Читать книгу Von Lippenstiften & Intrigen - Isabelle Lindner - Страница 7

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Kapitel 2

Von den Geheimnissen der ersten hundert Tage

Sophie wurde bewundert. Der Belegschaft gefiel natürlich diese moderne und zugleich selbstbewusste weibliche Energie. Die Jahrzehnte davor waren geprägt gewesen von meist konservativ-bornierten bis hin zu cholerischen Herren in grauen Anzügen. Im Gegensatz dazu zeigte die neue Länderchefin den jungen Frauen, dass auch sie es bis ganz nach oben schaffen konnten. Vor allem im Marketing gab es einen Frauenüberschuss von fast siebzig Prozent. Doch in den oberen Rängen wurde der Anteil des weiblichen Geschlechts verschwindend gering.

Sophie durchwob Durand Deutschland schon nach ihren ersten Tagen mit einer ungekannt positiven Dynamik. Sie grüßte jeden freundlich und etablierte einen neuen Stil der Kommunikation und Nahbarkeit zu den Mitarbeitern. Bereits in ihrer zweiten Woche hatte sie eine große Mitarbeiterversammlung einberufen und sich auf der Bühne mit ihrem kraftvollen französischen Charme vorgestellt. Sie hatte von ihrem Mann und ihren Kindern erzählt, und dass sie in ihrer Freizeit gern Golf spielte. Es war nur wenig über eine neue Route oder Business-Ambitionen gesprochen worden.

Die jungen Frauen hatten sich zudem offenbar schnell an Sophies Kleidungsstil angepasst. So viele schwarze Lederhosen und roten Lippenstift hatte ich vorher noch nie in einem Raum gesehen.

Die neue Länderchefin ließ sich auch in der Cafeteria blicken und speiste in der Kantine. Ihre Vorgänger nutzten im Allgemeinen einen separaten Raum, das Casino, mit exklusivem Service. Dort gab es Tischdecken, Stoffservietten und Champagner-Flaschenkühler.

Natürlich war das Hauptaugenmerk stets auf die Person gerichtet, in dessen Begleitung Sophie war. Wer sich in ihrem Dunstkreis aufhalten durfte und jenseits der formellen Meetings mit ihr in lockerer Atmosphäre in der Kantine zu Mittag aß, stieg im Ansehen der Kollegen. Der Spießroutenlauf hatte längst begonnen. Bei jedem Wechsel des Länderchefs wurde der Zähler zurück auf Null gesetzt, und alle mussten sich neu positionieren. Die Gespräche handelten fast nur noch davon, wer sich besonders gut mit der neuen Oberhäuptin verstand und wer wohl auf der Abschussliste stehen würde oder bereits stand.

Nach der Mittagspause eilte ich zu meinem Büro. Isabelle, die Marketingleitung von Blanchard, wartete bereits im Vorzimmer. Sie sah in ihrem schwarzen Etuikleid wieder mal umwerfend aus. »Hallo Isa, entschuldige bitte die Verspätung.«

»Kein Problem«, entgegnete sie höflich, aber leicht reserviert.

Wir gingen in mein Büro und ich bedeutete ihr, dass sie Platz nehmen möge. »Vielen Dank, dass es so kurzfristig geklappt hat. Ich habe dir ja schon kurz per Mail geschrieben, worum es geht. Du bekommst umgehend die zusätzliche Praktikantin«, eröffnete ich ihr fröhlich.

»Prima, vielen Dank«, entgegnete sie mit einem bittersüßen Lächeln und schlug temperamentvoll die Beine übereinander. Isabelle hatte die Situation natürlich schon längst durchschaut und setzte angriffslustig zu einem verbalen Hieb an: »Es wäre übrigens schön, wenn ich zukünftig sofort die Unterstützung von der Personalabteilung bekommen könnte, wenn ich darum bitte. Und nicht erst dann, wenn ich hinter Marc aufräumen soll. Ich hatte um eine zusätzliche Praktikantin gebeten, da ein großer Launch kurzfristig on top von Paris aus angesetzt worden war. Es lag ein klarer Business Need vor. Wir wissen beide, warum du die Praktikantin so kurzfristig aus Marcs Team genommen hast. Aber ich möchte nicht weiter darauf herumhacken und bedanke mich für die Unterstützung.«

Sie wusste genau, dass sie es sich leisten konnte, etwas direkter mit mir zu sprechen. Isabelle war eine unserer wenigen High Potentials, die nicht nur durch kontinuierliche Höchstleistung glänzte und die zwei Jahre bei Cyrill mit Bravour überstanden hatte, sondern sie war auch eine hervorragende Führungskraft und motivierte und förderte ihre jungen Teammitglieder. Ich würde im Nachgang mit Nadine sprechen. Mir war in jenem Moment auch nicht klar, warum sie die Praktikantin zu Marc und nicht direkt zu Isa ins Team gegeben hatte. Da Nadine jedoch sehr gewissenhaft war, hatte es bestimmt einen triftigen Grund für ihre Entscheidung gegeben.

Natürlich musste ich politisch korrekt und mit einer gewissen Unnahbarkeit antworten: »Nun, ich hoffe doch, dass du zufrieden mit ihrer Leistung sein wirst. Aber ich habe eigentlich noch ein weiteres Anliegen, welches ich gern mit dir besprechen möchte. Bei dir wird ja bald eine Produktmanager-Stelle frei werden. Ich hätte da schon eine gute Nachfolge.«

Sie schaute mich mit einer gewissen Skepsis an und fragte leicht spöttisch: »Du kümmerst dich jetzt persönlich um Angelegenheiten auf Produktmanager-Level?«

Normalerweise gehörte das auf meiner Ebene nicht mehr zu meinem Aufgabengebiet. Insgeheim mochte ich es, wenn sie mich mental herausforderte. Ich versuchte, mir jedoch nichts anmerken zu lassen und breitete einige Seiten mit dem Lebenslauf einer vielversprechenden Kandidatin vor ihr aus. Sie beugte sich leicht nach vorn und studierte wortlos den Werdegang besagter junger Frau. Dabei fiel ihr eine Strähne ins Gesicht, die sie lasziv hinters Ohr klemmte. Ihre Haare glänzen heute wieder besonders schön. Und sie riecht so gut. Ist das etwa der neue Champs-Duft? … Konzentrier dich, Tom!, forderte ich mich auf und erklärte in professionellem Personaler-Jargon: »Schnelle Auffassungsgabe, strategische Agilität und ausgeprägte Teamplayer-Kompetenzen … und sie würde sich ein Bein für dich ausreißen.«

Es war der Lebenslauf der jungen Frau mit den Kaufhaus-Schuhen, der ich kürzlich im Aufzug begegnet war. Tanja Bohnenkamp war ihr Name. Isabelle fokussierte schweigend und mit ernster Miene den Lebenslauf, so als wenn sie darin eine versteckte Falle suchen würde. Sie war zurecht etwas misstrauisch. Somit musste ich ihr meine Beweggründe offenbaren: »Tanja ist ein junges Talent mit sehr großem Entwicklungspotenzial. Ich möchte sie ehrlich gesagt aus dem Umfeld der ›Kaschmir-Clique‹ entfernen. Kann ich auf dich zählen?«

»Verstehe. Ich schau mir ihren Lebenslauf gern in Ruhe an und teil dir meine Entscheidung in Kürze mit«, entgegnete sie mit der gleichen unverbindlichen Freundlichkeit, wie es ein Personaldirektor nicht besser hätte bewerkstelligen können. Sie genoss sichtlich, dass ich auf ihre Unterstützung hoffte. Natürlich würde sie sich für meinen Vorschlag entscheiden. Aber ich hatte es wohl verdient, dass sie mich ein wenig zappeln ließ. Isa spielte mit Anfang dreißig schon in einer sehr hohen Liga und verstand es, sowohl mit Scharfsinn als auch mit einer eleganten Etikette Probleme zu lösen. Für ihre Integrität dabei bewunderte ich sie. Außerdem fand ich sie sehr attraktiv. Aber das durfte ich mir als Personaldirektor auf keinen Fall anmerken lassen.

Sophie hatte mich gebeten, ihr einen Überblick über die Mitarbeiterzahlen zu geben. Wir setzten uns in den neuen Meetingraum, den sie in dem ehemaligen Regierungssitz ihrer Vorgänger hatte herrichten lassen. Ungewohnter Weise trug sie kein schwarzes, sondern ein elegant rotes Businesskleid. Ich startete den Beamer und projizierte den Überblick an die Wand. Sie folgte meinen Erläuterungen aufmerksam. Nach nur wenigen Augenblicken fing sie jedoch an, sich intensiv auf ihre Fingernägel zu beißen. Sie kaute offenbar auf der überschüssigen Nagelhaut herum. Ihre prägnante Nase legte sich dabei in drohende Falten und ihr Mund verformte sich zu einem zähnefletschenden Maul. Sie sah fast wie ein Raubtier aus, das gierig seine frisch erlegte Beute ausweidete.

Der ungewohnte Anblick irritierte mich. Es war seltsam, in eine solche Fratze schauen zu müssen, während ich Personal-Statistiken präsentierte. Ich versuchte dennoch, unbeeindruckt zu bleiben. Eine Sekunde lang fragte ich mich allerdings, ob es eine bewusste Strategie war, um mich zu verunsichern, oder ob es nur eine Unart von ihr war. Ich schaute angestrengt auf meine Tabellen. Schließlich stellte ich ihr eine Frage, so musste sie endlich von ihrer Nagelhaut ablassen. Sie ging jedoch nicht darauf ein, sondern eröffnete mir kurz und knapp ihr Vorhaben: »Punkt eins: Wir werden den Außendienst in meiner Unit komplett abschaffen. Punkt zwei: Wir werden über vierzig Prozent unserer Marketingleute abbauen.« Ich war leicht erschrocken und wusste nicht, ob ich sie richtig verstanden hatte. Wie konnte sie nach nur drei Wochen im Amt solch weitreichende Entscheidungen treffen? Ungläubig schaute ich sie an und erwiderte verständnislos: »Sophie, die Leute arbeiten jetzt schon am Limit. Wie soll das funktionieren?« Auf meiner nächsten Folie hatte ich unglücklicherweise den Personalbedarf für das kommende Jahr aufgeführt. Ich hatte konservative fünf bis sieben Prozent mehr Marketingfachleute eingeplant, da wir noch weitere Marken kürzlich hinzugekauft hatten. Es war ein logischer Schritt.

Sophie schaute mich finster an und entgegnete genervt: »Das ist doch keine Personalplanung! Die Leute hier sind blockiert mit unwichtigen Themen. Wir müssen mehr Effizienz in die Arbeitsprozesse bringen. Ich werde ab jetzt in Business-Updates mit den Markenteams gehen, um meine Hypothesen nachhaltig bestätigt zu sehen. Punkt drei: Wir haben zu viele Frauen im Marketing. Wie du mir eben auf deiner Statistik gezeigt hast, sind zweiundsechzig davon schwanger. Wir müssen hier ein Business führen. Du wirst als Botschafter der Kopf für eine große Recruiting-Kampagne sein. Wir brauchen mehr Männer.« Von ihrer freundlichen Art war nichts mehr zu spüren. Sophie war wie ausgewechselt.

Ich schaute sie skeptisch an und raunte uneinsichtig: »Ich weiß nicht, ob das momentan eine gute Idee ist – aufgrund der aktuellen Debatte bezüglich der Frauenquote und allgemein wegen der Gleichberechtigung der Geschlechter. Wenn wir jetzt mit einer Männerkampagne kommen, könnte das unter Umständen polarisieren.« Meine innere Verkrampfung stieg. Plötzlich erschien das Bild der ›Chili-con-Carne-Nutte‹ vor meinem inneren Auge. Verflixt!, dachte ich. In Momenten erhöhter Anspannung neigte ich zu nicht gerade hilfreichen Gedanken. Es war eine Übersprungshandlung, die mich von der unangenehmen Situation ablenken sollte. Sophies rotes Kleid war wohl der Auslöser gewesen. Ich musste mich unweigerlich an einen Nizza-Urlaub mit Freunden erinnern. Als wir damals nachts zu unserem Hotel zurückgingen - wir waren Studenten und konnten uns nur eine Absteige leisten -, stand dort jeden Abend eine reife Frau mit herben Gesichtszügen in einem engen roten Kleid auf der Straße. Wir tauften sie gemeinschaftlich in unserer aller Beschwipstheit die ›Chili-con-Carne-Nutte‹. Warum musste mich dieser unpassende Gedanke ausgerechnet in jener Situation wie eine Dampfwalze überrollen? Schnell versuchte ich, das Bild aus meinem Kopf zu verbannen. Verkrampft hoffte ich, dass ich nicht auch noch grinsen musste und biss mir auf die Unterlippe. Sophie hätte es als Respektlosigkeit interpretiert und mich mit Sicherheit als Idioten abgekanzelt.

Sie fokussierte mich mit ihren funkelnden Augen und fauchte: »Ich muss meinem Personaldirektor zu einhundert Prozent vertrauen können!«

»Selbstverständlich«, entgegnete ich ihr in obrigkeitsgetreuem Ton und mit einer leicht unterwürfig-nickenden Geste.

Sophie stand unversehens auf und ging Richtung Tür. Sie war schon draußen auf dem Flur, als sie laut vernehmbar sagte: »Momentan habe ich diesbezüglich noch meine Zweifel«, und verschwand.

Eine leichte Übelkeit machte sich in meiner Magengegend breit. Meine Arme fühlten sich wie Pudding an. Was ist hier gerade passiert?, fragte ich mich erschrocken und verharrte noch einige Momente regungslos auf meinem Stuhl.

Immer noch leicht paralysiert mied ich den Aufzug und ging stattdessen ungesehen das hintere Treppenhaus hinunter und schnappte draußen nach frischer Luft. Orientierungslos ging ich durch die tristen Straßenschluchten und gelangte schließlich an das Elbufer. Ich nahm die Umgebung intensiv wahr und atmete tief durch. Ein Gedanke durchströmte mich plötzlich: Wann bin ich eigentlich das letzte Mal in der Natur gewesen? Mir wurde bewusst, dass ich morgens kurz nach Sonnenaufgang schon im Büro war und abends im Dunkeln das Gebäude verließ. Sonntags fing ich meist nach dem Frühstück an, Mails zu checken, die sich während der Woche angesammelt hatten und noch ungelesen in meinem Postfach schlummerten. Ich hatte eine Sechzig-Stunden-Woche, zu Stoßzeiten auch mehr. Natürlich hatte es immer mal wieder stürmischere Phasen in der Vergangenheit gegeben. Und dass in solchen Zeiten der Ton auch mal rauer werden konnte, war auch zu verschmerzen. Aber Sophie hatte mir unerwartet einen heftigen Tiefschlag verpasst. Ich fühlte mich gedemütigt und beschloss, diese unangenehme Situation erst einmal für mich zu behalten. Die Wände bei Durand hatten sprichwörtlich Ohren. Der Flurfunk war oftmals die valideste Quelle für bevorstehende Veränderungen. Meine mir unterstehende Personaldirektorin Louise Hoffmann-Stark, zuständig für die Massenmarkt-Unit, wartete doch nur auf diese Chance. Sie war scharf auf meinen Job. Vordergründig hatten wir ein gutes Verhältnis. Doch ich wusste, dass ich ihr nicht trauen konnte. Sie lebte genau wie ich nur für Durand. Obwohl sie einen Mann hatte, der sehr gut verdiente, arbeitete sie von morgens um sieben Uhr bis spät abends. Ihre Kinder hatte sie sehr gut wegorganisiert.

Am nächsten Tag fingen die Business-Updates für Sophie an. Das Marketingteam von Girard bereitete schon seit einer Stunde den großen Meetingraum auf der sechzehnten Etage vor. Der Beamer wurde angeschlossen, Plakate mit den neuesten Visuellen wurden aufgehängt und Regalelemente im Raum platziert. Ungeduldig wartete Erik Menzel, der Geschäftsleiter, auf das bestellte Catering mit Kaffee und Croissants. Zwei Praktikantinnen brachten eilig die frisch aus Paris eingetroffene Pre-Serie der neuen Gesichtspflege-Linie Hy 5 Organic rein und verschwanden dann schnell wieder.

Kurz vor neun Uhr nahmen alle ihre Plätze ein. Die Anspannung war spürbar im Raum. Schnell musste das Team die DNA der neuen Chefin verstehen und darauf abgestimmt abliefern. Es gab eine unsichtbare Sitzordnung, die jeder automatisch befolgte. Ganz vorn, mit der besten Sicht auf die Leinwand, wurde ein Stuhl für Sophie freigehalten. Daneben hatte Erik, der zweithöchste in der hierarchischen Rangfolge, seinen Platz eingenommen. Neben ihm saß der zuständige Controller Sven. Dann folgten Vertriebsdirektor Bernd und die Marketingleitung Josephine. Gegenüber nahmen Christine, die Leitung der Marktforschung, und Peter, Verantwortlicher des Category-Managements, Platz. Auf den hinteren Stühlen folgten dann die Produktmanager. Die Junior-Produktmanager nahmen nicht am Business-Update teil. Es erforderte eine gewisse Seniorität, bevor man auf die Top-Manager bei Durand treffen durfte.

Ich setzte mich stets hinten an das Tischende und konnte somit als stiller Beobachter das Geschehen überblicken. In Zeiten großer Veränderungen waren wir aus dem Personalbereich intensiv gefragt und nahmen neben den großen Konferenzen auch an den wichtigen Business-Meetings der Marken teil. Wir zogen gemeinsam mit den Geschäftsleitern dann im Hintergrund die Fäden und mussten weitreichende Entscheidungen treffen, um die zukünftigen Teams zusammenstellen.

Zehn Minuten nach neun Uhr streckte Nicole den Kopf durch die Tür. Ihr Blick war auf Erik gerichtet: »Seid ihr so weit?«

Er nickte. »Okay, dann gebe ich Sophie jetzt Bescheid.«

Weitere zehn Minuten waren vergangen, als Sophie gemeinsam mit Louise vertraut lachend den Raum betrat. Sofort lief mir ein unangenehmer Schauer durch den ganzen Körper. Die Gedanken überschlugen sich in meinem Kopf. Offenbar haben die beiden eben schon ein Meeting gehabt. Wieso wusste ich nichts davon? Was konnten sie besprochen haben? Offenbar war Louises Meeting sehr viel besser gelaufen als meines. Bin ich bereits abgeschrieben? Bringt sie Louise schon in Position als meine Nachfolgerin? Ich versuchte, ruhig zu bleiben und mir nichts anmerken zu lassen.

Selbstbewusst ging Louise an dem freien Platz neben mir vorbei und setzte sich direkt in Sophies Blickfeld neben Peter. Das zeigte unmissverständlich, dass wir kein Team waren. Louise hatte nichts zu verlieren. Die falsche Schlange will mich offenbar herausfordern und sich bei Sophie positionieren. Während mein Ego angekratzt war, sprudelte sie sichtlich vor Energie.

Nun übernahm der Geschäftsleiter das Wort und begrüßte Sophie noch einmal offiziell und führte mit einer kurzen Ansprache in das Meeting ein. Erik war ein erfahrener Manager, doch hatte er manchmal auch etwas Schlaksiges an sich. Bevor er mit dem Überblick der P&L begann, gab es eine kurze Vorstellungsrunde. Aufmerksam schaute Sophie jedem in die Augen. Mich hatte sie bisher keines Blickes gewürdigt. Dann schien sie die Zahlenkolonnen zu hypnotisieren. Sie öffnete ihr Notizbuch und schrieb sich einige Punkte kopfschüttelnd auf. Etwas verunsichert fuhr Erik fort: »Wir sind stolz, dass wir den Profit dieses Jahr auf elf Prozent steigern konnten.«

Sophie unterbrach rüde: »Ich bin absolut nicht deiner Meinung. Ihr müsstet längst bei mindestens fünfzehn Prozent sein.«

Nervös nahm Sven seinen Taschenrechner und blätterte in einem der Ordner.

»Die Margen an die Drogerieketten sind zu niedrig und die Marketingkosten zu hoch«, ergänzte Sophie bestimmt.

Kurz herrschte Schweigen im Raum. Erik schaute hilfesuchend zum Vertriebsdirektor und zur Marketingleitung, die jedoch auch ad hoc keine Antwort parat hatten.

»Bitte bereitet für das nächste Mal Folgendes auf. Schreib mit!« Sie wies Erik mit einer eindeutigen Handbewegung an, sich zu setzen und ihre Ansagen zu notieren. Diskussionen zur P&L waren üblich. Die Länderchefs wollten immer mehr Profit aus den Marken rausholen. Aber ich empfand es ein wenig respektlos, den Geschäftsleiter vor dem Team so vorzuführen und ihn wie einen dummen Schuljungen zu behandeln. Es beruhigte mich dennoch ein wenig, dass Sophie sich offenbar nicht nur mir gegenüber so flegelhaft verhielt.

»Ich möchte eine Übersicht pro Kunde mit der Umsatz- und Margenentwicklung. Bitte von den letzten drei Jahren – zusätzlich die Planung für das nächste Jahr. Des Weiteren möchte ich eine Detailauflistung der Marketingkosten sehen, vor allem zum Thema ›Media‹«, forderte sie eloquent. Sophie hatte einen unglaublich scharfen Verstand. Obwohl sie neu im Unternehmen war und zudem branchenfremd, verstand sie es, in wenigen Sekunden eine komplexe P&L zu lesen und die Schwachstellen herauszufiltern.

Josephine ging nach vorn und zeigte eine Folie mit den Marktanteilen von Girard. Sophie tippte noch schnell eine kurze Nachricht in ihr Handy und hörte dann aufmerksam zu. Josi gab ihr einen klaren Überblick der anstehenden Produktlancierungen. Zustimmend schrieb Sophie dabei Notizen in ihr Buch. Sie lernte die Prinzipien des Beauty-Marktes. Dieses Terrain war neu für sie. Bei MC Jakes hatte sie vertriebsseitig die Tiefkühl-Sparte betreut. Sie versuchte eindeutig, sowohl Parallelen als auch Unterschiede zu verstehen. Zwischendurch schweifte ihr Blick zu Louise. Die beiden schauten sich wissentlich an und zogen kurz die Augenbrauen hoch. Ein Zeichen, dass sie sich auch ohne Worte verstanden. Louise hatte kurz zuvor unauffällig auf ihr Handy geschaut. Die Gedanken schossen mir wie Maschinengewehrkugeln durch den Kopf. Sophie und Louise hatten offenbar schon eine vertraute Basis aufgebaut und schickten sich informelle Nachrichten zu. Es war offensichtlich, dass es um die Situation mit Erik von eben ging. Louise konnte ihn nicht leiden und hatte Sophie offenbar schon vorab einige treffende Hinweise gegeben, die sich direkt bestätigt hatten.

Es folgte die Vorstellung der neuen Produkte. Josephine reichte einige Tiegel mit der Gesichtspflege-Innovation Hy 5 Organic rum. Jeder entnahm mit einem Spatel etwas von der Textur und verteilte sie dann mit dem Ringfinger auf den Handrücken. Ich beobachtete diese Prozedur seit elf Jahren zu gern und lächelte müde in mich hinein. Es taten dann alle immer so wichtig.

Nach dem Meeting verschwand ich unverzüglich in mein Büro. Es war mittlerweile schon wieder 19:30 Uhr. Sorgenvoll saß ich an meinem Schreibtisch. Als neue Länderchefin stellte Sophie ihr zukünftiges Direktionskomitee für ihre Business Unit zusammen. Ich war offensichtlich bei diesem wichtigen Entscheidungsprozess außen vor. Ein weiterer düsterer Gedanke überkam mich: Hat sie auch vor, den Vorstand auszuwechseln? Noch nie zuvor hatte es das gegeben. Der Vorstand war Hoheitsgebiet der Zentrale und wurde immer von dort aus zusammengestellt. Der jeweilige Länderchef hatte zwar eine exponierte Rolle, aber bisher nie die Macht gehabt, selbst dieses Gremium zu formen. Sophie zeigte mir jedoch unverkennbar, dass meine Position wackelte. Ich selbst kannte doch die Spielregeln der ersten hundert Tage nur zu gut. Es war eine Art Schonfrist für Chefs auf neuen Positionen. Aber auch die wichtigste Zeit, um bereits große Weichen im Hintergrund zu stellen. Sie sondierte bereits ihre Tops und Flops. Nach circa drei Monaten würde sie dann ihre umfassende Roadmap dem Executive Board in Paris vorstellen. Und ich bekam am eigenen Leib zu spüren, wie sehr man dem sozialen Konsens ausgeliefert war. Auch ohne Worte konnte sie den Menschen den Boden unter den Füßen wegreißen. Ich war erst ein knappes Jahr im Amt. Es wäre eine Schmach, wenn ich jetzt schon auf eine andere Position nach Holland oder Österreich ›weggelobt‹ werden würde. Selbst jeder Junior-Produktmanager würde diesen Code verstehen. Es wäre eine öffentliche Hinrichtung. Kleine Länder, die einen verhältnismäßig geringen Umsatz für Durand erwirtschafteten, hatten zwei Funktionen. Erstens: Sie waren ein gutes Einstiegsland für extern rekrutierte Manager. Die neuen Führungskräfte waren vergleichsweise nicht so stark dem wirtschaftlichen Druck ausgesetzt wie diejenigen eines großen Landes. Sie konnten sich in Ruhe mit der Durand Kultur und allen Prinzipien vertraut machen. Zweitens: Manager, die in einem wirtschaftlich wichtigen Land wie Deutschland nicht die erwartete Performance gebracht haben, wurden dorthin abgeschoben. Jene Unglückseligen konnten dann im Exil ihr weiteres Dasein fristen.

Birgit klopfte leise an die Tür. »Guido Lorenz möchte mit dir sprechen. Hast du jetzt kurz Zeit?«

Wortlos machte ich eine ablehnende Handbewegung. Sie verstand und schloss umgehend wieder die Tür. Bitte nicht jetzt auch noch der, dachte ich genervt. Guido war unser Media Direktor. Er war zwar nicht Teil des Vorstandes, hatte aber eine wichtige Rolle auf dem Corporate Level inne und saß auch auf der sechzehnten Etage. Guido war ein Alphatier und verstand die hohe Kunst der Konzernpolitik. Seine Überzeugungsfähigkeiten setzte er geschickt für seine Zwecke ein und verstand es exzellent, den Vorstand mit einigen plakativen Charts und einer wasserdichten Tonspur zu begeistern und schnelle Entscheidungen herbeizuführen. Ich wusste jedoch, dass die Marketingteams dadurch schon einige Male überrumpelt worden waren. Eine Vorstandsentscheidung traute sich jedoch niemand, infrage zu stellen. Guido wusste das. Albert und ich nannten ihn deshalb ›Mister hidden Agenda‹, wenn wir unter uns waren. Wir stimmten uns im Hintergrund immer eng ab und konnten seine Versuche, uns gegeneinander auszuspielen, somit gut kontrollieren.

Guido war allerdings eine nicht zu unterschätzende Informationsquelle. Ich konnte es mir nicht leisten, ihn jetzt zu verprellen. Schnell schrieb ich ihm eine kurze Nachricht, die meinen akuten Stress und meine Unabkömmlichkeit glaubhaft vortäuschten: ›Sorry, bin im Endlos-Call mit Paris. Brisante Situation. Mehr morgen.‹ Paris war immer ein guter Vorwand. Damit ich ihn auch wirklich ruhigstellte, hielt ich ihm schnell noch eine Rübe vor die Nase. Für die Versorgung mit vertraulichen Infos der oberen Hierarchien war er stets dankbar. Es gab ihm das Gefühl zu den ›Top 8‹ dazuzugehören. Wir hielten ihn so bei Laune. Guido war etwas unangenehm übergriffig in seiner Art. Seine eigenen Prioritäten hatten für ihn immer Vorrang. Wenn man nicht spurte und sofort verfügbar für ihn war, setzte es Sanktionen. Diese Psychospielchen wandte er natürlich erfolgreich bei den jungen Produktmanagern im Marketing an, die nicht wagten, sich zu widersetzen. Allerdings setzte er diese Techniken entsprechend subtiler auch auf allen anderen Hierarchie-Ebenen ein. Wer gut im Dekodieren war, erkannte seine Manipulationsversuche aber recht schnell. Guido ahnte nicht, dass wir auf der sechzehnten Etage ihn schon längst alle durchschaut hatten und spielten seine Spielchen gekonnt mit. Um ihm zu begegnen, brauchte ich auf jeden Fall einen klaren Kopf. Ich wusste, dass er mehr Informationen zu Sophies Agenda bei mir abgraben wollte. Meine Niedergeschlagenheit aber hätte er sofort bemerkt. Unsere gemeinsame Fähigkeit, Menschen und deren Körpersprache zu dekodieren, war Fluch und Segen zugleich.

Birgit steckte ein paar Minuten später den Kopf erneut durch die Tür: »Er ist jetzt weg.«

»Merci«, entgegnete ich mit einer dankbaren Geste von betenden Händen. Sie war ein wahrer Schatz. Birgit kannte mein Verhältnis zu Guido und verschaffte mir, wenn nötig, ein glaubhaftes Alibi. Sie wusste, dass ich abgespannt war, stellte aber keine Fragen. Nun konnte ich ungesehen das Treppenhaus erreichen und nach Hause fahren.

Ich war sehr erschöpft. Nicht mal meine unaufgeräumte Wohnung störte mich. Das ungewaschene Geschirr stapelte sich bereits. Selbst für das Einräumen in die Spülmaschine war ich zu müde. Ich öffnete eine Flasche Rotwein. Auf dem Boden sitzend, gelehnt an meine Couch, kreisten sorgenvolle Gedanken durch meinen Kopf: Habe ich überhaupt noch einen Job im Vorstand oder bin ich schon abgeschrieben? Oder ist vielleicht doch alles nur Einbildung gewesen und ich bin paranoid geworden? Ausgerechnet Louise konnte heute punkten. Sie wird sich in ihrer Missgunst suhlen, sobald sie mich vom Thron gestoßen hat.

Ungewissheit nagte an mir und ich fühlte mich hilflos. Mein Stolz war sehr gekränkt.

Lustlos stand ich am nächsten Morgen auf und schleppte mich zur Arbeit. Ich hatte vergessen, meine frischen Hemden von der Reinigung abzuholen. Ausnahmsweise zog ich einen Rollkragenpullover unter meinem Jackett an. Es war etwas ungewohnt, meine schützende Uniform mit Hemd und Krawatte wäre mir lieber gewesen. Da zum Glück Freitag war, würde man es gewiss als meine konservative Form des Casual Fridays interpretieren. Niemand würde vermuten, dass meine Fassade bröckelte. Ich wollte das Wochenende nutzen, um meinen Haushalt wieder in Ordnung zu bringen.

Da ich den letzten Tag in jener Woche entspannt starten wollte, ging ich in Richtung Alberts Büro, um zu fragen, ob er Zeit für einen Kaffee hatte. Als ich an Danas Büro vorbeiging, hörte ich ein genervtes Schnaufen. »Alles okay bei dir?«

Gestresst schaute sie kurz von ihrem Monitor auf. »Ich bin zu Sophies persönlicher PR-Abteilung mutiert, und sie hat mir alle Projekte gestrichen. Unter anderem den Beauty Trend Award.«

»Wie bitte?« Der Award war eine weltweite Initiative von Durand. Jeder Mitarbeiter konnte einmal pro Jahr kreative Ideen für neue Produkte einreichen. Die besten zehn wurden nicht nur umgesetzt, sondern zusätzlich mit einem ansehnlichen Preisgeld von bis zu zehntausend Euro gekürt. Die Gewinner wurden im großen Plenum bei der Jahresauftaktstagung bekanntgegeben. Es war ein exzellenter Motivationshebel. Darüber hinaus haben wir durch diese Maßnahme nicht selten neue Talente für zukünftige Führungspositionen im Marketing oder gar für die Produktentwicklung in Paris entdeckt. Mich beängstigte die rasante Geschwindigkeit, mit der Sophie auf allen Ebenen ihre Effizienz-Agenda bereits umsetzte.

Mein Blick fiel auf Danas Bildschirm. »Was machst du denn da?«

»Ich suche Bilder von Sophie raus vom letzten Durand Charity Day. Die Wirtschaftspresse will über ihren visionären Führungsstil berichten.«

Der Charity Day lag Philippe bekanntlich sehr am Herzen. Das hatte er beim Executive Committee in Paris unmissverständlich klargemacht. »Den streicht sie aber nicht, oder?«

»Nee, der ist ja für Ihre Außenwirkung hilfreich.« Sie schaute kurz zur Tür, um sicherzugehen, dass niemand in Hörweite auf dem Flur stand. Sie flüsterte: »Du wirst es nicht glauben, wir sind zusammen mit unserem Hausfotografen zu einem Altersheim gefahren. Sie hat ganze zehn Minuten so getan, als würde sie mit den alten Menschen auf eine Kutschfahrt gehen. Sobald die pressewirksamen Fotos im Kasten waren, sind wir sofort wieder abgedampft.«

»Nicht dein Ernst«, entgegnete ich empört.

Dana verkniff sich jeden weiteren Kommentar und zuckte nur resigniert mit den Schultern.

»Hör mal, ich habe leider auch ein Anliegen, das mir ein wenig Sorgen bereitet«, sagte ich kummervoll. »Sophie möchte, dass ich der Botschafter einer Rekrutierungskampagne für Männer werde.«

Dana schaute mich ungläubig an.

»Ich werde doch von der Presse in der Luft zerrissen. Alle Welt macht sich stark für die Gleichberechtigung der Frau – außer der Personal-Chef von Durand, der möchte Männer noch mehr bevorteilen. Ich sehe schon die Schlagzeilen … «

»Warte mal!«, unterbrach sie mich. Dana kniff die Augen zusammen und schaute mich eindringlich an. Sie wippte mit einem Fuß und wirkte hochkonzentriert. Ich wagte nicht, ihre kreativen Gedankenflüsse zu unterbrechen und schwieg geduldig.

Gerade in dem Moment ging Albert vorbei. Er stoppte zögerlich. Ich bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, er solle schnell reinkommen und die Tür hinter sich schließen. Dana schilderte ihm die Kurzfassung von Sophies Marschrichtung. Entrüstet schüttelte er den Kopf, erwiderte dann aber recht bestimmt: »Das passt ins Bild.« Seine düstere Miene verhieß nichts Gutes. »Ich habe bei einem früheren Studienkollegen angerufen, der bei MC Jakes in der Rechtsabteilung arbeitet. Sophie ist eine eiskalte Effizienzschleuder. Sie hat bei Jakes vierzig Prozent der Stellen abgebaut. Ihr Fokus gilt einzig und allein dem Profit. Alles, was mit Mitarbeiterkultur zu tun hat oder einem guten Arbeitsklima dient, ist unwichtig für sie. Es geht ihr einzig und allein um ihren eigenen Erfolg.«

Meine schlimmen Vermutungen bestätigten sich. Es saß keiner mehr sicher auf seinem Stuhl. Das verbarg sich also hinter dem abrupten Weggang von Guillaume. Philippe Fontaine musste augenscheinlich zu extremeren Maßnahmen greifen, um den Konzern nachhaltig wieder auf Erfolgskurs zu bringen. Offenbar war er selbst unter Druck von der Durand Familie und den Großaktionären gesetzt worden.

Just in dem Moment klopfte es an der Tür. Wir zuckten zusammen. Es war zum Glück nur Stéphane, der in unsere konspirative Zusammenkunft reinschneite: »Guten Morgen zusammen. Es tut mir leid, dass ich euch stören muss, aber ich brauche euch beide dringend. Könntet ihr bitte in der nächsten Viertelstunde in mein Büro kommen? Merci.«

Stéphane hätte uns nicht extra gesucht, wenn es sich nicht um etwas Wichtiges gehandelt hätte. Wir atmeten alle noch einmal tief durch, wissend, dass uns unangenehme Zeiten bevorstanden.

Beim Rausgehen schaute ich noch einmal zu Dana.

»Mach dir keine Gedanken wegen der Männerkampagne«, rief sie schnell. »Ich habe da schon eine Idee.«

»Danke«, antwortete ich erleichtert. »Wir sprechen später.«

Dana war eine hochkarätige Kommunikationsexpertin, die bisher jede PR-Krise für Durand mit Bravour gemeistert hatte. Das beruhigte mich ein wenig.

Stéphane empfing uns in seinem Büro. Neben Albert und mir kam noch Henryk hinzu. Bestimmte Schlüsselpositionen, wie die des Finanzvorstands, wurden meist mit Franzosen aus der Zentrale besetzt. Sie fungierten als verlängerter Arm des Executive Boards von Philippe Fontaine und stellten sicher, dass die Prioritäten der Konzernspitze mit entsprechender Nachhaltigkeit in den Ländern umgesetzt wurden. Wir wussten, dass jene natürlich auch eine gewisse Spitzelfunktion innehatten und den aktuellen Klatsch zur Stimmungslage, aber auch die wichtigen Details aus den Vorstandssitzungen brühwarm an Frankreich berichteten. Stéphane allerdings war eine Seltenheit in der Durand Welt. Er schaffte es, vollstes Vertrauen der Zentrale zu genießen, aber unterstützte uns in jeglicher Hinsicht und war uns noch nie in den Rücken gefallen. Ich mochte seine verschmitzte Art und seinen trockenen Humor.

»Guten Morgen zusammen. Vielen Dank, dass ihr es so kurzfristig möglich gemacht habt«, begrüßte er uns ungewohnt förmlich. »Wir müssen über die Budgetplanung für das kommende Jahr sprechen.«

Es war mittlerweile Ende Oktober und der Budgetbedarf war bereits vier Wochen zuvor an die Zentrale gemeldet worden. Ungläubig schauten wir auf die Präsentation, die er an die Leinwand warf.

»Es stehen größere Veränderungen an. Dieses Mal ist alles anders.«

Die Folie trug die Überschrift: Growth- & Efficiency Boost-Plan. Es folgte ein konkreter Fünf-Punkte-Plan:

1. Vertrieb:

- Abschaffung des Außendienstes der Massenmarkt-Unit: 100 %

- Zentrale Betreuung der Großkunden durch das Key Account Management

- + 15 % Umsatzwachstum für das nächste Jahr

2. Marketing:

- Reduktion der Marketingteams: 40 %

- Reduktion des Mediabudgets: 30 %

- Effizienzsteigerung durch Abbau von Hierarchien

- Fokussierung auf die wichtigsten Launches pro Marke

3. Logistik:

- Einsparung der Logistik-Kosten: 10 %

4. Personalabteilung:

- Implementierung der neuen Teamstrukturen: Vertrieb, Marketing und Logistik

- Einführung des neuen Mitarbeiterbewertungssystems: Smart Strength Assessment von Wilson Corp.

- Einführung der neuen Seminarstruktur für Führungskräfte

5. ›Our new Office‹

Als Abbinder unter den fünf Punkten stand: + 30 % Profit

Wichtige Erfolgsfaktoren: Simplification & Empowerment

Ich überschlug im Kopf die Zahlen der Personaleinsparungen und der signifikanten Media-Kürzung. Es musste sich grob geschätzt um mindestens sechzig Millionen Euro handeln.

Albert ergriff als Erstes das Wort: »Das kann sie unmöglich ernst meinen.«

Stéphane versicherte sich, dass die Tür seines Büros wirklich verschlossen war und senkte die Stimme: »Ich weiß, dass sie den Plan bereits mit Philippe Fontaine höchstpersönlich abgestimmt und grünes Licht von ihm bekommen hat. Philippe ist sehr beeindruckt und hat ihr absoluten Rückhalt und Unterstützung zugesichert.«

Henryk murmelte: »Ich kann unmöglich zehn Prozent der Logistik-Kosten einsparen.«

Ich las schweigend die Punkte, die mein Resort betrafen und stolperte dann über den letzten Punkt: »Was ist mit ›Our new Office‹ gemeint?«

»Das Beste habe ich mir bis zum Schluss aufgespart«, warf Stéphane trocken ein. »Sie will ein komplett neues Gebäude bauen, um nachhaltig eine effizientere Arbeitskultur zu etablieren.«

»Bitte was? Das kostet Millionen!«, rief Albert fassungslos.

»Achtzig oder neunzig Millionen schätzungsweise«, präzisierte Stéphane mit einer gespielten Gleichgültigkeit. »Das Gebäude soll zum Teil durch die Einsparungen finanziert werden«, ergänzte er.

Mir wurde die Dimension ihrer Agenda schlagartig bewusst. Mit dem neuen Gebäude wollte sie sich ein immerwährendes Denkmal setzen, wie ein mächtiger Pharao mit einem ihm geweihten Tempel. Ihre Nachfolger würden täglich an sie erinnert werden und könnten den Bau nicht einfach wieder einreißen, so wie sie es mit Philippes früherem Büro getan hatte. Sie würde somit nie in Vergessenheit geraten. In spätestens zwei Jahren wird sie bestimmt in das Executive Board von Philippe Fontaine einziehen. Sie ist wirklich größenwahnsinnig, dachte ich resigniert.

Stéphane fuhr leise fort: »Bitte behaltet es für euch. Aber ich vermute, dass die Durand Familie von Philippe eine langfristige Wachstumsstrategie sehen will. Wenn wir ehrlich sind, wurde das Wachstum der letzten Jahre nur anorganisch, also durch Zukäufe von neuen Marken generiert. Unsere großen Marken sind rückläufig vom Umsatz her. Sie wollen gesundes, inneres Wachstum sehen! Daher macht es schon Sinn, dass er Restrukturierer von außen an Board holt. Philippe muss tief in die Trickkiste gegriffen haben, um die Meute vorerst zu beruhigen.«

Albert entgegnete ernst: »Sophie ist gewiss nur die Speerspitze, die die Folge der alteingesessenen Vorgänger durchbrechen soll.«

Die meisten Menschen sind froh, wenn sie einen lukrativen Job haben. Sophie allerdings strebt nach weltweiter Macht. Sie wird keine Sekunde zögern, um jegliche Hindernisse aus dem Weg zu räumen, dachte ich beunruhigt.

Stéphane erklärte weiter: »Ich bin von Sophie autorisiert worden, diese Agenda mit euch Dreien vorab zu teilen. Es gilt höchste Geheimhaltungsstufe. Sie wird diesen Plan in der nächsten Vorstandssitzung präsentieren. Die Inhalte werden dann nur für Richard, Angela und Jérôme neu sein. Sie erwartet natürlich Widerstände vor allem von Richard. Wir müssen ihr daher hundertprozentigen Rückhalt geben! Mit anderen Worten, wenn ihr weiterhin auf eurem Vorstandsstuhl sitzen wollt, solltet ihr parieren.«

Erschüttert ging ich über den Gang zurück zu meinem Büro. Es würde viele Entlassungen geben. Eine Umstrukturierung dieses Ausmaßes hatte es noch nie zuvor bei Durand gegeben. Das wird schmutzig werden.

Mein Vormittag war gespickt von informellen Coffee Dates mit den Schlüsselpositionen der Massenmarkt-Unit. Erik stand bereits in der Warteschlange der Cafeteria. Ich wollte mal hören, wie es dem Girard-Team nach dem ersten Zusammentreffen mit der neuen Länderchefin so ging. Er wirkte etwas blass. »Guten Morgen, ich brauche jetzt auch erst einmal einen starken Kaffee«, versuchte ich, die Stimmung etwas aufzulockern.

Erik antwortete jedoch nur mit einem kleinen energielosen Lächeln. Wir sprachen kein Wort. Es waren zu viele neugierige Ohren um uns herum.

Als wir uns gerade in eine ruhige Ecke setzen wollten, kam mir Isabelle entgegen: »Du, wir müssen bitte nachher kurz sprechen. Es ist mir sehr wichtig.« Wir verabredeten uns schnell.

Erik hatte sich schon mit ernster Miene an einen der Tische gesetzt und rührte gedankenverloren seinen Kaffee um. Unruhig fragte er dann, ob ich mit rauskommen würde, damit er eine Zigarette rauchen konnte. Der Blick nach draußen war wenig einladend. Es nieselte, und richtig hell war es auch noch nicht geworden.

»Ich leih dir auch meine Jacke.«

»Na gut, gehen wir raus«, entgegnete ich wenig überzeugt.

Das Angebot, seinen dicken Anorak umzuhängen, nahm ich allerdings gern an. Erik zündete sich nervös eine Zigarette an und nahm erst einmal einen tiefen Zug. Sein Gesicht wirkte schmal. Unauffällig schaute ich an ihm herunter. Er hatte sowieso eine sehr zierliche Statur, hatte in letzter Zeit aber bestimmt fünf Kilo abgenommen. »Alles in Ordnung?«, fragte ich etwas besorgt.

»Ach, mich quält gerade eine Magenschleimhautentzündung«, sagte er kraftlos. Das erklärte auf jeden Fall seinen schnellen Gewichtsverlust.

»Warum bleibst du nicht zu Hause?«

»Sophie macht uns gerade sehr viel Druck!«

»Aha?«

»Mein ganzes Team arbeitet von früh bis spät und erstellt Analysen für sie. Und das Tagesgeschäft muss ja auch weiter gehen.«

Ich nickte schweigend und hörte ihm verständnisvoll zu.

»Sie hat die Unternehmensberatung Caine reingeholt. Sie sollen jede Produktkategorie analysieren und die Strategie für die nächsten drei Jahre ausarbeiten.«

Meine Stirn legte sich ungewollt in Falten. Erik schien allerdings noch mehr zu bedrücken. Wir kannten uns schon über neun Jahre, ich hatte seine Karriere mit verfolgt und unterstützt. Zudem waren wir gemeinsam zwei Jahre als Expats in der Pariser Zentrale gewesen. Das schweißte zusammen. Er war seinerzeit globaler Senior-Produktmanager für die Gesichtspflegesparte der Marke Girard gewesen, und ich hatte die internationalen Fortbildungsprogramme für die Produktmanager entwickelt. Eine externe Beratung reinzuholen, erschien mir auf den ersten Blick absurd. In den Markenteams arbeiteten Menschen, die jahrelange Erfahrung im Beauty-Bereich hatten. Es waren nicht nur Zahlen, die das Business ausmachten, sondern vor allem ein Gespür für das Metier.

Erik versuchte, positiv zu bleiben: »Nun, einige Ansätze machen auf jeden Fall Sinn. Ihre Media-Analyse zeigt mir neue Perspektiven auf. Die Berater meinen, wir investieren an einigen Stellen zu viel und der Sättigungspunkt der Investition sei längst überschritten. Sie wollen daher einiges an TV-Mediabudget einsparen, ohne Effizienzverluste.«

»Hui, das wird Guido aber ganz und gar nicht gefallen, wenn eine externe Beratung an ›seinem‹ Mediabudget herumdoktert.«

Jetzt konnte ich Erik endlich ein kleines Lächeln entlocken, was aber schnell wieder verschwand. »Aber die ersten Empfehlungen bezüglich unserer Produktkategorien sind haarsträubend. Sie wollen, dass wir uns bei Girard auf Shampoos und Colorationen fokussieren und die Sparte Gesichts- und Körperpflege komplett einstellen.«

Ich versuchte, möglichst als neutraler Zuhörer zu fungieren, war aber merklich überrascht von den weitreichenden Empfehlungen einer externen Unternehmensberatung nach so kurzer Zeit. »Wie sind sie denn auf dieses Ergebnis gekommen?«, fragte ich kopfschüttelnd.

»Sie haben sich das Wachstumspotenzial dieser Kategorie im Markt angeschaut und sind so wohl zu diesem Schluss gekommen. Sophie möchte, dass nun Blanchard den Fokus auf Gesichtspflege legt, da sie schon etabliert in diesem Segment sind und der Profit schon jetzt stimmt. Damit soll die Kannibalisierung unter den Marken eingedämmt werden. Wir sollen uns jeder auf das profitable Kernbusiness fokussieren«

»Das ist mal ne Ansage.«

»Ich halte das für einen großen Fehler. Vor einigen Tagen hatte ich ein ziemlich heftiges Streitgespräch mit ihr deswegen. Ich habe ihr gesagt, dass diese Ableitungen Unsinn sind.«

»Und wie hat sie reagiert?«

»Sie schüttelte nur den Kopf und meinte, ich müsse offen für Veränderungen sein. Wenn wir die Marke Girard nicht massiv umstrukturieren, werden wir niemals über fünfzehn Prozent Profit rausholen und die Marke wird am Markt untergehen. Mein Team sitzt nun Tag und Nacht an tiefergehenden Analysen, um ihr das Potenzial für die Gesichtspflegesparte aufzuzeigen. Das lähmt mein Team und mich immens. Nur weil jemand Externes eine fundamentlose These aufgestellt hat, müssen wir nun tagelang dagegen arbeiten, um eklatante Fehlentscheidungen zu vermeiden.«

»Na, die Zentrale wird da bestimmt auch noch ein Wörtchen mitreden.«

»Ganz Paris redet wohl momentan in höchsten Tönen über Sophie. Ihre innovativen Ansätze finden offenbar starkes Gehör in den oberen Etagen. Das bereitet mir großes Kopfzerbrechen.«

»Alles klar, verstanden. Danke für deine Einschätzung. Lass uns erstmal abwarten. Sophie wird natürlich jetzt ihre Grenzen in Paris ausloten und testen wollen, wie groß ihr Handlungsspielraum ist. Aber ich glaube nicht, dass sie im Alleingang so weit gehen kann. Und nun erhol dich gut«, sagte ich aufmunternd.

»Danke, hat gut getan, mal wieder mit dir zu schnacken.«

Das waren beunruhigende Informationen. Ich war jedoch drauf bedacht, mich, was meine Meinung über Sophie betraf, neutral zu verhalten. Als Personaldirektor musste ich ihr gegenüber absolut loyal sein.

Mein nächstes Coffee-Date war passenderweise mit unserem Media-Direktor. Nun war mir klar, warum Guido schon ungeduldig an meiner Bürotür gekratzt hatte. Sophie wollte an sein Heiligtum, sein Mediabudget. Eigentlich war es gar nicht sein Budget. Das Media-Investment wurde von den Marketingteams im Rahmen ihrer P&L verantwortet. Entscheidungen über die Höhe des Invests oder einer notwendigen Budgetkürzung war Sache der Markenteams und wurde von den Geschäftsleitern in letzter Instanz validiert. Guido war verantwortlich für das Aushandeln guter Konditionen. Seine langjährigen Kontakte bei den großen Medienunternehmen waren von immenser Bedeutung für Durand. Wir bekamen oftmals als erstes werbetreibendes Unternehmen die besten Slots im Reklameblock reserviert. Die Sender informierten uns zudem frühzeitig über das anstehende TV-Programm und die sogenannten Leuchttürme. Das waren die Sendungen mit den höchsten Einschaltquoten und hoher Zielgruppenrelevanz für Beauty Produkte. Die Medienleute erarbeiteten für uns regelmäßig kreative Ideen. Manchmal waren die Konzepte zwar nah an dem, was das Medienrecht noch zuließ, aber wir konnten uns über die außergewöhnlichen Produktplatzierungen jenseits der gängigen TV-Spots nie beschweren.

Meist schon ab Juli gingen die Markenteams gemeinsam mit den Media-Agenturen in die Strategieplanungen für das kommende Jahr. Die finalen Präsentationen wurden schließlich in ganztätigen Meetings den Geschäftsleitern und nicht zu vergessen dem Länderchef vorgestellt. Guido genoss daher eine hohe Sichtbarkeit im oberen Management. Darüber hinaus ließ er es sich nicht nehmen, jeden Strategietag persönlich zu eröffnen und ein zusammenfassendes Abschlussplädoyer zu halten.

»Guido, schön dich zu sehen«, begrüßte ich ihn nun.

»Tom, wie geht es dir?«, rief er überschwänglich zurück. Einige Junior-Produktmanagerinnen blickten sich kurz um. Er zeigte auch immer dem Volke, dass er sehr gut connected mit der Obrigkeit war. Ich spielte sein Spielchen so weit mit.

Er plauderte locker und übertrieben motiviert über unsere neue Länderchefin: »Ist ja super interessant, wie Sophie hier in wenigen Wochen schon so viel frischen Wind und super strategischen Input mit einfließen lässt.«

Ich versuchte, mir mit aller Macht ein süffisantes Grinsen zu verkneifen. Ich durchschaute sein Spielchen. Auch er schien Probleme zu haben, sich bei Sophie zu positionieren. Sonst hätte er nicht so ungeduldig auf ein Gespräch mit mir gepocht. Guido dachte, er könne uns alle als Spielball für seine Interessen benutzen, doch er war wie ein offenes Buch für mich. Er kniff die Augen zusammen, fokussierte mich und ließ bewusst eine Pause entstehen, die mir unangenehm sein sollte. Mit diesem kleinen Psycho-Trick wollte er provozieren, dass ich das Schweigen brach und mich gedrängt fühlte, ihm ein paar Infos zuzuspielen. Natürlich war er brennend daran interessiert, was sich momentan hinter den Kulissen auf der Vorstandsebene abspielte.

»Ja, das nehme ich ganz genauso wahr«, entgegnete ich unverbindlich.

»Sag mal, geht es Erik nicht so gut?«, bohrte er.

Ich wiegelte ab: »Ach, der Arme hat sich leider einen Infekt geholt. Das geht wohl grad um. Ich huste auch schon seit zwei Tagen.«

»Ah, okay.«

Das war nun sein zweiter Versuch, Details aus der aktuellen Situation mit Sophie abzugreifen und für sich schon mal zu sondieren, wer hot oder flop war. Ich werde ihm irgendeinen harmlosen Brocken hinwerfen müssen, damit er ruhiggestellt ist. Angestrengt dachte ich nach und entschied mich jedoch, in der aktuell heißen Phase keine Infos aus der Vorstandsetage an ihn weiterzugeben. Zudem wusste ich selbst nicht, ob ich am nächsten Tag noch auf meinem Stuhl sitzen würde. So spielte ich den Ball an ihn zurück, um von mir abzulenken. Wer fragt hat die Macht. So bemühte ich mich, direkt den richtigen Nerv bei ihm zu treffen: »Es kommen ja auch große Veränderungen auf dich zu. Wie gehst du damit um?«

Guido zuckte mit einem Mundwinkel. Dieses Anzeichen einer Mikro-Emotion konnte nicht bewusst gesteuert gewesen sein. Ich hatte ins Schwarze getroffen, und er schien angespannt zu sein. Er versuchte, ganz gelassen und mit verspielter Ironie zu reagieren: »Och ja, ich freu mich ja immer über die Dynamik hier in dem Laden.«

Jetzt wollte ich es wissen und forderte ihn heraus. »Cool, finde ich gut, wie du mit den signifikanten Media-Kürzungen umgehst.«

Guido stockte der Atem. Seine angespannten Kiefermuskeln bewegten sich willkürlich. Die Ladung der uns umgebenden Sauerstoffmoleküle schien sich umzukehren. Plötzlich war die positive Energie verflogen und wir waren von einer sehr negativen Wolke umgeben. Selbst jemand mit wenig nonverbaler Intelligenz hätte wahrgenommen, dass Guido innerlich kochte. Er versuchte, seine offensichtliche Unwissenheit zu überspielen. »Ach, mal schauen, ich bleibe da erst mal ganz gelassen.«

Als Nächstes wird er das Gespräch schnell beenden wollen, um die eben erhaltenen Infos zu verifizieren.

Er schaute auf sein Handy: »Oh, ich muss los. Ich habe jetzt einen Call mit Paris. Es war mir wie immer ein Vergnügen«, verabschiedete er sich eilig.

Er wird nun rein zufällig bei den Geschäftsleitern der Massenmarkt-Unit vorbeischauen, um weitere Infos einzuholen. In jene Marken wurden achtzig Prozent des gesamten Mediabudgets investiert.

Ich fuhr mit dem Aufzug hoch auf die sechzehnte Etage, um mehr über sein Verhältnis zu Sophie herauszufinden. Nicole war zum Glück gerade in ihrem Büro. »Hey, alles klar?«, rief ich keck.

Sie grinste und nickte. Wir mussten nicht lange um den heißen Brei herumreden. Wir steckten uns immer zwischen Tür und Angel die wichtigsten Informationen zu. Noch bevor ich etwas fragen konnte, rief sie schnell: »Lies mal Claude Jenkins.«

Ich zog die Augenbrauen hoch und bedeutete ihr damit, dass ich auf die Schnelle noch ein paar mehr Infos brauchte:

»Das Jenkins-Buch ist wohl ihre Bibel für ihre ersten drei Monate hier als Länderchefin.«

Ich grinste charmant zurück: »Merci beaucoup, ich werde am Wochenende also eifrig lesen und bin schon sehr gespannt auf die Erleuchtung. Aber mal im Ernst: Was ist mit Guido los? Er war gerade so merkwürdig in der Cafeteria? Weißt du irgendwas?«

Nicole blickte schnell zur Tür. Niemand war in Sicht. Sie beugte sich etwas vor und flüsterte mir zu: »Er bekommt irgendwie keinen Termin bei Sophie. Er hat es schon mehrfach bei mir versucht. Aber sie hatte bisher keine Zeit für ihn. Sie bestimmt ihre Prioritäten selbst und hat alle früheren Meeting-Reihen abgesagt.«

Ich warf meinen Kopf in den Nacken. »Das erklärt einiges!«

In dem Moment hörten wir Schritte auf dem Flur. Nicole setzte sich schnell wieder aufrecht und legte die Hände auf die Tastatur. Ich ging einen Schritt zurück und schaute in mein Notizbuch. So sah es für den Außenstehenden nach einer harmlosen Abstimmung von Terminen aus. Wir hatten wenig Zeit, und so tauschten wir ohne Umschweife die Informationen aus, die jeder von uns noch im Köcher hatte.

»Sophie hat offenbar eine Unternehmensberatung reingeholt, die die Strategien und Budgetallokationen für die nächsten drei Jahre erarbeiten soll. Offenbar wollen sie das Mediabudget erheblich kürzen.«

Nicole schaute mich mit großen Augen an.

Ich fuhr fort: »Aber was viel interessanter ist: Guido wusste bisher offenbar nichts davon. Ich habe ihm die Info nebenbei gesteckt. Sie arbeitet offenbar um ihn herum.«

Nicole nickte kurz und entgegnete: »Es ist was im Busch mit Erik. Mehr weiß ich auch nicht. Und ich glaube, mit Henryk kommt sie auch nicht so gut klar.«

»Was?«

Nicole zuckte nur mit den Schultern. Henryk war einer meiner engsten Bezugspersonen bei Durand. Er war ein hart arbeitender und zudem ein äußerst kooperativer Kollege. Seine Kompetenz als Leiter der Logistik hatte bisher noch nie jemand angezweifelt. Wir gingen häufig nach der Arbeit spontan noch was trinken, denn er war wie ich Single und somit zeitlich flexibel.

»Okay, danke dir. Das ist höchstinteressant. Bitte halte mich auf dem Laufenden.«

Nicole blickte plötzlich gekonnt konzentriert auf ihren Monitor. Sophie stand direkt hinter mir. Lachend eröffnete sie das Gespräch: »Bonjour, Tom. Ich finde die Kampagnenidee, um mehr Männer zu rekrutieren, formidable … äh, großartig!«

»Ach so, ja … das freut mich sehr.«

»Weiter so, très bien!«, rief sie mit lauter Stimme. Eine große Erleichterung überkam mich. Offenbar war sie mir gegenüber versöhnlich gestimmt.

Ich schaute im Anschluss direkt bei Dana vorbei. Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Tom! Mea Culpa. Ich konnte dich vorhin nicht erreichen. Sophie hat mich gerade irgendwie überrumpelt, und ich habe ihr von der Idee mit der Männerkampagne erzählt. Ich weiß ja noch gar nicht, ob du damit überhaupt einverstanden bist.«

»Kein Problem«, rief ich wohlwollend. »Erzähl! Sie fand es wohl richtig gut. Hat mich grad drauf angesprochen und ich habe natürlich mitgespielt. Ich vertrau dir da sowieso voll und ganz.«

»Danke dir, da bin ich aber beruhigt. Man muss grad echt höllisch aufpassen wegen der Informationspolitik, die hier mittlerweile herrscht. Ich bin momentan echt unsicher, was ich zu wem noch sagen darf.«

Ich nickte zustimmend.

»Hör zu!«, sagte sie nun und schien ganz in ihrem Element. »Wie wäre es, wenn wir die Geschichte an den Bedürfnissen des Konsumenten aufhängen? Die steigende Nachfrage an Männerpflegeprodukten veranlasst Durand natürlich, auch entsprechend männliche Verstärkung zu rekrutieren. Wir lassen in diesem Zuge unsere Herren der Schöpfung aus dem Marketing zu Wort kommen. Sie sollen nebenbei mit viel Charme, aber auch mit einem Augenzwinkern erwähnen, wie ihr Alltag mit so vielen Frauen aussieht. Ich dachte da vor allem an Marc. Er stellt sich doch bestimmt gern als Gallionsfigur für die Kampagne zur Verfügung. Du spielst nur flankierend eine Rolle. Am besten lieferst du der Wirtschaftspresse ein paar strategische Statements zum Kulturwandel und zur Digitalisierung bei Durand. Die große Aufmerksamkeit liegt auf dem Videocontent mit den Marketeers. Wir werden das ganz elegant lösen.«

»Chapeau!«, entgegnete ich begeistert.

»Vor allem werden die eigentlichen Protagonisten der Kampagne, nämlich die Frauen, sehr gut dastehen. Es geht bei der Kampagne eigentlich die ganze Zeit nur um sie und ihre hervorragende Leistung. Ein kommunikations-psychologischer Trick. Das habe ich Sophie natürlich so grad nicht erzählt«, ergänzte sie stolz.

»Das ist brillant«, rief ich freudig und klatschte dabei in die Hände.

Dana lachte bescheiden. »Du bist wirklich meine Rettung. Ein Problem weniger, das mir Kopfzerbrechen bereitet«, sagte ich abschließend und verbeugte mich demütig vor ihr. Uns gab das Projekt beiden einen positiven Energieschub. Zum einen liebte es Dana, wenn sie ihre Kreativität ausleben konnte. Zum anderen fanden wir es beide spannend, sowohl die Anerkennung von Sophie für diese Kampagnenidee zu bekommen, sie aber doch irgendwie ausgetrickst zu haben – natürlich zum Besten für das Unternehmen.

Auf dem Flur kam mir Isabelle entgegen. Gern nahm ich mir jetzt Zeit für sie, und wir gingen in mein Büro. »Ich wollte mich noch mal bedanken für die beiden Mädels, die du mir geschickt hast«, eröffnete sie fröhlich das Gespräch.

»Gern geschehen.«

»Marlena hat ein unglaubliches Gespür für Make-up-Trends und kennt wirklich jede noch so kleine Marke auf dem Planeten. Sie ist bald mit dem Studium fertig. Wir sollten sie einstellen.«

»Ist notiert. Sie wird übernommen.«

»Und Tanja Bohnenkamp ist Bombe!«, fuhr sie begeistert fort. »Sie ist unglaublich kreativ, aber kann die Projekte auch strukturiert umsetzen.«

»Ich bin beeindruckt.«

»Bei dem aktuellen Launch hat sie statt der üblichen fünfundachtzig Prozent in TV, einen großen Teil des Budgets in die Online-Kanäle und in Influencer-Aktionen geshiftet. Die Kampagne hat overperformt, und wir sind nun auf Platz eins in der Kategorie Gesichtsreinigungen!«

»Was? Das ist doch nicht möglich. Nicht in dieser Kategorie!«

»Es ist, als würde sie den Job für drei machen. Wir kommen richtig schnell voran. Verrate das bitte niemandem, sonst wird sie mir von Marc wegrekrutiert.«

»Das ist unglaublich. Wir müssen mehr solcher strategischen Profile finden.«

»Das sollte wirklich unsere Mission sein. Ich bin aber noch wegen einer anderen Sache zu dir gekommen.« Ihr Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Wir haben bald mit Blanchard das erste Business-Update mit Sophie. Ich habe schon von den bisherigen Meetings gehört und bin ehrlich gesagt etwas beunruhigt. Hast du ein paar Tipps für mich?«

Nachdenklich strich ich mir über das Kinn. »Du musst auf jeden Fall die P&L draufhaben und deine Investitionen, vor allem im Bereich Media, gut begründen können. Sie wird dich auf die Margenentwicklung bei den Großkunden und Profitsteigerung challengen.«

Isa nickte konzentriert.

Ich überlegte angestrengt. »Hm, halte dich kurz und fokussiert. Kein verschnörkeltes Marketing-Chichi. Lass nebenbei das Wichtigste fallen, was sie über deine Kategorien wissen muss. Ach ja, und bau die Präsentation nach dem Leitfaden von Claude Jenkins auf. Ich werde mir das Buch selbst mal am Wochenende zu Gemüte führen.«

»Alles klar! Guillaume wollte jedes Detail einer Kampagne validieren.«

»Das war auch bisher so gewollt. Du musst dich aber jetzt komplett umstellen. Sie will schnell die Situation begreifen und maximal die fünf Pfeiler deiner Wachstumsstrategie sehen.«

»Okay, danke, das krieg ich irgendwie hin.«

Ich zögerte kurz, entschied mich aber, ihr noch ein paar Ratschläge jenseits des rein faktischen Business-Horizonts zu geben. »Ich erkenne noch nicht so ganz ein Muster bei ihr, aber schick mal Ben ins Rennen. Er soll die Launch-Strategie für die Männerkategorie vorstellen.«

»Im Ernst?«

Benjamin Unger war ein Produktmanager, der nach den bisherigen Durand Normen als Wildfang galt. Man verlangte mehr Zurückhaltung in Meetings und Demut vor der Obrigkeit von ihm. Das offene Umgarnen seitens Jérôme allerdings mit seiner plump-charmanten Art hatte Sophie geschmeichelt. Ganz sicher würde ihr die etwas ungebändigte männliche Energie von Ben auch gefallen. Ich grinste in mich hinein und erwiderte: »Ganz sicher. Nimm Ben. Und lass Brigitte Horn die Marktforschungsergebnisse präsentieren.«

Ich hatte bei Sophie Respekt gegenüber älteren Frauen wahrgenommen. Mit ihnen ging sie weniger hart um, sondern gab ihnen eher noch Rückenwind. Hier gab es eine gewisse Solidarität.

Isabelle dankte mir und wollte sich wieder auf den Weg machen. Schon fast zur Tür raus, rief ich: »Nur zur Sicherheit: Überlass ihr die Rolle der schönsten Frau im Raum.«

Isa warf mir einen ungläubigen und gleichzeitig amüsierten Blick zu. Solch laxen Spruch hatte sie von mir wohl nicht erwartet und verabschiedete sich mit einem leicht empörten: »Okay?!«

Am Wochenende hatte ich Zeit zum Nachdenken. Wie schnell Sophie erfahrene Manager destabilisieren und ihrer Selbstsicherheit berauben konnte, schockierte mich. Ebenso schnell konnte sie einem die Sicherheit und den Boden unter den Füßen zurückgeben. Sie verfügte über ein breites Spektrum an nonverbaler Kommunikation, und das verlieh ihr große Macht. Trotz erster positiver Tendenzen, die sie mir gegenüber gezeigt hatte, fühlte ich mich immer noch unwohl. Hat sie mich bewusst manipuliert, damit ich spure? Weiß sie, dass mich ihre Kritik hart getroffen und verunsichert hat? Was erwartet sie wirklich von mir?

Fast wünschte ich mir einen ihrer cholerischen Vorgänger zurück. So unangenehm sie im täglichen Umgang sein mochten, so berechenbar waren sie auch! Nur Guillaume Robert war bisher für mich ein ausnahmsloses Beispiel für einen smarten Länderchef gewesen. Stets professionell und sachlich hatte er die Teams geführt. Niemand konnte erkennen, wen er persönlich mochte und wen nicht. Alle Diskussionen waren immer konstruktiv und im Sinne des Business geführt worden.

An einigen Personen schien sich Sophie besonders schnell aufzureiben. So wurde seitens der Teams sehr viel Energie darauf verwendet, sich umfassend auf die Begegnung mit der neuen Hierarchin vorzubereiten. Die Produktmanager sprachen mittlerweile sarkastisch von »Wundertüten-Meetings«. Sie wussten vorher nie, was sie erwarten würde. Manchmal gab es seitens der Marke erfreulicherweise nur positive Ergebnisse zu berichten. Doch Sophie zerschmetterte oft schon zu Beginn die Stimmung, nur weil ihr die Überschrift auf der ersten Folie nicht gefiel. Sie sah sich als große Visionärin, doch verfiel an manchen Stellen wie ihre ungeliebten Vorgänger in ein zermürbendes Mikromanagement mit langatmigen Diskussionen. Die Teams entmutigte das sehr. Diese neue Angstkultur brachte seltsame Phänomene hervor. Ich hatte davon Wind bekommen, dass es extra Meetings mit der Geschäftsleitung gab, in denen nur der Text für die Auftaktfolie entwickelt wurde. Es musste immer ein visionäres Statement sein. Grundsätzlich war es Sophies gutes Recht, die Teams zu challengen. Aber die Verhältnismäßigkeit war außer Kontrolle geraten, und es fehlte oftmals an Konstruktivität und Sinnhaftigkeit. Manchmal waren Teams auch nicht perfekt vorbereitet und gingen zitternd in das Meeting. Doch sie blickte gütig darüber hinweg und half den Kollegen auf den richtigen Weg. In diesen Situationen war ich beeindruckt von ihrem scharfsinnigen Verstand. Sie war für mich immer noch ein Buch mit sieben Siegeln. Ich konnte kein umfassendes Muster hinter ihrem Verhalten erkennen. Das ließ mich unruhig schlafen.

Am Sonntagmorgen schlug ich bei einem starken Kaffee den Ratgeber von Claude Jenkins auf. Vielleicht würde ich endlich Antworten finden. Das Buch trug den Titel ›Die ersten hundert Tage auf dem Chefsessel. Wie Sie Ihre Chancen nutzen und Risiken vermeiden‹. Natürlich war es ein allgemein gehaltener Leitfaden, doch erkannte ich nach den ersten Seiten einige Verhaltensweisen von Sophie wieder. Ist das also ihre geheime Bibel? Mein Verstand wurde langsam wach. Ich nahm jedoch erst eine heiße Dusche, um wirklich fit für die Inhalte des Buches zu sein.

Konzentriert arbeitete ich den Ratgeber durch. Gegen fünfzehn Uhr hatte ich die meisten Kapitel verinnerlicht. Ich atmete tief durch und legte das Buch zur Seite. Es stand nichts Weltbewegendes darin. Klar, es gab ein paar gute Checklisten. Aber Sophie machte auf mich nicht den Eindruck, als wäre sie auf so ein Buch angewiesen. Doch ein Kapitel beunruhigte mich. Es ging um die Zusammenstellung des neuen Teams, darum, Verbündete zu suchen, noch Unentschlossene zu überzeugen, aber auch die Gegenspieler ausfindig zu machen. In welche Kategorie hat sie mich wohl einsortiert? Bin ich noch ein Unentschlossener oder gar ein Gegenspieler und stehe bereits auf ihrer Abschussliste? Soll ich deshalb vor der Presse meinen Kopf für die Männerkampagne hinhalten? Falls es einen Shitstorm geben wird, kann sie selbst ein reines Antlitz bewahren und mich dann ohne Weiteres absetzen. Louise wird dann ihre erste Wahl für meine Nachfolge sein. Während ich noch nicht mal ein gemeinsames Mittagessen mit ihr hatte, tauscht sie mit ihr schon vertrauliche Informationen aus.

Ich entschied, joggen zu gehen. Draußen waren es zwar nur ungemütliche acht Grad, doch das konnte mich nicht abhalten. Ich brauchte einen klaren Kopf und lief am Elbufer entlang, vorbei an den Landungsbrücken. Zum Glück war niemand anderes von Durand auf die Idee gekommen, auch dort laufen zu gehen. Nur ungern wäre ich auf ein bekanntes Gesicht gestoßen.

Immer wieder kamen mir vereinzelte Abschnitte aus dem Buch ins Bewusstsein. Dann überrollte mich ganz unerwartet ein Gedanke. Ich verlangsamte mein Tempo und blieb stehen. Sophies hundert Tage haben nicht an dem Tag begonnen, als sie zum ersten Mal ihr Büro in der Hamburger Niederlassung aufgeschlossen hat. Sie haben schon viel früher begonnen. Das erklärt, warum sie einige Entscheidungen so schnell getroffen hat. Die Uhr tickt bereits und ich habe viele Tage ungenutzt verstreichen lassen, statt mich als ihr Verbündeter zu positionieren.

Wieder zu Hause angekommen duschte ich nochmals. Ich stellte das Wasser abwechselnd auf heiß und kalt, um meine Gehirnzellen auf Hochtouren kommen zu lassen.

Sie musste schon lange vorher ihre Agenda mit Philippe Fontaine grundsätzlich abgestimmt haben. Ich blätterte nochmals das Buch durch. Ich fand nichts Ungewöhnliches. Alles war logisch und nachvollziehbar. Des Weiteren empfahl Jenkins, trotz der hundert Tage Schonfrist, sich frühe Erfolge zu sichern. Will sie deshalb so kurzfristig die Gesichtspflegesparte von Girard abschaffen? Klar, mit einem Schlag würde sich der Profit der Marke maßgeblich steigern. Das hätte auf ihre komplette Business Unit einen positiven Einfluss, zumindest kurzfristig, dachte ich.

Mir rauchte der Kopf. Irgendetwas war noch nicht ganz schlüssig. Ich wollte mir ihren Lebenslauf noch einmal im Detail anschauen, der im System hinterlegt war. Sie war demnach fast zwanzig Jahre MC Jakes Food treu geblieben. Rein hierarchisch gesehen war der Wechsel zu Durand nur ein Sidestep. Doch sie wäre das Risiko sicherlich nicht eingegangen, wenn man ihr nicht von vornherein eine Position im Executive Board angeboten hätte. Die Position in Deutschland ist also eine Art Probezeit. Deshalb braucht sie schnelle Erfolge. Wenn ich ihr dabei irgendwie helfen könnte, dann würde mein Vorstandsstuhl ganz sicher nicht mehr wackeln.

Es war mittlerweile schon fast acht Uhr abends. Ich schaltete den Fernseher an und schaute Nachrichten. Doch die Gedanken über Sophie wollten nicht zum Erliegen kommen. Immer mehr konnte ich nachvollziehen, warum Philippe Fontaine sie rekrutiert hatte. In den oberen Rängen hatten wir genug Marketingleute an Bord. Bisher hatte sich jedoch kein Länderchef raus auf die Straße getraut und mit den Handelspartnern direkt zusammengearbeitet. Das wurde bequem dem Vertriebsteam überlassen. Philippe brauchte Sophie, damit sie für Durand Neuland betrat. Das Verhältnis vor allem zu unseren beiden größten Kunden, den Drogerieketten, war in den letzten Jahren immer angespannter geworden. Oftmals war es in den Jahresgesprächen nicht zu einer gütlichen Einigung hinsichtlich der Konditionen gekommen. Die Einkäufer wurden immer unverschämter und setzten Durand massiv unter Druck. Sie wollten noch günstigere Preise im Einkauf durchsetzen. Andererseits kopierten sie schamlos unsere neuesten Innovationen und verkauften diese nach kurzer Zeit selbst über ihre eigenen Handelsmarken. Sie brauchten zudem kaum in Werbung zu investieren, denn sie gaben ihren billigen Kopien den besten Platz im Regal. Offenbar war Sophie, mit ihrer langjährigen Vertriebserfahrung, Philippes Geheimwaffe, um diese verhärteten Fronten in Deutschland aufzubrechen. Immerhin machten wir mit nur zwei Großkunden fast siebzig Prozent des Umsatzes in der Massenmarkt-Unit.

Europa bereitete Philippe offenkundig das größte Kopfzerbrechen. Unsere konservativ geprägten Eigengewächse, die über die Jahre zum Top-Manager herangezüchtet worden waren, konnten mit den neuen Herausforderungen am Markt nicht Schritt halten. Die letzten Jahrzehnte, eigentlich seit Gründung vor über hundert Jahren, war Durand auf Wachstumskurs gewesen. Die Personalstrategie war daher recht einseitig ausgelegt. Wir stellten BWL-Absolventen der Eliteuniversitäten ein und bauten die High Potentials unter ihnen systematisch auf.

Die Führungsebene der Durand Zentrale pflegte eine Kultur der meist recht arroganten Konfrontation während ihrer Besuche in den Ländern. Es war allerdings Philippe Fontaine selbst, der dieses Sonnenkönig-Image pflegte. Der Erfolg der vergangenen Jahrzehnte gab seinem Führungsstil jedoch offenbar recht. Vor Kurzem erst wurde immerhin der Name des großen repräsentativen Meetingraumes der deutschen Niederlassung umbenannt von Salle de Confrontation in ein weniger Angst einflößendes Salle Belle Vue.

Sophie verdiente etwas über 500.000 Euro. Bisher hatten die Länderchefs, die intern besetzt worden waren, nur um die 350.000 Euro verdient.

Zu lang hatte Philippe auf eine Monokultur seiner Belegschaft gesetzt. Die Märkte hatten sich in den letzten Jahren jedoch rasant verändert. Nicht die bekannten großen und kalkulierbaren Wettbewerber bereiteten ihm Kopfzerbrechen. Es waren die vielen Beauty Start-ups, die den Markt überschwemmten und ihn atomisierten. Die neuen Marken, ohne nennenswertes Kapital, gingen neue unkonventionelle Wege und nutzten verstärkt die digitalen Kanäle und trafen damit offenbar den Nerv der Konsumenten. Immerhin hatte Philippe bereits eingesehen, dass er bezüglich der Digitalisierung ziemlich hinterherhinkte und hatte eine CMO zu sich ins Executive Board berufen. Natalia Saint-Denis, lange in einer technischen Beratung tätig gewesen, war mit der großen Mission von ihm beauftragt worden, den Konzern nachhaltig zu digitalisieren und in die Zukunft zu überführen. Die größte Herausforderung dabei war, die alteingesessenen und inzwischen betagten Top-Manager der analogen Zeit dafür zu begeistern. Es war jedoch gegen deren stolze Natur, wieder die Schulbank drücken zu müssen. Selbst die unter dreißigjährigen Produktmanager der Zentrale brachten oftmals keine digitale Expertise mit, sondern entwickelten nur TV-Spots und Printanzeigen. Es herrschte die unterschwellige Einstellung: »Mit dem Internet brauche ich mich nicht zu beschäftigen, dafür gibt es ja die Digital Manager.« Auf Sophies Agenda hatte ich bisher auch noch mit keinem Wort die Digitalisierung erwähnt gesehen.

Ich beschloss, Daniel, meinem besten Freund, eine Nachricht zu schreiben. Wir hatten uns damals im Studium bei einer BWL-Vorlesung kennengelernt. Während ich mich jedoch später auf Personalwesen spezialisierte, vertiefte er sich in die Psychologie und promovierte sogar. Er stieg dann bei dem Pharmaunternehmen CereniteX Biotech als Wirtschaftspsychologe in Frankfurt ein und blieb dort fünf Jahre. Danach hatte er sich selbstständig gemacht und war mittlerweile ein gefragter Berater für große Unternehmen. ›Hey, bist du schon wieder in Deutschland? Ich brauche hier dringend dein geniales Gehirn! ;-) see ya, Tom.‹

Er war bereits seit einigen Monaten in den USA, da er ein großes Projekt dort an Land gezogen hatte. Ich hoffte, dass er bald zurück sein würde. Sein Wohnsitz war immer noch in Frankfurt. Er hatte mittlerweile zwei kleine Töchter und war mit Miriam verheiratet. Die beiden hatten sich auch während des Studiums kennengelernt. Daniel war ein Freigeist und kombinierte seine außergewöhnliche Kreativität mit dem tiefgründigen Verstand eines versierten Psychologen. Er hatte in seinem Beruf wahrlich seine Passion gefunden. Im Studium hatten wir oft nächtelang Leute aus unserer Umgebung analysiert und die seltsamsten Thesen aufgestellt. Daniel behielt kurioserweise oft recht mit seinen kühnen Annahmen über die zukünftige Entwicklung unserer Mitstreiter.

Am Montagmorgen konnte ich zum Glück ausschlafen und hatte nicht mal ein schlechtes Gewissen. Sophie war eine Woche im Urlaub. Birgit grinste nur, als ich erst gegen elf Uhr auftauchte. Freundlich lächelte ich zurück und rauschte gut gelaunt in mein Büro. Ein allgemeines Aufatmen war bei allen spürbar. Eine Woche ohne Angst und ohne kräftezehrende Business-Updates war für alle eine Erleichterung. Ich wollte die Woche nutzen, um mein Netzwerk in Paris zu aktivieren und möglichst viele Informationen von allen Seiten einzufangen. Für mein nächstes Meeting mit Sophie wollte ich top vorbereitet sein. Als Erstes klingelte ich bei meinem Mentor François Lambert durch. Er war mein Vorgänger, und ich war damals Teil seines Teams gewesen. Nach vier Jahren in Deutschland wurde er zurück nach Paris berufen und katapultierte mich auf seinen Posten. Er hatte mittlerweile eine wichtige weltweite HR-Funktion inne und leitete verschiedene strategische Projekte. Es war ein Ritterschlag für ihn gewesen. François agierte nah am Executive Board. Während seiner Amtszeit in Deutschland hatte er mich unter seine Fittiche genommen, und ich hatte unglaublich viel lernen können. Er strahlte Ruhe und Gelassenheit selbst in unruhigeren Zeiten aus. Natürlich hatte er mir mit Mitte fünfzig einiges an Lebenserfahrung voraus. Ich hatte mir seine Souveränität und Zurückhaltung abgeschaut. Er agierte leise und schuf mit einer unvergleichbaren Eleganz Probleme aus der Welt. Vor allem konnte er stets hochgekochte Emotionen aus brenzligen Situationen rausnehmen. Anders als bei den Länderchefs, die gern mal auf ihre Vorgänger spukten, um sich selbst zu profilieren, war François ein Vorbild für mich. Ich brauchte seine Einschätzung und seine Erfahrung. Gleichermaßen erfüllte es Personaldirektoren mit Stolz, wenn aus ihren Protegés selbst gute Personaler wurden.

Zum Glück ging er direkt ans Telefon: »Ah, hallo Tom! Ich habe deinen Anruf schon erwartet«, flötete er.

Leicht überrascht antwortete ich: »Ah ja? Schön, dass ich dich direkt erreiche.«

Er nahm mir den ersten Schritt glücklicherweise ab. »Ist ja ganz schön viel los bei euch in Deutschland.«

Erleichtert brach es aus mir heraus: »Ja, das kannst du laut sagen.«

»Dann erzähl mal: Wie kommst du mit ihr klar?«

»Ehrlich gesagt, weiß ich das noch nicht so genau. Ich geh hier durch ein Wechselbad der Gefühle. Sie ist halt ganz anders als ihre Vorgänger. Was ich an ihr schätze, ist ihr scharfer Verstand und ihre unglaubliche Energie, die Dinge anzupacken. Das habe ich so noch nicht erlebt. Auf der anderen Seite ist sie sehr rigoros und trifft schnell Entscheidungen und fällt genauso schnell Urteile über Menschen.«

Geduldig hörte er mir zu und sagte dann mit ernstem Ton: »Bleib ganz ruhig. Du musst allerdings ihr uneingeschränktes Vertrauen gewinnen. Sie hat wohl noch ein kleines Fragezeichen, was dich betrifft.«

Ich war überrascht. Offenbar hatte sich mein holpriger Einstieg mit der neuen Länderchefin schon bis nach Paris herumgesprochen. Ein ungutes Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit. Ich traute mich aber nicht, weiter nachzufragen. François sagte nach einer kleinen Pause: »Komm mich doch zwischen den Jahren in der Bretagne besuchen. Ich bin in meinem Landhaus. Dann können wir alles Weitere bei einem guten Glas Rotwein besprechen.«

»Sehr gern!«, antwortete ich ein wenig unsicher.

Ich war froh über das Gespräch, und gleichzeitig war ich noch verunsicherter als vorher. Noch nie zuvor hatte mich François zu sich privat nach Hause eingeladen. Wollte er mir schonend beibringen, dass ich aus dem Spiel raus bin?

Gedankenversunken saß ich auf meinem Bürostuhl, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte aus dem Fenster. Birgit klopfte leise und steckte mit ernster Miene den Kopf durch die Tür: »Wusstest du, dass Marc Winter in Marrakesch ist?«

Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Nein. Warum fragst du?«

Sie zögerte kurz. »Nun, Sophie ist ja auch gerade dort und macht mit ihrer Familie Urlaub.«

»Was?«

»Das ist bestimmt kein Zufall, oder?« entgegnete sie.

»Nein, ganz bestimmt nicht.«

Ich ließ jegliche Maske fallen und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Was geht denn hier gerade ab?« Meine Gedanken hämmerten unkontrolliert an meine Schädeldecke. Wie hat es Marc nur geschafft, gemeinsam mit Sophie private Zeit in Marokko zu verbringen? Die Frau kämpft offenbar mit ganz harten Bandagen. Ein weiteres Mal ist sie wie mit einer Dampfwalze über mich hinweggerollt und lässt mich wie einen dummen Jungen dastehen. Wie soll ich professionell als Personaldirektor fungieren, wenn sie an mir vorbei arbeitet und jegliche Business-Etikette überflüssig werden lässt? Mir war sofort klar, dass sie ihn kennenlernen und dann für einen Geschäftsleiterposten in ihrer Unit vorsehen wollte. Louise musste ihr den Tipp gegeben haben. Da Marc gerade mal seit einem Jahr als Marketingleiter bei Richards Vorzeige-Prestige-Marke tätig war, hätten sie sich noch gar nicht begegnen dürfen. Klar, Louise hatte ihn damals eingestellt und wollte mit ihrer HR-Emp-fehlung punkten. Kein Zweifel, ich stand auf Sophies Abschussliste.

Ich hatte diesen Beruf gewählt, weil ich gern mit Menschen arbeitete. Zukunftsträchtige Personalstrategien zu entwickeln und einen Konzern für das digitale Zeitalter zu wappnen, bereitete mir jeden Tag aufs Neue viel Freude. Es war eine anspruchsvolle Aufgabe, aber mit den richtigen Hebeln könnte sich eine effiziente und dem Zeitgeist entsprechende Unternehmenskultur entwickeln. Ich glaubte daran, dass man mit positiver Motivation und Vertrauen mehr erreichen konnte als mit negativem Druck und schüren von Angst. Offenbar war Sophie ganz anderer Meinung.

Marc war für mich als Geschäftsleiter nicht tragbar. Sicher hatte er seine Qualitäten. Er konnte sich wunderbar in Paris verkaufen und wusste, wie man sich dort profilierte. Aber seine Führungsqualitäten entsprachen überhaupt nicht meiner Philosophie. Als wir vor einigen Jahren, als Incentive für die erreichten Jahresziele, im Norden von Schweden gewesen waren, wurde er bewusstlos nachts im Schnee bei minus achtzehn Grad gefunden. Marc hatte sich, wie so häufig auf Firmenveranstaltungen, gnadenlos ins Koma gesoffen. Henryk hatte ihn zum Glück noch rechtzeitig entdeckt und ihn ins Krankenhaus gefahren. Es hatte im Nachgang noch ein ernstes Gespräch zwischen ihm und Guillaume gegeben. Kurz danach ging er als Produktmanager nach New York. Der Tapetenwechsel hatte ihm offenbar gutgetan. Bis dato recht pummelig, kam er nach zwei Jahren völlig verändert zurück nach Deutschland. Er wurde geradewegs zum Marketingleiter für die Marke Champs befördert. Richard wollte ihn unbedingt haben. Andere Business Unit, anderer Chef. Alles, was davor passiert war, schien vergessen. Rund fünfzehn Kilo leichter tänzelte der blonde Sonnyboy nun durch die Gänge.

Michael Nowak, mein Personaldirektor des Geschäftsbereichs, hatte mir erzählt, dass er es etwas befremdlich fand, wie Marc netzwerkte. Offenbar ging er mit den Jungs seines Teams regelmäßig joggen und trank mit ihnen danach noch ein Bierchen. Die Frauen fühlten sich daher etwas ausgeschlossen. Er hatte eine neue Art der ›Bro Culture‹ etabliert. Niemand traute sich, bei den abendlichen Männer-Aktivitäten zu fehlen. Es war fast wie ein kleiner gesellschaftlicher Zwang, um in seinem Inner Circle dabei sein zu dürfen. Des Weiteren hatte er offensichtlich schon einige hübsche Praktikantinnen vernascht und machte noch nicht mal ein großes Geheimnis daraus. Wenn jemand ohne jegliche Moral und Anstand wie er noch mehr Macht bekäme, würden wir eine unberechenbare und schwer kontrollierbare Instanz und ein falsches Vorbild schaffen. Offenbar war Sophie das egal. Hauptsache sie hatte jemanden in ihrem Direktionskomitee, der in Richtung Paris funktionierte.

Von Lippenstiften & Intrigen

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