Читать книгу In Your Arms - Isabella Kniest - Страница 7
ОглавлениеKapitel 31 – Zurück
Jans Herz fühlte sich schwer wie leicht an.
Liza.
Wunderschöne Liza.
Wie gerne hätte er sie weitergeküsst … immer weitergeküsst …
Er warf einen Blick aus dem Fenster. Es zeigte ihm vorbeifliegende Häuser, Sträucher, dann und wann ein paar Strommasten und zwischendrin weite saftig grüne Felder.
…
Liza in seinen Armen halten zu dürfen – welch einzigartige seelenverbindende Gefühle dies ausgelöst hatte! Die berückenden Dinge, welche sie miteinander getan hatten, berauschten seine Sinne selbst jetzt und erweckten eine bislang nie da gewesene Sehnsucht nach mehr. So viel mehr. Unglaublich viel mehr.
Seufzend stieß er den Atem aus.
Hoffentlich würde die Zeit bis Samstag schnell vorüberziehen.
Zum einen wollte er sich wieder mit ihr vereinigen – die ganze Nacht lang, den ganzen Tag lang. Zum anderen wollte er Lizas negative Gefühle verjagen. Ihre Depression bekämpfen – mit einem jeden seiner Küsse, einer jeden seiner Berührungen …
Der am Seedorfer Bahnhof anhaltende Zug lenkte seine Gedanken in eine andere Richtung.
Herr Weiß
Tina
Christof
…
Grundgütiger!
Wie würden sie auf ihn reagieren?
…
Dass er bei Liza übernachtet hatte, wusste bestimmt schon die gesamte Belegschaft.
Adrenalinausstöße brachten ihn dazu, sich früher denn gewollt zu erheben und zum noch geschlossenen Ausstieg zu treten.
Würden sie ihn necken? Ihn auslachen? Verspotten? Seltsame Blicke zuwerfen?
Bitte nicht … bitte nicht.
Er ballte die Hände zu Fäusten, klopfte mit der rechten Schuhspitze gegen den Zugboden. Gleichzeitig versuchte er, gegen die exorbitant ausbreitende Nervosität anzukämpfen.
Wann ging diese törichte Tür bloß auf?!
Er musste gehen … einfach gehen. Er musste ins Hotel zurück, um diesen hochpeinlichen Moment schnellstmöglich hinter sich bringen zu können.
Er blickte an sich herab.
Sein weißes Hemd hatte größere Ähnlichkeiten mit einem ausgedrehten abgenutzten Putzlappen, anstatt mit einer Gewandung, welche Eleganz und Klasse vermitteln sollte.
…
Kein Wunder, dass sämtliche wartenden Menschen am Bahnsteig ihm angewiderte oder belustigte Blicke zugeworfen hatten …
Heiße Röte stieg ihm ins Gesicht.
Und in dieser peinlichen Aufmachung musste er nun die viel befahrene Hauptstraße entlangmarschieren!
Himmelherrgottsakrament!
Das zischende Geräusch des sich öffnenden Ausstiegs ließ ihn zusammenzucken. Alsbald er sich von dem kleinen Schock erholt hatte, stolperte er mit polterndem Herzen und ausgetrocknetem Mund auf den Bahnsteig und machte sich ohne sich umzublicken sodann flott zum Hotel auf.
Ein jedes an ihm vorbeifahrende Automobil ließ ihn heftiger erröten. Er konnte nichts gegen diese fürchterlichen Schamgefühle ausrichten. Gar nichts. Ebenso wenig gegen die stechende Furcht einer möglichen Schelte seitens des Chefs sowie Belehrungen Tinas und Christofs, welche durch einen jeden seiner ihn zum Arbeitsplatz näherbringenden Schritte fürchterlichere Ausmaße annahm.
Als das massive vierstöckige Holzhaus schließlich vor ihm auftauchte, schien sein Leib dermaßen mit Adrenalin vollgepumpt zu sein, er vermutete, es nicht einmal zu spüren, wenn jemand ihm einen Arm abhacken würde.
Seine bebende linke Hand umfasste die aus Gusseisen geschmiedete Türklinke. Um mögliche durch seine vermaledeite Nervosität ausgelöste Zuckungen der Extremitäten zu unterbinden, spannte er die Muskulatur bis zum Äußersten an, atmete dreimal tief durch und öffnete erst dann die hell lasierte schwere Holztür.
Sofort wehte ihm der vertraute und seelenerwärmende Holzgeruch gepaart mit Vanille und dem Duft frisch gebackenen Brotes entgegen.
Heimat, schoss es ihm durch den Kopf.
»Jan! Da bist du ja wieder!« Michis fröhliche Begrüßung drang in seine Ohren und veranlasste ihn, sich zur Rezeption zu drehen.
Der dunkelhaarige attraktive fünfundzwanzigjährige Mann strahlte ihn an. »Wie geht es dir?« Flott umrundete dieser den Holztresen und trat zu ihm. »Wie war das Wochenende? Hast du dich mit Liza ausgesprochen?«
Wie vermutet! Alle wussten davon!
Kruzitürken!
Jan schloss die Tür. »Hat Tina dir davon erzählt?«
»Tina?« Michi runzelte die Stirn. »Was soll sie mir denn erzählt haben?«
»Nun ja … Dass ich bei Liza war.«
Was denn sonst?
»Ach das!« Kopfschüttelnd vollführte der Kollege eine wegwerfende Handbewegung. »Nein. Ich habe bloß gehört, wie Manfred mit dir telefoniert hat.«
Hatte er etwa gelauscht?
»Aber ich habe nicht gelauscht!«, warf er im selben Atemzug beteuernd ein, die Arme in einer beschwichtigenden Geste leicht angehoben. »Ich bin auf die Toilette gegangen. Nun … und Manfreds Tür war nicht ganz geschlossen gewesen. Da habe ich ungewollt ein paar Gesprächsfetzen mitbekommen.«
Typisch Michi!
Wie er selbst wollte sein Kollege keine Fehler machen. Wie er selbst war auch er hochsensibel. Doch eines besaß Michi, worauf er niemals zurückzugreifen in der Lage sein würde: verwegene Extraversion.
Für Michi stellte das unbefangene Gespräch mit fremden Personen – insbesondere mit hübschen Frauen – kein sonderliches Problem dar. Ein wenig herantasten, die Frau anlächeln – und schwups hatte sein Kollege eine reizende Gesprächspartnerin für den Abend an seiner Seite.
»Dann hat Tina nichts verlautet?«
…
Weshalb vermutete er erneut einen Vertrauensbruch seitens seiner besten Freundin?
Es musste wohl an seiner Vergangenheit liegen.
»Nein … absolut nicht.« Michi legte die Handinnenflächen aneinander. »Aber bitte verrate Manfred nichts von meinem ungewollten Lauschangriff. Es war keine Absicht. Ich –« Michis seinen Körper und Geist überschwemmende Verlegenheit brachte Jans Herz leicht aus dem Rhythmus. »Als ich das gehört habe, habe ich mich so sehr für dich gefreut. Ich habe gar nicht mehr daran gedacht, schnell weiterzugehen. Außerdem –« Verzweiflung in seinen Augen liegend gestikulierte der junge Mann mit den Händen. »Ein jeder hat doch bemerkt, wie sehr sie dir am Herzen liegt.«
Zäh fließende an Metros Kühllager erinnernde Kälte kroch über Jans Rücken, lediglich um sich keinen Augenblick später in einen pyroklastischen Strom zu verwandeln.
»Ein jeder?« Seine Wangen begannen zu prickeln und seine Muskeln sich zu versteifen. »Wirklich?«
Etwa sogar die Reinigungsdamen und geringfügig Beschäftigten?
…
Womöglich sogar sämtliche Hotelgäste?!
…
Wenn er da an die Situation mit Theo zurückdachte, schien seine Vermutung immer wahrscheinlicher.
O Grundgütiger!
»Jan.« Michi legte die Hände auf seine Schultern. »Jetzt kennen wir dich schon so lange. Glaubst du, da würde nur einer nicht bemerken, wenn du eine Frau magst? … Wenn du an Liebeskummer leidest?«
Jan schluckte.
»Sonst hältst du immer extremen Abstand zu allen Gästen und Kollegen. Aber bei Liza warst du total anders. Du bist mit ihr spazieren gegangen, du hast dich bei ihr eingehakt –« Er zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »Glaubst du, ich habe das nicht gesehen?« Ein auftretendes Grinsen ließ Jan beträchtlich heftiger erröten. »Ein Rezeptionist bemerkt alles.« Es folgte eine kurze Kunstpause, in der er am liebsten im Boden versunken wäre. »Also sag nicht, du wärst darüber überrascht.«
Jan räusperte Unsicherheit davon. »Nun … ja … eigentlich schon. Es war mir nicht bewusst, dass ich von euch solchermaßen beobachtet werde.«
Wie denn auch? War er bekanntlich mehr damit beschäftigt gewesen, diese schmerzende Sehnsucht nach Liza niederzudrücken sowie seinen Job vernünftig zu erledigen.
Des Rezeptionists Grinsen wuchs an. »Also beobachten würde ich das jetzt nicht grad nennen – eher ein Auge auf dich werfen.« Dies gesprochen ließ Michi von Jans Schultern ab und trat einen Schritt zurück. »Aber lassen wir das Thema! Sag mir lieber, wie es dir ergangen ist. Ich sterbe vor Neugier.«
»Also … ähm.« Erinnerungen an den wundervollen Morgensex trieben ihm den Schweiß aus den Poren. »… Schön.«
Michi begann zu lachen. »Dann seid ihr jetzt also zusammen?«
»Ja … ja, wir sind zusammen.« Unmöglich die Worte zurückzuhalten, sprudelten sie voller Begeisterung aus ihm hervor.
Er wollte es Michi sagen. Er musste es Michi sagen. Er wollte der ganzen Welt offenbaren, wie dankbar und glückselig er sich angesichts dieses wundervollen Umstands fühlte.
»Wir sind zusammen. Das sind wir. Endlich.« Wort um Wort nahm die Lautstärke seine Stimme ab, und ansteigende Geborgenheit breitete sich in seinem Innersten aus. »Liza gehört zu mir. Sie ist alles, was ich mir jemals gewünscht habe.«
»Das ist ja wundervoll!« Sein Kollege strahlte. »Ich freue mich für euch.«
»Danke.« Er schenkte ihm ein gewaltiges Lächeln. »Danke dir.«
»Jan!«
…
Herr Weiß.
Frische Furcht in seine Seele schleichend drehte Jan sich nach rechts.
»Komm in mein Büro.« Der Hotelbesitzer winkte ihm zu – ein breites Lächeln im Gesicht tragend.
»Die Einzelheiten kannst du mir ja in der Mittagspause verraten«, flüsterte Michi, ehe dieser ihm einen sanften Klaps auf den Rücken verpasste und zurück hinter die Rezeption huschte.
Jan wollte noch etwas erwidern, da ihm Manfreds Aufforderung, das eben geführte Gespräch sowie seine unzuträgliche überhandnehmende Furcht allerdings vollends den Verstand lahmlegten, nickte er dem Arbeitskollegen lediglich kurz zu und eilte sodann zum Chef.
»Wie geht es Liza?«, war Manfreds erste Frage, während sie beide den Korridor entlangschritten. Und die Zweite: »Hattet ihr ein schönes Wochenende?«
»Ihr geht es gut … Nun, jetzt jedenfalls.«
Dass es Liza noch am Freitag hundsmiserabel ergangen war, hatte er nicht bloß durch ihre Erzählungen, sondern bereits durch ihre verweinten Augen erfahren, mit welchen sie ihn erschrocken-verunsichert gemusterte hatte – dort im Regen …
Manfred öffnete die leicht knarzende Bürotür und machte ihn mit einer Handgeste darauf aufmerksam, zuerst einzutreten.
Wortlos tat Jan wie geheißen. Ehe er sich auf den rechten Holzsessel niederließ, wartete er bis der Hotelbesitzer die Tür verschlossen und sich auf dessen Bürostuhl gesetzt hatte.
»Sie hat Depressionen, nicht?«
Jan lief ein kalter Schauer über den Leib. »Ja … ja, die hat sie. Ganz sicher sogar.«
Manfred wusste einfach alles. Es gab nichts, das ihm verborgen blieb. Nicht einmal die Sorgen seiner Gäste.
Zu Beginn hatte er sich über Herrn Weißs Einfühlungsvermögen regelmäßig gewundert. Später hatte er diese auf eine mögliche Hochsensibilität geschoben. Nun allerdings war ein für alle Mal klar: Dieser unscheinbare dickliche Mann besaß eine göttliche Gabe. Hier ging es nicht mehr um ein einfaches Feingefühl, eine gute Beobachtungsgabe oder einen hohen IQ.
Dieser Mann war von Gott gesegnet.
…
Manfreds harter Schicksalsschlag von vor zwei Jahren verdrängte einen Teil von Jans Aufschlüssen.
Lag es womöglich –
»Und wie fühlst du dich?«, unterbrach der Hotelbesitzer Jans einsetzende Überlegungen.
Räuspernd fuhr er sich durchs Haar. »Erleichtert … schlichtweg erleichtert … und glücklich. Glücklich wie noch nie in meinem Leben.«
Herrn Weißs Augen nahmen einen seligen Ausdruck an. »Das freut mich ungemein!« Seine Unterarme auf den Vollholztisch gestützt lehnte er sich etwas zu ihm. »Dann seid ihr euch näher gekommen, nicht?« Der dickliche Mann wartete erst gar keine Antwort ab. Nun, um ehrlich zu sein, musste er dies ohnehin nicht. Jans glühende Wangen sagten schließlich genug aus.
»Das ist ja großartig!« Der Chef klatschte in die Hände. »Ich wusste doch, ihr zwei gehört zusammen!«
Beim Allmächtigen!
Es wurde peinlicher und peinlicher!
»Ich … wir … ja, es war schön.« Sich über die Nase reibend suchte er verzweifelt nach passenden – sittlichen – Erklärungen, welche ihm auf Gedeih und Verderb nicht in den Sinn kommen wollten.
Aber was bitte schön hätte er auch großartig erwidern können? Dass sie sich die meiste Zeit zügellos im Bett, in der Dusche und im Vorhaus ihrer Liebe hingegeben hatten? Dass er einen halben Nervenzusammenbruch erlitten hatte – einzig aufgrund eines harmlosen Gewitters?
»Hat Liza die Zeit mit dir gutgetan?«, beförderte des Hotelbesitzers Frage ihn aus seinen zuckersüßen Rückblicken. »Hat sich ihre Stimmung verbessert?«
Jan blinzelte.
Konnte das …?
Meinte er …?
…
»Sie hoffen«, kleidete er seine Vermutung nach einigen Sekunden des Sammelns in einen verständlichen Satz. »Lizas Verfassung ändert sich, weil sie mit mir zusammen ist?«
Für den Moment eines Wimpernschlags weiteten sich Manfreds Augen. »Ja, ganz genau.« Ein väterliches Lächeln seine Lippen umspielend fasste er nach dem rechts neben sich stehenden hellblauen Wasserglas und trank einen Schluck. »Denkst du, ihre Depression wird durch dich verschwinden?« Mit einem sanften Tock fand das Glas auf den Tisch zurück. »Denkst du, du kannst ihr helfen?«
Es wurde ihm warm.
Wie schön wäre es gewesen, wenn er sie heilen könnte … wenn sie durch ihn – und einzig durch ihn – wieder Lebensfreude und Glück empfinden würde …
Er verscheuchte den abstrusen Gedanken.
Natürlich, er wollte ihr helfen. Er wollte sie ablenken. Er wollte ihr Gutes tun. Dessen ungeachtet bedeutete dies noch lange nicht, sich als Lizas noblen Retter darzustellen oder sich einzubilden, sie von der Geißel der Depression befreien zu können.
Das Leben war kein romantischer Hollywoodfilm. Manchmal passierten schöne Dinge, manchmal passierten schreckliche Dinge. Alles andere dazwischen waren Träume oder Einbildung.
»Ich weiß nicht … ich kann mir nicht vorstellen, derart viel ausrichten zu können.«
»Jan.« Ernst wie gütig, sanft wie streng sprach der alternde Mann seinen Namen aus. »In diesem Fall kommt es nicht darauf an, ob du gut genug bist. Genauso wenig bedeutet es, egoistisch zu sein, wenn du von dir selbst denkst, Liza gesund machen zu können.« Er beäugte ihn eindringlich. »Es geht darum, ob Liza durch deine Liebe wieder aktiv am Leben teilnehmen kann. Du brauchst dich nicht schlecht zu fühlen, wenn du mir jetzt sagst, dass du es sein kannst, der sie zur glücklichsten Frau macht.«
»Ich … also … ich –«
Aber exakt darum ging es doch!
Er wollte viel, jedoch bestimmt nicht wie ein Macho anmuten, der sagte: »Ich bin ein Geschenk an die Frauen, Chef. Ich werde die Kleine schon dazu bringen, dass sie jede Nacht meinen Namen schreit. Nur durch mich wird und kann sie glücklich werden und bleiben.«
Ebenso wenig wollte er sich in den Vordergrund drängen oder den starken Mann markieren.
Ausgerechnet er! Derjenige, welcher durch ein einfaches Gewitter tausend Tode starb. Derjenige, welcher an dutzenden Minderwertigkeitskomplexen litt. Derjenige, welcher sich jahrelang nicht traute, eine Frau direkt anzusprechen.
Nein.
Im Endeffekt wusste er nicht, ob er Liza für den Rest ihres Lebens glücklich machen konnte. Er wusste nicht, ob sie sich durch ihn ein Leben lang wohlfühlen würde.
Er wusste lediglich, dass er sie liebte.
Bedingungslos.
Ein jeder andere Gedankengang wäre eigennützig, selbstverliebt, unanständig und naiv.
»Jan!« Des Chefs mahnende Stimme riss ihn aus seinen unkontrollierbaren Grübeleien. »Du denkst viel zu viel nach.«
»Aber ich kann doch nicht sagen, sie glücklich zu machen.«
»Wieso nicht?« Herr Weiß schenkte ihm ein verständnisvolles Lächeln. »Etwa, weil es für dich egoistisch klingt?«
Er nickte verhalten.
»Und wie hat sich Liza bei dir gefühlt? Hat sie dir etwas gesagt?«
…
Gleichgültig, wie diese Nacht wird, du bedeutest mir bereits jetzt meine ganze Welt.
Für mich bist du schlichtweg der beste Liebhaber, den es auf dieser Welt gibt.
Deine Zärtlichkeit, dein sanfter Charakter, deine liebevolle Art – das sind die Dinge, durch die ich mich so glücklich fühle.
Herrn Weißs neugierig-wissender Blick intensivierte sich. »Also? Was denkst du?«
Jan straffe die Gestalt. »Nun … ja … ich –«
»Druckse nicht so herum!« Kichernd trank sein Vorgesetzter einen weiteren Schluck. »Sag mir einfach, was du denkst.«
Er unterdrückte seine Unsicherheit und versuchte zu erklären: »Nun … vielleicht … Ja, womöglich kann ich ihr wirklich helfen.«
Manfreds rundliches Gesicht erstrahlte.
Und dieser unbändige durch Lizas Liebe hervorgerufene Stolz fand zurück in Jans Seele.
Ja … der Chef hatte recht.
Liebe vermochte es, Menschen zu heilen. Denn Liebe verband. Liebe vereinte. Liebe tröstete und kräftigte, beruhigte und inspirierte.
»Und nichts anderes will ich tun«, fuhr er ehern fort. »Bis an mein Lebensende.«
Manfred schloss die Augen, nickte, seufzte. »Das wollte ich hören.«
Es war ihm klar, er würde immer auf Liza achtgeben. Er würde sie beschützen. Er würde ihr seine gesamte Liebe schenken. Er würde schlichtweg alles tun.
All die zahllosen Dinge, die auch sie für ihn bereit war, zu tun …
Der Hotelbesitzer öffnete die Lider. »Kommt sie uns wieder einmal besuchen?«
»Ja, den kommenden Samstag schon.«
…
Diese Äußerung getätigt jagte eine jache Gewissheit einen gellenden Adrenalinausstoß durch Jans ohnehin unter Strom stehenden Körper.
Er hatte Liza ein Versprechen gemacht, von welchem er nicht einmal wusste, ob er es einlösen konnte!
Kruzitürken!
Hitze kroch ihm in die Wangen. »Ich –« Nervös fuhr er sich durchs Haar. »Ist es möglich … ich meine … könnte ich diesen Samstag noch einmal freibekommen? Weil … Liza will mit mir zu ihren Eltern fahren.«
Restlos verschüchtert beobachtete er, wie Manfred vergeblich versuchte, ein Schmunzeln zu verkneifen. »Aber sicher doch. Es wäre nicht sonderlich nett von mir, dich mit deiner Herzensdame hier abwaschen zu lassen, nicht?«
»Nun … ich –«
Des gutmütigen Mannes Lachen erfüllte den Raum. »Aber im Gegenzug dazu sagst du mir das nächste Mal schlicht und einfach, wenn du Sehnsucht nach ihr hast, bevor du so mir nichts dir nichts davonläufst und uns unwissend und geschockt zurücklässt.«
Sein Herz hatte heute fürwahr viele Emotionen ertragen müssen. Die nun über ihn hereinbrechenden Schuldgefühle ließen es allerdings derart hart klopfen, es hatte mehr mit einem carnevalschen Getrommel gemein denn mit einem menschlichen Organ, welches Blut durch den Körper pumpte.
»Es tut mir leid«, entschuldigte er sich. »… Ich kann nicht erklären, was da über mich kam. Es war wohl eine Art Kurzschlussreaktion. Bitte verzeihen Sie. Es wird nie wieder vorkommen.«
»Ist schon gut.« Herrn Weißs verständnisvoller Tonfall half ihm nur bedingt, seine tobenden Nerven zu beruhigen. »Ich kann gut nachvollziehen, weshalb du auf diese Weise reagiert hast. Trotzdem.« Mahnend hob Manfred den Zeigefinger. »Versprich mir, mich das nächste Mal aufzusuchen, wenn es dir schlecht geht. Keiner lacht dich deshalb aus. So etwas dulde ich in diesem Haus nicht. Das weißt du. Du kannst immer zu mir kommen. Wir können über alles reden.«
Samtene Freude sowie stechende Trauer breiteten sich in Jans Innersten aus.
Liza hatte einen Chef wie Manfred verdient – nicht er. Sie mühte sich in der Arbeit ab und wurde dennoch gerügt. Er hingegen verließ unangekündigt seinen Arbeitsplatz – aufgrund infantilen Liebeskummers – und wurde mit Verständnis und Hilfsbereitschaft beschenkt.
Das Leben war einfach nicht fair.
»Vielen Dank.« Demütig senkte Jan das Haupt. »Das nächste Mal werde ich daran denken. Ich verspreche es.«
»Dann ab in die Küche mit dir. Tina freut sich bestimmt, dich zu sehen. Sie war außer sich vor Sorge.«
Deutlich bedrückter erhob er sich.
Ein zweites Mal hatte er Tina falsch eingeschätzt. Ein zweites Mal hatte er ihr großen Kummer bereitet!
Ein toller Freund bist du!, schimpfte er sich.
»Aber gib Acht!« Manfreds Grinsen zog sich in die Länge. »Sie wird dir wahrscheinlich eine größere Standpauke halten, als ich das jemals zusammenbringe.«
Und das hatte er ohne Zweifel verdient …
»Da haben Sie bestimmt recht.« Schmunzelnd drehte Jan sich um und schritt zur Tür. Ehe er den Raum verließ, blickte er noch einmal zu diesem wunderbaren Menschen, welchen er seinen Chef nennen durfte, und bedankte sich.
»Nichts zu danken«, erwiderte dieser fröhlich. »Wir sind eine Familie. Und Familie hält zusammen.«
»Mhm.« Nickend und einen sanften Kloß im Halse spürend schloss er die Tür und eilte in die Küche.
Mit einer Kündigung hatte er zwar nicht mehr gerechnet. Mit einem weiteren Urlaubswochenende jedoch ebenso wenig, ganz zu schweigen von einer derartigen Besorgnis um Lizas sowie sein eigenes Wohlergehen!
»Jan!« Es war Tina, welche seinen Namen aufgebracht ausrief – und ihn zusammenfahren ließ. »Wie geht es dir?« Seine beste Freundin stürmte zu ihm und schlang die Arme um seinen starr gewordenen Körper. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht! Jag uns nie mehr so einen Schrecken ein! Das geht ja über keine Kuhhaut nicht!«
»Bitte verzeih mir«, war alles, was ihm hervorzubringen gelang. Allerdings nicht infolge unmöglich zurückzuhaltender Tränen – obwohl sein Kloß schmerzhafte Ausmaße angenommen hatte –, denn vielmehr aufgrund Tinas etwas zu gut gemeinten innigen Umarmung.
Durch ihre kleine Größe drückte sie ihm mit dem rechten Unterarm gegen den Hals.
»Ich bekomme keine Luft.«
»Oh … Entschuldigung.« Sie ließ von ihm ab – furchteinflößende funkelnde Augen inklusive. »Aber sieh es gleich als Bestrafung, dass du mich so einfach hast stehen lassen!«
Das musste ja kommen …
»Es tut mir wirklich leid.« Er atmete tief durch. »Ich kann dir nicht erklären, was da mit mir los war.«
Er wusste es wahrhaftig nicht mehr.
Im Nachhinein betrachtet mutete es wie ein Filmriss an. Eine Kurzschlussreaktion, ausgelöst durch Kummer, Verzweiflung und Seelenschmerz.
Ein anwachsendes Grinsen auf ihren vollen Lippen tragend stupste Tina ihm in die Seite. »Du bist verliebt. Das ist los.«
»Und das nächste Mal«, ertönte Christofs strenge Stimme, wodurch es ihm ungleich mulmiger wurde. »Läufst du nicht einfach davon, wie ein heulendes Mädchen, sondern sagst, was dich bedrückt.« Etwas ruppig klopfte dieser ihm auf die Schulter und blickte ihm dabei tief in die Augen. »Ich weiß selbst, wie das ist, wenn man Sehnsucht und Kummer hat. Ich denke, ein jeder hier kennt das Gefühl nur zu gut.«
Da hatte Christof zweifelsfrei recht. Ein jeder in diesem Team – nein – generell kannte das Gefühl von Kummer und Sorgen, Zweifeln und Ängsten. Er war kein Einzelfall – er war einer von vielen.
Jan nickte. »Ich verspreche es.«
Und Christofs Miene hellte sich auf. »Aber jetzt erzähl uns endlich genau, wie es dir mit Liza ergangen ist.«
Als hätte jemand einen Schalter in seinem Körper umgelegt, jagte frische Hitze in seine Wangen.
»Wir waren auf der DS Thalia«, brachte er schluckend hervor. »Wir redeten viel … kochten gemeinsam …«
»Und ihr seid euch näher gekommen!«, jubelte Tina. »Gib’s doch endlich zu!«
Oh … wenn sie nur wüsste, wie näher sie sich gekommen waren … was sie angestellt hatten …
»Dein leuchtendes Gesicht schreit ja förmlich: Wir hatten Sex!«, witzelte seine Freundin weiter.
Anstatt sich gekränkt zu fühlen, überkam ihn überraschenderweise bloß ein leichtes Schamgefühl. Und selbst dieses wurde keinen Moment später von neuem unbezwingbaren Stolz verdrängt.
»Ja … wir sind uns nähergekommen.«
Grundsätzlich hatte er mit einem weitaus heftigeren Gefühlschaos seinerseits gerechnet – ähnlich, wie die in der Vergangenheit stets erlebten.
Erinnerungen an zahllose peinliche Situationen stürmten ihm durch den Verstand – gingen einher mit Empfindungen der Verunsicherung, Angst, Verzweiflung und Scham. Doch gleichermaßen schnell, wie sie auftauchten, waren sie wieder in den tausenden Windungen seiner manchmal selbst für ihn nicht zu verstehenden Seele verschwunden.
Die glücklichen Gesichter seiner Arbeitskollegen gaben ihm mehr Mut. »Ich glaube, ich darf sagen, dass das vergangene Wochenende das schönste in meinem bisherigen Leben darstellt.«
Tinas Grinsen nahm immense Ausmaße an. »Ich freue mich ja so für dich! Du hast das so was von verdient!« Abermals drückte sie ihn an sich. »Heute Abend musst du mir alles erzählen.«
Er befreite sich aus ihrer Umarmung. »Ja, mache ich.«
Bestimmt nicht sämtliche intime Details – aber ein paar winzige Andeutungen schon.
Überfallartig zerzauste sie ihm das Haar. »Unser kleiner Jan ist endlich erwachsen geworden.«
Tinas freche Bemerkung schickte ihm neben einer weiteren beschämenden Gesichtshitze überdies eine Welle an aufwallender magenerwärmender Wut.
»Ich bin erwachsen!«, protestierte er. »Ich bin nicht jünger als du.«
Tausendmal hatte er solche Anspielungen vernommen – jedoch niemals im Spaße, wie dies bei Tina nun der Fall war. Und tausendmal hatte er kein Sterbenswörtchen dagegengehalten. Diese Zeiten allerdings gehörten für immer der Vergangenheit an. Wie er es sich während der Zugfahrt zu Liza versprochen hatte: Ab jetzt würde er nie mehr passiv bleiben – unbedeutend ob Worte im Scherze oder absichtlich beleidigend ausgesprochen wurden.
Tinas mildes Lächeln linderte seine sanfte Rage. »Ich weiß … aber für mich wirst du immer ein kleiner Junge sein, der gerade mal aus der Schule rausgestolpert ist.«
Das konnte doch nicht ihr Ernst sein!
Er verzog das Gesicht. »Ich war Autor!«
Darüber hinaus war er bereits verlobt gewesen!
Nun … über dieses Detail hatte er nie ein Wort verloren.
Sie zeigte ihm die Zähne. »Aber das Buch hat keine richtigen Sexszenen.«
…
Allmählich wurde es lächerlich …
»Was hat das denn bitte schön mit mir zu tun?«
Sie kicherte. »Na, das macht dich noch unschuldiger als du sowieso schon aussiehst.«
Er zog eine Augenbraue nach unten. »Unschuldig?«
Nach all den sexuellen Erlebnissen der letzten Tage? Nachdem er einer fest in seinen Armen haltenden, zutiefst beschämten, seinen Namen wimmernden Liza selbstbewusst und fordernd einen Höhepunkt beschert hatte – im Vorhaus, vor dem großen Spiegel … splitterfasernackt?
»Leute, jetzt ist aber genug!« Elegant schwang Christof einen dieser gewaltigen aus Edelstahl bestehenden Suppenschöpfer durch die Luft. »Wir haben eine Menge zu tun! Heute treffen neue Gäste ein. Und wir sind erst ab morgen wieder vollzählig. Über kindischen Kleinkram könnt ihr euch in der Pause unterhalten. Jetzt wird gearbeitet.«
Wie ein Blitz schoss es Jan in den Kopf.
Er musste Liza anrufen!
»Ich muss schnell mein Handy holen«, meinte er mit Blick zum Küchenchef. »Ich habe gänzlich vergessen, Liza über meine Ankunft zu benachrichtigen. Kann ich noch für ein paar Minuten verschwinden?«
Tina warf ihm ein wissendes Lächeln zu. »Nicht einmal drei Tage zusammen – und schon verhaltet ihr euch wie ein altes Ehepärchen … Wann folgt die Hochzeit?«
Hochzeit?
Daran hatte er keine einzige Sekunde lang gedacht.
Wahrscheinlich aus dem einfachen Grund, weil er sich mit Liza dergestalt komplettiert fühlte, als wären sie mittlerweile zwanzig Jahre lang verheiratet – oder länger …
»Geh nur.« Christof nickte knapp. »Wenn wir diese Zeitspanne nicht ohne dich auskämen, dann muss ich wohl meinen Job an den Nagel hängen.« Eben wollte er sich wegdrehen, da hielt er schlagartig inne.
Jan fürchtete bereits eine weitere angedeutete Rüge.
»… Und vergiss nicht, Liza Grüße von uns auszurichten.«
Dankend und mit leichtem Herzen eilte er aus der Küche.
Seine Kollegen und Vorgesetzten waren neben Liza das wunderbarste, das ihm hatte passieren können.
Er hechtete die Stufen hoch, flitzte den Korridor entlang und hielt stolpernd an seiner Zimmertür. Hastig drückte er die Klinke nach unten, rutschte ab – und der goldfarbene Mechanismus schnellte gellend zurück. Der markerschütternde Lärm tat ihm sowohl in den Ohren als auch im Magen sowie in einem jeden einzelnen seiner Zähne weh.
Von dem Schock noch leicht benebelt, trat er ins Zimmer – und wurde von einem intensiven Vanilleduft begrüßt, welcher seinen Nerven sachte Beruhigung schenkte.
Sein Blick schweifte durch den mit gediegenen Holzmöbeln eingerichteten Raum.
Warme Sonnenstrahlen fielen durch zwei kleine mit altrosafarbenen Gardinen umrahmte Kastenfenster, strichen zärtlich über den quadratischen unter dem rechten Fenster befindlichen hellen Holztisch, wanderten weiter über den in Pastellfarben gehaltenen Teppichboden, auf welchem große Blumenmuster prangten, und malten aufgrund der groben Storespitze verschwommene Schattenbilder von Rosen und Veilchen auf die gegenüberliegende feinkörnig verputzte weiße Wand.
Vereinzelte durch die Luft tanzende Staubpartikel funkelten wie kleine Sterne in einer klaren Winternacht – oder wie Schneeflocken während ihres Spaziergangs damals im Schneegestöber …
Liza.
Er stürmte zum Holztisch. Auf dessen linker Seite stand sein Buch – mit dem weiß-goldenen Einband und den goldenen Lettern. Rechts befanden sich aufeinandergestapelte Reise- und Naturzeitschriften. In der Mitte lagen ein Dutzend alte Zettel beschrieben mit törichten Ideen, die zu vermeintlichen neuen Romanen hätten führen sollen. Dazu gesellten sich verpackte Schokoriegel, verstreute Toffees, zwei weiße Plastikkugelschreiber, sein zugeklapptes Elf-Zoll-Notebook, drei noch nicht vollständig ausgefüllte Lohnsteuerjahressausgleiche, Hermann Hesses Briefe- und Gedichtsammlung »Mit der Reife wird man immer jünger« sowie sein schwarzes Portemonnaie, eine Packung Taschentücher und die letzte von ehemals eintausend Visitenkarten, welche er einzig aufgrund seines Autorendaseins hatte drucken lassen.
In anderen Worten: Es wurde allmählich Zeit, ein wenig aufzuräumen.
Er verjagte die unwichtigen Gedanken und richtete den Blick auf den lackierten hellen Holzsessel mit elfenbeinfarbener Stoffpolsterung.
Da lag es – wie er es Donnerstag Abend hingelegt hatte: sein weißes Samsung Galaxy S.
…
Donnerstag … keine vier Tage waren seitdem vergangen. Dennoch schien es wie eine Ewigkeit … wie ein anderes Leben.
Jan aktivierte das Display – nichts geschah.
Akku leer!
Natürlich!
Mit klopfendem Herzen fasste er nach dem Ladekabel, steckte es in die Steckdose und verband es mit dem Smartphone. Quälend langsam vergingen die Sekunden bis das Display zum Leben erwachte und ihm einen ansteigenden Ladebalken zeigte.
Endlich.
Er schaltete das Gerät ein, wartete ungeduldig, bis die charakteristische Samsung-Melodie erklang und er den PIN-Code eintippen durfte. Alsbald das Hintergrundbild erschien – ein NASA-Foto der Milchstraße – rief er die Mailapp auf und wartete auf den Eingang neuer Nachrichten. Keine zehn Sekunden später trudelte Lizas Mail ein, bestückt mit Fotos und ihrer Telefonnummer, welche er sofort zu den Kontakten hinzufügte und daraufhin anwählte.
Drei Freizeichen musste er warten, bis Lizas vertraute Stimme erklang. In dem Augenblick wünsche er sich nichts sehnlicher, denn für immer mit ihr zusammen zu sein.
Würde dieser Wunsch in Erfüllung gehen? Würden sie bald eine Wohnung teilen dürfen? Gemeinsam aufwachen, gemeinsam schlafen gehen, gemeinsam essen, gemeinsam fern sehen?
Damals hatte er nicht im Geringsten geahnt, wie bald und welch schreckliche Ereignisse zu diesem Umstand führen sollten. Ganz zu schweigen von den Strapazen, welche sie beide danach zu bewältigen hatten.
Hätte er zu jener Zeit davon gewusst, er hätte seinen Wunsch expliziter formuliert.