Читать книгу Familienroman - Ivana Sajko - Страница 12

6.

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Es ist Mittwoch. 21:00 Uhr.

Er klebt förmlich mit seinem Ohr am Radioapparat.

Die Nachrichten sind schlecht, und es wird nicht besser werden.

Man hat den Genossen Rade Končar verhaftet. Das italienische faschistische Militärgericht hat ihn zum Tode verurteilt. Es wird betont, dass seine Haltung heldenhaft war und dass er es abgelehnt hat, eine Begnadigung zu erbitten. Er wurde am 22. Mai 1942 in der Nähe von Šibenik erschossen. Seine Mitkämpfer werden ihn im Jahr 1943 posthum zum Nationalhelden erklären, die Fabrik, in der er einst gearbeitet hat, wird 1946 nach ihm benannt, und 1952 wird eine Statue nach seinem Abbild auf dem Werksgelände aufgestellt, 1973 wird sie auf einen hohen Steinsockel vor dem neuen Werksverwaltungsgebäude versetzt, wo sie bis 1993 stehen wird, dann wird die Statue vom Sockel genommen und im Hinterhof der Fabrik gelagert, da es zu einem kriegerischen Konflikt zwischen Kroaten und Serben im Kroatienkrieg gekommen ist und Rade Končar serbischer Herkunft war, im Jahr 1997 wird schließlich aus dem Steinsockel ein Denkmal für jene Arbeiter geschaffen, die im Heimatkrieg gefallen sind, und im Jahr 2000 wird aus dem Namen der Fabrik der Vorname »Rade« entfernt, da er allzu serbisch klingt.

Im Äther breitet sich Stille aus.

Ist es eine Schweigeminute? Ist es eine Störung im Programm? Hat es eine Razzia der Ustascha gegeben? Die Störung hält lange genug an, um an das Schlimmste denken zu müssen.

Rajna? Rajna!

Ah, da ist sie wieder. Die Sendung wird fortgesetzt. Rajna schlussfolgert, dass trotz der traurigen Nachricht und all der anderen kommenden Bedrängnisse die Arbeiterklasse und die fortschrittliche Intelligenz den revolutionären Kampf für eine bessere Welt nicht aufgeben werden. Deshalb verurteilt die neue Verlautbarung des ZKs der KPJ aufs Schärfste den Ustascha-Terror, der mithilfe der italienischen Faschisten und des nazistischen Deutschlands stattfindet, und ruft Kroaten und Serben zur Brüderlichkeit und Einheit auf im gemeinsamen bewaffneten Aufstand gegen die Besatzer und ihre einheimischen Helfer.

BIST DU EINER VON UNS?

Das Zentralkomitee hebt ferner hervor, dass man an der Schaffung von Partisaneneinheiten arbeiten müsse, die sich Guerillataktiken bedienen, Sabotageakte durchführen und aus dem Hinterhalt angreifen würden, wobei sie direkte Zusammenstöße vermeiden sollten. Die Volksbefreiungsarmee beginnt mit siebentausend Partisanen den bewaffneten Aufstand, doch der Oberste Befehlshaber Josip Broz Tito verkündet, dass weitere Kämpfer benötigt werden.

Und? Schließt auch du dich an?, fragt Rajna.

Aber er antwortet nicht, er braucht Zeit zum Nachdenken.

Und dann denkt er, denkt und denkt, aber es wäre ihm lieber, wenn er sich all das nur ausdenken würde.

Er kann die Patrouillen hören, wie sie hinter den dünnen Wänden vorbeiziehen, und nach dem Takt der Schritte und nach dem Klang der Motoren unterscheiden, ob es sich um Deutsche oder um die Ustascha-Polizei handelt. Er kann auch hören, wie vor dem benachbarten Gebäude ein Lastwagen stehen bleibt und die Bewohner aus dem zweiten Stockwerk abgeführt werden. Er hört auch die Leere, die später die Gegenstände in ihrer Wohnung ertönen lassen. Sie kommt ihm immer lauter vor. Er hört sie immer intensiver, je mehr Tage vergehen, an denen kein einziger Gegenstand bewegt wird, unbewegt weinen, winseln, brüllen sie und werden von Spinnweben überzogen, ertragen geduldig die Kakerlaken und den Staub, um bei Anbruch des Abends hilflos in Dunkelheit zu versinken. Er stellt sich die dunklen Abstände zwischen diesen verlassenen Gegenständen vor und denkt darüber nach, wie sie immer dichter und undurchsichtiger und schließlich zu Erde gestampft werden. Wenn der Hügel größer wird, werden ihn auch andere bemerken.

Jetzt noch nicht.

Wahrscheinlich war das der Grund, warum Kaja auf meine Frage, wie Zagreb in der Zeit der Okkupation ausgesehen habe, antwortete, dass das Leben ganz normal lief. Auf den Straßen habe es zwar viele Soldaten gegeben, es herrschten Hunger und Armut, aber alles andere war wie früher.

– Und Verhaftungen? Folter? Abtransporte?

Sie habe nichts davon bemerkt, antwortete sie. Sie habe sich um ihre eigenen Belange gekümmert.

Und er tut genau das Gegenteil, er sieht auch das, was man gar nicht sieht, und wacht über die Stille in der Nachbarschaft. Diese wird nur von sporadischen Schüssen und vom Quietschen der Bremsen unterbrochen. Er hört sie, und sie kommt ihm ohrenbetäubend schrecklich schwer unerträglich vor, denn sie hält trotz aller anderen Geräuschen an, seine Wangen sind schon von dunklen Augenrändern entstellt, doch er kann nicht ins Bett gehen und einschlafen. Jeden Moment könnte jemand vor seinem Gebäude, in seinem Treppenhaus, vor seiner Wohnungstür auftauchen … und hereinkommen. Und er weiß, dass es in einem solchen Fall kein »Ich will nicht« gibt und kein »Ich kann nicht«. Deshalb ist es besser, gar nicht ins Bett zu gehen. Es ist besser, die Schuhe gar nicht erst auszuziehen. Es ist am besten, ein Stück Brot und ein Paar Reservesocken einzupacken und sich während der Polizeistunde hinauszustehlen, geräuschlos zum Ausgang der Stadt zu laufen und so zu tun, als wäre man die Dunkelheit selbst, sich vor den Patrouillen in einer dunklen Nische einer Wand zu verkriechen oder mit dem Umriss eines Strommastes zu verschmelzen und dann seinen Weg fortzusetzen, weiter fort, so weit und so schnell es geht, dorthin, wohin man ihn gerufen hat.

IN DEN WALD.

In einem Gespräch, das kurz vor seinem Tod geführt wurde, erinnert sich der Künstler Vlado Kristl an seinen Weg zu den Partisanen. Er beschreibt den Fortgang aus Zagreb als Übergang in eine andere Welt.

– Das war das größte Wunder für den jungen Menschen, der Morgen begann zu dämmern, und wir gingen weiter durch den Wald, aber getrennt voneinander, damit man uns nicht erwischte … Und plötzlich, da stehen sie … Noch heute kommen mir die Tränen. Um die fünfzig, sechzig Partisanen, bewaffnet, sie stehen im Wald, alles ist still … denn sie haben gehört, dass sich jemand nähert, sie warten …5

Dieses Bild der Illusion, wie Kristl die oben beschriebene Szene nennt, behielt er für immer im Gedächtnis.

– Das war eine Welt, die sich plötzlich vor einem öffnete ‒ es gibt also Möglichkeiten! Du bist nicht zum Tode verurteilt und wartest nur auf deine Stunde, nein! Da wuchs eine neue Welt heran, eine, die noch keine Farben hatte, die noch nichts hatte, aber da war …6

Aus dem Morgen tauchen graue Figuren auf. Auch er ist eine von ihnen.

Hier wächst eine neue Welt. So hat man es ihm versprochen.

Er sieht sie nicht. Aber sie ist da.

Man muss nur vorwärtsschreiten.

Auch sie geht. In dieselbe Richtung. Sie ist eigentlich schon gegangen. Sie ist schon dort. Genauso, wie ihre Mutter es vorhergesehen hat: In einem Moment hat sie sich einfach bewegt, sie nahm einen tiefen Atemzug und flog los.

DIE JUGEND.

Zusammen mit der Welle von Künstlern und Intellektuellen, die Zagreb Ende 1942 verließen und sich dem Aufstand der Partisanen anschlossen, ging auch Ivan Goran Kovačić. Der siebenundsechzigjährige Schriftsteller Vladimir Nazor begleitete ihn. In einem der ersten Einträge in sein Kriegstagebuch notierte Nazor, dass sie auf dem Weg aus Zagreb an den »bis auf die Grundmauern niedergebrannten serbischen Dörfern und an Gruben voller abgeschlachteter Menschen« vorbeiliefen, doch dass Kovačić ihn gebeten habe, nichts zu beschreiben, da er »über all das später ausführlicher sprechen«7 wolle. Nazor verzichtete deshalb auf detaillierte Tagebucheinträge und arbeitete an den Unterstützerbriefen, die später an der Front kursierten, auf den Versammlungen der Partisanen gelesen, abgeschrieben und weiterverbreitet wurden. In einem der ersten betonte er: »Als ich gemeinsam mit Ivan Goran Kovačić aus der Hauptstadt des sogenannten Unabhängigen Staates Kroatien (der eigentlich weder unabhängig noch ein Staat und ehrlich gesagt auch kein Kroatien ist) flüchtete; als ich durch Ebenen und Wälder und entlang der drei Flüsse ging (…), wusste ich nicht, wohin ich eigentlich gehe.«8 In einem weiteren Brief erklärte er, dass er der Kühnheit und der Unerschrockenheit junger Menschen gefolgt sei, ihrem Wunsch »jeden Zaun, jeden Graben, jeden Bach zu überspringen, ohne Zeit zu verlieren, um nach einer Furt, einem Boot oder einer Brücke zu suchen«.9 Und tatsächlich, sie springen unermüdlich über Zäune, über Gräben und über Bäche. Auf ihren Gesichtern zeichnen sich keine Mühen ab. Man erkennt nur die roten Sterne.

Über alles andere schreibt Ivan Goran Kovačić ausführlicher.

5Ana Marija Habjan, Umjetnik otpora: razgovori s Vladom Kristlom (Der Künstler des Widerstands: Gespräche mit Vlado Kristl), Petikat, Zagreb 2007, S. 20.

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