Читать книгу Der Teich der Tränen - Isabelle Kerani - Страница 8

I
Licht am Firmament

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Die Sonne über der Stadt war schon fast untergegangen und machte allmählich einem kühlen Zwielicht Platz, das nun lautlos und ebenso geschickt wie ein gutgeschulter Dieb alle Ecken und Winkel der engen Gassen auszufüllen begann. In einem großen Müllcontainer etwas Abseits inmitten der heruntergekommenen Gegend, in der sich unsere Geschichte in der Menschenwelt fortsetzten soll, lag ein Mädchen und hatte seine Augen fest geschlossen, um den Eindruck einer schlafenden Puppe zu erwecken. Es besaß zarte elfenbeinfarbene Haut und seidig glänzende Haare; sein Schopf, der ihm üppig und glatt über beide Schultern fiel, schimmerte unter dem Licht der Laternen wie pures Gold. Noch krabbelten einige kleine Fliegen über das zarte Gesicht des unheimlich schönen Wesens, um jenen eigenartigen Geruch zu erkunden, der von der fremden Kreatur ausging. Der Gestank von faulendem Fisch und sich zersetzenden Obstschalen vermischte sich mit dem Duft eines weißen Blütenkleides und bildete ein verwirrendes Parfum. Keine Menschenseele war zu jener Zeit jedoch auf den Straßen zu sehen. Die Bewohner der backsteinumfassten Häuser hatten sich allesamt in ihre warmen Zimmer zurückgezogen und niemandem von auswärts schien es in den Sinn gekommen zu sein, sich für einen Spaziergang in die Abgründe jener schummrigen Gegend zu wagen. Stattdessen kündigte nun der Schatten einer vorbeihuschenden Katze das Erscheinen einer kleinen Gruppe an. Dicht in ihre schwarzen Mäntel gehüllt, bewegten sich die Gestalten mit zügigen Schritten durch die leeren Gassen. Der Mann an ihrer Spitze war im Dunkeln bloß schemenhaft zu erkennen, doch trug er eine große Tasche bei sich, die er mit seinen Handschuhen fest umgriffen hielt. Die Kälte hatte sich in die Nischen des dämmernden Viertels geschlichen und ließ die fünf Personen ihren Gang beschleunigen. Als sie sich schließlich der Mülltonne mit dem Mädchen zu nähern begannen, drosselten sie ihre Geschwindigkeit, um sich fragend anzuschauen. Dann trat der Kräftigste unter ihnen, dessen Gesicht eine tiefe Narbe zierte, an den Rand der schimmelnden Mülltonne und vertrieb die stäubenden Fliegen und den üblen Gestank vor sich. Er kniff die Augen zusammen und schnitt eine grimmige Miene, um nach dem Handgelenk des schlafenden Geschöpfs zu greifen. Als der muskelbepackte, furchteinflößende Mann die pochende Wärme unter der dünnen Haut der Fremden gewahrte, ließ er ihren Arm rasch wieder los und kehrte zu den anderen zurück.

„Sie lebt und scheint bei bester Gesundheit zu sein. Dennoch war es höchste Zeit, dass wir sie zwischen diesen armseligen Mauern gefunden haben. Lasst sie uns von hier fortschaffen, ehe uns jemand findet und wir in Erklärungsnot geraten.“

Seine Kameraden stimmten ihm zu und der Mann streckte schon seine Hand nach dem regungslosen Körper des Mädchens aus, als dieses just in jenem Moment seine Lider aufschlug und in den grauen Himmel spähte. Sich langsam aufrichtend, weiteten sich seine bernsteinfarbenen Augen und beim Anblick der Gruppe von fremden Erscheinungen, welche sich allesamt zu Eis erstarrt vor dem Container versammelt hatten, grub das Wesen seine Finger angespannt in die Essenreste, um ein Stück zurückzuweichen. Es wollte etwas sagen, doch kein Wort kam aus seinem Mund. Unterdessen bahnte sich ein junger Mann seinen Weg durch die schweigende Schar, schob die kräftige Gestalt neben sich behutsam beiseite und näherte sich vertrauensvoll dem unbekannten Geschöpf. Indem er vorsichtig einen Schritt vor den anderen setzte, sprach er mit sanfter Stimme:

„Mein Name ist Joseph. Keine Angst, wir werden dir nichts tun. Wir glauben ja zu wissen, wer du bist und sind gekommen, um dich in Sicherheit zu bringen. Gibt es denn etwas, an das du dich erinnern kannst?“

Da begann sein Gegenüber nachzudenken, um die Ereignisse vor seinem Erwachen zu untersuchen -; im Kopf des stummen Mädchens aber schien es, als sei ihr das Gedächtnis als ganzes Zimmer von einem Sturm leergefegt und anschließend gegen ihren Willen ausgeplündert worden, um sich nun dunkel und verlassen in tiefes Schweigen zu hüllen. Nicht einmal mehr ihren Namen wusste sie, den sie einmal mit großer Sicherheit gekannt haben musste. Als das Wesen folglich nichts erwiderte und stattdessen bloß traurig in das Gesicht des Unbekannten blickte, reichte dieser ihm seine Hand und bedeutete ihm freundlich, vom Abfallberg hinunterzusteigen.

„Wie es aussieht, kannst du nicht sprechen -; aber keine Sorge, wir werden schon einen Weg finden, uns miteinander zu verständigen. Es ist kalt hier draußen und ich schlage vor, wir begeben uns in eine andere Gegend, die uns etwas weniger feindselig erscheinen wird.“

Das Mädchen, welches trotz ihres leichten Blütenkleides keine Anzeichen von Unterkühlung zeigte, zögerte noch und nahm dann die Hilfe der Gestalt vor sich an, um vorsichtig von ihrem Posten hinunterzuklettern. Kaum aber hatte sie ihren ersten Schritt auf den schwarzen Asphalt getan, strömte ihr auch schon der überwältigende Duft von Sandelholz entgegen. Indem sie den Kopf hob und durch den Schleier der Finsternis in das Gesicht des Fremden blickte, verschlug es ihr für einen kurzen Augenblick den Atmen und es war, als sei ein Schalter in ihr umgelegt worden. Ein kleiner Staudamm in Kirschflieges Kopf brach, um mit der ganzen Gewalt seiner Erinnerungen über ihr Bewusstsein hinwegzufluten. Sie konnte sich wieder an ihren Namen, ihren Vater und das Reich der Tränen erinnern, aus welchem sie vor kurzem erst geschickt worden war, um ihre verschollene Schwester zu finden. Ehe sie in der Menschenwelt ankam, hatte sie ein hell gleißendes Portal im Arbeitszimmer des Wächters durchschritten und musste danach auf einem gut gepolsterten Abfallcontainer irgendwo hinter der Grenze ihrer heimischen Welt auf der anderen Seite gelandet sein.

„Ist alles in Ordnung mit dir, du siehst so erschrocken aus?“

Der junge Mann starrte sie prüfend an und wagte sich nicht zu bewegen. Cherryfly wandte ihren Blick jedoch nicht von seinem Gesicht ab und versuchte zu ergründen, was seine rätselhaften Züge zu bedeuten hatten. Die außergewöhnlich grünen Augen ihres Gegenübers, welche an zwei edle, lebende Smaragde erinnerten, und der schwere hölzerne Geruch seiner Kleidung hatten etwas im Innersten des Mädchens bewegt, das es nun zu ergründen galt. Es war ihr, als hätte sie alle Merkmale dieses einen Menschen schon einmal in ferner Vergangenheit gesehen. Indem sie den Kopf schüttelte, gab sie dem Unbekannten zur Antwort:

„Mir ist eben alles eingefallen, was vor kurzem noch aus meiner Erinnerung verschwunden war. Mein Name lautet Kirschfliege und ich bin froh, euch zu treffen. Ehe ich euch aber folge, möchte ich wissen, wer ihr seid - und woher ihr mich kennt, um zu glauben, mir helfen zu können.“

Die Gestalt vor ihr nickte und wurde ruhiger. In der Tat besaß sie nun eine Ausstrahlung von ansteckender Gelassenheit und lächelte durch die dämmernden Schwaden aus zwielichtigem Dunkel.

„Wir arbeiten für eine gewisse sehr besondere Person in dieser Stadt, welche den Namen ‚Oger‘ trägt und deine Ankunft sowie das Erscheinen deiner Schwester schon vorausgesehen hat. Sie weiß darüber Bescheid, dass du nicht von dieser Welt bist und ganz spezielle Kräfte besitzt. Sie möchte dich dafür gewinnen, diese gegen eine bestimmte Kreatur einzusetzen. Ursprünglich haben wir beabsichtigt, dich und deine Schwester zu diesem Vorhaben zu überreden und euch beide hier in dieser Stadt abzufangen, doch unser Gegner ist uns leider bei deinem Geschwister zuvorgekommen, um es zu stehlen. Nun liegt es an uns, noch Schlimmeres abzuwenden. Wenn wir dich nicht bald von hier wegbringen, scheint es sehr wahrscheinlich, dass auch du unserem Feind in die Hände fällst.“

Während ihr Gegenüber diese Worte sprach, machte Cherryflys Herz einen kleinen Aussetzer und sie dachte bang an Honigbohne. Kurz darauf erinnerte sie sich jedoch daran, wie ihr Vater ihr vor ihrer Reise in die Menschenwelt geraten hatte, sich vor den Wesen auf der anderen Seite zu hüten. Es schien keine gute Idee zu sein, den fremden Geschöpfen außerhalb der Heimat blind zu vertrauen - und erst recht nicht, wenn jene aus ungeklärten Gründen vorgaben, einen bereits zu kennen. So verfinsterte sich der Blick des Mädchens, um kurz zur bulligen Gestalt des Narbengesichts hinter dem Rücken des jungen Mannes zu schweifen. Schließlich erwiderte sie:

„Ich bin bloß zu euch in diese Stadt gereist, weil ich meine verschwundene Schwester Honigbohne wiederfinden will. Ich habe nicht erwartet, dass jemand von mir erfahren hat, um mir gleich bei meiner Ankunft seine Hilfe anzubieten. Die Zeit drängt und ich setze mein eigenes Leben aufs Spiel -; da kommen mir ein paar Verbündete zur Befreiung meiner Schwester natürlich sehr gelegen.“

Cherryfly schaute hinauf zum Himmel und versuchte herauszufinden, wie weit es noch bis zum Vollmond war. Bis zu seinem Eintreten musste sie das verlorene Kind des Tränenwächters unbedingt gefunden haben. Doch der dumpfe Smog der Stadt verdeckte alle Sterne und auch die silberne Scheibe am nächtlichen Firmament hatte sich hinter einem dick zusammengebauschten Wolkenschleier versteckt. Also fuhr sie mit einem leichten Senken ihres Tones fort:

„Unglücklicherweise bin ich mir jedoch nicht sicher, ob ich euch vertrauen soll. Ihr könntet ebenso gut diejenigen Übeltäter sein, welche meine Schwester in ihre Gewalt genommen haben und mich nun ebenfalls in die Falle zu locken suchen. Wer ist denn euer Feind und wie hat er es bewerkstelligt, Honigbohne vor euch an sich zu reißen?“

Der Mann in der Finsternis der spärlich beleuchteten Gasse funkelte mit seinen grünen Augen und entgegnete:

„Uns zuvorzukommen ist im Grunde bloß möglich, wenn man überirdische Kräfte besitzt. Wir sind eine sehr einflussreiche Gesellschaft und darum nicht so leicht zu hintergehen. Doch unser Feind ist kein normaler Mensch. Er ist noch nicht einmal ein Monster aus Fleisch und Blut, sondern eine Macht, die sich über die Grenzen aller weltlichen Gesetze begibt. Es muss ihm durch seine Fähigkeiten also gelungen sein, die feine Spur deiner Schwester mühelos aufzufinden. Wie gesagt drängt die Zeit und es ist durchaus denkbar, dass seine Schergen bereits ausgeströmt sind, um uns zu finden. Folglich ist hier nicht der richtige Ort, um lange Abhandlungen über unser Problem zu führen.“

In diesem Moment trat die respekteinflößende Person mit der Narbe im Gesicht vor, um das Wort zu ergreifen. Ihre Stimme klang tief und eindringlich und erweckte den Eindruck eines grollenden Wolfes.

„Du möchtest deine Schwester zurückbringen und musst sie dazu aus den Klauen unseres mächtigen Feindes befreien. Unser Interesse wiederum besteht darin, jene Plage der Nacht zu vernichten. Das trifft sich perfekt, um unsere beiden Ziele in einem wirksamen Bündnis zu vereinen. Dank deinen speziellen Eigenschaften wird es uns gelingen, die finstere Kreatur zu besiegen und das Mädchen namens ‚Honigbohne‘ aus ihren Fängen zu befreien. Komm jetzt mit uns und wir lassen euch nach erfüllter Aufgabe nicht bloß beide ziehen, sondern belohnen euch auch noch mit einem großzügigen Entgelt.“

Da warf Cherryfly einen letzten musternden Blick auf die schwarzbekleideten Gestalten vor sich und überlegte. Es war klar, dass sie ihre Schwester in der kurzen Zeit, welche ihr auf der Erde bleiben würde, nicht alleine finden konnte und auf die Hilfe von Leuten in der Umgebung angewiesen war. Außerdem schien es hier draußen in den Straßen dieser Stadt nicht ungefährlich zu sein. Ganz egal, ob sie den Männern vertraute oder nicht - würde sie ihrem Angebot nicht folgen und auf sich allein gestellt scheitern, würde sich ihr Körper angesichts des anbrechenden Morgens nach der nächsten Vollmondnacht in Luft auflösen und sie würde dann verschwunden sein, um alle Bemühungen ihres Vaters zu nichte gemacht zu haben. Also fasste sich das Mädchen ein Herz und trat langsam vor, um dem unbekannten jungen Mann entschlossen in die Augen zu sehen. Etwas an seinen harmonischen Zügen und der warmen karamellfarbenen Haut kam ihr erneut bekannt vor und bestärkte sie in ihrem Bestreben, neben der Suche nach Honigbohne auch mehr über jene geheimnisvolle Person herauszufinden.

„Gut, ihr habt mich überzeugt. Es bleibt mir als Fremde in dieser Gegend nichts anderes übrig, als euch zu vertrauen und auf eure Unterstützung zu hoffen. Ich werde mir im Gegenzug alle Mühe geben, euch gegen euren unheimlichen Feind zu helfen.“

Da nickte der junge Mann zufrieden und lächelte ihr zu.

„Ausgezeichnet, dies freut uns zu hören. Es liegt auch in unserem Interesse, deine Schwester aus den Händen des Gegenspielers zu befreien. Du hast die richtige Entscheidung getroffen und wirst sie nicht bereuen. Lass uns nun jedoch von hier fortgehen. Es ist schon ziemlich finster geworden und eben um diese Zeit erwachen ja die Kräfte unseres zwielichtigen Gegners. Folge uns in unser sicheres Hauptquartier und wir berichten dir morgen in aller Ausführlichkeit, was du für uns bewirken kannst.“


Als die kleine Gruppe den Müllcontainer verlassen hatte, um durch die leeren Winkel der Stadt zu schreiten, war die Luft um sie herum sehr kühl geworden und betäubten die Wangen von Cherryfly wie erfrischende Eiswürfel. Das Mädchen aber fror nicht und genoss stattdessen die vielen spannenden Eindrücke, welche nun zum ersten Mal auf sie einwirkten. Indem sie über die ehrfurchtgebietende Ernsthaftigkeit der fünf Männer staunte, welche in perfekter Eleganz wie ein Rudel umsichtiger Panther durch die Nacht huschten, ließ sie ihren Blick hie und da über ein dunkles Fenster schweifen und fragte sich, was sich dahinter verbarg. Kein Anflug von Leben schien hinter den heruntergekommenen Mauern zu erkennen zu sein. Bald hatten sie die engen Passagen überwunden und näherten sich ihrer letzten Ecke, um in eine verlassene Seitenstraße einzubiegen. Am Rande des schwach beleuchteten Bürgersteigs stand schon eine schmale Limousine für sie bereit. Die Scheiben des Wagens waren dunkel getönt und sein Lack glänzte unter dem Schein der Laternen wie der Panzer eines tiefschwarzen Käfers. Jemand im Inneren des Autos hatte beim Anblick der sich nähernden Gestalten den Motor gestartet und wartete nun, bis die sechs Personen herangetreten waren. Dann öffneten diese die Türen des brummenden Wagens und forderten Cherryfly dazu auf einzusteigen. Nachdem auch sie sich rasch in das Innere des ledern ausgekleideten Gefährts gehievt hatten, setzte sich dieses kurz darauf mit einem lautlosen Ruck in Bewegung. Das Mädchen hätte gern gewusst, wer ihr Chauffeur war, doch hinter dem undurchsichtigen Glas, welches den Bauch des Wagens von seiner Fahrerkabine abtrennte, schien nichts erkennbar zu sein. Zu ihrer Linken saß der sperrige Mann mit der tiefen Narbe, während zu ihrer Rechten Joseph Platz genommen hatte.

Zunächst herrschte eisernes Schweigen, dann durchbrach der junge Mann die Stille mit seiner warmen Stimme.

„Wenn du jetzt noch ein paar Fragen an uns hast, ist Gelegenheit, sie hier zu stellen. Die Fahrt sollte nicht allzu lange dauern, doch das, was wir auf der Straße nicht besprechen konnten, wollen wir dir in diesem Wagen gern erläutern. Wenn du möchtest, vermag dir natürlich auch die ‚Elster‘ unsere Antworten zu liefern.“

Ehe Cherryfly sich jedoch verwirrt über die erwähnte Person zeigen konnte, ließ der Mann zu ihrer Seite ein knurrendes Geräusch verlauten und murmelte:

„Damit meinte er mich. Wundere dich nicht über meinen Namen, denn er ist bloß eine seltsame Koseform, die sich unter meinen Mitarbeitern durchgesetzt hat. Die Bezeichnung unseres Feindes als ‚Bubblemaker‘ erscheint dabei ebenso erfunden. Vielleicht besitzt jenes Wesen der Dunkelheit, von dem die meisten Menschen auf der Welt keine Ahnung haben, weder festes Gesicht noch einen richtigen Namen, doch wir haben uns dafür entschieden, es zur Orientierung nach einem seiner wenigen greifbaren Merkmale zu benennen.“

Joseph nickte stumm und fuhr anschließend fort:

„Wir haben den Dämon, mit dem wir uns verfeindet haben, ‚Bubblemaker‘ genannt, weil er seine Anwesenheit in der Finsternis jeweils mit schillernden Seifenblasen verkündet.“

Das Mädchen öffnete erstaunt seinen Mund und versuchte sich vorzustellen, wie ein böser Geist sich an Symbolen von Entzücken und Kindlichkeit bediente, um seine Opfer zu täuschen. Dann fasste es sich wieder und wollte wissen:

„Und warum habt ihr euch mit ihm zerstritten?“

Der junge Mann neben ihr schüttelte seinen Kopf, um eine Falte seines dunklen Hemdes zu glätten.

„Das soll dir morgen unser Herr erzählen, wenn er dir höchstpersönlich gegenübertreten wird. Er ist wohl der einzige auf Erden, welcher das Wesen der Nacht schon einmal leibhaftig vor sich stehen gesehen hat. Daher wird er dir viel Wichtiges über unseren gemeinsamen Feind berichten können. Indem seine Tochter vor kurzem von dir und deiner Schwester geträumt hat, ist es ihr gelungen, eure Ankunft in dieser Stadt präzise vorauszusagen. Dabei erzählte sie uns, dass Honigbohne unserem Feind in die Hände geraten würde, während wir dich im Gegenzug erfolgreich bergen könnten. Es war uns möglich, ihre Prophezeiungen zu überprüfen, indem wir ihren Worten gefolgt sind und heute Abend über den Dächern eines Hochhauses den dämmernden Himmel beobachtet haben.“

Cherryflys Nachbar mit den kalten blauen Augen gab ein leises Brummen von sich und sprach:

„Vielleicht ist es dir bis jetzt nicht bewusst gewesen, doch dein Erscheinen auf dieser Welt hat für kurze Zeit ein sichtbares Zeichen über der Stadt hinterlassen, das für Kundige klar und deutlich zu beobachten war. Dasselbe galt auch für deine Schwester. Als ihr beiden nämlich hier angekommen seid, waren für wenige Minuten zwei eigenartige, dünne gelbe Lichtsäulen am Himmel zu erkennen gewesen. Sie standen laut dem Traum der Tochter unseres Oberhauptes jeweils genau über jenen Punkten, bei denen ihr zuerst erschienen seid. Das heißt, deine Schwester ist auf einem verlassenen Industriegebiet am Rande der Stadt etwa eine halbe Stunde vor dir aufgetaucht. Ein Teil von uns eilte sofort zu jener Stelle und hat versucht sie zu retten, doch keine Spur war mehr von ihr zu sehen. Als unsere Gruppe dann nur wenig später nach der zweiten Lichtsäule in die Richtung der westlichen Gebiete losgezogen ist, konnten wir dich vor dem Bubblemaker finden. Die Vorhersage der Tochter unseres Vorgesetzten hat sich somit gänzlich bewahrheitet.“

In diesem Moment machte der Fahrer vorne auf einmal einen abrupten Bremser und ein Ruck ging durch das ganze Auto, welcher die Tasche Josephs vor sich auf den Boden schleudern ließ. Eine kleine gläserne Phiole mit einem schimmernden Inhalt kam darauf zum Vorschein, der den Eindruck von flüssigem Gold erweckte und seltsam lebendig unter dem künstlichen Licht der gedämpften Autolampe waberte. Kreidebleich geworden, schnellte der junge Mann mit den grünen Augen vor, um den Gegenstand rasch wieder einzupacken. Er zitterte kaum merklich und erntete einen finsteren Blick von der totenstill gewordenen Elster. Unterdessen hatte der Wagen seine Fahrt wieder fortgesetzt und der Lenker beschleunigte seine Geschwindigkeit.

„Was um alles in der Welt war das?“

Joseph versuchte seinen grimmigen Kameraden zu beschwichtigen, indem er ihm mit wiedergewonnener Fassung entgegnete:

„Ein Tier, schätze ich, das unvorhergesehen über die Straße gelaufen ist. Natürlich können wir nicht wissen, ob es von unserem Feind verwirrt und dazu angestiftet worden ist. Aber wir befinden uns immer noch unbeschadet auf unserem Weg.“

Das Mädchen warf einen flüchtigen Blick auf die am Boden platzierte Tasche, welche nun wieder fest verschlossen ihr geheimnisvolles Fläschchen barg. Sie kam nicht umhin sich zu fragen, was seine merkwürdige goldene Flüssigkeit wohl zu bedeuten hatte. Die Tatsache jedenfalls, dass ihr Gegenüber so schockiert über deren Zutagetreten reagiert hatte, schien zu bestätigen, dass sie von hoher Wichtigkeit war. Danach wurde nichts mehr gesprochen und ein tiefes Schweigen hing über den Köpfen der betretenen Männer.


Schließlich näherten sie sich einem gewaltigen, stahlstrotzenden Hochhaus, das sich in schwindelerregender Höhe am Firmament vor ihnen auftat. Seine glatten, dunklen Wände erhoben sich stolz über alle restlichen Gebäude der Stadt und der mächtige Turm aus mattem Metall und spiegelndem Glas starrte mit tausend gelben Fensteraugen unermüdlich in die kalte Nacht hinaus. Bald war es dem länglichen Gefährt gelungen die gewöhnlichen Straßen hinter sich zu lassen, um bis zum Eingang des noblen Parkhauses jenes Riesenbaus zu rollen. Beim elektronischen Gerät vor der Pforte angelangt, öffnete der Fahrer das Fenster und streckte seine Hand hinaus. Kaum aber hatte er seinen Fingerabdruck auf der rechteckigen Fläche neben dem Auto zur Identifikation vorgewiesen, ertönte ein leises Piepen und die schweren Stahltore des Eingangs glitten nach oben, um den Weg zu den unteren Etagen der gut bewachten Tiefgarage freizugeben. Sodann setzte sich die Limousine erneut in Fahrt und wand sich hinab in den gigantischen Rachen des grabartigen Gebäudes, um im dritten Stockwerk unter dem Boden schließlich Halt zu machen. Nun befanden sich die Männer und das Mädchen inmitten einer kleinen Armee von dunkelglänzenden, makellos polierten Wagen eingeparkt. Joseph lächelte seinem Gast freundlich zu und bat ihn mit einer Geste seiner Hand, auszusteigen. Als Cherryfly diesem Wunsch nachgekommen war, schaute sie sich draußen mit großen Augen in der neuen Umgebung um. Das Parkhaus, das von einem intensiven Benzingeruch erfüllt wurde, schien ihr dabei wie eine unheimliche graue Totenhalle, in welche kein Licht des Tages jemals hingelangte und deren luxuriöse schwarze Wagen unter dem Schein der Halogenlampen leise vor sich hin schlummerten, um weichgepolsterten Särgen zu gleichen. Etwas an jener kalten und unnahbaren Räumlichkeit erinnerte stark an die Hoffnungslosigkeit des Todes. Unterdessen hatte der Mann mit dem Narbengesicht das Mädchen nicht aus seinem Blick gelassen, um es mit versteinerter Miene anzustarren. Als er jedoch bemerkte, wie sich sein argloses Studienobjekt staunend zu ihm umgewandt hatte und ihn bald mit einem kindlich überforderten Ausdruck betrachtete, löste sich die Härte in den Zügen jener kräftigen Gestalt und sie erweichte ihr Herz zu einem feinen Schmunzeln.

„Ein eindrucksvolles Parkhaus, nicht wahr? Doch halte dich nicht zu lange beim Erkunden dieser Hallen auf, warten drinnen ja noch viel größere Wunder.“

Joseph, der seine schwarze Tasche ergriffen hatte und sich schon auf dem Weg zur nächsten Tür befand, drehte seinen Kopf um und winkte den trödelnden Personen zu.

„Kommt jetzt, es ist nicht mehr weit bis zu unserem Ziel und ich schätze, dass Kirschfliege nach ihrer langen Reise doch ein wenig müde sein wird. Sie muss sich gut erholen, wenn sie morgen unserem Vorgesetzten gegenübertritt.“


Das Mädchen hob ihre Brauen und eilte dann flink zum Eingang mit dem elektronischen Schloss. Ihr schlankes Gegenüber hatte sich inzwischen daran gemacht, seine Handschuhe auszuziehen, um den rechten Daumen auf das flimmernde Kästchen vor sich zu drücken. Kurz darauf gab das Gerät am Eingang einen hohen, kurzen Laut von sich und öffnete die Tür in das Innere des riesigen Gebäudes mit einem leisen Klicken. Die dunkelgekleideten Männer und jene kleine blonde Gestalt begaben sich sodann in einen schmalen Durchgang hinein, von welchem sie bloß kurze Zeit später in eine eindrucksvolle, leuchtende Halle traten. Sauber und warm, besaß diese einen hellen Steinboden, der minutiös gereinigt wurde. Dem Mädchen schien jener Ort noch einmal wie eine ganz andere Welt zu sein, die, gut geschützt hinter einer festen, hohen Mauer, nur den ausgesuchtesten Leuten einen Besuch gestattete. Neben den goldenen Aufzügen des noblen Empfangs hatte man kleine Tischchen mit Blumen aufgestellt und es roch nach dem Grün abgeschnittener Zweige sowie frisch gepflückter Blüten, die ihren ungewöhnlich starken Duft im ganzen Raum verbreiteten.

„Und dieses ganze Gebäude hier gehört also eurem ehrenvollen Herrn, dem sagenumwobenen Oger …“

Joseph, der schon den Knopf nach oben betätigt hatte und nun ruhig vor einem der Lifte wartete, drehte seinen Kopf nach der beeindruckten Begleiterin um und sprach:

„Sehr richtig. Unser Vorgesetzter besitzt zwar oberflächlich betrachtet einen etwas merkwürdigen Namen, doch ist er uns allen als respekteinflößende und fähige Person bekannt. Ohne seine Initiative und Fantasie wäre dieses Hochhaus nie zur Entstehung gekommen. Er hat es auf eigenen Wunsch nach seinen Idealvorstellungen anfertigen lassen.“

Cherryfly nickte erstaunt und ließ ihren Blick über die irdische Pracht schweifen. In diesem Augenblick leuchteten die Ziffern über den Türen des Aufzugs blinkend auf und der Kasten vor ihnen öffnete sich, um die Sicht auf seine blank polierten Spiegel freizugeben. Nur wenige Augenblicke später befand sich die Gruppe alsdann im Lift, um sich mit einem sachten Ruck nach oben in Bewegung zu setzen. Das Mädchen verspürte zum ersten Mal in ihrem Leben ein kurzes Ziehen in der Magengegend und machte ein kummervolles Gesicht. Indem sie ihren Kopf hob und fasziniert auf die vorüberfliegenden Zahlen des Etagenzählers blickte, bemerkte sie, wie der Kasten still und ziemlich schnell nun immer höher glitt. Neben ihr entschied sich die Elster, eine kurze Erläuterung über den riesigen Wolkenkratzer zu liefern.

„Das Gebäude hat insgesamt fünfunddreißig Stockwerke und ist damit der höchste Bau, der diese Stadt hier jemals gesehen hat. Wir wohnen jedoch auf den obersten Etagen und nehmen für die grandiose Aussicht eine längere Fahrt in Kauf. Auch du wirst gleich in ein Gästezimmer mit atemberaubender Lage gebracht.“

Cherryfly rührte sich nicht und betrachtete die anderen Männer um sich herum, welche ausdruckslos auf die metallene Wand vor sich starrten. Die geheimnisvolle Tasche mit dem goldenen Fläschchen wurde durch Joseph dabei fest mit der linken Hand umklammert und lockte, vom Mädchen heimlich geöffnet zu werden. Dann ertönte das Signal, welches verkündete, dass sie ihren gewünschten Stock erreicht hatten und die Türen des Aufzugs glitten abermals auf, um die kleine Gruppe frei zu lassen. Laut der Anzeige befanden sie sich nun auf der vierunddreißigsten Etage. Der breite Korridor vor ihnen, welcher sich ellenlang in die Ferne zu erstrecken schien, hatte etwas Unwirkliches an sich und erdrückte den Besucher mit seiner Herrlichkeit. Er war im Stil einer üppigen, dunklen Herrschaftsresidenz gehalten, an deren Wänden feingeschmiedete, verzierte Metallgitter hinter grünem Stein prangten. Große Kronleuchter hingen hoch über dem Boden der spiegelglatt polierten Marmorböden und tauchten diese in ein warmes Licht aus schimmerndem Gold. Beim Weitergehen erkannte Cherryfly auch, dass jede einzelne Tür an den Seiten des Ganges aus feinstem Mahagoniholz gefertigt worden war, um eine Reihe von quadratischen honigfarbenen Messingplatten zu besitzen, in denen man wiederum kreisförmig ein Gitter aus geometrischen Mustern eingelassen hatte. Sie war gezwungen zuzugeben, dass das Innere dieses Gebäudes sehr nah an die Schönheit des Palastes ihres Vaters herankam und dachte ein wenig besorgt darüber nach, wie reich und mächtig wohl ein Menschenwesen sein musste, um sich so einen eindrucksvollen Wohnsitz erbauen zu können. Beim Betrachten der grimmigen, in schwarz gekleideten Männer, in deren Obhut sie sich blindlings begeben hatte, fuhr ein kalter Schauer über den Rücken des Mädchens und zugleich verspürte sie eine unbändige Neugier, den obersten Herrn jener Gestalten am nächsten Morgen endlich kennenzulernen. Sie fragte sich, von welcher Art dessen Organisation sein mochte und versuchte sich auszumalen, was es mit seinem eigenartigen Namen auf sich hatte. Dieser Mann, das wusste Cherryfly schon jetzt, würde ihr entweder zu einem enorm hilfreichen Verbündeten bei der Suche nach ihrer Schwester werden - oder aber zu einem so gewaltigen Hindernis, dass es unmöglich schien, ihn jemals mit alleiniger Kraft zu überwinden. So in Gedanken versunken, wurde das Mädchen schließlich jäh aus ihren Überlegungen aufgeschreckt, als die Gruppe vor ihr in der Mitte des Korridors plötzlich Halt machte. Joseph drehte sich einer Tür auf der linken Seite zu und öffnete diese mit einem leisen Piepen. Das Licht auf der anderen Seite ging automatisch an, um über die Schwelle des kleinen Einganges zu sickern.

„Hier wären wir; dies ist dein privates Zimmer. Ich bin sicher, dass es dir gefallen und du eine erholsame Nacht genießen wirst.“

Sein zierliches Gegenüber trat näher an die geöffnete Tür heran und spähte mit verwunderter Miene hinein. Im Inneren des großflächigen Gästezimmers befand sich eine luxuriöse Ausstattung mit riesenhaftem Himmelbett und hölzernen Kommoden. Das gewaltige Panoramafenster mit Sicht auf die hell erleuchtete Stadt unter ihnen ließ einen klaren Blick auf die dicken grauen Wolken zu. In diesem Moment gelang es dem Mädchen, sich an eine wichtige Sache zu erinnern, die sie eigentlich im Verlauf ihres Gesprächs hatte klären wollen. Aufgebracht wandte sich das Wesen aus dem Tränenreich seinem grünäugigen Begleiter zu.

„Und wie lange dauert es noch bis zum Vollmond?“

Joseph schien ein wenig überrascht über die plötzliche Frage zu sein und fuhr sich nachdenklich durch sein dichtes dunkelbraunes Haar.

„Bloß noch zwei Tage, soweit ich weiß.“

Da fühlte sich Cherryfly, als jagte ein eisiger Blitz durch ihren Körper und sie hielt sich erschrocken am Türrahmen fest, um ihren Schwindel und die aufkommende Übelkeit zu vertreiben. Wie froh war sie nun, dass sie tatkräftige Unterstützung und konkrete Anhaltspunkte für die Suche nach ihrer Schwester gefunden hatte. Doch die Zeit stellte sich dadurch als noch drängender heraus, als das Mädchen sich besorgt vorgestellt hatte. In zwei Tagen musste sie Honigbohne gerettet haben und aus dieser Welt verschwunden sein - oder sie würde wie Wasser auf glühend heißem Stein verdampfen und sterben. Indem sie sich wieder besann, um das rote Briefchen mit dem Sand ihres Vaters auf der Haut unter ihrem Hals zu fühlen, löste sich die zarte Gestalt vorsichtig von der Tür. Dank jenem Geschenk aus der fernen Heimat würde sie es bestimmt schaffen, rechtzeitig wieder nach Hause zurückzukehren.

Nachdem das Mädchen die Männer um sich herum nach der ersten Verwirrung beruhigt und ihnen alles genau erklärt hatte, nahmen die Gestalten um Joseph den neuen Sachverhalt mit Zuversicht zur Kenntnis und verabschiedeten sich dann von ihr, um in den Tiefen des Ganges zu entschwinden. Zuvor hatten sie ihrem Gast noch eine gute Nacht gewünscht und ihm versichert, dass er sich keine Sorgen über den Erfolg ihrer gemeinsamen Aufgabe zu machen brauchte. Cherryfly fühlte sich dadurch etwas besser, schloss die Tür hinter sich und legte sich anschließend mit gelindertem Zweifel und der sanften Stimme des jungen Mannes im Gedächtnis gedankenverloren auf ihr Bett.


Währenddessen hatte die Luft draußen sich zu eisigen Temperaturen hinuntergeschraubt und der Nacht über der großen Stadt war es gelungen, die vollkommene Herrschaft über jede Ecke und jeden Winkel der schwarzen Außenwelt zu erlangen. Niemand vermochte mehr zu sehen, wer oder was sich auf einem der Dächer eines kleineren Hochhauses befand und in der Dunkelheit kauerte, um mit leuchtenden Augen in die Finsternis hinauszustarren. Seine Nackenhaare hatten sich aufgestellt und ein aufgeregter Schauer jagte durch die Adern des verwilderten Geschöpfes. Hätte man die Sehkraft eines nachtaktiven Tieres besessen, so hätte man vielleicht erkannt, dass es sich bei oberflächlicher Beobachtung um ein hockendes menschliches Wesen handeln musste, dessen Knochen eigenartig stark hervorstanden und der ganzen abgemagerten Gestalt einen drahtigen und geisterhaften Ausdruck verliehen. Doch bei längerem und genauerem Hinsehen störte noch etwas anderes. Das Gesicht, von dem der kondensierte Wasserdampf ausgestoßenen Atems ausging, war von dichtem Haar bedeckt und ließ unter jenem Gestrüpp eine überraschende Tatsache erahnen, die man sich aber nicht getraute nachzuprüfen, indem man etwa näher herangegangen wäre, um die verfilzten Strähnen mit zitternden Fingern aus dem Antlitz des verdächtigen Wesens zu streichen.

Mangum, so hieß unser hier beschriebenes Geschöpf, fuhr sich aufgeregt mit der Zunge über die Zähne und dachte über das nach, was es vor kurzem beobachtet hatte. Der Schock über die Eindrücklichkeit jener gleißend hell am Himmel aufgeflammten Lichtsäule nur eine Stunde zuvor steckte ihm noch immer tief in den Knochen und es wagte sich nicht zu bewegen, um die leise Hoffnung nicht zu zerstören, dass vielleicht alles doch nur ein unerfreulicher Traum gewesen sein könnte. Doch es wusste ganz genau, dass die Vorhersagen seines geheimnisvollen Freundes nun in Erfüllung gegangen waren. Die Kreatur aus der anderen Welt war heute Abend durch das Zeichen am Firmament in dieser Stadt erschienen. Mangum, der schon darauf vorbereitet gewesen war, saß dabei auf einem der Dächer über den Straßen und vermochte alles mitanzusehen. Jetzt verfügte er über keine weitere Ausrede mehr, seine gefahrvolle Aufgabe hinauszuzögern. Er musste dieses Mädchen finden und es unbedingt seinem Verbündeten bringen. Wie sehr sich das verfilzte und heruntergekommene Wesen dagegen wünschte, am nächsten Morgen ungestört in einen der Abwasserkanäle zu verschwinden. Dort unten wurde es von niemandem gesehen und brauchte sich um nichts weiter Sorgen zu machen, als genug Ratten und Ungetier zu erbeuten, damit es die Kraft dazu aufbrachte, sein spärliches Dasein weiterzuführen. Aufregung machte sich im Körper Mangums breit und ein letztes Mal stieß er den Atem in die eisige Luft hinaus, um sich dann langsam aufzurichten und sich hinunter auf den Weg in die Stadt zu machen. Sobald er zu jenem Ort gelangt sein würde, welchen er sich von hier oben dank des kurz erschienenen Lichtes gemerkt hatte, würde er mit seiner Nase die Witterung aufnehmen und herausfinden, wo das Wesen aus der Tränenwelt hingegangen war. Auf seine Nase war zum Glück immer Verlass. Mangums knochige Gestalt kletterte vorsichtig und mit dem Anschein eines halbverhungerten Äffchens vom Dach hinunter, ließ ihre Gelenke mit dem Knacken eines vertrockneten Astes auf den Boden aufprallen - und nachdem das riesengroße, eigenartig wankende Geschöpf sich von jenem Sturz erholt hatte, verschwand es schließlich rasch hinter der nächsten Ecke, die in ein finsteres Labyrinth aus ärmlichen Seitengassen führte. Hier war eine Welt, die ihm noch völlig fremd war und die es gezwungenermaßen zu erkunden galt. Als Mangum sichergestellt hatte, dass er alleine war, strich er sich die Strähnen aus seinem Gesicht und blickte hinauf zum Himmel. Alles, was man jetzt noch von ihm erkennen konnte, waren seine zwei großen, runden Augen, die wie neonfarbige Glühkohlen in der Dunkelheit glimmten. Mangum besaß den Körper eines Menschen und das verstörende Gesicht eines Tiers.

Der Teich der Tränen

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