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II
Eine kleine Seejungfrau
ОглавлениеDas Imperium des Ogers war das mächtigste in der ganzen Stadt und offenbarte sich für jeden sichtbar als jenes riesenhafte Gebäude, das hoch über allem anderen schier endlos in den Himmel ragte und ihn durchbohrte, so als ob selbst die Wolken noch zu seinem Reich gehören würden. Viele tausend Menschen gingen jeden Tag dort ein und aus und verrichteten stumm ihre Tätigkeit, um jedoch vollkommen unwissend darüber zu bleiben, wer ihr oberster Arbeitgeber war oder wie sein Gesicht aussah. Sie fügten sich Tag für Tag ihrem nächsten Vorgesetzten und dieser wiederum sah sich noch höheren Personen gegenübergestellt, welche ein kleines Stück mehr wussten als ihre teilnahmslosen Untergebenen. So ging es also von Etage zu Etage ein bisschen aufwärts mit dem Ansehen eines Angestellten und sein Überblick über die eigentliche Organisation hinter dem riesigen Komplex erhöhte sich mit dem Aufstieg in das nächste Stockwerk. In der Mitte des gigantischen Arbeitsgebäudes war den meisten der Spitzname des höchsten Herren, dem sie ihre Beschäftigung zu verdanken hatten, schon einmal zu Ohren gekommen - und man fragte sich, warum er wohl der „Oger“ genannt wurde. Nur in den obersten Etagen hoch über der Stadt, wo das Herz und gleichzeitig der Kopf der Gemeinschaft verweilten, konnte man auch wissend über diese Anspielung schmunzeln.
Der Oger war vor langer Zeit aus der fernen Fremde aufgetaucht und schien dank seiner märchenhaften Rätselhaftigkeit und unerhörten Macht zu einer Art Legende geworden zu sein, über die man sich gerne die wildesten Gerüchte erzählte. Es gab viele falsche Informationen über ihn, welche teilweise sogar von seinen engsten Vertrauten verstreut worden waren, um die Aufmerksamkeit von dessen eigentlichen Identität abzulenken und somit zu verhindern, dass auch nur ein Tröpfchen der Wahrheit über seinen Ruhm jemals ans Licht gelangte. Man munkelte insgeheim, dass der Oger Finsteres zu verbergen hatte - und dass er durch unlautere Mittel zu seinem unbegreiflichen Reichtum gekommen sei. Immer waren die Leute neugierig auf ihn und oft genug mit großer Missgunst erfüllt, doch die meisten von ihnen konnten sich auch nicht gegen einen gewissen Respekt vor ihm erwehren und fürchteten sich zurecht vor ihm. Denn der Oger war eine außergewöhnliche Person, welche klug und weitsichtig die richtigen Leute um sich geschart hatte und aus genauer Berechnung die Öffentlichkeit mied. Sein Arm reichte weiter, als einer zu träumen wagte und sein erbittertster Feind war eine der mächtigsten Kreaturen dieser Welt.
Und in der vierunddreißigsten Etage also, dort, wo sich die geheime Herrschaft jener Stadt in unserer Geschichte konzentrierte, lag Cherrfly nun gegen sieben Uhr morgens in einem riesenhaften Himmelbett aus kunstvoll geschnitztem Ebenholz, eingebettet in ein Meer aus flauschigen Kissen und umhüllt von einer Decke aus weichem, dunkelrot schimmerndem Satin, die sie sich bis zum Kinn herangezogen hatte. Sie war wach und lauschte dem Sirren des kleinen elektronischen Weckers, welcher neben ihr auf dem Nachttisch lag. Die schweren Vorhänge waren noch zugezogen und ließen keine Ahnung auf den Grad der Helligkeit draußen zu. Das Mädchen, das bisher auf dem Rücken gelegen hatte, wandte sich auf die Seite und drückte seine Wangen auf das geschmeidige Kissen unter sich. Seine nackten Zehen gruben sich in die Falten des Bettzeugs zu seinen Füßen und es spürte, wie sein dünnes Blütenkleid, das es seit seiner Geburt im Arbeitszimmer seines Vaters getragen hatte, nach der Ankunft in der Menschenwelt dahingewelkt war. Auf der Stuhllehne vor dem eleganten Schminktisch zur Rechten lag in weiser Vorsehung jedoch schon ein neues Kleid bereit. So schloss Cherryfly ihre zart schimmernden Lider und dachte an die Ereignisse von gestern Abend nach - und wie sie in dieses Zimmer hier geführt worden war, wo man sie mit ihren Überlegungen allein gelassen hatte. Joseph hatte sie mit den knappen Worten verabschiedet, sich gut zu erholen und morgen um acht Uhr bereit für das wichtige Treffen mit seinem Vorgesetzten zu sein. Danach war die Tür von außen wieder durch die Elster verschlossen worden und das Mädchen hatte sich abgewandt, um zum Bett zu gehen. Lange war es aber nicht darauf liegen geblieben, zumal ihm vom nächstgelegenen Tisch her bald ein feiner Duft entgegenkam. Indem es wieder aufstand, um jenen Geruch zu untersuchen, fand es auf der Ablage neben der Tür schließlich ein hübsch drapiertes Bouquet mit grünem und weißem Gemüse auf einem Teller vor, welches an klitzekleine, niedliche Bäume erinnert hatte und ihm jetzt noch beim Gedanken daran ein verstohlenes Schmunzeln entlockte. Das Wesen aus der Tränenwelt hatte trotz seiner Appetitlosigkeit seine Finger nach den grünen Köpfchen der Gewächse ausgestreckt, um sie verwundert zu berühren. Diese schienen allerdings totgekocht und gaben kein Zeichen von Leben mehr von sich. Also hatte sich das Mädchen enttäuscht von ihnen abgewandt und ließ auch die kunstvoll drapierte Kräuter-Rindsroulade ungekostet auf der Platte hinter sich. Nach einigen vorsichtigen Schritten durch das Zimmer, welches ihr wie ein wundersames, verzaubertes Museum vorgekommen war, wanderte Cherryfly alsdann zum Bett, um sich darin zu verstecken. In dieser der Winterstarre einer Amphibie gleichkommenden Weise war sie still und regungslos bis zum nächsten Morgen verharrt, um den gedämpften Geräuschen unten in der Stadt zu lauschen. Nun verspürte das Mädchen nach seiner langen Regungslosigkeit ein unwiderstehliches Bedürfnis, sich endlich wieder etwas zu bewegen. Es richtete sich langsam auf und setzte seine baren Sohlen auf den Teppichboden vor sich, um den ganzen Körper ausgiebig vom langen Liegen durchzustrecken. Anschließend ging es zum Stuhl mit dem bereitgelegten Kleid, streifte sich die bei jedem Schritt raschelnden und ausgetrockneten Blütenblätter vom Leib und zog sich dann den neuen Stoff über, welcher ihm erstaunlicherweise wie angegossen passte und sich eng an seine weiche Haut anschmiegte. Indem Cherryfly ihre Kette mit dem geheimen Briefchen vorsichtig unter dem Stoff über ihrem Herzen versteckte, warf sie einen Blick in den Schminkspiegel auf dem Tisch vor sich. Ihr neues Kleid besaß lange Ärmel aus cremefarbener, durchsichtiger Spitze und war mit so aufwändigen und delikaten Verzierungen aus feinstem Gold bestickt, dass man fast glauben mochte, jene Ornamente waren dort von selbst als kunstvolle kleine Pflanzen gewachsen und besaßen das Leben von schlummernden, zusammengerollten Farnknospen in sich. Vom Bauchnabel bis zum Hals schmückten sie den Oberkörper des Mädchens und machten bei einer dezenten vergoldeten Metallschleife Halt, die vorne an der Taille angebracht war. Der untere Rest der kostbaren Robe betonte die schlanken Hüften und bestand aus zarter, fließender Seide, welche bis zum Boden reichte. Wieder war Cherryfly überwältigt von der Pracht, die ihr in diesem Gebäude entgegenschlug, und sie griff rasch nach den beiden entzückenden Schuhen neben dem Tisch, um sie sich anzuziehen. Dann überprüfte sie kurz die Zeit auf dem Wecker und ging in ihrem Zimmer hin und her. Es verblieb noch eine Dreiviertelstunde bis zum großen Treffen, das in ihr nun eine kribbelnde Aufregung hervorrief. Plötzlich fiel dem Mädchen jedoch eine kleine Bibliothek in der Ecke des Raumes auf. Es wechselte seinen Kurs und eilte anschließend mit wehender Robe zum Gestell hinüber. Indem es seinen Blick über die unzähligen Buchrücken schweifen ließ, hatte es die Schriftzeichen auf ihnen bald entziffert und las ein Wort, welches sich auf einem Band ganz oben im Regal befand.
Cherryfly wusste zwar nicht, was jener Begriff mit dem Namen „Märchen“ bedeutete, doch ihr Sinn für das fremde Buch war schon geweckt. Sich auf die Fußspitzen stellend, versuchte sie mit den Fingern an den Rand des obersten Brettes zu gelangen, um den hübschen Band herunterzuholen. Sie war jedoch nicht groß genug und zitterte schon unter dem eigenen Körpergewicht, welches nun mit seiner ganzen Konzentration auf ihren Zehen lastete. Da kam dem Mädchen auf einmal eine Idee und es versammelte all seine Aufmerksamkeit auf die kleinen, in duftendes Leder gepressten Buchstaben über sich. Indem es diese mit seinem Geist und leuchtenden Augen fest umgriffen hielt, stellte sich das Wesen mit den außergewöhnlichen Kräften vor, wie sich das fokussierte Buch anhand seines Titelwortes ohne größere Mühe von seinem Platz heben liess, um mit taumelndem Rücken herunter zu schweben. Cherryfly wusste noch nichts von der physikalischen Schwierigkeit jenes Unterfangens in der gewöhnlichen Menschenwelt und war fest davon überzeugt, dass ihr Wille Berge versetzen konnte -; und vielleicht gerade wegen dieser selbstsicheren Unvoreingenommenheit gelang es ihr schließlich, ihren arglosen Wunsch in die Realität umzusetzen. So als ob ein unsichtbarer Arm seine Hand ausgestreckt hätte, um das unerreichbare Objekt für sie zu ergreifen, zitterte der Märchenband erst sachte und löste sich dann um einen Zentimeter vom Boden des Regals, wo er für wenige Sekunden regungslos in der Luft schweben blieb. Dann hörte das Mädchen, wie es an die Tür am anderen Ende des Raumes klopfte und seine ganze Kraft verpuffte mit der Zerstreuung einer zur Dichte von Damaszenerstahl versammelten Aufmerksamkeit. Vom Geräusch abgelenkt, wandte es seinen Kopf in die Richtung des Zimmereinganges und das eben noch schwebende Buch fiel mit einem dumpfen Schlag wieder zurück auf seinen Platz. Kurz darauf öffnete sich die Tür und Joseph trat in den Raum ein.
Sein dunkelbraunes, üppiges Haar schien weniger gebändigt als gestern Abend zu sein und verlieh dem klugen Gesicht des schönen jungen Mannes einen spielerischen Ausdruck. Cherryfly beobachtete, wie er durch das Zimmer schreitend immer näher kam, um seinen Blick auf ihr ruhen zu lassen. Bei genauerer Betrachtung bestand die Faszination an seinem Äußeren ja nicht bloß aus einer harmonischen Zusammenstellung von erlesenen Gesichtszügen -; es war vielmehr jede einzelne Bewegung des groß gewachsenen, schlanken Körpers, welche sich mit dem Glanz jener beiden hypnotischen Augen vermischte und Auffassungsgabe sowie Empathie durch die einzelnen Herzschläge auszustrahlen begann.
„Guten Morgen, Kirschfliege, ich hoffe, du hast gut geschlafen?“
Auf diese Frage geriet das Mädchen in Verlegenheit und warf einen kurzen Blick hinüber zu ihrem wuchtigen Himmelbett, um zu entgegnen:
„Es tut mir ob eurer Bemühungen sehr leid, doch geschlafen habe ich nicht, weil ich und die Wesen in meinem Land niemals ein Auge zutun und, selbst wenn sie es mit all ihrer Kraft wollten, keine Sekunde lang zu schlummern vermögen.“
In diesem Moment machte ihr Gegenüber in der Mitte des Raumes Halt, hob verwundert seine Brauen und steuerte anschließend wortlos auf das Tischchen mit dem verschmähten Abendessen zu. Noch im Zustand seiner ursprünglichen Anordnung, stand dieses unangetastet da, um einen etwas unangenehmen Geruch im Zimmer zu verbreiten. Dann wollte der junge Mann mit den smaragdgrünen Augen wissen:
„Und was ist mit der warmen Mahlzeit, welche wir dir mit einiger Sorgfalt hingestellt haben? Hat sie deinen hohen Ansprüchen nicht genügt oder sogar vollkommen deinen Geschmack verfehlt?“
Cherryflys Wangen färbten sich rot und sie schüttelte betreten ihren Kopf.
„Aber nein, auch hier lag es nicht an einem Fehler eurer großen Anstrengungen. Ich habe bloß darum nichts gegessen, weil man von dort wo ich herkomme zu keiner Stunde eigentlichen Hunger verspürt. Wir leben zwar mit sprießenden Himbeeren und an einem klaren Teich, doch nach Essen und Trinken verlangt es uns nie.“
Da nickte Joseph stumm und setzte sich erneut in die Richtung zur Bibliothek in Bewegung, um im nächsten Augenblick bei seinem Gast angekommen zu sein. Indem er seine undurchschaubare Miene löste und ruhig zu lächeln begann, beschwichtigte er das verunsicherte Mädchen.
„Sorge dich nicht darum, mich verärgert zu haben. Meine Absicht war es nicht, dich in Verlegenheit zu bringen. Im Gegenteil dessen hast du gerade eben bewiesen, die ersten beiden Prüfungen unseres Vorgesetzten an dich bestanden zu haben. Dieser wollte nämlich, ehe er dich spricht, sichergehen, dass du auch wirklich kein gewöhnliches Menschenwesen bist. Und dazu hat er mich testen lassen, ob du unserem verlockenden Essen und dem Himmelbett verfallen würdest.“
Er richtete seinen Blick auf die Reihen feinverzierter Bücher über ihnen und fuhr fort:
„Wie ich sehe, hat es dich zur heimlichen Schatzkammer dieses Zimmers gezogen. Wenn du möchtest, kann ich dir ein Buch holen oder dir eine bestimmte Geschichte empfehlen. Es bleibt jedenfalls noch genug Zeit dazu.“
Da nickte Cherryfly und hob ihren Kopf erneut zu jenem für sie mit bloßen Händen unerreichbaren Band im obersten Regal, um mit dem Zeigefinger auf das gewünschte Objekt zu deuten.
„Wenn es dir keine allzu großen Umstände bereitet, würde ich gerne dieses Buch dort oben lesen. Es mag für dich recht einfach zu beschaffen sein - ich bin aber leider zu klein dafür.“
In diesem Moment kniff Joseph seine Augen zusammen und versuchte den Titel des erwähnten Bandes zu entziffern. Kaum aber hatte er die ersten Buchstaben des Buches erkannt, geschah auf einmal etwas Merkwürdiges mit seinem Blick und seine Miene versteinerte sich, um totenblass zu werden. Das Mädchen zu seiner Seite konnte beobachten, wie er seine Lippen zusammenzupressen begann und die Knöchel seiner Hände sich weiß verfärbten. Bald waren die Augen des jungen Mannes in weite Ferne gerückt und starrten in ein unsichtbares Nichts, sodass Cherryfly es nicht wagte, etwas Weiteres zu ihm zu sagen und bloß besorgt zu ihm aufsah, als sei er zu einem Nachtwandler geworden, den man nicht jäh aus seinem Traum wecken durfte. Dann hatte sich Joseph wieder gefasst und sprach mit zitternder Stimme:
„Da hast du eine ganz besondere Wahl getroffen …“
Als er sich kurz darauf einen Ruck gegeben hatte und zu jenem eindrucksvollen alten Möbelstück schritt, welches den Duft von edlem Nussbaum verbreitete und wie ein Tor zu einer anderen Welt verführerisch in der kleinen Ecke stand, dehnte er seinen Körper und streckte die Finger aus, um nach dem Buch in der obersten Reihe zu greifen. Mühelos hatte ihr Gegenüber das Objekt schließlich gepackt und reichte es dem verwunderten Mädchen. Dieses übernahm den in scharlachrotes Leder gekleideten Band ehrfurchtsvoll mit beiden Händen und schaute sich das gemalte Bild in der Mitte an, welches man liebevoll mit kleinen Ornamenten umschmückt hatte. Es zeigte ein am Ufer einer kleinen, abgelegenen Felsenhöhle sitzendes und sich die roten Haare kämmendes Wesen, das den Oberkörper einer hübschen jungen Frau besaß und vom hellen, leicht gewölbten Bauch abwärts in fantastischer Weise mit dem Schuppenleib eines silbernen Meeresfisches verschmolz.
„Andersens Märchen.“
Joseph sah der Leserin über die Schulter und nickte.
„Dieses Buch ist mir vor langer Zeit einmal in die Hände gefallen. Seither hatte ich es im Tumult der Zeit vergessen, doch wie der Zufall es wollte, sind mir die Geschichten aus diesem Band heute durch dich wieder begegnet.“
Da zog Cherryfly ihre Brauen zusammen und drehte den Kopf um, damit sie einen prüfenden Blick in das regungslose Gesicht mit den zwei grünen Augen werfen konnte. Etwas an ihrem gefundenen Gegenstand schien den jungen Mann für ein paar Sekunden tief aufgewühlt zu haben. Sie fragte sich, ob dies etwas mit der Gestalt auf der Vorderseite des Buches zu tun hatte und wollte darum wissen:
„Dieses Mädchen hier vorne - was ist das für ein Wesen? Sie scheint allem Anschein nach keine Beine zu besitzen und wird dadurch wohl kein richtiger Mensch sein …“
Nach einer kurzen Pause, in der Joseph unverwandt auf die gedankenverlorene Gestalt des rothaarigen Geschöpfes gestarrt hatte, welche mit leicht geöffnetem Mund und seitlich abgedrehtem Körper in eine unerkennbare Weite blickte, so als sei ihr in diesem Moment gerade eine überraschende neue Erkenntnis eingefallen, antwortete er zögernd:
„Nein, ein Mensch ist sie nicht - aber eine Meerjungfrau.“
Darauf wurde Cherryfly still und blickte hinunter auf das Bild zwischen ihren Händen, um sich mit großen Augen vorzustellen, wie besagte Kreatur durch das Wasser der gepinselten Ozeane glitt. In ihrem Reich wiederum gab es einen salzigen Teich aus gesammelten Tränen, dessen Grund vielleicht ebenso unbekannte Wunder barg.
„Und bist du schon einmal einem solchen Wesen begegnet?“
Ihr Gegenüber verzog seinen Mund und verneinte.
„Das wäre ich gerne, doch scheint heute schon bewiesen, dass es die fantastischen Geschöpfe aus den vielen Erzählungen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht gibt. Die Gerüchte um Meerjungfrauen sind uralt und stammen meist von Seefahrern, welche sich diese Wesen in ihrer Einsamkeit wohl selbst erdichtet haben. Daher spricht man auch von Märchen, weil die Geschichten über solche Kreaturen für vernünftige Menschen erfunden sind und trotz des wahren Kerns, welcher in ihnen entdeckt werden kann, doch nur eine extrem übersteigerte Abbildung der uns umgebenden Wirklichkeit darstellen.“
Das Mädchen aus dem Tränenland nickte und machte ein ernstes Gesicht, um über diese Aussage nachzudenken - dann erwiderte es in entschlossenem Ton:
„Du hast also gesagt, dass es Geschöpfe wie Meerjungfrauen nicht wirklich gibt, weil diese in den Köpfen der Leute entstanden sind. Für mich aber scheint es nicht schlüssig, unsere vielfältige Welt in einer einzigen materiellen Realität zu beschränken.“
Sie drehte sich zu Joseph um und blickte ihm eindringlich in die Augen.
„Woher wissen wir denn überhaupt, dass nicht auch wir lediglich erdacht sind und in diesem Augenblick in einer geschriebenen Geschichte vorkommen, die jemand mit Vergnügen liest? Vielleicht gibt es keine Grenze zwischen dem Erdachten und der Wirklichkeit. Wir fühlen uns alle nur so lange als Person lebendig, wie wir von jemand anderem entsprechend wahrgenommen werden. Oder wir existieren als der Jemand, welcher wir im Moment sind, weil wir uns auf eine gewisse konstruierte Identität rückbesinnen können. Gerät dann unser Ich alleine durch den eigenen Geist in Vergessenheit, scheinen wir in der Form, in welcher wir uns einmal verstanden haben, niemals existent gewesen zu sein. So ist es für kurze Zeit auch mit mir selbst passiert, als ich bei meiner Ankunft in der Menschenwelt alle Erinnerung über mich selbst verloren habe. Kaum vermochte mein Gedächtnis jedoch wieder meinen Namen und meine Lebensgeschichte zu fassen, stahl sich die Person ‚Kirschfliege‘ abermals in die Welt des wahrnehmbaren Lichts. “
Der junge Mann hatte nach diesen hervorsprudelnden Worten seinen Mund leicht geöffnet und schaute das Mädchen überwältigt an. Mit einer Antwort wie dieser hatte er nicht gerechnet und befand sich darum noch in einer Art Schockstarre. Als er sich wieder gefasst hatte und hinunter in die kirschgroßen pechschwarzen Pupillen seines Gegenübers blickte, funkelten seine Augen aufgebracht. Er wollte schon etwas erwidern, um zu einem ausufernden Satz auszuholen, als Cherryfly ihre Hand mit dem roten Buch ausstreckte und es ihrem Gastgeber fragend entgegenhielt.
„Bitte erzähl mir jetzt die Geschichte der Meerjungfrau auf diesem Titelbild, die ich ja so gerne erfahren möchte. Eine Viertelstunde müsste uns dafür noch bleiben, wenn mich nicht alles täuscht …“
Joseph hielt die Luft an und sah hinunter auf den ledernen Band des dicken kleinen Tintenwerks, um verdrossen zu nicken.
„Na gut, abgemacht, Kirschfliege. Ich schätze, wir verfügen tatsächlich noch über genug Zeit bis zum Treffen, um dir die Geschichte zu erzählen. Doch muss ich dich auch warnen …“
Seine grünen Augen hatten sich so weit verfinstert, dass sie in jenem Moment, als er einen bohrenden Blick auf Cherryfly warf, dem Dickicht eines bedrohlich schlummernden Dschungels glichen.
„Mit diesem einen Märchen verhält es sich nicht so, wie mit anderen Erzählungen für Kinder - und es ist nun wirklich nicht besonders fröhlich, um dich am Ende vielleicht sogar in große Trauer zu versetzen.“
Darauf erwiderte das Mädchen nichts und schaute ihr Gegenüber stattdessen bloß erwartungsvoll an. Sie wollte die Erzählung unbedingt zu hören bekommen, um mehr über die geheimnisvolle Verbindung des Märchens mit ihrem Gastgeber herauszufinden. Also seufzte der junge Mann, räusperte sich und begann wegen Zeitgründen aus seinem Gedächtnis die Geschichte Andersens verkürzt nachzuerzählen. Erst waren seine Worte und die Aussprache noch zögerlich, doch dann wurden diese ungewollt immer bewegter und entwickelten schließlich eine solche Ausdruckskraft, dass es den Anschein erweckte, als hätte Joseph das Märchen lange hinter der Bühne eingeübt.
„Schön, dann lass mich beginnen … Es geht also, soweit ich mich erinnern kann, um diese kleine rothaarige Meerjungfrau, welche mit ihrem verwitweten Vater, dessen Mutter und fünf anderen Geschwistern auf dem Boden des blauen Meeresgrundes in einem Palast lebte. Immer wenn eines der Kinder sein fünfzehntes Lebensjahr erreicht hatte, durfte es zum ersten Mal in seinem Leben an die Oberfläche des Wassers reisen und die Menschenwelt über sich sehen, welche sich grundsätzlich vom Reich des Meeres unterschied. Das jüngste Mädchen, die kleine Seejungfrau, konnte es nicht abwarten, diese an ihrem fünfzehnten Geburtstag endlich mit eigenen Augen zu sehen und lauschte den Erzählungen ihrer Schwestern und der alten Großmutter jeweils gebannt. Als ihr großer Tag dann endlich gekommen war und sie zum ersten Mal aus dem Wasser des Ozeans tauchte, blieb sie staunend an der Oberfläche des Meeres verharrend und beobachtete bis weit in den Abend hinein ein großes Schiff, auf dem die Menschen Feuerwerke zündeten und den sechzehnten Geburtstag ihres schönen Prinzen feierten. In diesen Prinzen also verliebte sich das Mädchen.“
Die Augen des Erzählers verfinsterten sich an jener Stelle und er fuhr mit leicht zitternder Stimme fort:
„Dann jedoch zogen mit dem fortschreitenden Abend plötzlich dunkle Wolken auf und ein Sturm begann über das Meer zu fegen, welcher das Schiff mit dem jungen Mann schließlich unbarmherzig in Stücke riss. Als sie sah, wie dieser hinunter in das Wasser fiel und darin schwamm, freute sich die arglose kleine Meerjungfrau zunächst darüber, erinnerte sich darauf aber erschrocken, dass die Menschen ja nicht in ihrer Welt überleben konnten und half dem Prinzen, der langsam ermattete und ohnmächtig wurde, an der Oberfläche des Meeres zu bleiben. Gemeinsam trieben sie durch die Nacht und wurden am Morgen schließlich an den Strand eines einsamen Klosters gespült. Dort küsste die kleine Seejungfrau ihren Liebsten auf die Stirn und als die Glocken des Klosters läuteten und viele junge Mädchen herausströmten, verschwand sie scheu wieder unter Wasser, um zurück zu ihrem Palast zu kehren. Fortan fand ihr Herz jedoch keine Ruhe mehr. Sie konnte nicht aufhören, an den hübschen Prinzen zu denken und erfuhr von ihren Schwestern, wo er wohnte. Oft besuchte sie ihn dann des Abends am Ufer seines Schlosses und schaute ihm zwischen den Schilfrohren verborgen zu, wie er mit seinem Boot hinaus auf das Meer segelte. Er hingegen wusste nichts über sie und kannte noch nicht einmal die Wahrheit darüber, wer ihn gerettet hatte. So wuchs der Wunsch der kleinen Seejungfrau, hinauf zur Welt der Menschen zu steigen. Sie fragte ihre Großmutter, ob diese Wesen denn, sofern sie nicht ertrinken würden, unsterblich seien und bekam als Antwort zu hören, dass die Lebenszeit der Menschen sogar noch kürzer sei als ihre eigene, welche dreihundert Jahre betrug. Dafür würden die Meerleute nach ihrem Tod jedoch zu Schaum und besäßen keine unsterbliche Seele, während die Seelen der Menschen nach ihrem kurzen Leben hinauf zu den ewigen Sternen steigen würden. Da wurde die kleine Seejungfrau sehr traurig und fragte, ob sie denn keine unsterbliche Seele erlangen könnte. Die Großmutter antwortete ihr, dass dies nur möglich sei, wenn ein Mensch sich in sie verlieben würde, die Leute oberhalb des Wassers Fischschwänze aber sehr hässlich fänden. Für die Meerjungfrau genügte dieser Hoffnungsschimmer allerdings schon und sie beschloss, in ihrer Verzweiflung zu der finsteren Meerhexe zu gehen. Diese bot ihr im Tausch für ihre schöne Stimme einen Trank an, den sie bei Sonnenaufgang am Strand trinken sollte, damit ihr anstelle des Fischleibes zwei Menschenbeine wachsen würden. Sie warnte das Mädchen aber auch, dass jener Schritt nicht widerrufen werden konnte und sie nach ihm niemals mehr zu ihrer Familie ins Meer zurückzukehren vermochte. Außerdem würde ihr fortan jeder Schritt, den sie mit ihren Füßen tat, so schrecklich wie Messerstiche schmerzen. Und sollte sich der Prinz nicht in sie verlieben und ein anderes Mädchen heiraten, würde sie während des darauffolgenden Sonnenaufgangs zu Meerschaum zerfallen und ihre unsterbliche Seele sowie ihr langes Leben verspielt haben.“
Cherrfly hielt sich unwillkürlich die Hände vor den Mund und schüttelte entsetzt ihren Kopf. Ein schweres, unheilvolles Gefühl machte sich in ihrem Bauch breit und sie befürchtete schon, dass im Verlauf der Geschichte etwas schief gehen könnte. Joseph indes fuhr unbeirrt mit seiner Erzählung fort.
„Die kleine Meerjungfrau willigte schließlich jedoch trotz allem in den Tausch ein und ließ sich die Zunge abschneiden, um im Gegenzug den unheilvollen Trank von der Hexe zu erhalten. Sie verabschiedete sich im Geheimen von ihrem Palast und ging dann hinauf zum Strand vor dem Schloss der Menschen, wo sie ihren bitteren und schmerzhaften Trunk trank. Als die Sonne aufging, hatte sie ihren Fischleib verloren und besaß nun stattdessen zwei weiße Mädchenbeine. Sie wurde vom Prinzen gefunden und gefragt, woher sie stammte. Das unglückliche Wesen konnte ihm jedoch nicht antworten und so nahm er sie als ein stummes Findelkind bei sich im Palast auf, wo sie für den Hof des Schlosses lächelnd tanzte, obwohl ihr die Füße bluteten, und den Prinzen auf seinen Jagden begleitete, um ihm von nun an eine treue Begleiterin zu sein. Der junge Mann liebte das Mädchen sehr, küsste es oft und ließ es in seiner Nähe sein - jedoch auf eine freundschaftliche Art und Weise - und ohne den Gedanken im Hinterkopf, es jemals zu heiraten. Und als die Eltern schließlich bekannt gaben, dass er die Prinzessin aus dem Nachbarreich zur Frau nehmen sollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als dorthin zu reisen und seinen Schützling mitzunehmen, obwohl er im Grunde seines Herzens doch niemals das Gesicht des Mädchens vergessen hatte, welches ihn beim Kloster am Strand gefunden hatte und das ihn sehr an das Antlitz der kleinen Seejungfrau erinnerte. Und als er in der fremden Prinzessin das ehemalige Mädchen vom Tempel erkannte, wurde er überglücklich und freute sich sehr. Der kleinen Seejungfrau aber wurde das Herz gebrochen und sie wusste nun, dass der bevorstehende Sonnenaufgang nach der Hochzeitsnacht ihren Todestag bedeuten würde. Trotzdem ließ sie sich nichts von ihrem tiefen Kummer anmerken und nahm lächelnd und tanzend am Fest der Vermählung teil, welches, wie zuvor beim Geburtstag des Prinzen, auf dem großen Schiff auf dem Meer stattfand. Kurz vor der Dämmerung jedoch, als alle Leute schon zur Ruhe gegangen waren und der Prinz und die Prinzessin in einem Zelt auf dem Schiff schliefen, tauchten plötzlich die Schwestern der Seejungfrau aus dem Wasser auf und eine von ihnen hielt einen Dolch in den Händen. Sie beschworen das Mädchen, jene von der Hexe ausgehändigte Waffe, welche sie im Gegenzug für ihre Haare erhalten hatten, zu benutzen, um den Prinzen zu töten und sich durch sein Blut wieder zurück in eine Meerjungfrau zu verwandeln. Da nahm das Mädchen den Dolch und ging zum Zelt, wo das Pärchen friedlich hinter den Vorhängen schlummerte. Die kleine Seejungfrau brachte es bei diesem Anblick aber nicht übers Herz, den jungen Mann zu töten und warf den Dolch stattdessen weit hinaus aufs Meer. Dann verabschiedete sie sich ein letztes Mal von ihrem Geliebten und stürzte sich hinab in die Wellen, wo sie sofort zu weißem Meerschaum wurde.“
Joseph hielt inne und starrte mit leerem Blick in die Luft vor sich. Cherryfly selbst hingegen war noch immer wie gelähmt von der traurigen Vorstellung des jungen Mädchens, das sich beim Aufprall mit den Wellen in flüchtigen, kalten Schaum verwandelt und ihre Seele für immer verloren hatte. Erst nach einer Pause vermochte sie sich dazu aufzuraffen, dem Geschichtenerzähler schließlich ihre Frage zu stellen.
„Und dies ist wirklich das Ende?“
Ihre Augen waren mit Unglauben und Wehmut gefüllt und sie hoffte inständig, dass es noch weitergehen würde. Da schüttelte Joseph, welcher zuvor tief in seine eigenen Gedanken versunken gewesen war, flüchtig den Kopf, um zu erwidern:
„Nein, Andersen lässt uns hier noch einen Schimmer Hoffnung übrig. Er beendet seine Geschichte, indem er schreibt, wie das Mädchen, kurz nachdem es zu Meerschaum geworden ist, sich mit einer Art geistigem Körper von der Erde löst, um gemeinsam mit anderen überirdischen Wesen, welche ‚Töchter der Luft‘ genannt werden, hinauf in den Himmel zu gehen. Weil sie ein so gutes Herz bewiesen hat, darf sie sich nun diesen Geschöpfen anschließen, die zwar noch keine unsterbliche Seele besitzen, sie sich aber mit guten Taten während einer Zeitspanne von dreihundert Jahren eigenständig verdienen können.“
Cherryfly versuchte sich das Ganze vorzustellen, doch machte dies für sie die Geschichte nicht besser -; sie war der Meinung, dass die kleine Meerjungfrau all jene harten Strafen als Lohn für ihre Güte und Duldsamkeit nicht verdient hatte. Unterdessen musterte Joseph das enttäuschte Gesicht seines Gegenübers und sprach:
„Habe ich dir nicht gesagt, dass es keine gute Idee sein würde, sich diese Geschichte anzuhören? Sie wühlt die Leute auf und macht sie nachdenklich, um sie an den Rand ihres gesunden Menschenverstandes zu treiben. Du weißt ja nicht, was mit mir geschehen ist, als ich sie zum ersten Mal gelesen habe. Obwohl ich wusste, dass sie nur erfunden war, konnte ich danach einen ganzen Tag lang nichts mehr essen vor Gram.“
Da erkannte Cherryfly auf einmal die erstaunliche Ähnlichkeit zwischen der kleinen Seejungfrau und ihrer eigenen Schwester, welche ebenfalls ihren Vater und das sichere Zuhause verlassen hatte, um ganz allein und unwissend in eine andere Welt aufzubrechen. Ihr Herz zog sich ob der Bedeutungskraft ihrer neuesten Entdeckung fest in sich zusammen und plötzlich durfte sich das Mädchen wie durch eine unsichtbare Verbindung mit seinem Geschwister sicher sein, dass Honigbohne von einem fremden Menschen aus der Ferne verzaubert worden war. Als es danach auf das ungewöhnlich schöne Gesicht ihres Gastgebers blickte, schauderte das Wesen aus dem Tränenreich und erinnerte sich durch das Gedächtnis seines Vaters an den geheimen Teich.
War dies Zufall oder das verborgene Gesetz der Anziehungskraft? Cherryfly spürte instinktiv, dass Joseph der Grund für die Reise der unglücklich verliebten Schwester war, um in diesem Augenblick in Fleisch und Blut vor ihr zu stehen und ihr bei der Suche nach der verschollenen Honigbohne zu helfen. Sie dachte noch verwundert über dieses eigenartige Geschick nach und fragte sich, was jene Tatsache im Geheimen wohl zu bedeuten hatte, als der junge Mann vor ihr sich plötzlich an das Treffen mit dem mächtigen Vorgesetzten erinnerte und einen raschen Blick auf seine silberne Armbanduhr warf. Dann bemerkte er, dass er und sein Gast seelenruhig herumstanden, während es inzwischen fünf vor acht geworden war, und damit höchste Zeit, zur Besprechung mit dem ungeduldigen Oger aufzubrechen. Denn jene Gestalt ließ nicht gerne auf sich warten, um selbst die kleinste Verspätung als brüskierende Beleidigung aufzufassen. Nachdem Joseph Cherryfly also mit einer jähen Bewegung seines Arms auf die Dringlichkeit der Zeit aufmerksam gemacht hatte und sie etwas unruhig bat, schon einmal vorzugehen, nahm er ihr sanft das Buch aus den Händen und schickte sie zur Tür auf der anderen Seite des Raumes, wo im Korridor bereits die Wächter zur Führung des fremden Mädchens bereitstanden. Ehe es hinaustrat, blickte es noch ein letztes Mal unsicher zurück zu seinem Bekannten, doch Joseph nickte nur ermutigend und bat Cherryfly erneut, nicht auf ihn zu warten. Dann, als sie endlich aus dem Zimmer verschwunden war, stieß Joseph erleichtert die Luft aus seinen Lungen. Er starrte hinunter auf die Titelseite mit der kleinen Meerjungfrau und ging darauf mit eilenden Schritten zum Kamin gegenüber dem Bett. Anschließend holte er ein kleines Feuerzeug aus seiner Hosentasche und ließ eine hungrig tanzende Flamme aufflackern, die der junge Mann sogleich unter das Leder des scharlachroten Bandes hielt und ihn damit entzündete. Als er das Buch wenige Sekunden später in den dunklen Schlund des Kamins geworfen hatte, sah er zu, wie die unzähligen Seiten aus sich kräuselndem Papier langsam vom Feuer verzehrt wurden und als dichte schwarze Rauchwolken wie Ausdünste der Verzweiflung den Abzug hinaufstiegen. Es dauerte nicht lange und nur noch ein Haufen glimmender Asche blieb vom fantastischen Werk Andersens übrig. Dessen Zerstörer mit den grünen Augen starrte regungslos in die orange glühenden Kohlen zu seinen Füßen und fragte sich, wie es nur möglich gewesen war, dass er nach all den Jahren jenes Buch wieder in einem Regal dieses Hochhauses vorgefunden hatte. Zu jener Zeit, als er es zum letzten Mal mit Liliana las, hatte man kurz darauf angeordnet, es für immer zu vernichten und ein Bediensteter wurde beauftragt, den Band loszuwerden. Wie es nun jedoch aussah, hatte dieser es nicht für nötig gehalten, das Buch zu verbrennen oder in einen Mülleimer zu werfen. Er hatte es einfach in ein vergessenes Regal in einem der Gästezimmer hingestellt und darauf gehofft, dass man es nie mehr entdecken würde. Da hatte der Mann aber weit gefehlt. Joseph wandte sich um und ging zur Tür des Raumes, die einen spaltbreit offenstand, damit er einen letzten Blick zurück auf den Kamin werfen konnte. Das Loch in seinem Herzen - welches mit keinem Glück der irdischen Welt mehr zu füllen war - hatte sich von Neuem aufgerissen und ein dumpfer Schmerz breitete sich in seiner Brust aus, der ihm das Atmen schwer machte. Dennoch war sich Joseph bewusst, dass er sich für den Rest des Tages unbedingt zusammenreißen musste. Obwohl er seine Familie noch immer schmerzlich vermisste, schien es nicht möglich zu sein, sie aus den Untiefen des Todes zurückzuholen. So trat der schlanke junge Mann hinaus auf den Korridor und hinein in ein goldenes Gefängnis, um die Vergangenheit, welche er mit dem Band im Feuer kümmerlich zu verbannen versucht hatte, für seinen Herren namens „Oger“ hinter sich zu lassen.