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Zehntes Kapitel
ОглавлениеSo vergingen beinahe zwei Wochen. Das Leben der Bewohner von Marino verlief sehr einförmig. Arkad machte den Sybariten und Bazaroff arbeitete. Man hatte sich an seine Verachtung der Formen, an seine kurze, barsche Redeweise gewöhnt. Fenitschka zumal war mit ihm so vertraut geworden, daß sie ihn einmal in der Nacht wecken ließ, als Mitia einen Anfall von Krämpfen bekam. Bazaroff kam, blieb fast zwei Stunden, bald lachend, bald gähnend, und half dem Kinde. Wer aber Bazaroff andrerseits von Grund seiner Seele verabscheute, das war Paul: in seinen Augen war er ein anmaßender, unverschämter, zynischer Mensch, ein wahrer Plebejer, der ihm, ihm Paul Kirsanoff, wenig Achtung erwies und sich vielleicht gar erfrechte, ihn zu verachten. Sein Bruder Nikolaus fürchtete zwar den jungen Nihilisten ein wenig und bezweifelte sehr, daß er auf Arkad günstig einwirke; allein er hörte ihm doch mit Vergnügen zu und wohnte gerne seinen physikalischen und chemischen Versuchen bei. Bazaroff hatte ein Mikroskop mitgebracht und beschäftigte sich stundenlang mit dem Instrument. Auch die Domestiken hatten sich an Bazaroff gewöhnt, obwohl er sie von oben herab behandelte; sie sahen in ihm mehr einen ihresgleichen als einen Herrn. Duniascha kicherte gerne mit ihm und warf ihm heimlich bedeutungsvolle Blicke zu, wenn sie trippelnd wie ein Wächtelchen an ihm vorüberkam. Peter, ein beschränkter, von Eigenliebe ganz erfüllter Mensch mit immer sorgenvoller Stirn, dessen Verdienst darin bestand, daß er immer einen höflichen Gesichtsausdruck zeigte, buchstabieren konnte und seinen Rock fleißig bürstete, entrunzelte sein Gesicht und lächelte sogar wenn ihm Bazaroff die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Die jungen Domestiken endlich folgten dem Doktor wie junge Hunde. Der alte Prokofitsch war der einzige, der ihn nicht liebte; er bediente ihn bei Tisch mit sichtlichem Widerwillen, nannte ihn Abdecker, Lump, und sagte, daß er mit seinem langen Backenbarte einem Schwein im Busch gleiche. Prokofitsch war in seiner Art nicht weniger Aristokrat als Paul Petrowitsch selbst.
Es war im Anfang des Monats Juni, des schönsten im Jahr. Das Wetter war herrlich; die Cholera war zwar im Anzuge, aber die Bewohner des Gouvernements X… fürchteten sie nicht besonders. Bazaroff stand morgens sehr früh auf und streifte zwei oder drei Werst vom Hause umher, nicht um spazierenzugehen (er konnte das Spazierengehen nicht leiden), sondern um Pflanzen und Insekten zu sammeln. Manchmal begleitete ihn Arkad. Hie und da kamen die beiden Freunde auf dem Heimweg ins Streiten, und gewöhnlich war Arkad der Besiegte, obgleich er viel mehr sprach als sein Gefährte. Eines Tages, als sie lange ausblieben, ging ihnen Kirsanoff entgegen in den Garten; bei dem Boskett angekommen, hörte er rasche Schritte und die Stimmen der jungen Leute. Sie traten von der andern Seite in das Boskett und konnten ihn nicht sehen.
»Du kennst meinen Vater nicht,« sagte Arkad. Kirsanoff rührte sich nicht.
»Dein Vater ist ein guter Kerl,« antwortete Bazaroff; »allein er ist reif für die Rumpelkammer, er hat abgedankt, sein Lied ist zu Ende.«
Kirsanoff lauschte … Arkad schwieg.
Der »abgedankte« Mann blieb noch einige Augenblicke in seinem Versteck; dann schlich er vorsichtig weg und ins Haus zurück.
»Dieser Tage beobachtete ich, was er wohl treibt; er las Puschkin,« fuhr Bazaroff fort. »Mach ihm begreiflich, ich bitte dich, daß das abgeschmackt ist. Er ist kein Jüngling mehr und sollte all den Plunder ins Feuer werfen. Wer interessiert sich in unsern Tagen noch für Romantik und Poesie? Gib ihm irgendein gutes Buch zu lesen.«
»Was könnte man ihm denn geben?« fragte Arkad.
»Man könnte zum Beispiel mit ›Kraft und Stoff‹ von Büchner beginnen.«
»Daran dachte ich auch schon,« erwiderte Arkad; »das Buch ist leichtverständlich.«
»So wären wir denn gerichtet,« sagte Kirsanoff an diesem Abend zu seinem Bruder; »wir sind reif für die Rumpelkammer, unser Lied ist zu Ende. Bazaroff hat vielleicht nicht so unrecht. Was mir bei alledem nur leid tut, ist, daß ich eben jetzt hoffte, mich eng und freundschaftlich an Arkad anzuschließen, und jetzt seh ich, daß ich zurückgeblieben bin, er hat mich überholt und wir können uns nicht mehr verstehen.«
»Inwiefern hat er dich überholt, und was unterscheidet ihn denn so sehr von uns andern?« rief Paul ungeduldig; »das ist dieser Herr, dieser Nihilist, der ihm alles das in den Kopf gesetzt hat. Dieser Knochenflicker ist mir unerträglich; es ist ein wahrer Scharlatan; ich bin überzeugt, er versteht trotz seiner Frösche selbst von der Physik nicht viel.«
»Nein, lieber Bruder, da irrst du dich doch wohl,« antwortete Kirsanoff, »intelligent und unterrichtet ist er.«
»Und dieses Selbstgefühl! es ist wahrhaft empörend!« fuhr Paul fort.
»An Selbstgefühl fehlts ihm nicht, das gebe ich zu,« erwiderte der Bruder; »es ist, scheints, unvermeidlich. Aber eins ist mir zu stark. Ich tue mein möglichstes, um mit dem Jahrhundert Schritt zu halten; ich habe meinen Bauern eine menschliche Existenz verschafft und eine Pachtung auf meinen Gütern eingerichtet, womit ich mir im ganzen Gouvernement den Namen eines ›Roten‹ erworben habe; ich lese, ich studiere und bemühe mich, auf der Höhe dessen zu bleiben, was dem Lande not tut, und trotzdem soll nun mein Lied zu Ende sein. Aber unmöglich ists dennoch nicht, daß sie recht haben.«
»Wieso?«
»Höre! Heute sitze ich da und lese im Puschkin; eben fing ich ›Die Zigeuner‹ an, da nähert sich mir Arkad leise mit einer Art zärtlicher Teilnahme, nimmt mir wie einem Kinde sanft das Buch aus der Hand und steckt mir ein andres, ein deutsches Buch zu; dann lächelte er und ging, mit Puschkin in der Hand, fort.«
»Wahrhaftig? und was für ein Buch hat er dir gegeben?«
»Da ist es.«
Kirsanoff zog aus der Hintertasche seines Rockes die neunte Ausgabe von Büchners vielbesprochenem Buche. Paul blätterte darin.
»Arkad beschäftigt sich also mit deiner Erziehung,« sagte er; »hast du's versucht, das Ding da zu lesen?«
»Ja.«
»Nun, und …?«
»Entweder bin ich ein Dummkopf, oder der Verfasser ist nicht recht bei Trost. Aber gewiß bin ich ein Dummkopf.«
»Hast du denn dein Deutsch nicht vergessen?« fragte Paul.
»Nein.«
Paul drehte das Buch in den Händen herum und sah seinen Bruder verstohlen an. Beide schwiegen.
»Apropos,« sagte Kirsanoff, der das Gespräch auf etwas anderes lenken wollte, »ich habe einen Brief von Koliazin erhalten.«
»Von Matthias Ilitsch?«
»Ja. Er ist in X… angekommen, um das Gouvernement zu inspizieren. Das ist jetzt ein Mann von Bedeutung; er schreibt mir, daß er als unser Verwandter sehr wünsche, uns bei sich zu sehen, und ladet mich ein, mit dir und Arkad in die Stadt zu kommen.«
»Wirst du hingehen?« fragte Paul.
»Nein, und du?«
»Ich auch nicht. Ich halte es für keineswegs notwendig, um seiner schönen Augen willen einen Weg von 50 Werst zu machen. Matthias will sich uns in seinem ganzen Glanze zeigen. Hol ihn der Teufel! Er könnte mit dem Beamtenweihrauch zufrieden sein. Da wäre er also Geheimrat; die große Herrlichkeit! Wenn ich im Dienst geblieben wäre, wenn ich das Halsband des Elends weitergetragen hätte, so wäre ich jetzt Generalleutnant; übrigens sind wir ja in der Rumpelkammer.«
»Ja, lieber Bruder. Es ist, wie es scheint, Zeit, daß wir unsere Särge bestellen und die Arme auf der Brust kreuzen,« sagte Kirsanoff mit einem Seufzer.
»Was mich anbelangt,« erwiderte Paul, »so werde ich mich nicht so leicht ergeben; ich werde diesem schönen Doktor noch eine Schlacht liefern. Du kannst darauf zählen.«
Die Schlacht fand noch an demselben Abend beim Tee statt. Paul war schon ganz aufgeregt und schlagfertig in den Salon gekommen. Er wartete nur auf einen Anlaß, um sich auf seinen Feind zu werfen; allein er mußte lange warten. Bazaroff sprach gewöhnlich nicht viel in Gegenwart der »beiden Alten«, wie er das Brüderpaar nannte; auch war er diesen Abend schlecht aufgelegt und schlürfte eine Tasse nach der andern in vollkommenem Stillschweigen. Paul verging vor Ungeduld; endlich fand sich doch ein erwünschter Anlaß. Das Gespräch war auf einen Gutsbesitzer aus der Umgegend gefallen.
»Das ist ein Dummkopf, ein schlechter Aristokrat,« sagte Bazaroff ruhig, der ihn von Petersburg her kannte.
»Erlauben Sie mir die Frage,« wandte sich Paul mit zitternden Lippen an ihn, »ob nach Ihrer Ansicht die Worte Dummkopf und Aristokrat gleichbedeutend sind?«
»Ich habe ›schlechter Aristokrat‹ gesagt,« antwortete Bazaroff, nachlässig seinen Tee schlürfend.
»Das ist wahr, allein ich vermute, daß bei Ihnen die Aristokraten und die schlechten Aristokraten gleichbedeutend sind. Ich glaube Ihnen bemerken zu müssen, daß ich nicht dieser Ansicht bin. Ich glaube sagen zu dürfen, daß ich allgemein als ein liberaler Mann, der den Fortschritt liebt, anerkannt bin; aber eben darum achte ich die Aristokraten, die echten Aristokraten. Denken Sie, mein lieber Herr (Bazaroff erhob die Augen gegen Paul), denken Sie, mein lieber Herr,« wiederholte er mit verstärkter Stimme, »nur an die englischen Aristokraten. Sie lassen kein Jota von ihren Rechten ab und achten nichtsdestoweniger die der anderen; sie fordern, was man ihnen schuldig ist, und lassen es nie an dem fehlen, was sie selbst anderen schulden. Die Aristokratie wars, die England die Freiheit gab, und sie ist deren festeste Stütze.«
»Das ist ein altes, schon oft gehörtes Lied,« antwortete Bazaroff; »allein was wollen Sie damit beweisen?«
»Ich will Ihnen damit beweisen, mein lieber Herr, daß ohne das Bewußtsein der eigenen Würde, ohne Selbstachtung – Gefühle, die im Wesen der Aristokratie liegen – jede solide Grundlage für das … bien public …, für das Staatsgebäude fehlen würde. Das Individuum, die Persönlichkeit, mein teurer Herr, das ist die Hauptsache. Die menschliche Persönlichkeit muß feststehn wie ein Fels, denn alles beruht auf dieser Basis. Ich weiß sehr wohl, daß Sie meine Manieren, meine Kleidung, alles bis auf meine Reinlichkeitsgewohnheiten hinaus lächerlich finden; das alles aber fließt aus der Selbstachtung, aus dem Pflichtgefühl, ja ja, mein Herr, aus dem Pflichtgefühl. Ich wohne hier hinten in der Provinz, aber ich vernachlässige mich darum nicht, ich achte den Menschen in meiner Person.«
»Erlauben Sie, Paul Petrowitsch,« antwortete ihm Bazaroff; »Sie sagen, daß Sie sich selbst achten, und doch sitzen Sie mit übereinandergeschlagenen Armen da. Welchen Nutzen soll das dem bien public bringen? Auch wenn Sie sich nicht selbst achteten, würden Sie's nicht anders machen.«
Paul Petrowitsch erblaßte.
»Das ist eine ganz andere Frage,« erwiderte er; »ich fühle mich keineswegs aufgelegt, Ihnen jetzt auseinanderzusetzen, warum ich mit übereinandergeschlagenen Armen dasitze, wie Sie zu sagen belieben. Ich wollte mich darauf beschränken, Ihnen ins Gedächtnis zu rufen, daß die Aristokratie auf einem Prinzip beruht, und daß nur unmoralische oder Menschen ohne allen Wert in unseren Tagen ohne Prinzipien leben können. Ich sagte dies Arkad schon am Tage nach seiner Ankunft, und Ihnen kann ich es heut nur wiederholen. Hab ich nicht recht, Nikolaus Petrowitsch?«
Kirsanoff machte mit dem Kopfe ein Zeichen der Zustimmung.
»Aristokratie, Liberalismus, Prinzipien, Fortschritt,« wiederholte Bazaroff. »Wie viele unserer Sprache fremde Wörter und ganz unnötig! Ein echter Russe nähm sie nicht umsonst.«
»Was braucht er denn, Ihrer Ansicht nach? Hört man Sie, so stehen wir außerhalb der Humanität, außerhalb ihrer Gesetze. Das ist etwas stark. Die Logik der Geschichte fordert …«
»Was brauchen wir diese Logik? Wir können sie ganz gut entbehren.«
»Wie?«
»Ei nun! ich denke, Sie brauchen auch keine Logik, um einen Bissen Brot zum Munde zu führen, wenn Sie Hunger haben. Was sollen alle diese Abstraktionen?«
Paul erhob die Hände.
»Wir verstehen das alles nicht mehr,« sagte er. »Sie beschimpfen das russische Volk. Ich begreife nicht, wie es möglich ist, keine Prinzipien, keine Regeln anzuerkennen. Wodurch lassen denn Sie sich im Leben leiten?«
»Ich habe Ihnen schon gesagt, lieber Onkel,« fiel Arkad ein, »daß wir keine Autorität anerkennen.«
»Für unser Handeln bestimmt nur die Rücksicht auf das Nützliche, was wir für nützlich erkennen,« fügte Bazaroff hinzu; »heutzutage scheint es uns nützlich, zu verneinen, und wir verneinen.«
»Alles?«
»Durchaus alles.«
»Wie? Nicht nur die Kunst, die Poesie, sondern auch – ich nehme Anstand, es zu sagen …«
»Alles,« wiederholte Bazaroff mit unaussprechlicher Ruhe.
Paul sah ihm fest ins Auge; diese Antwort hatte er nicht erwartet. Arkad wurde rot vor Freude.
»Erlaubt, erlaubt,« sagte Kirsanoff, »ihr verneint alles, oder, um mich genauer auszudrücken, ihr reißt alles ein; aber man muß auch wieder aufbauen.«
»Das geht uns nichts an … vor allen Dingen muß der Platz abgeräumt werden.«
»Die gegenwärtige Lage des Volks erfordert dies,« fügte Arkad ernsthaft hinzu, »wir müssen diese Pflicht erfüllen. Wir haben nicht das Recht, uns den Befriedigungen des persönlichen Egoismus hinzugeben.«
Diese letzte Phrase mißfiel Bazaroff; sie schmeckte nach Philosophie, d.h. nach Romantik, denn er bezeichnete mit dem Wort auch die Philosophie; allein er hielt es nicht für passend, seinem jungen Zögling zu widersprechen.
»Nein, nein,« rief Paul in plötzlicher Erregung, »ich mag nicht glauben, daß ihr Herren die rechte Meinung vom russischen Volk habt, daß ihre seine Forderungen, seine geheimen Wünsche versteht. Nein! das russische Volk ist anders, als ihr es darstellt. Es hat eine heilige Scheu vor der Tradition, es ist patriarchalisch gesinnt, es kann nicht leben ohne Glauben …«
»Ich versuche nicht, Ihnen zu widersprechen,« erwiderte Bazaroff, »ich will sogar anerkennen, daß Sie diesmal recht haben.«
»Aber wenn ich recht habe …«
»So ist damit durchaus nichts bewiesen.«
»Durchaus nichts,« wiederholte Arkad mit der Sicherheit eines erfahrenen Schachspielers, der einen gefährlichen Zug seines Gegners voraussieht und keineswegs durch denselben außer Fassung zu geraten scheint.
»Warum soll das nichts beweisen?« fragte Paul mit Erstaunen. »Also trennt ihr euch von eurem Volk?«
»Und wenn dem so wäre? Das Volk glaubt, wenn es donnert, der Prophet Elias fahre im Himmel spazieren. Muß ich darum diese Meinung teilen? Sie glauben, mich aus der Fassung zu bringen, wenn Sie mir sagen, das Volk sei russisch? Bin ichs denn nicht auch?«
»Nein, nach allem, was Sie soeben sagten, sind Sie kein Russe. Ich kann Sie als solchen nicht mehr anerkennen.«
»Mein Großvater führte den Pflug,« antwortete Bazaroff mit hochfahrendem Stolz, »fragen Sie den nächsten besten Ihrer Bauern, wen er lieber als Landsmann anerkennt, Sie oder mich? Sie verstehen ja nicht einmal mit ihm zu reden.«
»Und Sie, der Sie mit ihm zu reden wissen, Sie verachten ihn.«
»Warum nicht, wenn ers verdient. Sie tadeln die Richtung meiner Gedanken, aber wer sagt Ihnen, daß sie eine zufällige, daß sie nicht vielmehr durch den Gesamtgeist dieses Volkes bestimmt ist, welches Sie so gut verteidigen?«
»Gehn Sie doch! Die Nihilisten sind wohl gar notwendig?«
»Seien sie es oder nicht; uns kommt es nicht zu, darüber zu entscheiden. Setzen Sie nicht auch voraus, daß Sie zu irgend etwas gut sind?«
»Meine Herren, meine Herren, keine Persönlichkeiten!« rief Kirsanoff und stand auf.
Paul lächelte, legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter und drückte ihn leicht auf den Stuhl zurück.
»Sei ruhig,« sagte er zu ihm, »ich werde mich nicht vergessen, und zwar gerade auf Grund jenes Gefühls von Würde, das dieser Herr so laut verhöhnt. Herr Doktor, erlauben Sie,« fuhr er, aufs neue gegen Bazaroff gewendet, fort, »Sie glauben vielleicht, daß Ihr Standpunkt neu ist. Der Materialismus, dem Sie huldigen, stand schon mehr als einmal in Ehren und hat sich stets als ungenügend erwiesen …«
»Schon wieder ein fremdes Wort,« erwiderte Bazaroff. Er fing an, ärgerlich zu werden, und sein Gesicht hatte eine unangenehme Kupferfarbe angenommen. »Vor allen Dingen sage ich Ihnen, wir predigen nicht; das liegt nicht in unserer Art.«
»Was tut ihr denn?«
»Das will ich Ihnen sagen. Wir haben damit angefangen, die Aufmerksamkeit auf diese Leuteschinder von Beamten, auf den Mangel an Straßen, auf die geringe Entwicklung von Handel und Wandel, auf die Art und Weise zu lenken, wie bei uns Justiz geübt wird.«
»Ja ja, ihr seid Denunzianten, Divulgatoren; das ist, wenn ich nicht irre, der Name, den man euch gibt. Ich bin mit eurer Kritik großenteils einverstanden, aber …«
»Ferner haben wir bald eingesehen, daß es nicht hinreicht, über unsere fressenden Wunden zu schwatzen, was schließlich doch nur auf platten Doktrinarismus hinausliefe, wir haben uns überzeugt, daß unsere vorgeschrittenen Männer, unsere ›Divulgatoren‹, durchaus nichts leisteten, daß man sich damals mit Dummheiten beschäftigte, wie z.B. mit der Kunst um der Kunst willen, mit der ihrer selbst unbewußten schöpferischen Kraft, dem Parlamentarismus, der Notwendigkeit der Advokaten und mit tausend andern solchen Alfanzereien, während wir an unser tägliches Brot denken sollten, während uns der krasseste Aberglaube erstickt, während alle unsere Aktiengesellschaften aus Mangel an ehrlichen Leuten Bankerott machen, während sogar die Aufhebung der Leibeigenschaft, womit sich die Regierung so viel zu schaffen macht, am Ende nicht einmal Gutes stiftet, weil unser Bauer imstande ist, sich selbst zu bestehlen, um in die Kneipen zu laufen und vergiftete Getränke zu saufen.«
»Gut,« erwiderte Paul, »ganz gut. Ihr habt das alles herausgefunden und seid dennoch nicht entschlossen, etwas Ernsthaftes zu unternehmen.«
»Doch, wir sind dazu entschlossen,« erwiderte Bazaroff rauh, brach aber plötzlich ab und machte sich Vorwürfe, vor diesem Edelmann so weit mit der Sprache herausgegangen zu sein.
»Und ihr beschränkt euch darauf, zu schimpfen?«
»Wir schmähen, wo es nötig ist.«
»Und das heißt man also Nihilismus?«
»Jawohl, das heißt man Nihilismus!« wiederholte Bazaroff, diesmal jedoch in besonders herausforderndem Ton.
Paul blinzte ein wenig mit den Augen.
»Recht so!« sagte er mit sichtlich erzwungener Ruhe. »Der Nihilismus soll also alles heilen, und ihr seid unsere Erretter, unsere Helden. Vortrefflich! Aber warum schmäht ihr denn so auf die andern, auf die, welche ihr Schwätzer nennt? Schwatzt ihr denn nicht wie sie?«
»Pah! Wenn wir uns einen Vorwurf zu machen haben, so ist es gewiß nicht der,« murmelte Bazaroff zwischen den Zähnen.
»Wie? Bildet ihr euch wirklich ein, zu handeln oder auch nur die Aktion vorzubereiten?«