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4. Dezember 2002

Emma stand auf der Schleusenbrücke und starrte ins Wasser. Sie war extra früh aufgestanden und zum Berufsinformationszentrum gefahren. Dort war es laut und unruhig gewesen, mehrere Schulklassen hatten anscheinend ausgerechnet heute die gleiche Idee gehabt wie sie und waren ebenfalls dort. Die Schüler lachten und sahen die bereitgestellten Unterlagen durch, Angestellte wuselten genervt zwischen den Jugendlichen herum, stellten liegengelassene Ordner wieder an den richtigen Platz und sortierten achtlos hingeworfene Infobroschüren zurück in die Aufsteller. Emma hatte zunächst versucht, sich alleine zurechtzufinden. Da sie aber keinen Schimmer hatte, in welche Richtung ihre Berufswahl gehen sollte, ob sie studieren oder eine Ausbildung machen wollte, hatte sie sich schließlich zaghaft einer Angestellten genähert. Diese hatte sich zwar geduldig Emmas Erklärungen angehört, dann aber darauf hingewiesen, dass man dafür ein Beratungsgespräch in Anspruch nehmen müsse. Termine dafür würde Emma bei der Info machen können, heute hätte das Zentrum aber nur noch bis 12:30 Uhr geöffnet und alle Termine seien schon vergeben.

Emma hatte sich noch ein wenig umgesehen, aber von dem Gewusel bekam sie Kopfschmerzen. Außerdem standen sogar hier Weihnachtsgestecke herum, und auf Weihnachten hatte Emma noch gar keine Lust.

Schließlich hatte sie das Berufsinformationszentrum verlassen und war die Kurt-Schumacher-Allee hinuntergelaufen, über die Altmannbrücke und die Steinstraße, die dann in die Domstraße mündete. Anschließend hatte sie sich rechts gehalten, bis sie am Rathaus angekommen war. Und nun stand sie auf der Schleusenbrücke im eisigen Wind und blickte in die Alster.

Sie hatte Heimweh. So gerne wäre sie wieder in ihren kleinen, gemütlichen Heimatort an der Ostsee zurückgekehrt und hätte sich in ihrem Elternhaus verkrochen. Aber das wäre nicht mehr das Gleiche wie früher. Ein paar kleine Kinder kamen vorbei und trällerten Weihnachtslieder mit ihren hohen Stimmen. Emma blickte ihnen nach. Weihnachten. Das zweite Mal ohne ihre Eltern. Sie hatte gelesen, dass das erste Jahr nach dem Verlust eines geliebten Menschen das schlimmste wäre. Bei jedem Fest, jedem besonderen Tag würde man denken »letztes Jahr war er oder sie noch da«. Nach einem Jahr würde es dann langsam besser werden. Aber wie war das, wenn man auf einen Schlag zwei geliebte Menschen verloren hatte? Brauchte man dann zwei Jahre, bis es langsam besser wurde?

Sie war sich momentan nicht sicher, ob die Zeit wirklich alle Wunden heilte.

Carla saß in der Vorlesung und versuchte, sich zu konzentrieren. Die letzten Tage waren ruhig gewesen. Emma hatte sich tatsächlich aufgerafft und die Wohnung geputzt. Heute war sie richtig früh aufgestanden um zum Berufsinformationszentrum zu fahren. Carla freute sich, aber sie sah auch, dass Emma manchmal mit verschleiertem, traurigen Blick dasaß, völlig versunken in ihre Gedanken. Immerhin lächelte sie ab und zu wieder.

Der Professor malte eine Grafik an die Tafel. Carla schreckte hoch und zeichnete schnell alles ab. Die Vorlesung wäre gleich vorbei, danach hätte sie zwar noch eine Übung, aber die würde sie ausfallen lassen. Sie wollte lieber nachsehen, wie Emma den Tag in der Stadt hinter sich gebracht hatte.

Als Carla die Wohnung betrat, war es still. Sie schaute in die Küche und in Emmas Zimmer, aber Emma war noch nicht zu Hause. Carla beschloss, schon mal einen Linseneintopf zuzubereiten, Emma liebte dieses Gericht. Sie suchte alle Zutaten zusammen und begann zu kochen. Dabei konnte man herrlich die Gedanken schweifen lassen.

Carla fragte sich, was sie dieses Jahr zu Weihnachten machen wollten. Ihre Tante einladen? Vielleicht noch die Großeltern? Oder wollte Emma wieder alleine bleiben? Sie hatte das Thema noch nicht angesprochen, aus Angst, Emma könne sich wieder total verschließen. Aber sie wollte dieses Jahr wieder feiern, sie hatte doch auch ein Recht darauf, wieder glücklich zu sein.

Emma kam zwei Stunden später nach Hause, durchgefroren, müde und erschöpft. Sie erzählte Carla von den vielen Schülern im Berufsinformationszentrum, davon, dass sie einen Beratungstermin machen wollte, aber am Infostand ständig eine lange Schlange gestanden hatte und dass sie danach erst einmal ewig an der Alster gewesen war.

Dass sie Heimweh hatte und Angst vor der Weihnachtszeit, das erwähnte sie nicht. Und auch Carla sprach dieses Thema nicht an.

So verbrachten die beiden Schwestern den Abend, jede versunken in ihre Gedanken, ohne die andere daran teilhaben zu lassen.

Ein Spatz im Advent

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