Читать книгу Durch die Dornenhecke - Iðunn Steinsdóttir - Страница 7

Sogar die Möwen machen kehrt ...

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Die nächsten Tage erschienen Alfrun besonders abwechslungsreich und schön. Morgens, beim Aufwachen, hörte sie, wie Kori unter ihrem Fenster pfiff. Dann saß er bei ihnen in der Küche, während sie frühstückte, und oft trank er auch ein Glas Milch, das Alt-Siw ihm anbot.

“Nehmt euch vor der Dornenhecke in acht, wir wollen euch nicht auch noch verlieren”, sagte Alt-Siw und strich mit ihrer faltigen Hand müde über ihre Stirn, als die beiden sich bedankten und auf Wiedersehen sagten.

Bei Godelinde warteten sie im Spielzimmer, während diese frühstückte. Sie hatte ein größeres Zimmer als Alfrun, es war voll von Spielsachen.

“Dreiundzwanzig Puppen, das ist ziemlich viel”, sagte Kori eines Morgens, als er die Puppen reihum gezählt hatte, die auf den Regalen saßen. Es gab Puppen aus Holz und aus Stoff, viele trugen bunte Gewänder, und die feinsten hatten einen Kopf aus Porzellan.

“Das stimmt nicht ganz, ich habe fünfundzwanzig. Zwei sind beim Puppendoktor”, verbesserte Godelinde.

Und immer, wenn sie aus Godelindes Haus kamen, wartete Obbi schon am Gartentor und wirbelte seinen neuen Ball hoch in die Luft. Sein Vater hatte nicht lange nachgedacht und ihm auf sein Bitten hin gleich einen neuen Ball gekauft. Und der Händler behauptete, daß dies viel bessere Bälle seien als die aus der letzten Sendung.

“Habt ihr schon gehört? Gestern wurde im Gemeinschaftsrat beschlossen, daß wir einen neuen Platz zum Wirbelballspiel bekommen”, sagte Obbi fröhlich und schleuderte seinen Ball hoch hinauf.

“Ja, das soll eine kreisförmige Anlage werden”, sagte Kori.

“Es war ja auch an der Zeit”, stimmte Godelinde zu.

Dann machten sie ihren alltäglichen Gang zur Dornenhekke. Nicht immer lohnte sich diese Mühe, doch manchmal fanden sie einen Brief mit seltsamen Nachrichten.

“Und was für ein Lügenmärchen bekommen wir wohl heute aufgetischt?” fragte Kori und warf einen Stein mit einem Zettel hinüber.

Sie saßen dicht beieinander und starrten auf die wildwuchernde Hecke, aus der die Dornen böse herausragten. Sonderbar, all die wunderbaren Menschen, von denen sie beim Wachtfeuer gehört hatten, waren ganz nahe und doch so weit fort, daß es keine Brücke über diesen Abgrund gab.

“Horcht, ich glaube es rührt sich was”, flüsterte Alfrun.

Der Wind strich durch die Grashalme, die Vögel zwitscherten, und die Fliegen summten, während sie in durchsichtigen, dunklen Schwärmen durch die Luft zogen.

“Sonderbar, daß die Dornenhecke keine Blüten hat! Die Heckenrosen in unserem Garten daheim blühen jeden Sommer ganz rosa”, flüsterte Godelinde.

“Nicht einmal ihre Blätter rühren sich, als seien sie verzaubert”, sagte Alfrun, während ihre Augen von der Dornenhekke zu den Gräsern und Pflanzen ringsum wanderten, die sich weich im Wind wiegten.

Obbi sprang auf und ging ganz nah hin. Er griff nach einem Zweig und wollte ihn zu sich hinziehen, doch da wurde er plötzlich von einem scharfen Dorn gestochen.

Obbi schrie auf und kam zurück zu den andern. Seine Hand blutete.

“Habt ihr das gesehen? Die Dornhecke bewegt sich, aber nur, um zuzustechen”, flüsterte Godelinde betroffen.

“Um etwas Böses zu tun”, fiel Alfrun ein.

Und in stummem Schrecken starrten sie die grüne Wand an, die so heimtückisch war. Und da, auf einmal, rührte sich etwas. Ein gelbliches Ding kam im hohen Bogen herübergeflogen und landete gerade zu ihren Füßen.

“Ein Brief! Noch ein Lügenmärchen”, stieß Kori hervor.

“Nein, dieses Mal sieht er anders aus”, sagte Alfrun.

Sie wickelte einen vergilbten Briefbogen von einem Stein. Der Bogen war alt und brüchig, sie mußte ganz vorsichtig damit umgehen. Dieses Mal war es auch eine andere Schrift.

“Ihr, meine alten Freunde,

Vielleicht kostet es mein Leben, daß ich diesen Brief an euch abschicke, doch ich muß es wagen.

Gestern habe ich einen Brief von euch gefunden. Offenbar hat jemand von hier an euch geschrieben. Glaubt kein Wort davon! Einer von uns ist ein Verräter und hält zu Ungeheuer.

Unser Leben wird immer mühsamer. Ungeheuer hält uns in der Klemme und wird jeden Tag habgieriger. Wir hoffen, daß ihr noch an uns denkt, und das tröstet uns ein wenig.

Vergeßt uns nicht!

Germar”

Alfrun beeilte sich, den Brief zusammenzufalten, damit die Tränen, die herunterkollerten, ihn nicht verwischen sollten.

“Das ist ja schrecklich”, sagte Godelinde traurig.

Obbi fuhr mit dem Ärmel über seine Augen.

“Das klingt alles so unwahrscheinlich”, sagte er mit rauher Stimme. “Vielleicht sind die anderen Briefe echt, und dieser hier ist eine Lüge.”

“Ich glaube, daß dieser Brief echt ist. Seht doch, was ist denn mit den Vögeln los?” sagte Kori nachdenklich und zeigte zur Dornenhecke hin.

Eine Schar Wildgänse kam im Keilflug ostwärts geflogen. Doch als sie auf die Höhe der Dornenhecke gekommen waren, schwenkten sie plötzlich nach Westen hin ab. Ein würdevolles Rabenpaar hatte gerade jäh seinen Flug, hoch oben über der Hecke, abgebrochen und machte laut krächzend kehrt. Drei Möwen auf Erkundungsreise setzten mehrmals zum Sturzflug an. Doch dann suchten sie zeternd das Weite, als sie hinübergesehen hatten.

“Sogar die Möwen machen kehrt”, sagte Kori mit bebender Stimme.

Als die Menschen abends beim Wachtfeuer hörten, daß sogar die Vögel aufgehört hatten, ostwärts über die Hecke zu fliegen, waren sie betroffen. Alt-Siw weinte bittere Tränen, und die alten Männer schneuzten sich laut in ihre Schnupftücher.

Dann las Alt-Siw den Brief vor. Dieses Lebenszeichen von Germar, ihrem Sohn, war für sie kostbarer als alles Gold der Welt, obwohl es nur traurige Nachrichten enthielt.

Als der Brief zu Ende war, herrschte langes Schweigen. Endlich räusperte sich der Schmied.

“Am schlimmsten ist doch, daß wir ihnen nicht helfen können”, sagte er.

Da ergriff Alt-Siw das Wort: “Nur eins können wir jetzt noch für sie tun. Wir können ihnen all unsre besten und reinsten Gedanken schicken. Gedanken, die vom Dank erfüllt sind für das, was sie uns einmal waren, und Gedanken voll Hoffnung und heißen Wünschen, daß sie bald wieder frei sind und die Grausamkeit dort ein Ende nimmt.”

Sie faßten sich an den Händen und saßen still um den Feuerplatz herum. Das Feuer war heute nicht entzündet worden, weil die Dämmerung noch durchscheinend und hell war. Lautlos strömten Gedanken und Wünsche aus ihren Herzen und zogen vereint ostwärts.

Die Stille hielt an, bis Herbald zu ihnen trat.

“Hinter der Dornenhecke geschieht etwas Sonderbares. Ich war vorhin oben im Rathausturm, um nach diesem eigenartigen Ding zu sehen, das da drüben entsteht. Es war mit einem Mal ganz von einem goldenen Schein umgeben und schien immer größer zu werden. Ich glaube, es wird ein Baum! Er ist jetzt schon so hoch, daß man seinen Gipfel hier, von ebener Erde aus, sehen kann”, verkündete er.

Er deutete ostwärts, und im Mondlicht erkannten sie einen dunklen Baumwipfel in der Ferne. Er ragte in den Abendhimmel, und der Mond warf einen gespenstischen Schein darauf. Doch der goldene Schimmer war verschwunden.

An diesem Abend weinte Alfrun in ihr Kissen. Sie hatte Mitleid mit ihrer Cousine Uta und all ihren Angehörigen drüben.

Wenn sie einmal zu uns herüberkommen, will ich immer besonders nett zu ihnen sein, gelobte sie sich. Uta soll meine schönste Puppe bekommen und auch mein Festkleid. Und dann, wenn ich mit ihr spiele und jemand nicht nett zu ihr ist, werde ich sie verteidigen.

Mit verweinten Augen schlief sie ein und träumte von einem sonderbaren Baum, der wuchs und wuchs. Seine Zweige reckten sich hoch hinauf und wurden immer zahlreicher.

Sonderbarerweise wirkte dieser Baum nicht bösartig, er schimmerte in mildem Glanz. Vögel sangen in seinen Zweigen. Alfrun sah ihn voll Mißtrauen an und fragte sich: Was für ein Baum ist denn das?

Durch die Dornenhecke

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