Читать книгу Durch die Dornenhecke - Iðunn Steinsdóttir - Страница 6

Eine Botschaft von der anderen Seite

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Die Menschen im Westtal lebten gut und konnten tun und lassen, was sie wollten. Morgens wachten sie beim Hahnenschrei auf. Die Tage erwarteten sie mit Sonnengold oder nebelumwallt und vom Regen benetzt. Manchmal hatten sie sich auch eine weiße Schneehaube übergestülpt. Es waren abwechslungsreiche Tage, die oft gut endeten.

Alfrun wohnte mit ihren Eltern in dem weiträumigen Haus ihrer Großmutter Alt-Siw. Es stand in einem großen Garten, in dem im Sommer dreifarbige Stiefmütterchen wuchsen. Die schliefen im Winter unter glitzerndem Schnee verborgen, doch dafür erblühten schneeweiße Eisblumen am Fenster von Alfruns Zimmer.

Alt-Siw weckte Alfrun morgens und versorgte sie tagsüber, während ihre Eltern draußen ihrer Arbeit nachgingen.

An diesem Morgen schien die Frühlingssonne zum Fenster herein, als Alfrun die Augen aufmachte. Die Sonnenstrahlen weckten die Puppen, die im Festgewand im Puppenhaus saßen, und tanzten auf dem Wirbelball, der ihr von allen Spielsachen der liebste war. Er lag hoch oben im Regal.

Alfrun wußte gleich, daß dies ein guter Tag würde. Sie reckte die Zehen in die Höhe und ließ sie von den Sonnenstrahlen wärmen. Dann zog sie sich an und ging hinunter zur Großmutter.

Alt-Siw nahm sie in die Arme, goß warme Milch in eine Tasse und gab ihr eine Schnitte Brot, die mit frischer Butter bestrichen war. Dann setzte sie sich in ihren Schaukelstuhl und wischte heimlich eine Träne weg, die die Backe hinunterrann.

“Aber Oma, es ist doch nicht sicher, daß es ihnen so schlecht geht”, sagte Alfrun und streichelte ihre Hand. Sie ahnte, daß ihre Großmutter an die andere Enkeltochter dachte, die vielleicht gerade hinter der Dornenhecke aufwachte. Man wußte zwar nicht sicher, ob es dieses Enkelkind wirklich gab, denn man hatte von Germar schon jahrelang nichts mehr gehört. Doch Alt-Siw glaubte mehr zu wissen als andere Leute.

“Mein Germar hat ein Mädchen, das etwa so alt wie Alfrun ist”, sagte sie bestimmt.

“Warum bist du denn so sicher, meine Liebe?” hatte Alfruns Mutter wehmütig gefragt.

“Ich weiß es, wartet nur ab. Eines Tages fällt die Dornenhecke, und dann werden wir ja sehen”, sagte Alt-Siw überzeugt.

Alfrun, die gern eine Schwester gehabt hätte, sprach oft mit ihrer Großmutter über diese Cousine.

“Wie sieht sie denn aus, Oma?” fragte sie.

“Sie hat dichtes, blondes Haar, das wunderschön ist, und in weichen Wellen über die Schultern fällt. Ihre Augen sind dunkelblau, beinahe schwarz. Sie hat eine hohe Stirn und rote Bäckchen. Ja, sie ist hübsch und mutig zugleich.”

“Wie heißt sie denn?” fragte Alfrun.

“Uta, das ist nämlich der Name einer Königin. Etwas anderes paßt nicht zu ihr”, antwortete Alt-Siw.

“Ich habe leider keinen Königinnennamen, und ich bin auch nicht so schön”, warf Alfrun ein.

“Du hast einen guten und schönen Namen. Du kannst damit zufrieden sein”, sagte Alt-Siw.

Alfrun ging hinaus in den Sonnenschein. Sie mußte an ihre Cousine Uta denken.

Wie schön wäre es, wenn sie hier wäre, dachte sie. Dann wären wir wie Schwestern, und ich hätte immer jemand bei mir, mit dem ich reden könnte, auch abends vor dem Einschlafen. Ach, ich wollte, sie käme durch die Dornenhecke, hierher zu mir.

Eigentlich konnte Alfrun sich nicht beklagen, keine Freunde zu haben. Sie hatte sogar drei sehr gute Freunde, nämlich Godelinde, Obbi und Kori. Sie waren von morgens bis abends zusammen und erfanden immer neue Spiele. Doch am liebsten spielten sie Wirbelball. Dieser Sport war von alters her im Tal sehr beliebt.

“Wie gut, daß es hier keinen solchen Bösewicht wie Ungeheuer gibt”, sagte Alfrun zu ihren Freunden. Sie saßen am Wiesenrain und genossen den Sonnenschein. Heute war es zu warm zum Wirbelballspiel.

“Hier sind alle nett zueinander, obwohl manche ja ein bißchen laut herumkommandieren”, meinte Godelinde.

Alfrun seufzte zufrieden. Es war doch beruhigend zu wissen, daß das Böse hinter der Dornenhecke aufgehoben war.

Doch dann bekam sie Gewissensbisse, so zu denken.

“Es geht ihnen wirklich schlecht”, seufzte sie.

“Das ist nicht so sicher, sie lassen nur nichts mehr von sich hören. Und alles ist schon lange, lange, bevor wir geboren wurden, geschehen”, sagte Obbi und zog die Nase kraus, daß drei seiner Sommersprossen verschwanden.

“Sicher gefällt es ihnen nicht, so eingeschlossen zu sein”, sagte Godelinde, während sie mit den Fingern durch ihre hellen Locken fuhr.

Sie hatte langes goldblondes Haar, Pausbäckchen und rote Lippen. Ihre Augen schimmerten lichtblau und warm.

“Sollen wir einmal zur Dornenhecke gehen und hinüberhorchen? Vielleicht können wir etwas herausbringen”, sagte Kori und sprang auf.

Alfrun blieb stumm. Sie war noch nie bei der Dornenhecke gewesen. Sie hatte Angst vor ihr. Ihre Oma hatte ihr von der starken Zaubermacht, die in der Hecke wohnte, erzählt, und sie wollte nicht gern ihr Leben aufs Spiel setzen.

“Selbstverständlich gehen wir! Jemand muß doch versuchen, mit denen drüben wieder Verbindung aufzunehmen, obwohl die Erwachsenen es aufgegeben haben.” Obbi stand auf und zog Godelinde hoch.

Alfrun zögerte. Uta, ihre Cousine mit dem Königinnennamen und den schönen goldenen Haaren, hätte sich sicher gleich getraut. Doch sie, Alfrun, war eben anders, sie hatte dünnes, dunkles Haar und war ein bißchen blaß. Sie sah nicht wie eine Heldin aus, und sie war auch nicht sehr mutig.

Kori sah zu ihr hinunter. Er wirkte viel heldenhafter, hatte braune Augen, zwei Grübchen in den Backen und eins mitten im Kinn. Jetzt streckte er ihr die Hand entgegen. Sie seufzte, stand auf und machte sich auf den Weg.

Bis zur Dornenhecke war es weit. Der Weg führte am Platz vorbei, auf dem abends das Wachtfeuer glühte. Natürlich hatte man längst wieder einen Platz für das Wachtfeuer gefunden. Irgendwo mußte man doch zusammenkommen, und es half denen, die drüben eingeschlossen waren, wenig, wenn ihre Verwandten im Westen nicht mehr beim Feuer zusammensaßen, sondern dieses Vergnügen ausfallen ließen und ihnen statt dessen die Nachtkühle den Rücken hinaufkroch.

In den ersten Jahren, nachdem die Dornenhecke das Tal geteilt hatte, war am Wachtfeuer abends nicht mehr gesungen worden. Doch mit der Zeit hörte man wieder vereinzelt schwache Stimmen. Das waren die Kinder und Jugendlichen. Sie konnten sich nicht an alte Zeiten und auch an keinen anderen Ort erinnern, an dem früher gesungen worden war, und zwar so laut und schallend, daß das Echo aus den Bergen ringsum widergehallt hatte. Doch mit der Zeit stimmten auch die Erwachsenen wieder mit ein, und es wurde fester Brauch, sich beim Wachtfeuer an den Sommerabenden zu treffen und zusammen zu singen.

Die Kinder schlenderten über den Platz. Dort herrschte wie immer kunterbuntes Treiben. Die Schlachter zerteilten Fleisch und verkauften es an ihre Kunden in dicken braunen Tüten. Wohlbeleibt ging nörgelnd von einem zum andern und versuchte, den Fleischpreis herunterzuhandeln. Viel zu teuer sei alles geworden, sagte er.

“Komm doch zu uns, Dickerchen”, riefen die Frauen an den Gemüsekarren und priesen ihre Ware. Jede schrie lauter als die andere, wie frisch und saftig ihr Obst und ihr Gemüse sei.

Der Duft frischgebackenen Brotes kitzelte die Nasen, als sie beim Bäcker vorbeikamen, und der Fleischer versprach Preisermäßigung zur Feier des Tages.

“Was für einen Tag feiern wir denn?” fragte Godelinde neugierig.

“Den heutigen Tag”, sagte der Fleischer und lachte; er machte gern einen Spaß.

“Seht nur, es gibt neue Wirbelbälle! So einen möchte ich auch haben, mein alter ist gar nicht mehr gut”, sagte Obbi, als sie beim Krämer vorbeikamen. Obbi war der Beste seines Jahrgangs im Wirbelball-Spiel, und seine Eltern waren mächtig stolz auf ihn.

Ein Weilchen hielten sie sich beim Laden an der Ecke auf, dort gab es allerlei Spielzeug, und sie zeigten auf die Dinge, die sie sich noch wünschten. Alfrun hatte viele Spielsachen, und es war schwierig, alles in ihrem Zimmer unterzubringen. Doch die Handwerker im Tal waren einfallsreich, immer hatten sie wieder etwas Neues ausgedacht, wenn sie vorbeikam.

Vielleicht kann ich all die schönen Sachen nie mehr wiedersehen, nie mehr den Duft des Brotes riechen oder von unserem guten Obst essen, dachte Alfrun wehmütig, als sie weitergingen. Sie fürchtete, daß ihnen bei der Dornenhecke etwas Schlimmes zustoßen könnte.

Die Dornenhecke sah wirklich zum Fürchten aus. Sie stand so dicht, daß man nicht hindurchsehen konnte, und die Dornen waren groß und spitz, wie die Krallen einer Hexe. Sie war dunkelgrün und hatte noch nie geblüht wie die andern Hecken, die um die Wohnhäuser standen.

Sie gingen daran entlang und hofften, eine Lücke zu entdecken, um hindurchzuschauen. Doch wenn sie näherkamen, reckten sich ihnen die messerscharfen Dornen entgegen, daß sie schnell zurückwichen.

“Jetzt seht ihr selbst, das bringt uns nichts. Wir sollten umkehren und nach Haus gehen”, sagte Alfrun mit zitternder Stimme.

“Nein, jetzt setzen wir uns erst einmal hin und horchen. Vielleicht hören wir etwas von drüben. Vielleicht will gerade jetzt einer von dort uns Nachricht geben”, sagte Kori.

Sie setzten sich ins Gras. Es tat gut auszuruhen. Stille herrschte hier, nur manchmal hörte man den Schrei eines Vogels, der von Osten nach Westen flog.

“Ich wollte, daß der Sturm käme, die Dornenhecke mit den Wurzeln herausrisse und sie weit fort bliese”, flüsterte Alfrun.

“Ja, wenn der Sturm käme”, wiederholte Kori, mit Hochachtung in der Stimme.

Dieser Sturm kam ganz selten, gewöhnlich nur einmal in einem Menschenalter. Dann suchten alle Schutz. Die Erwachsenen waren in Sorge, was wohl dem Unwetter zum Opfer fallen würde, aber die Kinder lauschten und waren voll gespannter Erwartung. Sie hörten, wie der Sturm um die Häuser heulte und toste, brauste und sauste, und sie wußten, daß man diese Stunden genießen mußte, weil sie so selten waren und man vielleicht erst in vielen vielen Jahren wieder etwas ähnliches erleben konnte.

Plötzlich zischte es, und ein kleines weißes Ding kam im hohen Bogen über die Dornenhecke herüber und fiel dicht bei Alfrun zur Erde.

“Was ist denn das?” fragte Godelinde neugierig.

“Ein weißer Stein”, sagte Obbi.

“Nein! Ist das vielleicht ein Brief?” fragte Alfrun. Sie nahm das Ding auf. Ein weißer Zettel kam zum Vorschein, der um einen Stein gewickelt war.

“Laß doch sehn!” Obbi und Kori reckten die Hälse.

“Dies ist eine Botschaft von drüben”, verkündete Alfrun und staunte die eigenartigen Buchstaben an, die auf den weißen Bogen gekritzelt waren.

“Was hab ich gesagt? Ich hab geahnt, daß uns jemand eine Nachricht geben wird”, sagte Obbi.

“Was steht denn da?” fragte Kori.

Langsam entzifferte Alfrun den Brief von drüben.

“Ihr lieben Freunde und Vettern!

Wir leben hier sehr gut. Ungeheuer, unser Wohltäter, ist gut zu uns, wie zu Brüdern. Nur eines betrübt uns noch, daß ihr so arm seid und ohne Freude hinter der Dornenhecke aushalten müßt.

Möge Euch ein gutes Schicksal auch solch einen Wohltäter senden!

Grüße von eurem Freund und Vetter

Ratbold.”

Am Abend, als Alt-Siw den Leuten diesen Brief am Wachtfeuer vorlas, kamen alle in Aufregung. Sie waren verwundert und erstaunt und wollten ihren Augen und Ohren nicht trauen. Plötzlich erscholl ein höhnisches Lachen, so kalt, daß sie fast glaubten, es komme aus Ungeheuers Kehle. Aber es war Alfruns Vater, der zu lachen anfing, und dann fiel einer nach dem andern ein.

“Bildet er sich wirklich ein, daß wir so etwas glauben? Das hat er doch nur geschrieben, um uns zu täuschen”, hörte man von allen Seiten.

Aber Herbald lachte nicht.

“Ungeheuer kann unsre Sprache weder sprechen noch schreiben, und die Diener können auch nicht schreiben”, sagte er.

Da verstummte das Lachen. Es war wie immer: wenn Herbald etwas sagte, wurden alle still. Er war zum Anführer der Menschen im Tal gewählt worden und hatte dieses Amt jetzt schon viele Jahre inne. Niemand fand ihn besonders lustig, und niemand erinnerte sich daran, daß er jemals gelacht hatte. Doch weil er nie etwas sagte, was nicht durchdacht und wohlbegründet war, hörten sie auf ihn.

“Glaubst du wirklich, daß es wahr ist? Glaubst du denn wirklich, daß Ungeheuer auf einmal so verändert ist?” fragte der Schmied.

“Nein, das kann ich leider nicht glauben. Dies hat ein Verwandter oder Freund von uns geschrieben. Es ist jemand hinter der Dornenhecke. Einer, der in Ungeheuers Dienste getreten ist und seine Kameraden betrügt. Einer, der uns täuschen will”, stellte Herbald fest.

“Ich bin nicht sicher, daß er uns täuschen will. Ich möchte glauben, daß es unseren Angehörigen im Osten besser geht als uns, hier ist ja alles so teuer geworden”, zeterte Wohlbeleibt.

“Vielleicht solltest du versuchen hinüberzugehen und dort zu wohnen?” warf Alfruns Vater spöttisch ein.

“Das hab ich nicht gesagt. Hier ist mein Haus, hier sind meine Äcker und Scheunen. Ich könnte nichts mit hinübernehmen. Aber vielleicht müßte ich dort nicht so schuften wie hier, um mir Fleisch zum Essen und Sachen zum Anziehen kaufen zu können”, sagte Wohlbeleibt und rieb einen unsichtbaren Fleck von seinem Goldring.

Herbald musterte ihn kühl.

“Wenn das Leben dort drüben so gut ist, wie dieser Ratbold behauptet, warum sondern sie sich dann mit einer Dornenhekke ab? Warum wird sie nicht einfach umgehauen, damit wir sehen können, wie herrlich alles bei ihnen ist?” fragte er.

“Wir wollen ihnen eine Antwort schicken und sie fragen, warum sie die Dornenhecke nicht einfach umhauen und zu uns zu Besuch kommen”, sagte der Schmied.

“Ich kann den Brief hinüberwerfen”, bot Kori sich an. Herbald räusperte sich:

“Heute bin ich ganz oben auf dem Rathausturm gewesen, um in alten Urkunden zu blättern. Als ich zum Fenster hinaussah, entdeckte ich im Osten hinter der Hecke etwas Eigenartiges. Es ragt schmal und hoch auf. Leider konnte ich nicht erkennen, was es eigentlich ist”, sagte er.

“Vielleicht ist das ein Spähturm, damit sie hier spionieren können”, warf Alfruns Vater ein.

“Ich habe mir vorgenommen, jetzt jeden Tag dort oben nachzusehn, was bei ihnen vorgeht”, sagte Herbald.

Es war, als ob sie durch den Brief, obwohl er eine Fälschung war, ihren Verwandten wieder näher gekommen waren. Lange saßen sie an diesem Abend noch um die Feuersglut und dachten an ihre Lieben. Wie fröhlich sie früher gewesen waren und wie gut. Wie stolz sie auf sie waren und welch große Hoffnungen sie gehabt hatten.

“Ich kenne keinen, der so geschickt war, Pferde zu zähmen, wie deinen Sohn Germar”, sagte der Schmied zu Alt-Siw.

“Und keine konnte den Ball besser hochwirbeln als seine Frau, die Milda”, sagte Alfruns Mutter und trocknete sich Tränen aus den Augen.

“Und nie gab es in diesem Tal einen jungen Mann, der mutiger war als Meinrad, dein Sohn. Ich werde nie vergessen, wie er an den Felsen der Teufelswand hochgeklettert ist, um das Kleinkind zu retten, das der Adler entführt hatte”, sagte Alt-Siw zu ihrer bejahrten Freundin.

“Und keine konnte jemals so gut tanzen wie deine Großmutter, die jetzt hinter der Dornenhecke wohnt”, sagte ein alter Mann und strich Godelinde über den Kopf.

“Wißt ihr noch, alle waren wie verzaubert, wenn sie stundenlang ums Feuer tanzte und kaum den Boden berührte”, sagte sein Nachbar, und ein frohes Leuchten erschien in seinen alten Augen.

Die Kinder hörten mit offenen Mündern zu. Sie fanden, daß die Menschen um sie herum nicht so ungewöhnlich waren wie die Helden dort drüben im Osttal.

Durch die Dornenhecke

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