Читать книгу Verzaubert! Ein Kunstwerk aus Zahlen - Isabella Defano - Страница 4
1. Kapitel
ОглавлениеZwei Monate später.
Konzentriert brachte Joel ein paar Striche aufs Papier, ohne wirklich zufrieden zu sein. Bereits seit Stunden war er mit den Zeichnungen für die neue Kollektion beschäftigt, doch immer hatte er etwas daran auszusetzen. Einmal war das Kleid zu eng, dann zu kurz. Der Schnitt passte nicht oder es waren zu viele Highlights. Inzwischen quoll der Papierkorb über von seinen unzufriedenen Arbeiten, und auch das aktuelle Blatt warf Joel fluchend hinein. Obwohl er eine ganz genaue Vorstellung davon hatte, wie die neuen Entwürfe aussehen sollten, fiel es ihm schwer, seine Vision aufs Papier zu bringen. Mist, dachte er wütend. Wieso bekomme ich das nicht hin? So schwierig ist das doch nicht.
„Verdammt!“, sagte Joel frustriert, als ihm erneut eine Zeichnung misslungen war, und legte den Stift zur Seite. „Wenn es in diesem Tempo weitergeht, wird diese Kollektion nie fertig. Ich hätte mich von Mamma nicht dazu überreden lassen sollen. Ich bin eben kein Modezeichner.“
Plötzlich musste Joel wieder an den Anruf seines Bruders denken, der ihn völlig aus der Bahn geworfen hatte. Natürlich war er sofort nach Hause gefahren, um seiner Mutter beizustehen. Diese war völlig verzweifelt gewesen und gab sich selbst die Schuld an dem Unglück. Sie wusste, wie schwer ihr Mann in den letzten Monaten an der neuen Kollektion gearbeitet hatte. Immer später war er abends nach Hause gekommen, um die geplante Frist einzuhalten. Und statt ihn zu bremsen, wie sie es eigentlich hätte tun sollen, hatte sie seine Überstunden einfach stillschweigend akzeptiert. Für sie war es nichts Neues gewesen, denn schon immer war sein Vater ein Workaholic gewesen. Selbst als seine Kinder noch klein gewesen waren, hatte er viel Zeit in seiner Fabrik verbracht. Hatte sogar das Fabrikgebäude ganz in der Nähe seines Hauses bauen lassen, sodass er problemlos zu Fuß hin- und zurückgehen konnte. Tja, und all dies hatte sich am Ende gerächt. Trotzdem litt seine Mutter bis heute unter großen Schuldgefühlen.
Zum Glück für seinen Vater war er nicht allein, sondern mitten im Gespräch mit seiner Buchhalterin Ariadne Steinmeyer gewesen. Diese hatte sofort den Notarzt gerufen und Erste Hilfe geleistet. Ohne ihren schnellen Einsatz wäre es für Valenzo de Luca wohl nicht so gut ausgegangen. Sondern er wäre an diesem Tag gestorben.
Inzwischen konnten er und seine Familie aber wieder aufatmen. Zur Freude aller hatte sich sein Vater erholt und befand sich nicht mehr in Lebensgefahr. Trotzdem würde es noch eine Weile dauern, bis dieser wieder arbeiten konnte. Aus diesem Grund kümmerten sich Joel und sein Bruder, inzwischen seit zwei Monaten, um die Leitung der Fabrik. Oder besser gesagt er, denn Juan studierte zurzeit in München Modemanagement. Dieser hatte zwar angeboten, sein Zweitstudium abzubrechen, um sich ganz der Firma widmen zu können, aber Joel war dagegen gewesen. Gut, sein Bruder hatte gerade erst mit seinem neuen Studiengang begonnen, doch er wusste, wie wichtig ihm dieser Lehrgang, zusätzlich zu seinem Abschluss in Modedesign, war. Außerdem würde Joel ja nur vorübergehend mit der Arbeit in der Fabrik beschäftigt sein. Nur so lange, bis sein Vater die Leitung wieder übernehmen konnte.
Ein plötzliches Klopfen an der Tür riss Joel aus seinen Gedanken. Noch bevor er „Herein“ rufen konnte, ging diese auf und die Buchhalterin der Fabrik, Ariadne Steinmeyer, kam herein. Wie immer trug sie ein hochgeschlossenes Kostüm, während ihre rotblonden Haare zu einem festen Dutt zusammengebunden waren. Neugierig lehnte sich Joel in seinem Stuhl zurück und sah die junge Frau an. Ich würde sie wirklich gerne einmal mit offenen Haaren sehen, ging es ihm durch den Kopf. Als er jedoch bemerkte, wie sie ihn mit ihren braunen Augen wütend anfunkelte, schob Joel diesen Gedanken beiseite und atmete tief durch. Scheinbar hatte er wieder etwas angestellt.
„Herr de Luca, wir müssen uns dringend unterhalten“, sagte sie schroff. „So geht es einfach nicht.“
Mit schnellen Schritten kam sie auf Joel zu und reichte ihm ein Blatt Papier. Nur kurz überflog er die aufgeschriebenen Zahlen, dann wandte er sich Ariadne wieder zu, die mit verschränkten Armen vor seinem Tisch stehen geblieben war. Trotz ihres strengen Auftretens und ihrer eher unscheinbaren Kleidung konnte Joel nicht leugnen, dass ihm die junge Frau gefiel. Leider beruhte das nicht auf Gegenseitigkeit. Im Gegenteil, alle Versuche, die rechte Hand seines Vaters besser kennenzulernen wurden von ihr konsequent ignoriert, sodass er es schließlich aufgegeben hatte.
„Wollen Sie sich nicht erst einmal hinsetzen“, sagte er mit einem Lächeln auf den Lippen und zeigte auf den gegenüberstehenden Stuhl. „Dann können wir in Ruhe über das Problem sprechen.“
Wütend sah Ariadne Joel weiter an. Sie ließ sich von seinem Charme nicht einwickeln und blieb stehen. Schon früher hatte sie nicht viel von Joel gehalten, doch jetzt reichte es wirklich. Langsam, aber sicher hatte sie genug von der Arbeitsweise ihres jungen Chefs. Seit dieser vor zwei Monaten die Leitung übernommen hatte, waren die Ausgaben deutlich gestiegen. Sie konnte einfach nicht zulassen, dass Joel de Luca mit seiner Arbeitsweise das Unternehmen in finanzielle Schwierigkeiten brachte. Sie hatte sowieso nicht verstanden, warum ausgerechnet er mit der Leitung der Fabrik betraut worden war. Als Leiter der de-Luca-Designfabrik war er eine absolute Fehlbesetzung. Davon war Ariadne fest überzeugt. Seit seinem Abschluss hatte er sich in der Fabrik nicht mehr blicken lassen, sondern war lieber planlos durch die Welt gereist. Natürlich auf Kosten seiner Eltern. Tja, und jetzt? Jetzt verbrachte er die meiste Zeit damit, sich an die weiblichen Angestellten heranzumachen. Sogar sie hatte er am Anfang zum Essen eingeladen. Als würde ich mich freiwillig mit so einem Mann einlassen, dachte sie angewidert.
„Herr de Luca, ich bin nicht hierhergekommen, um erneut über das Problem zu sprechen“, antwortete Ariadne wütend. „Ehrlich gesagt habe ich es satt, jede Woche das Gleiche zu erzählen. Seit Ihr Vater im Krankenhaus ist und Sie die Leitung übernommen haben, sind die Materialausgaben deutlich gestiegen. Wenn das so weitergeht, ist die Firma bald in finanziellen Schwierigkeiten.“
Frustriert stöhnte Joel auf. Nicht schon wieder. Zwar sah die junge Frau ziemlich süß aus, wenn sie so wütend vor ihm stand, trotzdem konnte und wollte er ihr dieses Verhalten nicht länger durchgehen lassen. Schon seit Wochen kam sie ständig in sein Büro, um mit ihm über die Ausgaben zu sprechen, und langsam hatte er genug. Als würde die Firma pleitegehen, nur weil ich ein paar exklusivere Stoffe bestellt habe.
„Ariadne, ich denke, Sie machen sich zu viele Sorgen“, sagte er leicht gereizt. „Ich weiß schon, was ich tue. Außerdem sollten Sie nicht vergessen, dass ich im Moment Ihr Chef bin. Vielleicht sollten Sie sich daher in Ihrer Wortwahl etwas zurücknehmen.“
Statt auf diesen wohlgemeinten Rat einzugehen, funkelte Ariadne Joel nur weiter wütend an.
„Ich habe nur einen Chef, und das ist Ihr Vater. Er hat mich damals eingestellt, damit ich mich um die Finanzen kümmere. Das tue ich nun schon seit einigen Jahren, während Sie nichts anderes getan haben, als das Geld Ihrer Familie auszugeben. Ich weiß nicht, warum Valenzo ausgerechnet Ihnen die Leitung übertragen hat, schließlich haben Sie gar keine Ahnung von diesem Geschäft. Aber statt mit mir zusammenzuarbeiten und meine Vorschläge anzunehmen, geben Sie nur noch mehr Geld für irgendwelche teuren Stoffe aus. Dabei haben wir schon seit Jahren einen viel günstigeren Anbieter, der uns mit Jeans-, Jersey-, Samt- und Seidenstoffen beliefert.“
Im ersten Moment verschlug es Joel die Sprache. Natürlich war ihm längst klar gewesen, dass sie nicht sehr gut auf ihn zu sprechen war. Doch, dass sie ihn für einen Schmarotzer hielt, der sich von seinen Eltern aushalten ließ, war ihm neu. Wie kommt diese Frau dazu, so über mich zu sprechen, dachte er wütend. Sie kennt mich doch gar nicht. Plötzlich wurde Joel bewusst, dass er selbst an diesem Bild nicht ganz unschuldig war. Bis auf seine beiden Geschwister wusste niemand aus der Familie, womit er wirklich sein Geld verdiente. Kein Wunder also, dass es so aussehen musste, als würde er den ganzen Tag nur auf der faulen Haut liegen. Trotzdem, wenn sich jemand über seinen Lebenswandel aufregen dürfte, dann doch wohl seine Familie, und Ariadne gehörte eindeutig nicht dazu.
„So, Sie glauben also, ich hätte keine Ahnung, wie man diese Firma führt“, sagte Joel gefährlich leise und stand auf.
Seine anfängliche Gereiztheit hatte sich inzwischen in echte Wut verwandelt. So musste er wirklich nicht mit sich reden lassen.
„Nur zu Ihrer Information“, sagte er hart und stellte sich genau vor die junge Frau, die nun hochschauen musste, um ihm in die Augen sehen zu können. „Und obwohl es Sie eigentlich gar nichts angeht, ich habe durchaus einen Abschluss in Modedesign. Somit bin ich sehr wohl qualifiziert, hier in der Fabrik die Leitung zu übernehmen. Es mag ja sein, dass ich in den letzten Jahren nicht oft in Dornbirn war, aber das geht Sie überhaupt nichts an. Wahrscheinlich denken Sie, dass niemand Ihnen hier etwas anhaben kann, da Sie die Lieblingsmitarbeiterin meines Vaters sind. Aber ich gebe Ihnen einen guten Rat, halten Sie sich etwas zurück. Ich habe kein Problem damit, wenn Sie mir die aktuellen Zahlen vorlegen. Nicht einmal, wenn Sie mich immer wieder an meine höheren Ausgaben erinnern. Immerhin ist das Ihr Job. Doch ich werde es nicht tolerieren, wenn Sie anfangen, in der Firma über mich herzuziehen, und vielleicht sogar die anderen Mitarbeiter gegen mich aufstacheln. Und jetzt verschwinden Sie.“
Kaum hatte Joel zu Ende gesprochen, klopfte es erneut an der Tür und sein Bruder Juan kam ins Zimmer. Verwirrt sah er erst in das wütende Gesicht seines Bruders und dann zu Ariadne, die irgendwie schuldbewusst wirkte.
„Komme ich ungelegen?“, fragte Juan, während seine rechte Hand immer noch auf dem Türgriff lag.
Joel schüttelte den Kopf.
„Nein“, sagte er bestimmt. „Frau Steinmeyer wollte sowieso gerade gehen.“
Nur kurz sah Juan zu der jungen Frau hin, die zwischen den beiden Brüdern hin- und herschaute. Schließlich gab sie sich geschlagen und, ohne ein weiteres Wort zu sagen, verließ sie das Büro.
Nachdenklich sah Juan Ariadne einige Sekunden lang hinterher, dann schloss er die Tür und ging auf seinen Bruder zu. Dieser hatte inzwischen wieder auf seinen Stuhl Platz genommen und wartete darauf, dass Juan zu sprechen begann. Als dieser sich ihm gegenüber hingesetzt hatte, sah er seinen Bruder forschend an.
„Was war denn los?“, fragte er Joel auf Italienisch. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass du jemals jemanden so zur Schnecke gemacht hast. Ariadne war gar nicht mehr wiederzuerkennen.“
Joel zuckte nur mit den Schultern. Er hatte keine Lust, das ganze Thema noch einmal mit seinem Bruder zu besprechen. Doch so leicht ließ Juan seinen Bruder nicht davonkommen. Immerhin hielten sowohl er wie auch ihr Vater große Stücke auf die junge Frau. Und keiner der beiden wollte riskieren, dass Ariadne die Fabrik verließ. Dafür war sie für das Unternehmen zu wichtig. Mit verschränkten Armen saß Juan deshalb schweigend auf seinen Stuhl, sah seinen Bruder eindringlich an und wartete auf eine Antwort. Schließlich gab sich Joel geschlagen.
„Wir hatten nur eine kleine Meinungsverschiedenheit“, spielte er die Geschichte herunter. „Nichts Wichtiges.“
„Wirklich?“ Juan blieb skeptisch. „Das sah für mich aber ganz anders aus. Außerdem wirkst du gerade ziemlich gereizt und angespannt. So kenne ich dich gar nicht.“
„Es ist nur …“, begann Joel und brach gleich wieder ab. Mist, dachte er frustriert. Was soll ich ihm erzählen?
Am Ende entschied er sich für die Wahrheit, denn sein Bruder würde eine Lüge sofort erkennen.
„Unsere Buchhalterin hält mich für einen Schmarotzer, der sich von seinen Eltern aushalten lässt und planlos durch die Welt fliegt.“
Verwirrt sah Juan seinen Bruder an.
„Und? Genau dieses Bild spielst du allen doch seit Jahren vor. Bis auf wenige Ausnahmen weiß niemand, was du beruflich machst. Das ist also kaum ein Grund, so auszurasten.“
„Ich bin nicht ausgerastet“, erwiderte Joel sofort. Gut, vielleicht bin ich ein bisschen laut geworden. „Ich habe Frau Steinmeyer nur zu verstehen gegeben, dass ich es nicht dulden werde, wenn sie diese Geschichte in der Firma herumerzählt.“
„Joel, praktisch jeder hier in der Firma kennt die Geschichte“, erwiderte Juan gelassen. „Da wird es gar nicht notwendig sein, es jemandem zu erzählen.“
Gereizt fuhr sich Joel mit der Hand durch sein schulterlanges Haar, welches er heute offen trug.
„Vielleicht will ich aber nicht, dass sie so über mich denkt.“
Juan sah seinen Bruder an. Plötzlich wurde ihm klar, worum es in Wirklichkeit ging.
„Du bist an unserer Buchhalterin interessiert?“
„Quatsch“, sagte Joel schnell, doch er wusste, dass sein Bruder ihm nicht glaubte.
Schließlich gab er sich geschlagen.
„Gut, du hast recht, ich finde sie nicht uninteressant. Jedoch beruht das nicht auf Gegenseitigkeit. Im Gegenteil, jeden Versuch, sie besser kennenzulernen, hat sie abgeblockt.“
Als Joel sah, wie sich ein leichter Schatten über das Gesicht seines Bruders legte, bereute er seine Worte sofort. Wieso habe ich nicht einfach meinen Mund gehalten?, dachte er frustriert und sah seinen Bruder an, der ihm so ähnlich war. Als Kind hatte er oft das Gefühl gehabt, in einen Spiegel zu schauen. Und das nicht nur wegen der braunen Augen oder der schwarzen Haare, die bei allen männlichen Mitgliedern der Familie de Luca so typisch waren, oder etwa das gleiche Gesicht. Immerhin waren sie eineiige Zwillinge. Nein, die wohl wichtigste Gemeinsamkeit der beiden Brüder war ihr Charakter. Beide hielten immer an ihren Wünschen und Träumen fest. Niemand konnte dem anderen etwas vormachen. Und egal, was geschah, sie hielten immer zusammen. Jedenfalls war es so gewesen, bevor sich das Leben seines Bruders so radikal verändert hatte. Denn vor fünf Jahren hatte er seine geliebte Frau Maya und sein ungeborenes Baby verloren. Seit diesem Tag gab es für ihn nur noch die Arbeit und nicht ein einziges Mal hatte Joel seinen Bruder lachen sehen. Es war fast so, als wäre ein Teil von ihm mit seiner Frau gestorben. Und ich quatsche hier von meinem Interesse an einer Frau, die ich sowieso nicht haben kann, ging es ihm durch den Kopf. Ich bin so ein Idiot.
„Tut mir leid“, sagte Joel schnell, doch Juan winkte ab.
„Vergiss es, Bruder. Immerhin habe ich dich gefragt. Außerdem kann ich es dir nicht verübeln, dass du dich für unsere Buchhalterin interessierst. Ariadne ist wirklich eine große Bereicherung für die Firma.“
Kaum hatte Juan das Unternehmen erwähnt, wurde er wieder ernst.
„Wahrscheinlich ist es besser so. Du bist nur vorübergehend hier. Sobald es Papà besser geht, wirst du in deine Künstlerwelt zurückkehren. Ariadne ist unsere beste Mitarbeiterin. Es wäre nicht gut, wenn du mit ihr etwas anfangen würdest und dann einfach wieder gehst. Das Unternehmen kann es sich nicht leisten, auf sie zu verzichten.“
Leicht gereizt sah Joel seinen Bruder an. Natürlich, die Firma. Wieso kann Juan nicht einmal an etwas anderes denken, dachte er frustriert. Trotzdem musste er zugeben, dass sein Bruder nicht ganz unrecht hatte. Er würde nur für kurze Zeit in Dornbirn bleiben. Nur so lange, bis sein Vater von seiner Kur zurückkehrte.
„Juan, glaub mir, ich habe nicht vor, etwas mit ihr anzufangen. Ich meine, sie ist ja nicht einmal an mir interessiert. Somit musst du dir darüber keine Gedanken machen.“
Immer noch skeptisch sah Juan seinen Bruder an und Joel beschloss, schnell das Thema zu wechseln. Für heute hatte er genug.
„Warum bist du eigentlich gekommen? Bestimmt nicht, um dich mit mir über unsere Angestellten zu unterhalten.“
Einen kurzen Moment sahen sich die Brüder einfach nur an, dann ging Juan schulterzuckend zum eigentlichen Grund seines Besuches über.
„Stimmt“, gab er zu, „aus diesem Grund bin ich nicht hier. Es geht um etwas viel Wichtigeres. Wie du weißt, war ich in letzter Zeit durch mein Studium sehr eingespannt, doch jetzt sind Semesterferien. Ich habe die letzten Tage genutzt, um mir einen Überblick über unsere Zahlen zu verschaffen. Dabei ist mir aufgefallen, dass die Fabrikverkäufe in der letzten Zeit deutlich zurückgegangen sind.“
Ernst sah Juan seinen Bruder an, während er ihm ein Blatt Papier reichte. Fast eine Minute starrte Joel auf die grafische Darstellung, dann legte er den Zettel zur Seite und sah hoch.
„Glaubst du, es hat etwas mit dem Ausfall von Papà zu tun?“
Juan zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung, doch es muss einen Grund geben. Noch tun uns die fehlenden Einnahmen nicht weh, doch wenn es so weitergeht, sieht es für die Fabrik nicht gut aus.“
Joel nickte. Die aktuellen Ergebnisse waren ziemlich schlecht, das hatte sogar er erkannt. Sie mussten dringend etwas tun.
„Was ist mit den Verkaufsfilialen?“, fragte er seinen Bruder. „Sind sie auch davon betroffen?“
Kurz sah Juan ihn an, dann nickte er. Einen Moment lang sahen sich die beiden Brüder nur schweigend an. Beide wussten genau, was der andere dachte. Verdammt!
„Ich weiß noch nicht, wie schlimm es in den einzelnen Filialen aussieht“, gab Juan nach einer Weile gereizt zu. „Auf jeden Fall haben wir in der letzten Zeit deutlich weniger Kleidungsstücke an die Verkaufsfilialen ausgeliefert. Ich habe bereits mit Alexander und Raphael gesprochen und sie gebeten, mir eine aktuelle Verkaufsstatistik zu schicken. Beide wollen mir die Zahlen bis morgen zukommen lassen. Dann kann ich mir einen Überblick verschaffen, wie schlimm die aktuelle Lage ist.“
Wieder sah Joel auf die Grafik und schüttelte mit dem Kopf.
„Ich verstehe das nicht. Wieso ist es bisher niemandem aufgefallen? Seit Wochen liegt mir unsere Buchhalterin in den Ohren, weil ich mehr Geld für den Einkauf von Stoffen ausgegeben habe. Doch noch nie hat sie erwähnt, dass es Probleme bei den Verkäufen gibt.“
„Vielleicht wäre es ihr aufgefallen, wenn sich durch dich nicht die Ausgaben geändert hätten“, sagte Juan nachdenklich, ohne seinem Bruder die Schuld daran zu geben. „So hat sie wohl angenommen, du wärst schuld daran. Ariadne kümmert sich in erster Linie um die Gehälter der Mitarbeiter und die Rechnungserstellung für den Vertrieb. Um die Einnahmen aus dem Fabrikverkauf kümmert sich jemand anderes, da sie über eine andere Kostenstelle abgerechnet werden. Im Grunde hat Ariadne daher nur gesehen, dass das Guthaben der Firma schrumpft, jedoch nicht, warum.“
„Tja, und weil sie mich für einen Schmarotzer hält, der das Geld seiner Eltern zum Fenster rauswirft, hat sie natürlich mir die Schuld gegeben. Kein Wunder, dass sie im Moment so sauer ist. Sie muss ja wirklich denken, ich wirtschafte die Firma in den Ruin.“
Juan nickte und betrachtete seinen Bruder mit einem ernsten Blick.
„Leider. Papà wollte Ariadne einen Gefallen tun, als er diesen Bereich an einen anderen Mitarbeiter abgegeben hat. Doch wenn ich mir diese Zahlen so anschaue, war dies ein großer Fehler. Sie hätte schnell erkannt, was hier nicht stimmt und Alarm geschlagen. Stattdessen hat Ariadne dich beschuldigt, weil sie keinen Zugang zu den richtigen Daten hatte.“
„Und was machen wir jetzt?“, wollte Joel wissen, während er sich selbst verfluchte. Wieso habe ich mir ihre Berichte immer nur flüchtig angesehen? Wenn ich genauer hingeschaut hätte, wäre mir vielleicht schon früher aufgefallen, dass etwas nicht stimmen konnte.
„Keine Ahnung“, sagte Juan angespannt. „Auf jeden Fall müssen wir uns so schnell wie möglich einen Überblick verschaffen. Ich werde noch heute mit Ariadne reden und sie bitten, sich unsere Zahlen und die aus den Verkaufsfilialen einmal genauer anzuschauen. Gleichzeitig habe ich Alexander und Raphael gebeten, am Freitag zu einem Krisentreffen nach Dornbirn zu kommen.“
„Was ist mit Christian?“, warf Joel ein und dachte an ihren anderen Cousin, der für die Leitung der de-Luca-Farm verantwortlich war. „Zwar ist er nicht direkt von den sinkenden Verkäufen betroffen, doch er beliefert uns immerhin mit Angorawolle. Wenn wir in finanzielle Schwierigkeiten kommen, wirkt sich das früher oder später auch auf seinen Bereich aus.“
Juan nickte. Daran hatte er noch gar nicht gedacht.
„Du hast recht. Ich werde ihn gleich anrufen“, sagte Juan und stand auf.
Kurz bevor dieser die Tür erreichte, kam Joel noch ein Gedanke und er hielt seinen Bruder zurück.
„Warte! Sollten wir es nicht auch unseren Eltern erzählen?“
Juan schüttelte den Kopf und sah seinen Bruder mit ernster Miene an.
„Das halte ich für keine gute Idee. Wenn Papà von den Problemen erfährt, wird er wahrscheinlich sofort seinen Erholungsurlaub abbrechen und mit Mamma nach Österreich zurückkommen. Das wäre ein großer Fehler. Er ist noch nicht so weit. Wenn er jetzt sofort wieder mit der Arbeit beginnt, hat er in Kürze gleich wieder einen Herzinfarkt. Wir müssen das alleine regeln und hoffen, dass alles wieder in Ordnung ist, wenn er aus Italien zurückkehrt.“
Dagegen konnte Joel nichts sagen. Auch er wollte nicht, dass sich die Geschichte wiederholte. Trotzdem war ihm nicht wohl dabei, die aktuelle Situation vor seinen Eltern zu verschweigen. Als sein Bruder kurz darauf das Zimmer verließ, ging er nachdenklich an seinen Schreibtisch zurück. Sie mussten einfach einen Weg finden, das Unternehmen zu retten. Den Verlust seiner Fabrik würde sein Vater nicht verkraften.