Читать книгу Schmerz - Isy - Страница 9

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„Tut mir leid, dass Marlon und ich heut so rumgeknutscht haben. Muss hart für dich gewesen sein“, murmelte Alice um halb 2 morgens, als wir grade ins Bett gegangen waren. „Ne, passt schon. Ich freu mich echt tierisch für euch! Ich habe dir doch immer gesagt, dass er dich noch liebt!“, gab ich zur Antwort, während ich mir mein Schlaftop und Boxershorts anzog. „Ja, aber ich weiß doch, dass du nich’ so auf Romantik und Livegeschmuse stehst …“, bohrte Alice nach und musterte mich skeptisch. Ihre Beobachtungsgabe überraschte mich, schließlich hatte ich mich nie getraut ihr zusagen, dass es mich störte, wenn sie vor meinen Augen einem Typen die Zunge in den Hals schob. Seufzend gab ich mich geschlagen. „Ja okay, du hast ja recht. Es kotzt mich einfach nur dermaßen an … meine Eltern haben sich, du und Marlon habt euch und wen hab ich? David? Der sieht in mir sicherlich nur die beste Freundin … Das ist zwar schön und gut, aber trotzdem wünsch ich mir nichts sehnlicher, als endlich SEINE Freundin zu sein“, erklärte ich und sprach schnell weiter, als ich sah, dass sie etwas einzuwenden hatte: „Ich hab niemanden, der mich so ansieht, Alice. Ich hab niemand, der mich einfach mal anruft, um zu sagen: ‚Maya, ich liebe dich‘. Ich hab keinen, der mich küsst und bei dem ich mich geborgen fühlen kann … Ich hab meine Eltern und meine Freundinnen, aber sonst?! All das, was Marlon für dich ist, war Leo für mich … und hat es ausgenutzt, um mir so wehzutun. Hat mir nichts hinterlassen außer nem Haufen Selbstzweifel und Liebeskummer. Klar, ich bin total verliebt in David und alles, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ich je noch mal so etwas für jemanden empfinden werde wie für Leo.“ Ich stockte und sah sie an. Sie sah weder geschockt noch überrascht aus. Natürlich hatte sie es gemerkt. Hatte gemerkt, wie sehr ich die letzten Wochen gelitten hatte, ohne es offen zu zeigen. Ohne ein Wort zu sagen, rutschte Alice einfach nur näher an mich und nahm mich in den Arm. Da brach alles aus mir heraus. Ich weinte und weinte und konnte gar nicht mehr aufhören vor lauter Liebeskummer. Alice hielt mich die ganze Zeit einfach nur fest und sagte kein Wort, bis sie merkte, dass das Schluchzen aufhörte. Ich hatte noch nie in ihren Armen geweint. Schließlich erschienen meine Sorgen so unbedeutend wie die eines Kindes, neben denen der großen, schönen Alice. Während sie mir ein Taschentuch reichte und ich mir die Tränen von den Wangen wischte, musterte sie mich eindringlich und meinte schließlich: „Ich kann verstehen, dass du so denkst, aber es ist nich’ das Ende der Welt. Leo hat mit dir gespielt und dich echt verletzt, ja. Aber das ist kein Grund, der Liebe abzuschwören, denn zufällig erinnere ich mich an etwas, was du mir vor gar nicht allzu langer Zeit mal gesagt hast: Die Zeit wird alle Wunden heilen und die Liebe und das Leben werden weitergehen. Denk immer daran, wenn irgendwas schiefläuft in deinem Leben. Außerdem brauchst du gar keinen zum ‚Lieben‘! Du hast ja schließlich mich, oder?“ Das war gleichzeitig nett und doch herablassend gemeint und nach einigen Sekunden des Schweigens wurde es wohl auch Alice bewusst, dass sie etwas Falsches gesagt hatte. Aber anstatt sich zu entschuldigen, brachte sie das Gespräch lieber auf andere Leute, die Fehler gemacht hatten: „Und außerdem weiß ich zufällig, dass eine deiner Klassenkameradinnen zu ihrem Bruder gesagt hat, dass er David mal fragen soll, was er von dir hält.“ Empört sog ich die Luft ein. So eine Unverschämtheit! Jede meiner Mädels wusste doch genau, wie sehr ich solche Aktionen hasste! Abgesehen davon war die Frage sowieso ziemlich idiotisch, schließlich war ich seine beste Freundin! Sofort waren alle Tränen und böse Gedanken wegen Alice’ Art vergessen und die nächste Stunde verbrachten wir damit, den Bruder meiner Klassenkameradin mit SMS zu bombardieren. Okay, ich hab ihn mit SMS bombardiert, Alice hat mich in der Zeit mit O-Saft und Schokolade versorgt (die beiden überlebenswichtigsten Sachen für mich!). Doch allem Anschein nach war meine Sorge völlig unbegründet, da der Bruder nicht sonderlich viel mit David zu tun hatte und demnach auch nicht hatte fragen können. Als ich das las, fielen mir gleich fünf Steine vom Herzen, denn vor nichts hatte ich mehr Angst als vor unberechenbaren Liebesangelegenheiten. Die hatte ich im letzten Jahr nämlich genug gehabt …

Nachdem dies also geklärt war, wir uns ganz und gar bettfertig gemacht hatten und nun um 3 Uhr morgens endlich schlafen gingen, hielt ich es nicht mehr aus und musste nun doch noch das fragen, was mir schon den ganzen Tag auf der Zunge lag. „Duuuu, Alice? Ich kann dich doch noch was fragen, oder?“, gurrte ich, doch sie ließ sich davon nicht täuschen. Sofort war sie wieder hellwach, schaute mich misstrauisch unter ihrem Pony heraus an und nickte zögernd. „Du sahst heute so verändert aus … Und Marlon irgendwie … naja, irgendwie stolz? Kann es vielleicht sein, dass ich meine Wette gewonnen hab?“, fragte ich so unschuldig wie möglich und bemühte mich um einen möglichst gleichgültigen Ton, während ich jede Regung ihres Gesichts beobachtete. Und tatsächlich: Sie wurde rot und zupfte verlegen (und es wollte schon was heißen, wenn ALICE verlegen war!) an ihrem Kissensaum. Ich wartete und wartete, weil ich wusste, dass ich, wenn sie es mir überhaupt sagen würde, möglichst unbeteiligt wirken musste, auch wenn in Wirklichkeit all meine Nerven zum Zerreißen gespannt waren. Doch nach einer halben Ewigkeit des Schweigens nickte sie. Ich brach erst in Triumphgeheul (da ich meine Wette mit einer Freundin gewonnen hatte, die behauptete, dass Alice nicht vor siebzehn Sex haben würde) und danach in schallendes Gelächter aus. Natürlich nicht wegen der Tatsache, dass meine beste Freundin zum ersten Mal Sex gehabt hatte. Denn auch wenn viele Jungs ihr schöne Augen machten, sie heiß begehrt und schon ziemlich erfahren war, so hatte sie bisher nie den Mut gehabt, den letzten Schritt zu wagen. Sondern vielmehr deswegen, weil sie jetzt so rot wie eine Tomate wurde. Ich hörte auch dann nicht auf, als es Alice zu blöd wurde und sie mich mit sämtlichen Kissen und Kuscheltieren bewarf, die sich in Reichweite befanden. Doch irgendwann stimmte sie mit ein und wir lachten beide, bis wir gar nicht mehr wussten, warum wir eigentlich lachten, doch das war auch egal. In dem Moment zählte nur das Gefühl, mit der besten Freundin am Boden zu liegen und sich den vor Lachen schmerzenden Bauch zu halten. Doch im nächsten Augenblick flog laut scheppernd die Zimmertür auf und Milli, Alice’ kleine Schwester, kam ins Zimmer, um uns mit einem bitterbösen Blick zu bedenken. „Könnt ihr vielleicht mal die Schnauze halten? Einige in diesem Haus versuchen zu schlafen und das geht nun mal nicht, wenn man die ganze Zeit das hysterische Gelächter zweier Kichererbsen im Ohr hat!“, fauchte sie wütend und stürmte wieder aus dem Zimmer, nicht ohne die Tür lautstark zuzuschmettern. Die kleine Dramaeinlage brachte Alice nur noch mehr zum Lachen und ich genoss den Augenblick in vollen Zügen.

Doch irgendwann packte auch uns die bleierne Müdigkeit und wir legten uns wieder ins Bett. Eine Sache jedoch schien Alice noch auf der Zunge zu liegen, denn sie drehte sich immer wieder ruhelos um. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus und wandte sich mir zu. „Maya? Bist du noch wach?“, flüsterte sie, was ich mit einem zustimmenden Gebrummel quittierte. „Mir ist noch was eingefallen, was du vorhin gesagt hast, so zu dem Thema ‚Ich hab niemanden, der mich liebt‘. Das stimmt nicht! Denn … naja … ich werde dich immer lieben! Egal, was passiert. Ich weiß, ich sag dir das nicht oft, aber ich hoff, dass du weißt, dass mir deine Freundschaft mehr bedeutet als alles andere und ich echt froh bin, dich an meiner Seite zu haben“, flüsterte sie heiser. Ich schlug vor Überraschung die Augen auf. So ein Liebesgeständnis von der sonst meistens unterkühlten Alice? „Wow … danke. Ich weiß es, denn ich empfinde genauso. Immer wenn ich am Boden bin, bist du da, um mir aufzuhelfen. Das bedeutet mir mehr als alles andere“, murmelte ich und drückte Alice’ Hand unter der Decke. Durch das fahle Mondlicht, welches durchs Dachfenster schräg aufs Bett fiel, konnte ich ihr Lächeln sehen. „Weißt du noch? Der Freundschaftsschwur an Halloween?“, flüsterte sie kichernd. Auch ich musste bei dem Gedanken schmunzeln. Klar wusste ich den noch. Ich hatte ihn mir schließlich ausgedacht. „Wir schwören, dass wir immer füreinander da sein werden. Wir schwören, dass sich unsere Freundschaft immer gegen alle Vorurteile durchsetzten wird. Wir schwören, dass wir immer ehrlich zueinander sein werden. Wir schwören, dass sich nie irgendwer zwischen uns drängen wird. Wir schwören, dass diese Freundschaft für immer ist und nichts und niemand je etwas daran ändern wird“, murmelte ich den Schwur, welchen ich mir vor fast zwei Jahren überlegt hatte. Sie nickte: „Genau so soll es immer sein. Du wirst immer meine beste Freundin sein und daran wird sich nie etwas ändern.” Vor Rührung kamen mir die Tränen und ich war unfähig, etwas zu erwidern, also nickte ich nur stumm. „Genau, Süße. Aber jetzt schlaf erst mal und träum von deinem MarlonSchatz“, flüsterte ich, als ich meine Stimme wiedergefunden hatte. Als Antwort versetzte sie mir nur einen leichten Rippenstoß, der ihre spaßige Verachtung ausdrücken sollte, doch ich drehte mich einfach zur Seite, kicherte und wünschte ihr eine gute Nacht.

Später lauschte ich ihren gleichmäßigen Atemzügen und dachte daran, was ich doch für ein verdammtes Glück mit ihr hatte. Auch wenn wir uns manchmal über Tage hinweg anschwiegen, weil wir uns mal wieder gestritten hatten. Auch wenn wir so krass unterschiedlich waren. Immer und immer wieder wiederholte ich in Gedanken die Worte, die sie mir eben gesagt hatte. Ich wollte jede Silbe davon für immer in mein Gedächtnis einbrennen. Früher hatte ich mich oft darüber aufgeregt, dass Alice keine Emotionen zeigen konnte und so gut wie nie sagte: „Ich hab dich lieb.“ Doch mit der Zeit hatte ich gelernt, dass es nicht darauf ankam, wie oft man es sagte, sondern wie ernst man es meinte. Die Zeit hatte uns zusammengeschweißt und mit ihr zusammen würde ich noch so viel mehr Zeit verbringen. Mit diesem Gedanken und unserem Schwur im Kopf dämmerte ich langsam in einen traumlosen Schlaf.

Am nächsten Morgen standen wir erst sehr spät auf. Um 1, um genau zu sein. Doch es störte niemanden, denn trotz der verspätenden Aufwachstunde waren wir die Ersten, die wach waren. Milli schlief offenbar noch tief und fest. Charlie, ihre große Schwester, feierte meist die Nächte durch und kam in den Ferien selten vor 2 aus dem Bett gekrochen. So kam es also, dass wir die ganze Küche für uns hatten und während Alice duschte, machte ich uns ein 5-Sterne-Frühstück mit Eiern, Speck, Brötchen, Saft, Kaba und Obstsalat. Alice kam exakt dann aus dem Bad, als ich fertig wurde, und so konnten wir in aller Ruhe verspätet frühstücken, während der Radiofuzzi die neuesten Hits abspielte und Sommerlaune verbreitete. Bei einem unserer Lieblingslieder drehte Alice so laut auf, dass ich den Bass in meinen Knochen spüren konnte, und tanzte mit mir durch die ganze Wohnung, begleitet vom aufgeregten Gebell ihres Hundes und dem Geschrei von Milli, die nun doch aufstand, um sich dann über die Frühstücksreste herzumachen. Nachdem wir unseren Tanz beendet hatten, ging ich ins Bad, um mich einigermaßen wieder frisch zu machen, kam jedoch bald zu dem Entschluss, dass es eh egal war, wie ich aussah, schließlich würde mich ja niemand Wichtiges mehr sehen. Also putzte ich mir nur eben die Zähne, trug Wimperntusche auf und kämpfte mit meinen verwuschelten Haaren. Als ich zehn Minuten später die Tür aufriss, wurde ich von einer sauertöpfisch blickenden Charlie begrüßt, die irgendwas wie „Gutn Morgn“ murmelte. Bereitwillig ließ ich sie ins Bad und suchte stattdessen Alice, die aber unauffindbar war. Milli konnte ich die Information entlocken, dass Alice mit dem Hund rausgegangen war, da sie dachte, ich würde länger brauchen. Da mir nichts andres zu tun blieb, spülte ich also unser Geschirr und den Berg an benutzten Küchenutensilien ab. Keine fünf Minuten später kam eine strahlende Alice durch die Tür, wie immer von einem bellenden Micky begleitet, die mich ausgelassen umarmte und meinte, dass wir gleich losfahren würden, damit wir so bald wie möglich reiten könnten. Ich ließ Alice die letzten Teller verräumen, um meine Sachen zusammenzupacken. „Na, bist du jetzt endlich fertig, Maya?“, neckte sie mich nach wenigen Minuten. „Eigentlich brauchst du deine Klamotten und den Rest eh nicht mitnehmen – so oft, wie du bei mir bist, ist das hier sowohl dein als auch mein Zimmer.“ Sie half mir trotzdem, die letzte CD und das letzte Paar Socken in meine überfüllte Tasche zu stopfen, damit wir endlich losfahren konnten.

Im Nachhinein kommt es mir seltsam vor, dass ich mich an jedes noch so unwichtige Detail dieses Tags erinnern kann. Ich weiß noch genau, wie spät es war, als wir losfuhren, weiß noch genau, was Milli anhatte, und dass ein Bauer sein Feld pflügte. Jede noch so winzige Kleinigkeit von diesem schrecklichen Tag hat sich unvergesslich in mein Gehirn eingebrannt und ich wünschte, ich könnte vergessen … den Tag vergessen, an dem meinem Leben die Farbe entrissen wurde.

Schmerz

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