Читать книгу Familienroman - Ivana Sajko - Страница 9
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ОглавлениеWährend eines der letzten dokumentierten Treffen in Zagreb streifen der Dichter Ivan Goran Kovačić und der Schauspieler Vjeko Afrić das Thema Fortschritt. Kovačić erklärt dem Freund, dass sie sich seiner Meinung nach im letzten Stadium einer primitiven Gesellschaft befänden, die bald von einer vollkommen anders organisierten Welt abgelöst werden würde, und er sieht voraus – dabei die Verse der Internationale paraphrasierend –, dass der aufziehende Krieg ihr letztes Gefecht sein werde. Und falls sie ihn überlebten, so fügt er hinzu, würde es so sein, als hätten sie ein ganzes Leben durchlebt. Afrić erwidert, dass ihre Epoche die Epoche der Politik sei und dass man Fortschritt ausschließlich mit politischen Mitteln erreichen könne.1
– Ich denke nämlich, dass auch militärische Mittel politische Mittel sind, und zwar die wirksamsten, und so müssen wir sie anwenden, damit unsere Gesellschaft irgendwann einmal genesen kann. Fanatismus kann man nur durch einen anderen Fanatismus vernichten.
Beim Abschied von Afrić stellt Kovačić fest, dass die einzige Option darin bestehe, sich auf die Seite der Revolution zu stellen.
– Nur die Revolution fasst alles zu einem zusammen. Du denkst durch die Gedanken der Revolution, und du lebst durch ihr Leben. Du hast keine eigenen Gedanken und keine eigenen Gefühle mehr, du hast nur ein Ziel: den Sieg.
Doch der Mutter wird angesichts solcher Gespräche sofort schwarz vor Augen.
Es gibt kein Vorwärts. Es gibt kein Wohin.
Wie oft muss sie es ihr sagen?
Sie können nur rückwärtsgehen, immer nur rückwärts, während jenes, das sich zwischen einem Ende befindet, das ihnen wie ein Anfang vorkommen mag, und dem anderen Anfang, der ihnen wie das Ende erscheinen kann, nur eine feine kreisförmige Linie ist, die sie an der Nase herumführt und dorthin zurückbringt, von wo sie aufgebrochen sind. Hierher. Und hier ist es immer schon schlecht gewesen, und es hat sich immer weiter zum Schlechten entwickelt. Und seit jeher war es schwer, und es wurde immer schwerer, zumindest für solche Menschen, wie sie es sind, die ununterbrochen arbeiten und arbeiten und arbeiten, ja, gegen sich selbst, sie arbeiten und arbeiten und arbeiten nur, das ganze Leben lang, aber es nutzt ihnen nichts, sich zu fragen, warum und für wen, da sie sowieso keine Zeit haben, um sich mit Theorie zu beschäftigen. So sagt die Mutter und buddelt dabei in der Erde herum und holt winzige Schneckengehäuse, Muscheln und versteinerte zarte Fischgräten aus Schlammklumpen hervor, und sie erzählt, dass sich hier einst das Pannonische Meer befunden habe, ein unermesslich großes, kaltes Wasser voller Fische, die im völligen Dunkel lebten, Schlamm saugten, ihre eigenen Schwänze knabberten und die hungrigen Mäuler aufrissen, nach dem raren Plankton schnappend, das oberhalb der festen Knoten der Seeanemonen vorbeizog, außerhalb ihrer Reichweite, während sie in der Tiefe blieben und ihre unter Mühen aufgepäppelten Bäuche vor den Raubtieren und Ungeheuern, die das Meer beherrschten, verbargen. Und als endlich eine große Ebbe sie auf dem schlammigen Gestade am Fuße des Medvednica-Berges stranden ließ, blieben die Umstände die gleichen. So erzählt die Mutter und zeigt mit dem Finger auf ihr windschiefes Haus, ihren schmutzigen Hof, ihren kleinen Schweinestall unter einer wurmstichigen Kirsche und öffnet die Handfläche, auf der die zerbrochenen Gehäuse aus fernen Urzeiten liegen. Schau, sie sind noch immer hier, das heißt, wir sind immer noch hier. Auf dem Meeresboden.
Vielleicht ist das alles nur erfunden, aber so wird es auch im Fach Geschichte gelehrt.
Das Pannonische Meer hat sich am Ende des Tertiärs zurückgezogen und hinterließ verzweigte Flussarme, weitläufige unterirdische Seen, Sumpfgebiete und flache Hügel aus Mergel und Sandstein. Auf diesen Hügeln entwickelten sich um das 11. Jahrhundert die ersten Siedlungen. Jede auf dem eigenen Hügel, am eigenen Bachufer. Sie führten Kriege um Weizen, um Mühlen und um königliche Privilegien, und wenn sie sich nicht untereinander bekriegten, dann kämpften sie gegen die Tataren und die Türken oder gegen die Wildwasser, die die Abhänge des Medvednica herabstürzten. Kriege, Hunger und elementare Katastrophen wechselten sich ab, und in den Perioden zwischen den Unglücken errichtete man Burgen und Wehrmauern, Glockentürme und Verwaltungsgebäude, und man musste den enormen zivilisatorischen Rückstand aufholen. Es dauerte Jahrhunderte. Mit der Zeit bekam eine Siedlung eine Kathedrale, eine andere bekam ein Theater, ein Waffenstillstand wurde geschlossen, wirtschaftliche, politische und kulturelle Zusammenarbeit wurde vereinbart, man begann, sich gegenseitig bei Gottesdiensten und Theatervorstellungen zu besuchen, sodass man in historischen Dokumenten immer häufiger betonte, dass die Vereinigung der Stadtteile durch ein Statut geregelt wurde. So entwickelte sich Zagreb, schrittweise, mühevoll, bis es 1880 von einem Erdbeben zerstört wurde.
Viel Mühe, und am Ende hatte es sich nicht gelohnt.
Ihr Haus dient als Bestätigung für alle Behauptungen der Mutter. Es wurde nach dem Erdbeben als zweistöckiges Gebäude im Dorf Pregrad Sava unweit von Zagreb erbaut, aber als im Zuge der allmählichen Anbindung der Vororte an die Stadt die erste Straße aufgeschüttet wurde, versanken die an dieser Straße liegenden Häuser beinahe einen Meter im Boden. Das zweistöckige Haus hatte somit kein Erdgeschoss mehr. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Gründung des Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen erfolgte eine zweite Aufschüttung der Straße. Das Niveau wurde wieder um einen Meter angehoben, sodass der Eingang in den Hof zu einer steilen Schräge wurde, auf der in den künftigen Wintern während der Zeit des Unabhängigen Staates Kroatien die Kinder rodeln konnten. Die Fenster der ersten Etage befanden sich plötzlich fast auf der Höhe der Straße. Nach der Ausrufung der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien wurde das Gefälle noch steiler, da die Jugend im Elan des Wiederaufbaus erneut das Niveau der Straße erhöhte und eine Asphaltschicht aufbrachte. Und deshalb wird der Mutter bei Erwähnung jedweden Fortschritts sofort flau im Magen und schwarz vor den Augen, während sich ihr Blick zu den schmalen Schießscharten der Souterrainfensterschlitze verengt, durch die sie, wenn sie alt ist, die Waden der Passanten anstarren wird.
Es gibt kein Vorwärts. Sie solle sich ihre Worte gut einprägen.
Sie werde es schon selbst sehen. Irgendwann einmal.
Die Mutter sagt immer dasselbe, sie hält ihr erstickte Schnecken und Muscheln unter die Nase, sie greift in der Tür nach ihrem Ärmel und wiederholt, dass sie ihre Zeit, ihre Füße und ihre Schuhe schonen, dass sie ihren Weg abkürzen solle. Rückwärts. Sie hat ihr das schon hundertmal gesagt, und sie weiß, dass ihre Tochter sie gehört hat, sie hat gehört, und dennoch hört sie nicht. Diese Weisheiten wird sie erst viel später verinnerlichen. Die Mutter weiß, dass sie es tun wird, doch die Tochter behauptet das Gegenteil und bewegt sich hartnäckig in die entgegengesetzte Richtung: vorwärts!
AUF ZUM LETZTEN GEFECHT.
Die Mutter bekommt von dieser Zeile Magenschmerzen. Sie sagt, dass es am besten wäre, sie würde heiraten. Sie solle einen feschen Junggesellen finden, irgendjemanden, egal, wen, aber hinreichend intelligent, damit man ihn weder sieht noch hört, denn angesichts der Lage bewähre sich eine derartige Zurückhaltung. Sie möge sich umsehen, damit es nicht irgendwann zu spät sein werde, jetzt, solange sie noch wählen könne, bevor der Himmel auf die Stadt herabstürze und alle Uniformen anziehen, an die Front gehen, umkommen oder auf der falschen Seite landen würden. Je früher, desto besser, rät die Mutter, denn ein Zyklon, begleitet von stürmischen Winden und Donnerschlägen, nähere sich.
Zuerst wird Regen und dann werden Bomben fallen.
Sie würde dem Rat vielleicht sogar folgen, sich umschauen und die Gesichter der Männer auf den Terrassen der Kaffeehäuser betrachten, doch am Horizont blitzt es schon, und alle stehen von den Tischen auf, bezahlen, nehmen ihre Hüte und stellen die Kragen ihrer Ballonmäntel auf, und die Bürgersteige leeren sich so schnell, dass sich schon nach wenigen Augenblicken niemand mehr darauf aufhalten wird außer einigen Hunden mit gesträubtem Fell.
Sie hat also ihre letzte Chance verpasst.
1Das Gespräch wiedergegeben nach: Vjeko Afrić, U danima odluka i dilema (In Tagen der Entscheidungen und der Dilemmata), Vojnoizdavački zavod (Militärisches Verlagsinstitut), Belgrad 1975, S. 284–285.