Читать книгу Vergnügt! Ein Treffen in den Wolken - Isabella Defano - Страница 5

2. Kapitel

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„Was ist mit dir, Rahel. Bist du am Wochenende mit dabei?“, wollte Leah Schneider lächelnd wissen, während sie sich eine braune Strähne aus dem Gesicht wischte. „Es wird bestimmt toll.“

„Ich kann leider nicht“, erwiderte Rahel traurig und sah ihre Freundin an, mit der sie zusammen eine Ausbildung zur Flugbegleiterin machte. „Meine Eltern wollen unbedingt, dass ich sie nach Österreich begleite. Die Tochter meiner Mutter heiratet doch am Samstag“, erklärte sie frustriert. „Daher musste ich mir morgen freinehmen. Obwohl ich viel lieber zum Unterricht gegangen wäre.“

Überrascht sah die junge Frau Rahel an.

„Du gehst lieber zur Schule als zur Hochzeit deiner Schwester? Bist du verrückt?“

„Sie ist nicht meine Schwester“, stellte Rahel klar. „Ich kenne diese Frau nicht einmal. Meine Mutter hat mit 16 Jahren Zwillinge bekommen und die zur Adoption freigegeben. Tja, und vor etwas über einem Jahr haben die plötzlich angefangen, nach ihrer leiblichen Mutter zu suchen. Seitdem ist in unserer Familie nichts mehr so, wie es einmal war.“

„Oh“, erwiderte Rahels Freundin verwirrt. „Das hast du mir gar nicht erzählt.“

Rahel zuckte mit den Schultern.

„Ich rede auch nicht gerne darüber“, antwortete sie bedrückt. „Wenn es nach mir ginge, würde ich diese Geschichte sogar am liebsten vergessen. Ich meine, warum mussten die nach so vielen Jahren plötzlich auftauchen und alles kaputt machen“, wollte Rahel aufgebracht wissen. „Wir waren eine glückliche Familie. Aber jetzt dreht sich alles nur noch um Jessica und Larissa. Meine Mutter kennt gar kein anderes Thema mehr. Ständig fährt sie nach München oder Österreich, um die beiden zu besuchen. Meine jüngeren Geschwister und ich sind völlig abgemeldet.“

„Das tut mir echt leid für dich“, sagte Leah und sah Rahel mitfühlend an. „Und wieso musst du dann unbedingt mit?“

„Keine Ahnung“, erwiderte Rahel frustriert, während sie zusammen zur Bushaltestelle gingen. „Meine Mutter hofft wohl, ich würde mich von ihren Töchtern einwickeln lassen, wenn ich sie näher kennenlerne. Bei meinen jüngeren Geschwistern hat es nämlich geklappt. Aber die sind erst vierzehn und elf, also noch leicht zu beeinflussen. Ich hingegen weiß es besser und kann auf diese Hochzeit gerne verzichten. Sollen die doch mit ihren Adoptiveltern feiern, statt sich in meine Familie zu drängen.“

Als Rahels Bus kam, stöhnte sie auf.

„Wieso muss er ausgerechnet heute pünktlich sein?“

„Rede doch noch einmal mit deinen Eltern, vielleicht kannst du hierbleiben“, schlug Leah vor, als der Bus anhielt. „Ich würde mich freuen.“

Rahel nickte, obwohl sie nicht daran glaubte, dass ihre Mutter ihre Meinung noch ändern würde, und stieg ein. Kurz winkte sie Leah zu, während sich der Bus in Bewegung setzte, dann ließ sie sich auf einen freien Sitzplatz fallen.

Im Grunde war ihre Situation hoffnungslos, das war ihr völlig klar. Schließlich hatte sie in den letzten Wochen nicht nur einmal mit ihren Eltern darüber gesprochen. Aber ganz egal, mit welcher Begründung sie kam, nichts hatte ihre Mutter überzeugt. Und langsam gingen ihr die Ideen aus.

Nachdem der Bus in der Nähe ihres Elternhauses angehalten hatte, machte sich Rahel nur widerwillig auf den Weg. Am liebsten wäre sie umgedreht und zurück zu ihrer Freundin gefahren. Doch ihre Eltern hätten sofort gewusst, wohin sie gegangen war. Schließlich kannten Leah und sie sich schon ewig.

Bereits im Kindergarten waren sie eng befreundet gewesen und hatten früher sogar im selben Hochhaus gewohnt. Immer hatten sie alles zusammen gemacht und daran hatte sich bis heute nichts geändert. Aus diesem Grund war es für sie nie eine Frage gewesen, auch gemeinsam eine Ausbildung zu beginnen. Und zum Glück hatte man sie beide bei der Fluggesellschaft angenommen.

Leider werden wir aber nie zusammen fliegen, ging es Rahel durch den Kopf und sie stieß mit ihrem Schuh gegen einen Stein. Zwar hatte sie es Leah noch nicht gesagt, doch sobald sie ihre Prüfung bestanden hatte, würde sie von hier wegziehen. Bereits vor Wochen hatte sie darüber mit ihrer Vorgesetzten, Frau Kohler, gesprochen, in der Hoffnung, sie könnte später von einem anderen Flughafen aus starten. Und obwohl sie noch keine feste Zusage bekommen hatte, war sie sehr zuversichtlich, dass es klappte.

Als Rahel das verklinkerte Einfamilienhaus mit schwarzem Ziegeldach im begehrten Stadtteil Köln-Sürth erreichte, blieb sie schweigend stehen und atmete tief durch. Erst vor drei Jahren hatten ihre Eltern dieses Haus gekauft, doch inzwischen fühlte es sich nicht mehr wie ein Zuhause an. Kein Wunder, ging es ihr durch den Kopf, als sie das Auto ihres Vaters sah, vor dem bereits einige Taschen und Koffer standen. Durch die beiden Töchter ihrer Mutter hatte sich alles verändert. Dabei hatte sie dieses Gebäude einmal wegen seines großzügigen Gartens, der guten Lage und ihrem eigenen Zimmer sehr geliebt.

Noch einmal atmete Rahel tief durch, dann ging sie, ohne dem Gepäck einen weiteren Blick zu gönnen, ins Haus hinein. Sie wollte jetzt nur noch auf ihr Zimmer gehen, um sich auf ihre Prüfung als Flugbegleiterin vorzubereiten. Schließlich war dies ihre einzige Chance, diese Stadt und ihre Familie schon bald zu verlassen.

Doch kaum hatte sie die Haustür geöffnet, hörte sie bereits die Stimme ihrer Mutter aus der Küche und ihre Hände verkrampften sich zu Fäusten.

„Rahel, bis du es? Hast du schon deinen Koffer gepackt?“

Rahel machte sich nicht die Mühe zu antworten, sondern ging, ohne ein Wort zu sagen, die Treppe nach oben. Natürlich hatte sie noch nicht gepackt. Warum hätte ich das auch tun sollen?, dachte sie genervt. Schließlich will ich nicht mitfahren. Doch viel Zeit blieb ihr nicht mehr, um ihre Eltern zu überzeugen. Denn bereits morgen früh sollte es losgehen.

In ihrem Zimmer angekommen, das wie die anderen Kinderzimmer im Dachgeschoss lag, warf sie ihre Jacke aufs Bett und setzte sich an ihren Schreibtisch. Kurz sah sie auf ihr Handy, um zu sehen, ob ihr jemand geschrieben hatte, dann griff sie nach ihrer Umhängetasche. Schweigend holte Rahel ihre Notizen und das Lehrbuch heraus und legte alles vor sich hin. Doch sie konnte sich nicht konzentrieren. Zu viel ging ihr im Kopf herum und schließlich gab sie es auf.

Wütend auf die ganze Situation ließ sie sich aufs Bett fallen und starrte an die Decke. Sofort musste sie wieder an die Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter denken, die kein Ende zu nehmen schienen. Dabei waren all diese Streitigkeiten gar nicht ihre Art. Im Gegenteil, meistens schämte sie sich später dafür und hätte sich am liebsten entschuldigt. Doch sie kam einfach nicht damit klar, dass ihre Mutter plötzlich Geheimnisse vor ihr hatte. Es Dinge in ihrem Leben gab, die sie scheinbar nur mit ihren anderen Töchtern teilen wollte. Und sie konnte nicht verstehen, dass ihre Mutter selbst ihr nie von ihren Zwillingstöchtern erzählt hatte.

Rahel seufzte auf und lehnte sich im Schneidersitz an die Wand. Am liebsten würde sie die Zeit zurückdrehen, aber das war nicht möglich. Denn selbst nach einem Jahr konnte sie sich noch ganz genau an den Tag erinnern, als sich das heile Bild ihrer Familie radikal veränderte.

Sie waren von ihrem jährlichen Familienurlaub zurückgekehrt, als ihre Mutter eine Nachricht von ihrem Vater auf dem Anrufbeantworter vorfand. Ohne eine Erklärung war sie daraufhin nach Österreich aufgebrochen, obwohl sie noch nicht einmal ausgepackt hatten. Ganze zwei Tage war sie ohne ein Lebenszeichen weg gewesen und Rahel hatte sich furchtbare Sorgen gemacht. Bis sie dann plötzlich wieder da war und ihrer Familie von ihren Zwillingstöchtern erzählte. Töchter, die sie mit 16 bekommen hatte und die anschließend von zwei unterschiedlichen Ehepaaren adoptiert worden waren.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich meine Babys eines Tages wiedersehe. Es ist wie ein Wunder. Und die beiden sind mir so ähnlich. Sie haben meine blauen Augen und blonde Haare. Und Larissa ist sogar bereits verheiratet und hat selbst zwei kleine Mädchen. Ich kann es nicht erwarten, die beiden kennenzulernen.“

Wut stieg in Rahel hoch, als sie sich an diesen Tag und die schwärmerischen Worte ihrer Mutter erinnerte.

„Sie sind mir so ähnlich“, äffte sie deren Stimme nach.

Das konnte man von ihr natürlich nicht sagen. Sie und ihre Geschwister hatten die schwarzen Haare und braunen Augen ihres Vaters geerbt. Kein Wunder, dass wir jetzt abgemeldet sind, ging es Rahel durch den Kopf. Wahrscheinlich wünscht sie sich, sie hätte die beiden nie weggegeben.

Tränen stiegen Rahel in die Augen und sie wischte sie mit einer Hand fort. Sie fühlte sich von ihrer Mutter verraten. Bisher war sie immer die Älteste gewesen. Hatte sich um ihre jüngeren Geschwister gekümmert und ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern gehabt. Ja, dachte sie verbittert. Ich war die perfekte Tochter, die nie Ärger gemacht oder für Unruhe gesorgt hat. Dass sich jetzt alles nur noch um die anderen Kinder ihrer Mutter drehte, tat sehr weh. Trotzdem wurde wie selbstverständlich von ihr erwartet, diese neuen Schwestern mit offenen Armen willkommen zu heißen. Dabei waren Jessica und Larissa für Rahel nur Fremde.

Verletzt sah sich Rahel in ihrem Zimmer um. Früher hatten an der Wand über ihrem Bett Bilder von ihrer Familie gehangen, aber inzwischen hatte sie diese abgenommen. Nach dem Geständnis ihrer Mutter und dem seltsamen Verhalten ihres Vaters hatten sie sich nur noch falsch angefühlt. Sie waren gar nicht so eine glückliche Familie, wie sie es immer gedacht hatte. Sonst hätte ihre Mutter ihr niemals eine solche Geschichte verheimlicht. Im Gegenteil, sie wäre zu ihr gekommen, um ihr zu erzählen, warum sie ihre Kinder damals weggegeben hatte. Doch wie ihre jüngeren Geschwister hatte sie von ihren Eltern nur das Nötigste erfahren. Ja, man hatte sie wie ein kleines Kind behandelt.

Um sich abzulenken und um nicht länger über die beiden fremden Frauen nachdenken zu müssen, ging Rahel an ihren Schreibtisch zurück. Bald bin ich sowieso weg, ging es ihr durch den Kopf, während sie sich ein paar Notizen machte. Schließlich gab es nach der Trennung von ihrem Freund nichts mehr, was sie in dieser Stadt noch hielt. Im Gegenteil, ihre Eltern waren bestimmt froh, wenn sie weg war.

„Rahel?“

Als Rahel die Stimme ihrer Mutter hörte, legte sie fluchend ihren Stift zur Seite und atmete tief durch. Sie tat so, als hätte sie den Ruf nicht gehört, doch so einfach wollte Liesbeth Biedenfeld es ihr nicht machen. Schritte waren auf der schmalen Holztreppe zu hören, die ins Dachgeschoss führte und bereits nach wenigen Minuten wurde ihre Zimmertür geöffnet.

„Hast du mich nicht gehört?“, wollte ihre Mutter wissen und sah sich suchend um. „Du hast noch gar nicht gepackt?“

„Ich muss lernen“, antwortete Rahel gereizt, ohne sich umzudrehen, und blätterte geräuschvoll eine Seite um. „Die Prüfung ist in zwei Wochen.“

„Das kannst du auch im Auto machen“, erwiderte Liesbeth Biedenfeld freundlich, ohne auf die schlechte Stimmung ihrer Tochter einzugehen. „Schließlich sind wir morgen fast neun Stunden unterwegs. Aber Papa möchte noch heute Abend alles im Wagen verstauen, damit wir gleich in der Früh losfahren können.“

„Und was habe ich damit zu tun?“, wollte Rahel genervt wissen und drehte sich zu ihrer Mutter um. „Ich habe doch gesagt, dass ich nicht mitfahren möchte. Außerdem hat Leah mich gefragt, ob wir am Wochenende zusammen lernen wollen.“

Deutlich frustriert verschränkte Liesbeth Biedenfeld die Arme vor ihrer Brust und sah ihre Tochter eindringlich an.

„Ich dachte, das hätten wir geklärt. Wir fahren alle hin. Schließlich ist es die Hochzeit deiner Schwester.“

„Sie ist nicht meine Schwester“, sagte Rahel leise, doch ihre Mutter hatte es verstanden und stöhnte auf.

„Fang nicht schon wieder damit an“, anwortete sie gereizt. „Ob es dir gefällt oder nicht, Jessica und Larissa sind meine Töchter und gehören somit zur Familie. Wieso machst du es uns also so schwer?“

„Ich habe nicht all die Jahre gelogen und meine Kinder verheimlicht“, antwortete Rahel wütend und stand auf. „Also gib mir nicht die Schuld.“

„Rahel“, erwiderte Liesbeth Biedenfeld angespannt und berührte mit einer Hand ihre Schläfe. „Die Geschichte ist nun schon über ein Jahr her. Langsam ist es genug. Oder glaubst du, für mich war es leicht? Ich hatte all die Jahre keine Ahnung, wo sich meine Kinder befinden. Was hätte ich euch da erzählen sollen?“

„Die Wahrheit“, schlug Rahel immer noch wütend vor und lehnte sich an ihren Schreibtisch zurück. „Stattdessen hast du geschwiegen.“

„Du verstehst es einfach nicht“, sagte Liesbeth Biedenfeld kopfschüttelnd und atmete tief durch. „Das habe ich getan, weil es nichts geändert hätte. Ich habe nie damit gerechnet, meine Kinder noch einmal wiederzusehen. Dass es nun doch passiert ist, ist ein Geschenk. Und ich wünschte, du würdest anfangen, es auch so zu sehen. Und was das Lernen mit Leah betrifft. Ich weiß von der Party am Wochenende. Ihre Mutter hat es mir nämlich erzählt. Und sag nicht, du hättest es nicht gewusst.“

Rahel verschränkte die Arme vor ihrer Brust und fluchte innerlich. Warum muss sie auch ausgerechnet mit Leahs Mutter befreundet sein?, dachte sie frustriert. Doch sie sagte nichts weiter dazu. Es hätte sowieso keinen Sinn.

„Rahel“, ergänzte Liesbeth Biedenfeld ruhig, als ihre Tochter nichts erwiderte, und sah sie eindringlich an. „Ich weiß ja, es ist nicht leicht. Aber ich bin sicher, du wirst Jessica und Larissa mögen, wenn du sie erst besser kennst. Und von mir aus kann Sebastian uns begleiten.“

„Sebastian und ich haben uns schon vor vier Wochen getrennt“, sagte Rahel mit ernster Miene, ohne ihre Mutter aus den Augen zu lassen. „Er wird also kaum mit nach Österreich kommen.“

Überrascht sah Liesbeth Biedenfeld ihre Tochter an.

„Das hast du mir gar nicht erzählt. Was ist denn passiert? Habt ihr euch gestritten? Ihr wart doch immer so ein tolles Paar.“

Rahel zuckte nur mit den Schultern.

„Warum hätte ich dir davon erzählen sollen?“, wollte sie traurig wissen. „Du hast doch auch Geheimnisse vor mir. Außerdem habe ich nicht geglaubt, dass es dich interessiert. Schließlich hat es nichts mit deinen neuen Töchtern zu tun.“

„Ich bin immer noch deine Mutter“, antwortete Liesbeth Biedenfeld bestimmt und sah Rahel eindringlich an. „Du kannst mit mir über alles reden. Das war doch schon immer so. Und daran hat sich nichts geändert.“

„Doch, hat es“, erwiderte Rahel bitter. „Du hast mit den Geheimnissen angefangen. Warum soll ich dir alles erzählen, wenn du nicht genauso ehrlich zu mir bist?“

Liesbeth Biedenfeld atmete tief durch und fuhr sich frustriert durch ihr kurzes dunkelblondes Haar.

„Wir treten auf der Stelle“, sagte sie schließlich und ihre blauen Augen sahen Rahel traurig an. „Du versuchst nicht einmal, mich zu verstehen. Mir war klar, dass es nichts bringen würde, euch mit diesem Schmerz zu belasten. Daher habe ich geschwiegen. Und dafür werde ich mich nicht entschuldigen. Jetzt habe ich die Chance, am Leben meiner Töchter teilzunehmen. So wie ich es mir immer gewünscht habe. Sie können ein Teil meiner Familie sein. Wieso kannst du das nicht akzeptieren?“

„Darum geht es doch gar nicht“, erwiderte Rahel verletzt. „Ich will doch nur die Wahrheit wissen. Wenn du dir das so gewünscht hast, warum hast du deine Kinder dann weggegeben?“, wollte sie nicht zum ersten Mal wissen.

Doch wie immer, wenn Rahel diese Frage stellte, sah ihre Mutter sie auch heute nur schweigend an. Dann wechselte sie das Thema.

„Du solltest jetzt packen. Danach komm runter zum Essen“, sagte Liesbeth Biedenfeld tonlos und verließ das Zimmer.

Schweigend sah Rahel ihrer Mutter hinterher, ohne eine Miene zu verziehen. Erst als die Tür ins Schloss gefallen war, traten ihr die Tränen in die Augen und sie wischte sie mit einer Hand fort. Früher hatten sie sich nie gestritten. Im Gegenteil, sie waren ein richtiges Mutter-Tochter-Gespann gewesen. Aber dieses Geheimnis hatte alles kaputt gemacht. Und es machte sie fertig, dass ihre Mutter mit ihr nicht über die Vergangenheit sprechen wollte.

Da Rahel wusste, dass eine weitere Auseinandersetzung nichts bringen würde, begann sie, lustlos ein paar Sachen in ihre Reisetasche zu werfen. Sie musste es einfach positiv sehen. Schließlich konnte sie in Judenburg auch ihre Großeltern einmal wiedersehen. Da ihre Eltern und Geschwister im letzten Jahr zur Farm gefahren waren, war ihre letzte Begegnung schon einige Monate her. Und Claas und Gertrud Philipps waren immerhin die einzigen Großeltern, die sie noch hatte.

Als Rahel eine halbe Stunde später mit ihrer Reisetasche nach unten ging, saß der Rest ihrer Familie bereits am Küchentisch. Aufgeregt redeten ihre Geschwister durcheinander, denn sie freuten sich darauf, ihre Freunde auf der Farm wiederzusehen. Als sie in die Küche kam, erstarb das Gespräch und Rahel setzte sich schweigend auf ihren Platz.

„Kommst du doch noch zum Essen?“, unterbrach Lars Biedenfeld das Schweigen und sah seine Tochter mit ernster Miene an. „Ich hoffe, du bist fertig mit packen.“

„Ja“, erwiderte Rahel knapp und nahm sich eine Scheibe Brot. „Die Tasche steht neben der Treppe.“

Lars Biedenfeld nickte, sah Rahel aber weiter eindringlich an.

„Besonders glücklich siehst du aber nicht aus.“

„Wundert dich das“, antwortete Rahel ohne nachzudenken, und sah zu ihrer Mutter. „Schließlich werde ich praktisch dazu gezwungen, mitzufahren. Dabei muss ich mich auf meine Prüfung vorbereiten und …“

„Es reicht“, unterbrach Lars Biedenfeld seine Tochter wütend. Dann wandte er sich an seine anderen Kinder. „Tito, Becca, geht bitte nach oben und esst in euren Zimmern weiter.“

Kurz sahen die beiden zu ihrer großen Schwester hin, dann nickten sie und verließen mit ihren Tellern die Küche. Kaum waren sie verschwunden, wandte sich Lars Biedenfeld wieder Rahel zu.

„Langsam habe ich genug von deinem Verhalten“, stellte er klar. „Seit über einem Jahr benimmst du dich wie ein kleines Kind. Dabei solltest du es mit deinen 18 Jahren längst besser wissen. Hör also auf, dich so kindisch zu benehmen, und akzeptiere endlich, dass Jessica und Larissa jetzt zur Familie gehören.“

Verletzt sah Rahel ihren Vater an. Bisher hatte sie immer gehofft, dass er auf ihrer Seite war. Schließlich hatte er sich damals dafür stark gemacht, dass sie in Köln bei ihren Freunden bleiben durfte, nachdem ihre Mutter die Bombe hatte platzen lassen. Aber scheinbar hatte sie sich geirrt. Obwohl ihre Mutter auch ihn jahrelang belogen hatte, hielt ihr Vater zu seiner Frau.

Plötzlich hatte sie keinen Appetit mehr und schob ihren Teller zur Seite.

„Larissa und Jessica“, wiederholte sie leise. „Es dreht sich doch sowieso alles nur noch um die beiden. Ich bin euch inzwischen völlig egal.“

„Du weißt, dass das nicht stimmt“, erwiderte ihr Vater ernst. „Natürlich bist du uns nicht egal. Aber du solltest auch verstehen, wie sehr sich deine Mutter über das Wiedersehen mit ihren Töchtern freut.“

Rahel sagte nichts weiter dazu, sondern sprang von ihrem Stuhl auf und lief nach oben. Sie fühlte sich verletzt und einsam. Und das in ihrer eigenen Familie. Niemand versteht mich, ging es ihr durch den Kopf. Nicht einmal ihr Vater, der ihre Gefühle doch eigentlich teilen müsste. Doch wie die anderen hatte er sich für eine Seite entschieden. Wie sie dazu stand, war völlig egal.

Tränen liefen Rahel die Wangen hinunter und sie ließ sich auf ihr Bett fallen. Früher war alles viel besser gewesen. Seit sie denken konnte, war sie mit allen Sorgen und Problemen zu ihrer Mutter gegangen. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie als Kind vom Fahrrad gefallen war, oder Liebeskummer hatte. Ja, selbst aus ihrem Vorhaben, mit ihrem Freund intim zu werden, hatte sie kein Geheimnis gemacht. Umso schlimmer war das Gefühl des Verrats, als die Wahrheit über die Vergangenheit ihrer Mutter ans Licht kam. Jahrelang hatte sie die Existenz ihrer beiden Töchter verschwiegen und so getan, als würde es sie nicht geben. Und egal, wie ihre Eltern dieses Verhalten erklärten, für Rahel machte es keinen Unterschied. Sie hatte das Vertrauen in ihre Mutter verloren.

Rahel wusste nicht, wie lange sie weinend auf dem Bett gelegen hatte, als ein leises Klopfen sie aus ihren Gedanken riss. Schnell wischte sie sich mit einer Hand die Tränen aus dem Gesicht und setzte sich auf.

„Was ist?“, fragte sie ernst und kurze Zeit später öffnete sich die Tür und ihre jüngeren Geschwister kamen ins Zimmer.

„Stören wir“, fragte die 14-jährige Becca, deren lange schwarzen Haare zu einem Zopf geflochten waren, und zwei braune Augenpaare sahen Rahel fragend an.

„Wir können auch wieder gehen“, ergänzte der fast zwölf jährige Tito. „Wenn es dir lieber ist.“

Rahel schüttelte mit dem Kopf.

„Kommt rein“, erwiderte sie mit einem schwachen Lächeln. Und sah ihren Geschwistern zu, wie sie die Tür zumachten und sich zu ihr auf das Bett setzten.

Lange sagte niemand etwas, bis Becca das Schweigen unterbrach.

„Mama ist traurig“, sagte sie leise. „Und Papa ist wütend auf dich.“

„Hat er das gesagt?“, wollte Rahel mit ernster Miene wissen und ihre Finger verkrampften sich zu Fäusten.

„Nein“, erwiderte Becca und schüttelte mit dem Kopf. „Aber man hat es gemerkt. Er hat kein Wort gesagt, während er das Auto eingeräumt hat. Und Mama hat sich hingelegt. Dabei geht sie sonst nie so früh ins Bett.“

„Die beiden beruhigen sich schon wieder“, antwortete Rahel, obwohl sie nicht wirklich davon überzeugt war. Es ist halt nicht mehr so wie früher, dachte sie traurig. Seit die Zwillinge aufgetaucht sind, hat sich alles verändert.

„Wieso magst du die Jessica und Larissa eigentlich nicht?“, wollte Tito plötzlich wissen und Rahel sah ihren kleinen Bruder überrascht an. „Sie sind doch ganz nett.“

„Das verstehst du noch nicht“, erwiderte sie ausweichend. Wie auch?, ging es ihr durch den Kopf. Die beiden hatten nie so ein enges Verhältnis zu ihrer Mutter gehabt, sondern immer alles zusammen gemacht. Anders als Rahel, die sich dafür oft schon zu alt gefühlt hatte. „Weißt du, ich bin traurig, weil Mama es uns nicht früher gesagt hat“, versuchte Rahel, ihre Gefühle zu erklären.

Becca zuckte mit den Schultern.

„Sie hat ja nicht gewusst, wo sie sind“, nahm sie ihre Mutter in Schutz.

„Stimmt schon“, gab Rahel ihrer Schwester recht. Die beiden konnten ihre Enttäuschung sowieso nicht verstehen. „Aber ihr beide freut euch schon auf morgen, oder?“, wechselte sie das Thema und ihre jüngeren Geschwister nickten.

„Ja“, antwortete Becca. „Es ist echt toll auf der Farm. Alle sind super nett.“

„Sie haben auch ganz viele Tiere“, ergänzte Tito aufgeregt. „Und letztes Mal durften wir auf einem Trecker mit in den Wald fahren.

Rahel nickte nur und hörte den beiden zu, wie sie von ihrem letzten Besuch auf der Farm schwärmten. Obwohl ihre Mutter an diesem Ort aufgewachsen war und ihre Großeltern bis heute dort arbeiteten, war sie selbst noch nie da gewesen. Ihre Mutter hatte es früher nie gewollt und immer die lange Autofahrt als Grund dafür angegeben. Was sich am Ende aber nur als eine weitere Lüge entpuppt hatte. Denn die Entfernung hatte bei dieser Entscheidung keine Rolle gespielt.

Als unten die Haustür ins Schloss fiel, wurde Rahel aus ihren Gedanken gerissen und sie wandte sich wieder ihren jüngeren Geschwistern zu.

„Ihr solltet jetzt lieber ins Bett gehen“, unterbrach sie die beiden und sah auf ihre Uhr. „Es ist schon spät und wir wollen morgen früh los.“

Tito und Becca nickten und standen auf.

„Gute Nacht“, sagten sie gleichzeitig und umarmten Rahel, dann öffnete Becca die Tür und sie verließen das Zimmer.

Schweigend sah Rahel ihren Geschwistern hinterher. Die beiden werden mir fehlen, ging es ihr durch den Kopf. Und das sogar sehr. Denn sobald sie Köln verließ, würde sie Tito und Becca nur noch selten zu Gesicht bekommen. Und dieses Wissen versetzte ihr einen heftigen Stich. Schließlich liebte sie ihre jüngeren Geschwister und ließ sie nur ungern zurück. Doch sie hatte keine andere Wahl. Sie konnte nicht länger in diesem Haus bleiben. Und um sich abzulenken und weil sie sowieso nicht schlafen konnte, ging sie an ihren Schreibtisch zurück, um für ihre Prüfung zu lernen.

Vergnügt! Ein Treffen in den Wolken

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