entwickeln kann.“

Wir denken eine Weile über ihre Worte nach. Ich stelle mir vor, wie es wäre, eine erwachsene Priesterin zu sein. Man muss viel mehr wissen, als je in den Kindergeschichten vorkommt. Ich habe nach dieser Reise noch einiges zu lernen. Obwohl man auf jeden Fall auch jetzt schon eine Menge lernen kann. Tara erklärt immer alles sehr ausführlich.

*

Zwei Stunden später ist Amo wieder zurück. Ich bin überrascht, er muss ziemlich schnell gerannt sein.

„Ich soll Euch Grüße von Euer Mutter ausrichten. Sie sagt, als sie Dich vermisst hat, Berti, hat sie auch die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass Du Dich uns anschließt. Aber Du hättest etwas sagen sollen, Josselyn hat sich große Sorgen gemacht. Abschließend meint sie noch, dieser ganze Wurf ist etwas Besonderes und ihr sollt alle wieder gesund zurückkommen.“

Obwohl wir noch gar nicht lange von zu Hause weg sind, tut es mir doch gut, die Worte meiner Mutter zu hören. Ich lächle Amo an.

„Danke“, sage ich zu ihm und er lächelt zurück.

„War Mutter nicht böse auf mich?“ Der Gesichtsausdruck meines Bruders hat sich von zerknirscht in lächelnd verwandelt.

„Nein, eigentlich fand ich sie sehr verständnisvoll, in Anbetracht der Situation. Josselyn ist einfach eine vernünftige Frau. So, ich habe ein ziemliches Tempo vorgelegt, und bin leicht erschöpft. Bevor wir weitergehen, würde ich mich gern noch etwas ausruhen, OK?“

Nachdem Amo eine Weile geschlafen hat, verlassen wir diese gemütliche Erdhöhle, um weiter in Richtung Mauer zu gehen.

Der Mond scheint jetzt richtig hell und wir können die Umgebung und den Weg ausmachen. Es sieht alles verzaubert aus in diesem milchigen Licht. Ohne irgendwelche Schwierigkeiten nähern wir uns dem Fuß der Grenzmauer. Sie ist, gemessen an uns, schon gewaltig hoch, und viele Mauslängen breit. Die Mauer erstreckt sich von den Grenzen unseres Landes im Westen, bis weit nach Osten. Obwohl der Mond sehr hell ist, liegt ein Teil von ihr im Schatten. Auf mich wirkt sie leicht bedrohlich, ich fühle mich klein und hilflos bei ihrem Anblick. Wenn man hinauf blickt, erscheint sie endlos hoch, da hinüber zu klettern wird anstrengend werden. Während wir noch nach oben starren, kommt plötzlich ein großes Tier in unsere Richtung, sofort ducken wir uns hinter dem hochgewachsenen Gras, das die Mauer säumt.

„Ein Igel“, erklärt Autax, „Ich werde versuchen mit ihm zu reden. Igel und Mäuse sind ja keine Feinde.“

Die kurze Unterhaltung, der Igel lässt Autax gar nicht richtig ausreden, er schüttelt den Kopf und läuft weiter, bringt uns keine neuen Erkenntnisse. Er macht den Eindruck, nicht zu wissen, was auf der anderen Seite der Mauer ist und Lust zu reden, hat er wohl auch nicht.

Wir bewegen uns zuerst in Richtung Westen, auf das Ende der Mauer zu, es erscheint näher als im Osten. Alle suchen aufmerksam schnüffelnd nach einem Unterschlupf oder einer kleinen Höhle, aber wir finden nichts Geeignetes. Die paar winzigen Spalten eignen sich nicht für die Errichtung einer Stadt. Also kehren wir um, und folgen der Mauer in östlicher Richtung, zurück zu dem Platz unserer Ankunft. Ich bin enttäuscht, habe ich mir doch wenigstens eine Möglichkeit erhofft.

„Tja“, sagt Autax, „das hat mal nicht viel gebracht. Also gehen wir noch weiter oder wollt Ihr lieber rasten?“

Wir wollen einstimmig weiter. Nach einer halben Stunde halten wir dann aber doch, denn wir entdecken eine gemütliche, hinter hohen Gräsern versteckte, Mulde, in die alle bequem hineinpassen. Es ist ja nicht kalt, immerhin ist Sommer, da muss es nicht unbedingt eine Höhle sein.

„Ok,“ sagt Autax. „Wenn wir hierbleiben, muss immer einer Wache halten, solange die anderen schlafen. Es gibt auch noch Frettchen und Marder. Auch eine Katze schleicht nachts gern mal herum. Ich halte die erste Wache, Amo, übernimmst Du die zweite?“

Amo nickt zustimmend und rollt sich gleich zusammen.

Da bemerkt Cito ein kleines Loch, ungefähr auf halber Höhe der Mauer. Er bietet an, hinauf zu klettern, um nachzusehen, ob das ein besseres Versteck für die Nacht wäre. Tara will ihn noch bitten, vorsichtig zu sein, aber er ist schon unterwegs. Von unten schaue ich ihm nach, blitzschnell krabbelt er die Wand hoch, findet Vorsprünge, um sich festzuhalten, und verschwindet kurz darauf im Schattenbereich der Mauer. Ich kann ihn nicht mehr sehen.

Während wir in der Mulde sitzen und warten, streift Berti neugierig ein bisschen herum. Autax warnt ihn zwar vorsichtig zu sein, verbietet es ihm aber nicht. Dann entdeckt mein Bruder eine große Sonnenblume, er kommt zurückgelaufen und berichtet uns davon.

„Wetten, da kann ich gut hinaufklettern?“

„Ja, das glaube ich Dir,“ antwortet Tara, „aber sei bitte vorsichtig!“

Der Stamm der Blume ist rau und bietet sicheren Halt, das ist in den Geschichten vorgekommen. Berti klettert problemlos hinauf.

„Hier hat man eine gute Aussicht,“ ruft er herunter. „Aber Cito kann ich nicht sehen.“ Inzwischen war er bis zu der riesigen Blüte emporgeklettert.

„Hier gibts was zu essen.“ Verkündet er und wirft eine Menge Kerne nach unten. Wir sammeln sie auf. Ich versuche sie gerecht zu verteilen und behalte ein paar für Cito, er wird Hunger haben, wenn er von seiner Kletterpartie zurück ist. Er hat mir von Anfang an gefallen, seit dem Tag, als ich ihn bei seiner Familie zum ersten Mal sah. Sein schelmisches Grinsen hat es mir angetan. Er hat etwas an sich, dass mich anzieht. Ja, ich seufze, er gefällt mir sehr. Und wie mutig von ihm, einfach so, die ihm unbekannte Mauer zu erklettern.

So bin ich ganz in Gedanken versunken, als Cito kurz darauf von der Mauer direkt in unseren Kreis springt. „Ich habe eine schöne Höhle gefunden, es ist gar nicht so weit und es zweigen viele Gänge ab, vielleicht ist das ein Weg durch die Mauer.“ Alle loben ihn und ich reiche ihm, mit einem Lächeln, die Sonnenblumensamen. Während er isst, überlegen wir heute noch zur Höhle hinauf zu klettern, um die Nacht darin zu verbringen, aber Amo lehnt es ab. Es sei zu gefährlich in der Nacht mit uns Jungmäusen, er habe Josselyn versprochen uns heil wieder nach Hause zu bringen. Also kuscheln wir uns an Ort und Stelle zusammen und versuchen zu schlafen. Den Wachwechsel bekomme ich nicht mit, ich habe tief und traumlos geschlafen. Mein Gefühl hat mir gesagt, Amo wird mich immer beschützen.

Amo wurde von Autax zur Wachablösung geweckt.

„Und?“ Fragte er.

„Nichts.“ Antwortete Autax, und ließ sich auf Amo´s noch warmen Platz nieder.

Während er die Umgebung beobachtete, kreisten seine Gedanken um die Kinder. Das war eine große Verantwortung für ihn. Josselyn würde ihm den Kopf abreißen, wenn einem ihrer Lieblinge etwas passieren würde. Er musste sie ständig im Auge behalten und um jeden Preis beschützen. Niemand hatte eine klare Vorstellung, was sie in dem neuen Land erwartete. Er nahm sich fest vor, gut aufzupassen.

*

Als ich erwache, schimmert schon das erste Morgenlicht, es ist warm. Ich glaube, das wird ein heißer Tag werden. Die anderen sind bereits wach. Bene ist eifrig damit beschäftigt, hinter Tara herzulaufen. Er stellt ihr immerzu Fragen.

„Gibt es in den Geschichten eine Reihenfolge, oder ist es egal, wann man welche erzählt?“ Tara antwortete bereitwillig.

„Es gibt ungefähr hundert wichtige Geschichten, die jede junge Maus kennen sollte. Die Mütter müssen also ungefähr zehn am Tag erzählen. MUS hat es so eingerichtet, dass es für jeden Lebenstag zehn bestimmte gibt. Je älter die Kinder werden, umso anspruchsvoller werden auch die Geschichten. Aber in welcher Reihenfolge sie an dem bestimmten Tag erzählt werden, ich schätze, das macht jede Mutter wie sie es für richtig hält. Die einzige Geschichte, die jede Mutter zuerst erzählt, ist die Geschichte der Abstammung. Die müsst Ihr auch als erstes gehört haben.“

Ich erinnere mich. 'Du bist ein Kind vom Volk der freien Mäuse, Deine Mutter heißt Josselyn.'

„Warum haben Väter nichts mit ihren Kindern zu tun? Meistens kennen sie einander ja gar nicht.“

„Das würde ich auch gerne wissen,“ sagt Amo. „Ich mag meine Kinder und kenne auch die Meisten, aber die anderen Männer schauen mich deswegen immer ein bisschen schief an.“

Tara überlegt. „Nun, einen richtigen Grund dafür gibt es nicht. Es hat sich wohl einfach so entwickelt. Unter den alten Geschichten gibt es durchaus welche, die von kompletten Familien erzählen, also Mutter, Kinder und dem dazugehörigen Vater. Diese 'Eltern' haben ihre Kleinen gemeinsam aufgezogen.“

„Das würde mir sehr gut gefallen, ich kümmere mich gerne um andere und bedauere immer, dass ich nicht für meine Kinder sorgen darf. Das gefällt mir an dieser Expedition so gut. Drei meiner Kinder sind dabei. Und ich kann sie beschützen!“ Er lächelt uns der Reihe nach an.

Ich bemerke, dass ich angefangen habe, ihn lieb zu gewinnen. Jetzt weiß ich auch warum. Er hat es eben offiziell gesagt, er ist unser Vater! Nun, die Reise ist lang, da kann man sich gegenseitig sehr gut kennenlernen.

„Nun aber Schluss mit der Fragerei, wir müssen los.“ Tara klingt entschieden, da tut man besser, was sie sagt.

*

Berti liebte das Klettern, es forderte ihn heraus, immer wieder musste er nach einer Möglichkeit suchen, sich festzuhalten. Er war schon ein Stück die Mauer hochgestiegen, von hier konnte er die Schlafmulde sehen. Vor lauter Schauen griff er daneben, verlor den Halt und kugelte hinunter. Er fiel den anderen direkt vor die Füße.

„Meine Güte, MUS, hast du dich verletzt, Berti?“ Fragte Tara besorgt. Er schüttelte den Kopf, obwohl er sich die Pfoten aufgeschürft hatte, sagte er nichts. Er würde sich auf gar keinen Fall bemitleiden lassen.

*

Im Stillen beschließe ich, meinen späteren Gefährten in die Familie einzubinden. Ja, ich würde nur einen akzeptieren, der Anteil nimmt. Ich habe mir immer vorgestellt, die Väter haben kein Interesse an uns Kindern, aber das scheint auf Amo nicht zuzutreffen. Es gibt bestimmt andere Männer, die ähnliche Gefühle haben. Nur, weil seit Ewigkeiten niemand mehr diesem Weg gefolgt ist …

Mir gefällt die Idee. Ich nehme mir vor, das in der neuen Gemeinde wenigstens zu versuchen. Vielleicht wird man bald eine Geschichte darüber erzählen können. Über Familien, die aus der Mutter, dem Vater und den zugehörigen Kindern berichtet.

*

Hintereinander klettern wir Cito nach, der uns den Weg zeigt. Es ist gar nicht so schwer, wie ich es mir vorgestellt habe. Überall gibt es Möglichkeiten, sich festzuhalten. Kleine Vorsprünge, Pflanzenranken, abgebrochene Steine und diverse Vertiefungen. Die Mauer ist gar nicht so glatt und eben, wie es von unten aussieht. Schon nach kurzer Zeit erreichen wir den Höhleneingang.

Es kommt ein unvertrauter Geruch aus dem Inneren. Eigentlich sehr angenehm, so frisch und würzig, mit einem metallenen Beigeschmack. Ich kann ihn nicht richtig einordnen.

„Das riecht nach Moos, wenn wir Glück haben werden wir vielleicht Wasser finden.“ Sagt Amo und geht zuerst durch den gezackten Eingang.

Wir anderen folgen ihm zögernd. Innen ist es kühl und direkt am Einschlupfloch wächst ein weicher, grüner Moosteppich. Es ist sehr angenehm, darauf zu laufen. Bis sich meine Augen an die Lichtverhältnisse anpassen, bleibe ich auf dem leicht feuchten Moos sitzen. In einer Ecke gibt es einen kleinen Teich, der von Wasser gefüllt wird, das im Inneren der Mauer herabläuft. Ich sehe mich weiter um, die Haupthöhle ist groß, oder es wirkt nur so, weil die Decke so hoch ist? Mir kommt sie jedenfalls sehr geräumig vor. Tara kostet, bevor sie uns trinken lässt. Durch das ungetrübte Wasser kann man bis auf den Grund des Beckens sehen. Es riecht und schmeckt anders als zu Hause, leicht metallisch, aber nicht unangenehm.

„Wer wagt es, aus der Quelle des Lebens zu trinken?“ Die Stimme donnert über uns hinweg. Alle zucken zusammen. „Verschwindet Eindringlinge! Und kommt nie mehr wieder!“

Wer ist das? Ein merkwürdiges Gefühl erfasst mich, eher eine Eingebung, dass es an mir liegt, etwas zu dem Wesen zu sagen.

„Bitte, wir versuchen auf die andere Seite der Mauer zu kommen und als wir diese Höhle fanden, haben wir geglaubt, das es möglich sein könnte. Ich entschuldige mich, dass wir von Ihrem Wasser getrunken haben, aber der Aufstieg war anstrengend und wir hatten Durst.“

Wir hören die Stimme wieder, leiser diesmal und weniger barsch.

„Versuchen jetzt schon die Kinder über die Mauer zu kommen, das Unglück bei Euch muss groß sein.“

Ein uraltes Feldmausmännchen tritt aus einer Nische. Sein dunkelgraues Fell sieht etwas zerzaust aus, er lächelt uns aber freundlich an.

„Mein Name ist Custos, ich hüte die Quelle des Lebens seit mehr als dreitausend Tagen. Ihr seid die Ersten, die seit mindestens tausend Tagen hier vorbeigekommen sind. Keiner kennt mehr die alten Mythen. Früher kamen die Leute von überall her um zu beten und das Wasser zu trinken. Es heilt alle Wunden und verlängert das Leben.“

So etwas ist in keiner Geschichte vorgekommen, daran würde ich mich erinnern. Er kommt näher heran und betrachtet jeden einzelnen von uns sehr genau.

Auf einmal kniet Tara nieder. „Ich bin eine Priesterin der MUS und in keiner unserer Geschichten wurde je davon berichtet. Lass mich bei Dir bleiben und lernen.“

Custos schaut sie lange an, man bekommt den Eindruck, er würde in ihr Innerstes, in ihre Seele, blicken und nickt. Die Priesterin strahlt vor Freude.

Aber Amo macht ein unglückliches Gesicht. „Das geht doch nicht, Tara, dann haben wir doch keine Priesterin mehr bei uns, wir werden eine brauchen, wenn wir eine Zuflucht finden sollten.“

Doch Custos meint. „Ihr habt eine, wenn auch noch eine sehr junge, aber sie wurde mit dem Wissen der Mus geboren. Sie kann alles, was Tara auch für Euch tun würde, und mehr.“

Er meint mich!? „Aber ich bin heute doch erst Achtzehn geworden.“

„Das macht nichts, Du wurdest von der Göttin bestimmt, Dein Volk zu führen, und Du wirst es sehr weise tun, kleine Priesterin. Ich blicke in Deine Seele und kann es sehen. Du wusstest doch auch, dass Du mich ansprechen kannst.“

Alle sehen mich an. „Ja, irgendwie hatte ich so ein Gefühl, dass ich mit Dir sprechen sollte.“

„Siehst Du, MUS hilft Dir, Deine Eingebungen sind auch eine besondere Gabe, Du kannst es schaffen.“ Er blickt mich aufmunternd an.

Ich denke darüber nach und fühle mich trotzdem dieser Verantwortung nicht gewachsen. Ich hatte keinen Unterricht in der Klosterhöhle und überhaupt, wie soll das gehen?

Custos kommt näher und bleibt vor mir stehen. „Ich fühle Deine Zweifel, Kind, aber ich weiß, Du kannst es. Du glaubst doch an MUS?“ Ich nicke verhalten. Die Existenz der Göttin ist mir bekannt, aber ich kenne sie nicht. Nur, weil ich zufällig, als Erhobene geboren wurde, glaube ich nicht automatisch an sie. Mir fehlt dazu jede Menge Unterricht, ich persönlich halte mich nicht unbedingt für eine vollwertige Priesterin.

Custos spricht weiter zu mir. „Du musst es Dir nur zutrauen, und auf Deine Intuitionen hören. Die hast Du von MUS bekommen, sie wird Dich leiten.“ Er hat sich leicht in meine Richtung gebeugt, wohl um die Eindringlichkeit seiner Worte zu unterstreichen.

Tara ist seiner Meinung. „Du bist bereits eine Priesterin, Deine prophetischen Träume haben Dich dazu gemacht. Ich denke wie Custos, Maxi, glaube an Dich! Der Glaube an MUS kommt mit der Zeit. Sie wird sich mit Dir in Verbindung setzen, das tut sie immer.“

Custos nickt beifällig und lächelt. „So jetzt werden wir erst einmal schön zusammen essen, und dann schlaft Ihr ein wenig. Kommt, ich zeige Euch meine Wohnhöhle, dort ist es gemütlicher.“

Das neue Leben / Maxi I

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