Читать книгу Oblomow - Iwan Alexandrowitsch Gontscharow - Страница 4
Inhalt
ОглавлениеErster Teil
Erstes Kapitel
In der Gorochowajastraße, in einem der großen Häuser, dessen Bevölkerung für eine ganze Kreisstadt ausgereicht hätte, lag des Morgens Ilja Iljitsch Oblomow in seiner Wohnung auf dem Sofa. Er war ein etwa zweiunddreißigjähriger Mann von mittlerem Wuchs und angenehmem Äußern, mit dunkelgrauen Augen, die über Wand und Zimmerdecke sorglos streiften und jenes unbestimmte Sinnen ausdrückten, welches darauf hinwies, daß ihn nichts beschäftigte und nichts beunruhigte. Die Sorglosigkeit ging vom Gesicht auf die Stellung des ganzen Körpers und selbst auf die Schlafrockfalten über. Manchmal trübte sich sein Blick durch einen Anflug von Müdigkeit oder Langeweile. Aber weder die Müdigkeit noch die Langeweile konnte von seinem Gesicht auch nur für einen Augenblick die Weichheit vertreiben, die der herrschende und grundlegende Ausdruck nicht nur seines Gesichtes, sondern seiner ganzen Seele war. Diese Seele leuchtete hell aus den Augen, dem Lächeln und einer jeden Kopf- und Handbewegung. Ein flüchtig beobachtender, teilnahmsloser Mensch würde Oblomow nur im Vorübergehen anblicken und sagen: »Das ist gewiß ein guter, einfacher Kerl!« Ein tieferer und teilnehmenderer Mensch würde sein Gesicht lange betrachten und dann lächelnd, in angenehmes Sinnen vertieft, weitergehen.
Ilja Iljitschs Gesichtsfarbe war weder rot noch dunkel, noch ausgesprochen blaß, sondern unbestimmt, und sie erschien vielleicht deswegen so, weil Oblomow, gar nicht im Verhältnis zu seinem Alter, aufgedunsen war: sei es aus Mangel an Bewegung oder an Luft oder vielleicht an beidem. Überhaupt erschien sein Körper, nach der matten, zu weißen Färbung des Halses, den kleinen weichen Händen und den schlaffen Schultern zu urteilen, für einen Mann zu sehr verzärtelt. Seine Bewegungen wurden, selbst wenn er erregt war, durch eine gewisse Sanftheit und eine der Grazie nicht entbehrende Trägheit gedämpft. Wenn ihm eine Sorgenwolke aus der Seele aufs Antlitz glitt, umzog sich sein Blick, auf der Stirn erschienen Falten, und es begann ein Spiel des Zweifels, der Trauer, des Schreckens; doch diese Unruhe erstarrte selten in der Form einer bestimmten Idee und verwandelte sich noch seltener in ein Vorhaben. Die ganze Erregung löste sich in einen Seufzer auf und erstarb in Teilnahmslosigkeit und Hindämmern.
Wie gut paßte Oblomows Hausanzug zu seinen ruhigen Gesichtszügen und seinem verzärtelten Körper! Er trug einen Schlafrock aus persischem Stoff, einen echten morgenländischen Schlafrock – ohne die geringste Anlehnung an Europa, ohne Quasten, ohne Samt, ohne Taille –, der so weit war, daß Oblomow sich zweimal hineinwickeln konnte. Nach der unveränderlichen asiatischen Mode erweiterten sich die Ärmel von den Fingern zur Schulter immer mehr und mehr. Obwohl dieser Schlafrock seine ursprüngliche Frische eingebüßt hatte und seinen früheren, natürlichen Glanz stellenweise durch einen erworbenen ersetzt hatte, waren ihm doch noch die Lebhaftigkeit der morgenländischen Farbe und die Dauerhaftigkeit des Gewebes geblieben.
Der Schlafrock hatte in Oblomows Augen eine Menge unschätzbarer Eigenschaften: Er war weich und schmiegsam; man fühlte ihn kaum auf sich; er paßte sich, gleich einem gehorsamen Sklaven, den geringsten Bewegungen des Körpers an.
Oblomow ging zu Hause immer ohne Krawatte und ohne Weste herum; denn er liebte die Bequemlichkeit und Freiheit. Er trug lange, weiche und breite Pantoffeln; wenn er seine Füße vom Bett auf den Fußboden herabgleiten ließ, schlüpfte er ohne hinzublicken mit unfehlbarer Sicherheit in beide Pantoffeln auf einmal.
Das Liegen war für Ilja Iljitsch weder eine Notwendigkeit, wie für einen Kranken oder einen Schläfrigen, noch eine Zufälligkeit, wie für einen Ermüdeten, noch ein Vergnügen, wie für einen Faulen: es war sein normaler Zustand. Wenn er zu Hause war – und er war fast immer zu Hause –, lag er stets in dem Raum, in welchem wir ihn angetroffen haben und der ihm als Schlaf-, Arbeits- und Empfangszimmer diente. Er besaß noch drei Zimmer; doch er blickte selten hinein, höchstens des Morgens – aber auch nicht jeden Tag –, wenn sein Diener das Arbeitszimmer fegte, was nicht täglich geschah. In jenen Zimmern steckten die Möbel in Überzügen, und die Storen waren herabgelassen. Das Zimmer, in welchem Ilja Iljitsch lag, erschien auf den ersten Blick sehr schön eingerichtet. Es standen darin zwei mit Seide überzogene Sofas, ein Sekretär aus Mahagoniholz und ein schöner Wandschirm mit gestickten, in der Natur nirgends vorkommenden Vögeln und Früchten. Auch gab es darin seidene Vorhänge, Teppiche, ein paar Bilder, Bronzen, Porzellan und eine Menge hübscher Kleinigkeiten. Doch hätte das erfahrene Auge eines Menschen von Geschmack auf den ersten flüchtigen Blick aus alledem nur den Wunsch herausgelesen, den unvermeidlichen Anstand, so gut es eben ging, zu wahren. Oblomow war bei der Einrichtung seines Arbeitszimmers sicherlich nur von dieser Absicht geleitet worden. Ein verfeinerter Geschmack hätte sich nicht mit solchen schweren, ungraziösen Mahagonisesseln und wackligen Etageren begnügt. Die Lehne des einen Sofas hatte sich gesenkt, und das aufgeklebte Holz stand stellenweise davon ab.
Die Bilder, Vasen und Kleinigkeiten trugen denselben Charakter.
Doch der Eigentümer selbst betrachtete die Einrichtung seines Arbeitszimmers so kalt und zerstreut, als fragte er mit den Augen: »Wer hat das alles hergeschleppt und hineingestellt?« Auf dieses kühle Verhalten Oblomows seinem Eigentum gegenüber und vielleicht auch auf das noch kühlere Verhalten seines Dieners Sachar demselben Gegenstand gegenüber war es zurückzuführen, daß der Zustand des Arbeitszimmers bei genauerer Untersuchung durch die darin herrschende Nachlässigkeit und Verwahrlosung verblüffte. Auf den Wänden, bei den Bildern hing staubiges Spinngewebe in Form von Gewinden; statt die Gegenstände wiederzugeben, mochten die Spiegel eher als Tafeln dienen, auf deren Staub man irgendwelche Notizen aufzeichnen konnte. Die Teppiche waren fleckig. Auf dem Sofa lag ein vergessenes Handtuch; es kam selten vor, daß auf dem Tisch nicht ein Teller mit einem Salzfasse und einem abgenagten Knochen von dem letzten Abendbrot zurückgeblieben war und keine Brotkrumen herumlagen. Wäre dieser Teller und die am Bett lehnende, soeben zu Ende gerauchte Pfeife oder deren im Bett liegender Eigentümer nicht gewesen, so konnte man glauben, es wohne hier niemand – so verstaubt, verblichen und über haupt so ohne jede lebendige Spur einer menschlichen Anwesenheit war alles. Auf den Etageren lagen zwar zwei, drei aufgeschlagene Bücher, hier trieb sich eine Zeitung herum, und dort auf dem Sekretär stand auch ein Tintenfaß mit Federn; aber die geöffneten Seiten der Bücher waren staubig und vergilbt; man sah, daß sie schon lange fortgeworfen waren; die Zeitung wies ein vorjähriges Datum auf, und wenn man die Feder ins Tintenfaß gesteckt hätte, so wären höchstens erschrockene, summende Fliegen herausgeschwirrt.
Ilja Iljitsch wachte gegen seine Gewohnheit sehr früh, um acht Uhr, auf. Er war durch irgend etwas sehr in Anspruch genommen. Auf seinem Gesicht drückten sich abwechselnd bald Angst, bald Traurigkeit, bald Ärger aus. Man sah, daß in seinem Innern sich ein Kampf abspielte und daß der Verstand ihm noch nicht zu Hilfe gekommen war.
Oblomow hatte nämlich am vorhergehenden Tage einen unangenehmen Brief von seinem Dorfschulzen erhalten. Man kann sich denken, von was für Unannehmlichkeiten ein Dorfschulze schreiben kann: von Mißernte, Zahlungsrückständen, Verringerungen der Einnahmen usw. Obwohl der Dorfschulze im vorigen und vorvorigen Jahre seinem Herrn genau ebensolche Briefe geschrieben hatte, wirkte dieser letzte Brief ebenso stark wie jede unangenehme Überraschung.
War es denn auch etwas Leichtes? Galt es doch, über die Wege zur Anwendung irgendwelcher Maßregeln nachzudenken. Übrigens muß man der Aufmerksamkeit, die Ilja Iljitsch seinen Geschäften entgegenbrachte, Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er hatte unmittelbar nach dem ersten unangenehmen Brief seines Dorfschulzen vor ein paar Jahren damit begonnen, im Geiste den Plan verschiedener Änderungen und Verbesserungen in der Verwaltung seines Gutes auszuarbeiten. In diesem Plane wurden verschiedene neue ökonomische, polizeiliche und noch andere Maßregeln in Aussicht gestellt. Doch der Plan war noch lange nicht ganz ausgearbeitet, und die unangenehmen Briefe des Dorfschulzen wiederholten sich alljährlich, trieben ihn zur Tätigkeit an und störten folglich seine Ruhe. Oblomow erkannte die Notwendigkeit, etwas Entscheidendes zu beginnen.
Er hatte sich gleich beim Erwachen vorgenommen, aufzustehen, sich zu waschen und, nachdem er Tee getrunken haben würde, gründlich nachzudenken, manches in Erwägung zu ziehen, zu notieren, sich überhaupt der Sache ganz zu widmen. Er lag eine halbe Stunde lang da und quälte sich mit diesem Vorsatze ab; doch dann überlegte er sich, daß er dies alles auch nach dem Frühstück tun konnte und daß er den Tee, wie immer, liegend trinken könnte, um so mehr, als diese Stellung zum Nachdenken nicht minder geeignet war. So tat er denn auch. Nach dem Tee aber richtete er sich auf seinem Lager auf und wäre beinahe aufgestanden; ja, er hatte sogar begonnen, auf die Pantoffeln blickend, den einen Fuß vom Bette zu ihnen hinabgleiten zu lassen; doch gleich darauf zog er ihn wieder zurück.
Es schlug halb zehn, Ilja Iljitsch raffte sich auf.
»Was soll denn das, wahrhaftig!« sagte er laut und ärgerlich. »Man muß doch ein Gewissen haben; es ist Zeit, mit der Arbeit zu beginnen! Wenn man sich gehen läßt, so ...«
»Sachar!« rief er.
In dem Zimmer, das nur durch einen kleinen Korridor von Ilja Iljitschs Arbeitszimmer getrennt war, hörte man zuerst etwas wie das Brummen eines Kettenhundes und dann das Geräusch von irgendwo herabspringender Füße. Das war Sachar, der von der Ofenbank herabsprang, auf welcher er gewöhnlich seine Zeit, vor sich hindösend, verbrachte.
Ins Zimmer trat ein älterer Mann in einem grauen Rock, mit einem Loch unter dem Arm und einem daraus hervorschauenden Hemdzipfel, in einer grauen Weste mit Messingknöpfen, mit einem Schädel, nackt wie ein Knie, und einem breiten, dichten, dunkelblond und grau melierten Backenbart, dessen jede Hälfte für drei Bärte ausgereicht haben würde.
Sachar machte keine Versuche, das ihm von Gott verliehene Äußere, auch die von ihm im Dorf getragene Kleidung zu ändern. Seine Anzüge wurden ihm nach dem Modell, das er sich aus dem Dorfe mitgebracht hatte, genäht. Der graue Rock und die Weste gefielen ihm auch darum, weil er in dieser halbmilitärischen Kleidung eine schwache Erinnerung an die Livree sah, die er einst trug, als er die verstorbenen Herrschaften in die Kirche oder bei Visiten begleitete; die Livree aber war in seiner Erinnerung das einzige Symbol der Würde des Hauses Oblomow. Nichts sonst erinnerte den Alten mehr an das wohlige, ruhige, herrschaftliche Leben im entlegenen Dorfe. Die alten Herrschaften waren gestorben, die Familienporträts waren zu Hause geblieben und lagen wohl irgendwo auf dem Dachboden herum; die Überlieferung von der alten Lebensweise und der Vornehmheit der Familie verschwand mit der Zeit oder lebte nur in der Erinnerung weniger im Dorfe zurückgebliebener Greise. Darum war der graue Rock Sachar so teuer; darin, wie auch in einigen im Gesichte und in den Manieren des Herrn erhaltenen Merkmalen, die an seine Eltern erinnerten, und in seinen Launen, über die er zwar im Geiste und laut brummte, die er aber in seinem Innern als die Äußerung des herrschaftlichen Willens und Rechtes achtete, sah er schwache Überreste der dahingeschwundenen Majestät. Ohne diese Launen fühlte er keinen Herrn über sich; ohne sie machte nichts seine Jugend, das Dorf, das sie längst verlassen hatten, und die Erzählungen über diese alte Familie auferstehen. Das Haus Oblomow war einst reich und in seiner Heimat berühmt gewesen; doch dann verarmte es, Gott weiß weshalb, verkümmerte und verlor sich endlich unmerklich unter den jüngeren Adelsgeschlechtern. Nur die ergrauten Diener des Hauses verwahrten und übergaben einander das treue Angedenken an die Vergangenheit, das sie wie ein Heiligtum hochhielten. – Darum liebte Sachar so seinen grauen Rock. Vielleicht war ihm auch sein Backenbart darum so teuer, weil er in seiner Kindheit viele alte Diener mit dieser altertümlichen, aristokratischen Barttracht gesehen hatte.
In seine Gedanken versunken, bemerkte Ilja Iljitsch Sachar lange Zeit nicht. Sachar stand schweigend vor ihm. Endlich räusperte er sich.
»Was hast du?« fragte Ilja Iljitsch.
»Sie haben mich doch gerufen!«
»Ich habe dich gerufen? Warum habe ich dich denn gerufen – ich weiß es nicht mehr!« antwortete er und streckte sich. – »Geh vorläufig in dein Zimmer, ich werde mich schon erinnern.«
Sachar ging, und Ilja Iljitsch blieb liegen und dachte wieder über den verfluchten Brief nach.
Es verging eine Viertelstunde.
»Nun ist genug gelegen«, sagte er; »es muß aufgestanden werden ... Ich werde also den Brief des Dorfschulzen noch einmal aufmerksam durchlesen und dann aufstehen. Sachar!«
Wieder derselbe Sprung und ein heftigeres Brummen. Sachar kam herein, und Oblomow versenkte sich wieder in seine Gedanken. Sachar blieb etwa zwei Minuten stehen, indem er den Herrn ungnädig ein wenig von der Seite anblickte, und trat endlich zur Türe.
»Wohin denn?« fragte plötzlich Oblomow.
»Sie sagen mir nichts, warum soll ich denn unnütz dastehen?« krächzte Sachar in Ermangelung einer anderen Stimme, die er, wie er sagte, als er mit dem alten Herrn auf die Jagd fuhr und ihm ein heftiger Wind in den Hals blies, verloren hatte. Er stand halb abgewendet in der Mitte des Zimmers und blickte Oblomow immer noch von der Seite an.
»Fallen dir denn deine Füße ab, wenn du stehenbleibst? Du siehst, ich habe Sorgen – warte also! Hast du etwa zu wenig gelegen? Suche den Brief, den ich gestern vom Dorfschulzen bekommen habe. Wo hast du ihn hingetan?«
»Was für einen Brief? Ich habe keinen Brief gesehen«, sagte Sachar.
»Du hast ihn ja selbst dem Briefträger abgenommen, es war ein ganz schmutziger Brief.«
»Woher soll ich wissen, wo Sie ihn hingelegt haben?« sprach Sachar, über die Papiere und die verschiedenen auf dem Tische liegenden Sachen mit der Hand fahrend.
»Du weißt nie etwas. Schau dort im Korb nach! Oder ist er vielleicht hinter das Sofa gefallen? Die Lehne da am Sofa ist noch immer nicht repariert; warum holst du nicht den Tischler und läßt es machen? Du hast sie zerbrochen.«
»Ich hab' sie nicht zerbrochen«, antwortete Sachar; »sie ist von selbst zerbrochen; sie kann nicht ewig halten, sie muß auch einmal zerbrechen.«
Ilja Iljitsch hielt es nicht für notwendig, das Gegenteil zu beweisen.
»Hast du ihn schon gefunden?« fragte er nur.
»Hier sind Briefe.«
»Das sind andere.«
»Dann gibt's keine mehr«, antwortete Sachar.
»Also gut, geh!« sagte Ilja Iljitsch ungeduldig; »ich werde aufstehen und ihn selbst suchen.«
Sachar ging in sein Zimmer; doch in dem Augenblick, da er sich mit den Händen gegen die Ofenbank stemmte, um hinaufzuspringen, hörte er wieder die eiligen Rufe: »Sachar! Sachar!«
»Ach du mein Gott!« brummte Sachar, sich wieder ins Arbeitszimmer begebend; »was das für eine Qual ist! Wenn doch mein Tod bald käme!«
»Was wollen Sie?« sagte er, sich mit der einen Hand an der Zimmertür haltend, und blickte Oblomow zum Zeichen seiner Ungnade so sehr von der Seite an, daß er ihn nur mit dem halben Auge zu sehen bekam, während sein Herr schon die eine ungeheure Backenbarthälfte sah, welche erwarten ließ, es würden zwei, drei Vögel aus ihr herausfliegen.
»Das Taschentuch, geschwind! Das könntest du auch selbst wissen; hast du denn keine Augen!« bemerkte Ilja Iljitsch streng.
Sachar äußerte keine besondere Unzufriedenheit oder Verwunderung bei diesem Befehl und Vorwurf des Herrn, da er wohl von seinem Standpunkte aus beides sehr natürlich fand.
»Wer weiß, wo das Taschentuch ist!« brummte er, indem er eine Runde durch das Zimmer machte und jeden Stuhl betastete, obgleich man auch so sehen konnte, daß auf den Stühlen nichts lag.
»Sie verlieren alles!« bemerkte er, die Tür in den Salon öffnend, um nachzusehen, ob das Gesuchte sich nicht dort befand.
»Wohin? Suche hier; ich war seit vorgestern nicht drin. So beeile dich doch!« sagte Ilja Iljitsch.
»Wo ist das Taschentuch?« »Das Taschentuch ist nicht da!« erwiderte Sachar achselzuckend und in alle Winkel blickend. »Da ist es ja«, krächzte er plötzlich zornig; »unter Ihnen! Da schaut ein Zipfel heraus. Sie liegen selbst auf dem Taschentuch und fragen danach!«
Und Sachar wandte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, der Tür zu. Oblomow war ein wenig verlegen geworden. Er fand schnell einen neuen Vorwand, Sachar im Unrecht erscheinen zu lassen.
»Wie rein du hier alles hältst! Mein Gott, wie schmutzig und staubig es ist! Da, da, schau mal in die Ecken hinein – du tust gar nichts!«
»Ich tu' nichts ...« begann Sachar mit gekränkter Stimme, »ich gebe mir so viel Mühe, mir ist es um mein Leben nicht zu schade, ich staube ab und fege fast jeden Tag ...«
Er zeigte auf die Mitte des Fußbodens und auf den Tisch hin, an dem Oblomow zu Mittag aß.
»Da, da«, sagte er. »Alles ist ausgefegt und zusammengeräumt, wie zu einer Hochzeit ... Was wollen Sie noch?«
»Und was ist das?« unterbrach ihn Ilja Iljitsch, auf die Wände und an den Plafond zeigend, »und das? und das?«
Er wies auf das seit gestern herumliegende Handtuch und auf den auf dem Tisch vergessenen Teller, worauf eine Brotschnitte lag.
»Nun gut, das werde ich abräumen«, sagte Sachar herablassend und nahm den Teller.
»Nur das! Und der Staub an den Wänden und das Spinngewebe?« fragte Oblomow.
»Das räume ich zu Ostern zusammen; dann putze ich die Heiligenbilder und nehme das Spinngewebe herab ...«
»Und wann staubst du die Bücher und die anderen Bilder ab? ...«
»Das mache ich vor Weihnachten: dann schaue ich mit Anissja alle Schränke durch. Wann soll ich denn jetzt zusammenräumen? Sie sitzen doch immer zu Hause.«
»Ich gehe manchmal ins Theater und auf Besuch; dann ...«
»Wie kann man denn bei Nacht zusammenräumen!«
Oblomow blickte ihn vorwurfsvoll an, schüttelte den Kopf und seufzte, während Sachar gleichgültig durch das Fenster blickte und gleichfalls seufzte. Der Herr schien zu denken: Bruder, in dir steckt ja noch mehr von einem Oblomow als in mir selbst, und Sachar dachte fast: du lügst! Du kannst hochtrabende und rührende Worte sagen; aber der Staub und das Spinngewebe kümmern dich im Grunde gar nicht.
»Verstehst du«, sagte Ilja Iljitsch, »daß durch den Staub Motten entstehen? Ich sehe manchmal sogar eine Wanze an der Wand!«
»Ich habe auch Flöhe!« erwiderte Sachar gleichgültig.
»Ist denn das schön? Das ist ja Schmutz!«
Sachar schmunzelte über das ganze Gesicht, so daß das Grinsen selbst die Brauen und den Backenbart erfaßte, der sich seitwärts auseinanderschob, und ein roter Fleck sich über das ganze Gesicht vom Hals bis auf die Stirn hinauf ausdehnte.
»Ist es denn meine Schuld, daß es auf der Welt Wanzen gibt?« sagte er mit naivem Erstaunen; »hab' denn ich sie ausgedacht?«
»Das kommt durch die Unreinlichkeit«, unterbrach ihn Oblomow. »Was denkst du dir nur immer aus?«
»Ich habe auch die Unreinlichkeit nicht ausgedacht.«
»Bei dir laufen in der Nacht Mäuse herum, ich höre es.«
»Ich habe auch die Mäuse nicht ausgedacht. Solche Geschöpfe, wie Mäuse, Katzen und Wanzen, gibt es überall viel.«
»Warum gibt es denn bei anderen Leuten weder Motten noch Wanzen?«
Sachars Gesicht drückte Ungläubigkeit oder besser gesagt ruhige Zuversicht aus, daß so etwas nicht vorkommen könne.
»Bei mir gibt's immer viel davon«, sagte er eigensinnig, »man kann nicht auf jede Wanze aufpassen, man kann ihr in ihre Ritze nicht nachkriechen.«
Und dabei dachte er wohl im stillen: Was wäre das auch für ein Schlafen ohne Wanzen?
»Fege aus, nimm den Mist aus den Winkeln her aus, dann wird nichts da sein«, belehrte ihn Oblomow.
»Man räumt auf, und morgen ist alles wieder voll«, sagte Sachar.
»Es wird nicht voll sein«, unterbrach ihn der Herr, »das darf nicht sein.«
»Es wird voll sein, ich weiß es«, gab der Diener nicht nach.
»Und wenn es so ist, dann fege wieder aus!«
»Was? Ich soll jeden Tag in alle Winkel hineinschauen?« fragte Sachar, »was ist denn das für ein Leben? Dann soll Gott lieber meine Seele holen!«
»Warum ist denn bei anderen Leuten rein?« entgegnete Oblomow. »Schau mal zum Klavierstimmer vis-à-vis hinüber: Es ist eine Freude, das zu sehen, und sie haben nur ein einziges Mädchen ...«
»Und wo sollen diese Deutschen auch Mist hernehmen?« erwiderte plötzlich Sachar. »Schauen Sie sich einmal an, wie sie leben! Die ganze Familie nagt die ganze Woche an einem einzigen Knochen. Der Rock geht von der Schulter des Vaters auf den Sohn über und vom Sohn wieder auf den Vater. Die Frau und die Töchter tragen kurze Kleider und verstecken immer ihre Füße wie die Gänse ... Wo sollen sie den Mist hernehmen? Bei ihnen gibt's das nicht, daß ganze Haufen von abgetragenen alten Kleidern jahrelang in den Schränken liegen oder sich im Winter eine ganze Ecke von Brotrinden ansammelt wie bei uns. Sie lassen nicht einmal eine Rinde unnütz herumliegen; sie machen sich daraus Zwieback und essen das zum Bier!«
Sachar spuckte sogar aus, während er von einer so knauserigen Lebensweise sprach.
»Du brauchst mir gar nichts zu erzählen!« antwortete Ilja Iljitsch, »räume lieber auf.«
»Ich würde ja manchmal aufräumen; aber Sie lassen es ja selbst nicht dazu kommen«, sagte Sachar.
»Jetzt fängst du wieder damit an! Ich bin immer im Wege!«
»Natürlich ist's so; Sie sitzen immer zu Hause; wie soll man da aufräumen? Gehen Sie den ganzen Tag fort, dann räume ich auf.«
»Was du dir da ausgedacht hast, ich soll fortgehen! Geh du lieber in dein Zimmer!«
»Nein, wirklich!«, Sachar gab nicht nach, »gehen Sie doch heute fort, dann würde ich mit Aniska alles aufräumen. Wir würden aber auch zu zweit nicht fertig werden; man müßte noch Frauen dazunehmen und alles aufwaschen.«
»Aber, was das für Einfälle sind! Frauen dazunehmen! Geh in dein Zimmer!« sagte Ilja Iljitsch.
Er bereute schon, mit Sachar dieses Gespräch angefangen zu haben. Er vergaß immer, daß man bei der geringsten Berührung dieses zarten Gegenstandes in endlose Scherereien hineingeriet. Oblomow war ja für die Reinlichkeit; doch er wünschte, daß es unmerklich, von selbst geschehen solle; Sachar fing aber immer eine lange Diskussion an, sobald man von ihm verlangte, er solle den Staub ausfegen und die Fußböden waschen und so weiter. Er bewies in solchen Fällen die Notwendigkeit eines großen Rummels im Hause, da er sehr gut wußte, daß der bloße Gedanke daran seinem Herrn Entsetzen verursachte.
Sachar ging, und Oblomow versenkte sich in seine Gedanken. Nach ein paar Minuten schlug es wieder halb.
»Was ist das?« sagte Ilja Iljitsch erschrocken, »es ist gleich elf Uhr, und ich bin noch nicht aufgestanden und habe mich noch immer nicht gewaschen? Sachar, Sachar!«
»Ach du mein Gott l Was denn!« tönte es im Vorzimmer, und dann folgte der bekannte Sprung.
»Ist alles zum Waschen bereit?« fragte Oblomow.
»Schon längst!« antwortete Sachar. »Warum stehen Sie nicht auf?«
»Warum sagst du denn nicht, daß alles vorbereitet ist? Ich wäre schon längst aufgestanden. Geh, ich komme gleich nach. Ich habe zu tun, ich muß schreiben.«
Sachar ging hinaus, kam aber nach einer Weile mit einem ganz beschriebenen und fettigen Heft und mit ebensolchen Papierfetzen zurück.
»Da, wenn Sie schreiben werden, haben Sie die Güte, bei der Gelegenheit auch die Rechnungen durchzusehen; sie müssen bezahlt werden.«
»Was für Rechnungen? Was muß bezahlt werden?« fragte Ilja Iljitsch unzufrieden.
»Vom Fleischer, vom Gemüsehändler, von der Wäscherin, vom Bäcker; alle bitten um Geld.«
»Man hat immer Geldsorgen!« brummte Ilja Iljitsch.
»Warum gibst du mir denn die Rechnungen nicht allmählich, sondern alle auf einmal?«
»Sie haben mich ja immer damit fortgejagt: Ich sollte nur morgen kommen ...«
»Nun, und kann man es denn nicht auch jetzt auf morgen verschieben?«
»Nein! Sie bestehen darauf und geben nichts mehr auf Borg. Heute ist der Erste.«
»Ach!« sagte Oblomow niedergeschlagen, »neue Sorgen! Nun, was stehst du da? Leg's auf den Tisch. Ich werde gleich aufstehen, mich waschen und sie durchsehen. Es ist also alles zum Waschen vorbereitet?«
»Ja!«
»Nun, und jetzt ...«
Er begann sich ächzend auf dem Bette aufzurichten, um aufzustehen.
»Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen«, begann Sachar, »vorhin, als Sie noch geschlafen haben, hat der Verwalter den Hausbesorger geschickt. Er sagt, daß wir durchaus ausziehen müssen ... Die Wohnung ist vergeben.«
»Nun also! Wenn sie vergeben ist, werden wir natürlich ausziehen. Warum läßt du mir keine Ruhe? Du sprichst nun schon das dritte Mal davon.«
»Man läßt auch mir keine Ruhe.«
»Sag, daß wir die Wohnung räumen werden.«
»Sie sagen, Sie haben es schon vor einem Monat versprochen, räumen aber noch immer nicht die Wohnung; sie sagen: ›Wir werden es der Polizei anzeigen.‹«
»Sollen sie's anzeigen!« sagte Oblomow entschlossen; »wir räumen die Wohnung von selbst, wenn es wärmer wird, so in drei Wochen.«
»Wieso in drei Wochen! Der Verwalter sagt, daß in zwei Wochen die Arbeiter kommen und alles niederreißen ... Er sagt: ›Ziehen Sie morgen aus oder übermorgen ...‹«
»Aber das ist zu schnell, morgen! Was ihnen alles einfällt; vielleicht werden sie es sofort befehlen! Untersteh dich nicht, mich an die Wohnung zu erinnern. Ich hab' es dir schon einmal verboten, und du fängst wieder an. Nimm dich in acht.«
»Was soll ich denn tun?« erwiderte Sachar.
»Was du tun sollst? Solche Ausreden gebrauchst du!« antwortete Ilja Iljitsch. »Das fragst du mich! Was geht das mich an? Komm mir nicht damit, sondern richte alles, wie du willst, so ein, daß wir nur nicht auszuziehen brauchen. Kannst du das denn nicht für deinen Herrn tun!«
»Wie soll ich's denn einrichten, Väterchen, Ilja Iljitsch?« begann Sachar mit sanfterem Krächzen, »das Haus gehört ja nicht mir, wie sollte man denn nicht aus einem fremden Hause ausziehen, wenn man fortgejagt wird? Wenn es mein Haus wäre, würde ich mit dem größten Vergnügen ...«
»Kann man sie denn nicht irgendwie überreden? Du weist darauf hin, daß wir schon lange hier wohnen und pünktlich zahlen.«
»Das habe ich schon probiert«, sagte Sachar.
»Was haben sie denn geantwortet?«
»Was sie geantwortet haben? Sie wiederholen immer das eine: ›Ziehen Sie aus!‹ sagen sie, ›wir müssen die Wohnung ändern‹, sie wollen aus der Doktorwohnung und aus dieser da zur Hochzeit des Hausherrnsohnes eine einzige große Wohnung machen.«
»Ach du mein Gott!« sagte Oblomow ärgerlich, »es gibt solche Esel, welche heiraten!«
Er drehte sich auf den Rücken um.
»Sie sollten an den Hausherrn schreiben, gnädiger Herr«, sagte Sachar, »dann würde er Sie vielleicht in Ruhe lassen und würde zuerst jene Wohnung niederreißen lassen.«
Sachar zeigte dabei mit der Hand irgendwohin nach rechts.
»Nun gut, wenn ich aufgestanden bin, werde ich schreiben ... Geh in dein Zimmer, ich werde darüber nachdenken. Du kannst nichts übernehmen«, fügte er hinzu. »Ich muß mich auch um dieses ekelhafte Zeug selbst kümmern!«
Sachar ging, und Oblomow begann nachzudenken.
Doch er war in Verlegenheit, worüber er nachdenken sollte: über den Brief des Dorfschulzen, über die Übersiedlung in eine neue Wohnung, oder sollte er mit den Rechnungen beginnen? Der Andrang der Sorgen machte ihn verwirrt, und er lag noch immer da, indem er sich von der einen Seite auf die andere wälzte. Man hörte nur ab und zu unzusammenhängende Ausrufe: »Ach du mein Gott! Das Leben macht sich fühlbar, es erreicht einen überall.«
Es ist unbestimmbar, wie lange er noch in dieser Unschlüssigkeit verharrt wäre; jetzt aber ertönte im Vorzimmer ein Läuten.
»Es kommt schon jemand!« sagte Oblomow, sich in den Schlafrock einwickelnd, »und ich bin noch nicht aufgestanden. Das ist eine Schande! Wer kommt denn so früh?«
Und er blieb liegen und blickte neugierig auf die Tür.
Zweites Kapitel
Es trat ein junger, fünfundzwanzigjähriger Mann herein, der von Gesundheit strotzte und lachende Wangen, Lippen und Augen besaß. Man wurde neidisch, wenn man ihn anblickte.
Er war tadellos frisiert und gekleidet und blendete durch die Frische seines Gesichtes, seiner Wäsche, seiner Handschuhe und seines Frackes. Auf seiner Weste breitete sich eine elegante Kette mit einer Menge von winzigen Berlocken aus. Er zog ein sehr feines Batisttuch hervor, atmete die morgenländischen Wohlgerüche ein, fuhr sich dann damit nachlässig über das Gesicht, über den glänzenden Hut und staubte sich die Lackstiefel ab.
»Ah, guten Tag, Wolkow!« rief Ilja Iljitsch aus.
»Guten Tag, Oblomow«, sagte der strahlende Herr, sich ihm nähernd.
»Nicht so nah, nicht so nah! Sie kommen aus der Kälte!« sagte dieser.
»Oh, Sie verzärtelter Sybarit!« erwiderte Wolkow und sah sich um, wo er seinen Hut hinlegen konnte; da er aber überall Staub sah, legte er ihn nirgendshin; dann hob er seine Frackschöße auf, um sich hinzusetzen; nachdem er aber den Sessel aufmerksam betrachtet hatte, blieb er stehen.
»Sie sind noch nicht aufgestanden! Was tragen Sie da für einen Morgenanzug? Man trägt solche schon längst nicht mehr«, beschämte er Oblomow.
»Das ist kein Morgenanzug, das ist ein Schlafrock«, sagte Oblomow, sich liebevoll hineinwickelnd.
»Fühlen Sie sich nicht wohl?« fragte Wolkow.
»Gar nicht!« antwortete Oblomow gähnend, »es geht mir schlecht: meine Kongestionen quälen mich so. Und wie geht es Ihnen?«
»Mir? Ich kann nicht klagen: Ich bin gesund und lustig!« fügte der junge Mann mit Betonung hinzu.
»Woher kommen Sie so früh?« fragte Oblomow.
»Vom Schneider. Schauen Sie mich an, ob der Frack gut sitzt?« sagte er, sich vor Oblomow hin und her wendend.
»Ausgezeichnet! Er ist sehr geschmackvoll genäht«, sagte Ilja Iljitsch, »aber warum ist er rückwärts so breit?«
»Das ist ein Reitfrack: zum Ausreiten.«
»Reiten Sie denn?«
»Aber gewiß! Ich habe mir den Frack extra für den heutigen Tag bestellt. Heute ist ja der erste Mai: ich reite mit Gorjunow nach Jekaterinhof. Ach! Sie wissen nicht? Man hat Mischa Gorjunow im Rang befördert, darum feiern wir heute«, fügte Wolkow entzückt hinzu.
»So!« sagte Oblomow.
»Er hat einen Fuchs«, fuhr Wolkow fort, »sie haben in ihrem Regiment Füchse, ich aber habe einen Rappen. Wie kommen Sie: zu Fuß oder im Wagen?«
»Überhaupt nicht.«
»Am ersten Mai nicht in Jekaterinhof sein! Aber Ilja Iljitsch. Dort werden ja alle sein!«
»Wieso alle! Doch nicht alle!« bemerkte Oblomow träge.
»Kommen Sie, lieber Ilja Iljitsch! Sofja Nikolajewna wird nur mit Lydia im Wagen sein, vis-à-vis ist aber noch eine Bank, Sie könnten also mitkommen ...«
»Nein, ich habe auf der Bank keinen Platz. Und was soll ich dort anfangen?«
»Nun, dann gibt Ihnen Mischa ein zweites Pferd!«
»Gott weiß, was er sich ausdenkt!« sagte Oblomow fast flüsternd. »Was haben Sie denn mit den Gorjunows?«
»Ach!« rief Wolkow errötend aus; »soll ich's sagen?«
»Sagen Sie's!«
»Werden Sie das niemand erzählen, Ihr Ehrenwort?« sprach Wolkow weiter, sich zu ihm aufs Sofa setzend.
»Gut.«
»Ich ... bin in Lydia verliebt«, flüsterte er.
»Bravo! Schon lange? Ich glaube, sie ist sehr nett.«
»Schon drei Wochen!« sagte Wolkow tief seufzend. »Und Mischa ist in Daschenjka verliebt.«
»In welche Daschenjka?«
»Woher sind Sie, Oblomow? Sie kennen nicht Daschenjka! Die ganze Stadt ist entzückt, wenn sie tanzt! Heute sind wir zusammen im Ballett; er wird ihr ein Bukett zuwerfen. Ich muß ihn bei ihr einführen: er ist schüchtern und noch ein Neuling ... Ach! ich muß ja noch hinfahren und Kamelien kaufen ...«
»Was noch? Lassen Sie das, bleiben Sie zum Mittagessen; wir würden miteinander sprechen. Ich habe ein doppeltes Unglück gehabt ...«
»Ich kann nicht, ich esse beim Fürsten Tjumenjew zu Mittag; es werden dort alle Gorjunows sein, und auch sie, sie ... Lidinjka!« fügte er flüsternd hinzu.
»Warum haben Sie den Verkehr mit dem Fürsten aufgegeben? Was das für ein lustiges Haus ist! Was für ein Ton dort herrscht! Und das Landhaus! es ist in Blumen gebettet! Man hat eine Galerie gothique angebaut. Es heißt, man wird dort im Sommer tanzen und lebende Bilder aufführen. Werden Sie hinkommen?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Ach, was das für ein Haus ist! Diesen Winter gab es dort jeden Mittwoch nicht unter fünfzig Personen, und manchmal waren es sogar hundert ...«
»Mein Gott! da ist es gewiß höllisch langweilig!«
»Wie kann man so etwas sagen? Langweilig! Je mehr Menschen da sind, desto lustiger ist es ja. Auch Lydia kam hin, ich habe ihr keine Aufmerksamkeit geschenkt, und plötzlich ...
Vergebens müh' ich mich, sie zu vergessen
Und durch Vernunft die Leidenschaft zu bannen ...«
sang er und setzte sich verträumt auf den Sessel; doch dann sprang er plötzlich auf und begann sich den Staub von den Kleidern zu klopfen.
»Wie staubig es bei Ihnen überall ist!« sagte er.
»Das ist alles Sachars Schuld!« klagte Oblomow.
»Nun, ich muß gehen!« sagte Wolkow, »ich habe noch für Mischa ein Bukett Kamelien zu besorgen. Au revoir!«
»Kommen Sie abends nach dem Ballett Tee trinken, Sie werden mir erzählen, wie es dort zugegangen ist«, lud Oblomow ein.
»Ich kann nicht, ich habe den Mussinskys versprochen, hinzukommen, heute ist bei ihnen Jour. Kommen Sie auch! Wenn Sie wollen, stelle ich Sie vor!«
»Nein, was soll ich dort anfangen?«
»Bei den Mussinskys? Aber ich bitte Sie, dorthin kommt ja die halbe Stadt. Was man dort anfangen soll? Das ist ein Haus, in dem über alles gesprochen wird ...«
»Das ist ja das Langweilige, daß über alles gesprochen wird«, sagte Oblomow.
»Besuchen Sie dann Mesdrows«, unterbrach ihn Wolkow, »dort spricht man nur von einem Gegenstand, von der Kunst; man hört nichts anderes als: die venezianische Schule, Beethoven und Bach, Leonardo da Vinci ...«
»Immer ein und dasselbe, wie langweilig! Das sind gewiß Pedanten!« sagte Oblomow gähnend.
»Man kann es Ihnen nicht recht machen. Gibt es etwa zu wenig Familien! Und alle haben sie jetzt Jours: bei den Sawinows speist man am Donnerstag, die Maklaschins empfangen am Freitag, die Wjasnikows am Sonntag, der Fürst Tjumenjew am Mittwoch. Bei mir sind alle Tage besetzt!« schloß Wolkow mit strahlenden Augen.
»Und fällt es Ihnen nicht lästig, tagaus, tagein herumzurennen?«
»Lästig! Wie kann das lästig fallen? Es ist so lustig!« sagte er sorglos. »Des Morgens liest man ein wenig, man muß immer au courantsein und alle Neuigkeiten wissen. Ich habe, Gott sei Dank, eine solche Beschäftigung, daß ich nicht ins Amt zu gehen brauche. Ich sitze nur zweimal in der Woche beim General und esse bei ihm zu Mittag; dann mache ich Leuten, bei denen ich schon lange nicht war, einen Besuch; nun, und dann ... gibt es ja immer eine neue Schauspielerin, bald im russischen und bald im französischen Theater. Die Oper wird nächstens eröffnet, ich abonniere mich. Und jetzt bin ich verliebt ... Es wird bald Sommer; man hat Mischa einen Urlaub versprochen; dann fahren wir für einen Monat auf ihr Gut, der Abwechslung halber. Dort wird gejagt. Sie haben sehr nette Nachbarn, es werden bals champêtresarrangiert. Ich werde mit Lydia im Wald spazierengehen, Boot fahren, Blumen pflücken ... Ach! ...« Und er machte einen Freudensprung ... »Es ist aber Zeit ... Adieu«, sagte er und machte vergebliche Versuche, sich im verstaubten Spiegel von vorne und von rückwärts zu betrachten.
»Warten Sie«, hielt ihn Oblomow zurück, »ich wollte mit Ihnen geschäftlich sprechen.«
»Pardon, ich habe keine Zeit«, antwortete Wolkow eilig, »ein andermal! Wollen Sie nicht mit mir Austern essen? Sie können mir dabei Ihre Angelegenheiten erzählen. Kommen Sie, Mischa ladet Sie ein.«
»Nein, was fällt Ihnen ein!« sagte Oblomow darauf.
»Also, Adieu!«
Er ging und kam zurück.
»Haben Sie das schon gesehen?« fragte er, die Hand zeigend, der der Handschuh wie angegossen saß.
»Was ist das?« fragte Oblomow verblüfft.
»Die neuen Lacets! Sehen Sie, wie gut das zusammenhält: Man braucht sich nicht zwei Stunden lang mit den Knöpfen abzuquälen, man zieht an der Schnur, und die Sache ist erledigt. Das kommt soeben aus Paris. Wollen Sie, daß ich Ihnen ein Paar zur Probe mitbringe?«
»Gut, bringen Sie mir eins mit.«
»Und sehen Sie sich einmal das an: nicht wahr, das ist sehr hübsch?« sagte er, nachdem er in dem Haufen der Berlocken eines ausgesucht hatte; es war eine Visitenkarte mit einer umgebogenen Ecke.
»Ich kann nicht entziffern, was darauf steht.«
»Pr. – Prince, M. – Michel, und der Familienname Tjumenjew ist nicht mehr daraufgegangen. Das hat er mir zu Ostern statt eines Eies geschenkt. Aber leben Sie wohl, au revoir! Ich muß noch zehn Personen aufsuchen. O Gott, wie lustig ist es auf der Welt!«
Und er verschwand.
Zehn Personen an einem Tage aufsuchen – der Unglückliche! dachte Oblomow. Und das ist ein Leben!, und er zuckte heftig die Achseln. Wo bleibt denn dann der Mensch? In wieviel kleine Teile löst er sich auf und zerfällt er? Es ist gewiß nicht übel, ins Theater hineinzugucken und sich in irgendeine Lydia zu verlieben ... Sie ist hübsch! Es ist schön, mit ihr auf dem Lande Blumen zu pflücken und spazierenzufahren! – Aber an einem Tage zehn Personen aufzusuchen – der Unglückliche!, schloß er, sich auf den Rücken umwendend und sich freuend, daß er keine so leeren Wünsche und Gedanken hatte, sondern daliegen und seine menschliche Würde und Ruhe aufrechterhalten konnte.
Ein neues Läuten unterbrach seine Betrachtungen.
Es kam wieder ein Gast.
Das war ein Herr in einem dunkelgrünen Frack mit Uniformknöpfen; er hatte ein glattrasiertes Kinn, einen dunklen Backenbart, der sein Gesicht gleichmäßig umrahmte, einen angestrengten, aber ruhigen und intelligenten Ausdruck in den Augen, ein welkes Gesicht und ein nachdenkliches Lächeln.
»Guten Tag, Sudjbinskij!« begrüßte Oblomow ihn freudig. »Schaust du dich auch einmal nach deinem alten Kollegen um! Komm nicht so nahe heran! Du bringst Kälte herein.«
»Guten Tag, Ilja Iljitsch. Ich wollte schon lange zu dir«, sprach der Gast, »aber du weißt ja, was für einen teuflischen Dienst wir haben! Da, schau einmal, ich habe hier einen ganzen Koffer voll Berichte, und ich habe dem Boten befohlen, herzurennen, wenn man dort nach irgend etwas fragt. Ich kann keinen Augenblick über mich verfügen.«
»Gehst du erst jetzt ins Amt? Warum so spät?« fragte Oblomow, »du pflegtest ja um zehn Uhr anzufangen ...«
»Ja, ich pflegte; jetzt ist's aber anders: ich fahre um zwölf Uhr hin.« Er betonte: fahre.
»Ah! ich errate!« sagte Oblomow, »du bist Bureauchef! Schon lange?«
Sudjbinskij nickte bedeutungsvoll.
»Seit Ostern«, sagte er. »Aber wieviel zu tun ist – schrecklich! Von acht bis zwölf Uhr arbeite ich zu Hause, von zwölf bis fünf Uhr in der Kanzlei, und dann habe ich noch abends zu tun. Ich bin jetzt gar nicht mehr gewohnt, mit Menschen zusammen zu sein.«
»Hm! Bureauchef, so!« sagte Oblomow. »Gratuliere! Du bist aber einer! Wir waren ja zusammen Kanzleibeamte. Ich denke, du wirst nächstes Jahr Regierungsrat.«
»Aber! Was fällt dir ein! Ich muß noch in diesem Jahr den Orden bekommen; ich habe gehofft, man würde mich ›für geleistete Dienste‹ vorschlagen, ich habe aber jetzt ein neues Amt übernommen. Das geht nicht, zwei Jahre nacheinander ...«
»Komm zu mir zum Essen, wir werden zu Ehren deines Avancements ein Glas leeren!« sagte Oblomow.
»Nein, ich bin heute beim Vizedirektor geladen. Ich muß für Donnerstag einen Bericht ausarbeiten – eine Höllenarbeit! Man kann sich auf den Rapport aus den Gouvernements nicht verlassen. Man muß die Register selbst kontrollieren. Foma Fomitsch ist so mißtrauisch: er will alles selbst prüfen. Wir machen uns heute nachmittag daran.«
»Wirklich, noch heute nachmittag?« fragte Oblomow ungläubig.
»Ja, was glaubst du denn? Es ist noch gut, wenn ich etwas früher damit fertig werde und Zeit habe, nach Jekaterinhof zu fahren ... Ja, also, ich bin gekommen, um dich zu fragen, ob du nicht mit mir spazierenfahren willst? Ich würde dich abholen.«
»Ich bin nicht ganz wohl, ich kann nicht!« sagte Oblomow, indem er das Gesicht verzog, »ich habe auch viel zu tun ...«
»Schade!« erwiderte Sudjbinskij, »es ist ein so schöner Tag. Ich hoffe wenigstens heute aufzuatmen.«
»Nun, was gibt es Neues bei euch?« fragte Oblomow.
»Vieles! Man hat jetzt festgesetzt, in den Briefen statt ›ergebener Diener‹ ›seien Sie versichert‹ zu schreiben; es ist angeordnet worden, nicht mehr zwei Exemplare Formularbogen einzureichen. Man hat unser Bureau um drei Tische und zwei Beamte vergrößert. Man hat unsere Kommission aufgehoben ... Und noch viel anderes!«
»Nun, und was ist mit unseren früheren Kollegen?«
»Vorläufig gar nichts; Swinkin hat seine Akten verloren!«
»Wirklich? Was hat denn der Direktor gesagt?« fragte Oblomow mit zitternder Stimme. Er erschrak in der Erinnerung an die alten Zeiten.
»Er hat ihm die Remuneration vorenthalten lassen, bis er die Akten findet. Es war ein wichtiges Dokument: ›Über die Steuereintreibung‹. Der Direktor glaubt«, fügte Sudjbinskij fast flüsternd hinzu, »daß er es ... absichtlich verloren hat.«
»Also so ist die Sache: du arbeitest immer!« sagte Oblomow, »du mühst dich ab.«
»Schrecklich, schrecklich! Aber es ist natürlich angenehm, mit einem solchen Menschen wie Foma Fomitsch zusammenzuarbeiten: Bei ihm bleibt niemand ohne Remuneration; er vergißt selbst die nicht, die nichts tun. Sobald die Zeit des Avancements da ist, schlägt er gleich vor; und dem, der noch kein Amt und keinen Orden bekommen kann, verschafft er Geld ...«
»Wieviel bekommst du?«
»1200 Rubel Gehalt, 750 Diäten, 600 Wohnungsgeld, 900 Zulagen, 500 Meilengeld und an 1000 Rubel Remuneration.«
»Aber zum Teufel!« sagte Oblomow, vom Sofa aufspringend, »hast du eine so schöne Stimme? Das klingt ja wie bei einem italienischen Sänger!«
»Das ist noch gar nichts! Pereswjetow bekommt Gratifikationen und arbeitet weniger als ich, er versteht auch nichts. Nun, er hat natürlich auch nicht dieses Renommee. Ich werde sehr geschätzt«, fügte er bescheiden, mit gesenkten Augen hinzu, »der Minister hat sich neulich ausgedrückt, daß ich die Zierde des Ministeriums sei.«
»Du bist ein Hauptkerl!« sagte Oblomow. »Aber diese Arbeit! Von acht bis zwölf und von zwölf bis fünf, und dann noch zu Hause – oh, oh!«
Er schüttelte den Kopf.
»Was sollte ich denn tun, wenn ich keinen Posten hätte?« fragte Sudjbinskij.
»Man kann Verschiedenes tun! lesen, schreiben ...« sagte Oblomow.
»Ich tue ja auch jetzt nichts als lesen und schreiben.«
»Das ist doch ganz was anderes; du würdest deine Sachen drucken lassen ...«
»Es können nicht alle Schriftsteller sein, du schreibst doch auch nicht!«
»Dafür habe ich ein Gut, das auf mir lastet«, sagte Oblomow seufzend. »Ich überlege mir einen neuen Plan; ich führe allerlei Reformen ein. Ich quäle mich damit ab ... Und du beschäftigst dich ja nicht mit Eigenem, sondern mit Fremdem.«
»Was soll man tun! Man muß arbeiten, wenn man bezahlt wird. Im Sommer werde ich ausruhen: Foma Fomitsch verspricht eigens für mich eine Dienstreise auszudenken ... dann bekomme ich Reisegeld, das für fünf Pferde berechnet wird, drei Rubel tägliche Diäten und Extragelder ...«
»Das geht ja wie geschmiert!« sagte Oblomow voll Neid; dann seufzte er und vertiefte sich in seine Gedanken.
»Ich brauche Geld, ich heirate im Herbst«, fügte Sudjbinskij hinzu.
»Was?! Wirklich? Wen denn?« fragte Oblomow teilnahmsvoll.
»Scherz beiseite, die Muarschin. Weißt du noch, sie haben neben mir auf dem Lande gewohnt! Du hast bei mir Tee getrunken und hast sie, scheint mir, gesehen.«
»Nein, ich erinnere mich nicht! Ist sie hübsch?«
»Ja, sie ist lieb. Wenn du willst, können wir zum Mittagessen zu ihnen hinfahren ...«
Oblomow wurde verlegen.
»Ja ... gut, aber ...«
»Nächste Woche«, sagte Sudjbinskij.
»Ja, ja, nächste Woche«, willigte Oblomow erfreut ein, »mein Anzug ist noch nicht fertig. Machst du eine gute Partie?«
»Ja, der Vater ist Hofrat; er gibt ihr zehntausend, und dann bekommen wir eine Amtswohnung. Er hat für uns die Hälfte seiner Wohnung bestimmt, zwölf Zimmer; außerdem bekommen wir die dazugehörigen Möbel und freie Beheizung und Beleuchtung: man kann also leben ...«
»Ja, man kann! Und ob! Bist du aber ein Kerl, Sudjbinskij!« fügte Oblomow nicht ohne Neid hinzu.
»Ich lade dich zu meiner Hochzeit als Kranzherr ein, denke daran ...«
»Aber gewiß! Nun, was ist mit Kusnezow, mit Wassiljew, mit Mochow?«
»Kusnezow ist längst verheiratet, Mochow hat meinen früheren Posten eingenommen, und Wassiljew ist nach Polen versetzt worden. Iwan Petrowitsch hat den Wladimirorden bekommen, Oleschkin ist Exzellenz geworden.«
»Er ist ein guter Kerl!« sagte Oblomow.
»Ja, ja; er verdient es.«
»Ein sehr guter Kerl, er hat einen so sanften, gleichmäßigen Charakter«, fügte Oblomow hinzu.
»Er ist auch so dienstfertig«, bemerkte Sudjbinskij – »und weißt du, er hat nicht dieses Bestreben, sich vorzudrängen, einem zu schaden, ein Bein zu stellen oder zuvorzukommen ... er tut alles, was er kann.«
»Ein prachtvoller Mensch! Wenn man manchmal in den Akten etwas verdreht oder nicht beachtet hat und eine andere Folgerung, ein anderes Gesetz unterschoben hat, hat er gar nichts gesagt; er hat's nur von jemand anderem verbessern lassen. Ein ausgezeichneter Mensch!« schloß Oblomow.
»Unser Sjemjon Sjemjonitsch ist dagegen unverbesserlich«, sagte Sudjbinskij, »er versteht nur, Sand in die Augen zu streuen. Was er da vor kurzem angestellt hat: Aus den Gouvernements ist ein Prospekt eingelaufen, daß an den zu unserem Departement gehörigen Gebäuden Hundehütten, zum Schutze des Staatseigentums gegen Raub, errichtet werden; unser Architekt, ein tüchtiger, gebildeter und ehrlicher Mann, hat einen sehr mäßig berechneten Kostenanschlag zusammengestellt; das ist ihm plötzlich zu teuer erschienen, und er hat sich darangemacht, Erkundigungen darüber einzuziehen, was das Fertigstellen einer Hundehütte kosten kann. Er hat irgendwo herausgefunden, daß es um dreißig Kopeken weniger kostet, und reicht sofort einen Bericht ein.«
Es wurde wieder geläutet.
»Adieu«, sagte der Beamte, »ich hab' mich verplaudert, man wird mich dort gewiß schon brauchen ...«
»Bleib noch«, hielt ihn Oblomow zurück. »Ich werde mich bei der Gelegenheit mit dir beraten; ich habe ein doppeltes Unglück gehabt ...«
»Nein, nein, ich komme lieber dieser Tage wieder«, sagte er im Fortgehen.
Der liebe Freund ist im Schlamm versunken, er ist über die Ohren versunken, dachte Oblomow, ihm mit den Augen folgend. Er ist für die ganze übrige Welt blind, taub und stumm. Er wird es aber zu etwas bringen, wird mit der Zeit im Amte schalten und walten und einen hohen Rang erreichen ... Auch das heißt bei uns Karriere! Und wie wenig wird dabei beansprucht; wozu braucht man seinen Verstand, seinen Willen, seine Gefühle? Das ist ein Luxus! Er wird seine Spanne Zeit leben, und vieles, vieles, vieles wird in ihm nicht wach werden ... Und dabei arbeitet er von zwölf bis fünf in der Kanzlei und von acht bis zwölf zu Hause – der Unglückliche!
Er hatte das Gefühl friedlicher Freude bei dem Gedanken, daß er die Zeit von neun bis drei und von acht bis neun auf seinem Sofa verbringen konnte, und war stolz darauf, daß er keine Berichte zu erstatten und keine Akten zu schreiben brauchte und daß seine Gefühle und seine Phantasie freien Spielraum hatten.
Oblomow philosophierte und bemerkte nicht, daß neben ihm ein sehr schmächtiges, schwarzes Herrchen stand, das mit einem Backenbart, einem Schnurrbart und einer Fliege ganz bewachsen war. Er war mit absichtlicher Nachlässigkeit gekleidet.
»Guten Tag, Ilja Iljitsch.«
»Guten Tag, Pjenkin; kommen Sie nicht so nahe heran, Sie bringen Kälte herein!« sagte Oblomow.
»Ach, Sie Sonderling!« sagte jener, »Sie sind noch immer derselbe unverbesserliche, sorglose Faulenzer!«
»Ja, sorglos!« sagte Oblomow, »ich werde Ihnen gleich den Brief vom Dorfschulzen zeigen; ich zerbreche mir in einem fort den Kopf, und Sie sagen, ich bin sorglos. Woher des Weges?«
»Aus der Buchhandlung. Ich hatte mich erkundigt, ob die Zeitschriften noch nicht erschienen sind. Haben Sie meinen Artikel gelesen?«
»Nein.«
»Ich schicke ihn her, lesen Sie ihn.«
»Worüber?« fragte Oblomow, heftig gähnend.
»Über den Handel, die Frauenemanzipation, über die uns zuteil gewordenen schönen Apriltage und über das neu erfundene Mittel gegen Feuerschaden. Wieso lesen Sie denn nicht? Das ist ja unser tägliches Leben. Am meisten kämpfe ich aber für die realistische Richtung in der Literatur.«
»Haben Sie viel zu tun?«
»Ja, genügend. Ich schreibe wöchentlich zwei Artikel für die Zeitung, dann Kritiken über Belletristik, und jetzt habe ich eine Erzählung verfaßt ...«
»Wovon handelt sie?«
»Davon, wie in einer Stadt der Polizeimeister die Kleinbürger ins Gesicht schlägt ...«
»Ja, das ist wirklich eine realistische Richtung«, sagte Oblomow.
»Nicht wahr?« bestätigte der erfreute Journalist. »Ich führe folgenden Gedanken aus, von dem ich weiß, daß er neu und kühn ist. Ein Vorüberreisender war Zeuge dieser Behandlung und beklagte sich bei seinem Zusammensein mit dem Gouverneur darüber. Dieser beauftragte den Beamten, welcher daselbst inspizieren sollte, sich nebenbei von der Sache zu überzeugen und überhaupt über die Persönlichkeit und das Benehmen des Polizeimeisters Erkundigungen einzuziehen. Der Beamte ließ die Kleinbürger kommen, angeblich um über den Handel zu sprechen, machte sich aber statt dessen daran, sie über jene Angelegenheit auszufragen. Wie haben sich aber die Kleinbürger dabei verhalten? Sie haben sich verbeugt und gelacht und haben das Lob des Polizeimeisters gesungen. Der Beamte begann, sich anderwärts zu erkundigen, und man sagte ihm, die Kleinbürger wären schreckliche Betrüger, sie handelten mit fauler Ware und übervorteilten selbst den Staat beim Wiegen und Messen, sie wären alle sehr unmoralisch, so daß die Schläge sich als eine gerechte Strafe erwiesen ...«
»Die Schläge des Polizeimeisters spielen also in der Erzählung die Rolle des Fatums der alten Tragiker?« sagte Oblomow.
»Sehr richtig«, fiel Pjenkin ein. »Sie haben viel Takt, Ilja Iljitsch. Sie sollten schreiben! Und dabei ist es mir gelungen, das eigenmächtige Verfahren des Polizeimeisters, die Sittenverderbtheit des Volkes, die schlechte Organisation der Beamten und die Notwendigkeit von strengen, aber gerechten Gesetzen zu zeigen ... Nicht wahr, dieser Gedanke ist ... ziemlich neu?«
»Ja, besonders für mich«, sagte Oblomow, »ich lese so wenig ...«
»Man sieht in der Tat keine Bücher bei Ihnen!« bemerkte Pjenkin. »Aber ich beschwöre Sie, lesen Sie das eine; es erscheint ein, man kann sagen, wunderbares satirisches Poem: ›Die Liebe des Bestechlichen zum gefallenen Weibe.‹ Ich kann Ihnen nicht sagen, wer der Autor ist. Das ist noch ein Geheimnis.«
»Wie ist denn der Inhalt?«
»Es wird darin der Mechanismus unserer ganzen sozialen Bewegung bloßgelegt, und das alles in poetischen Farben. Alle Federn werden berührt; alle Stufen der sozialen Leiter werden untersucht. Der Autor richtet darin den schwachen, aber verderbten Edelmann, den ganzen Schwarm der ihn betrügenden bestechlichen Beamten und alle Rangstufen der gefallenen Frauen ... Französinnen, Deutsche und Finninnen, und das alles wird mit verblüffender, lebensvoller Wahrheit geschildert ... Ich habe Bruchstücke daraus gehört – der Autor ist groß! Man glaubt in ihm bald Dante und bald Shakespeare zu vernehmen ...«
»Das will aber viel heißen!« sagte Oblomow und richtete sich erstaunt auf.
Pjenkin verstummte plötzlich, da er sah, daß er tatsächlich übertrieben hatte.
»Wenn Sie es lesen, werden Sie selbst sehen«, fügte er schon ruhiger hinzu.
»Nein, Pjenkin, ich werde es nicht lesen.«
»Warum denn nicht? Es hat Lärm gemacht, man spricht davon ...«
»Und wenn! Manche haben ja nichts anderes zu tun, als zu sprechen. Es gibt einen solchen Beruf.«
»Lesen Sie es doch aus Neugierde.«
»Was ist denn Neues darin?« sagte Oblomow. »Warum schreiben Sie bloß so zum Zeitvertreib ...«
»Wieso denn? Wie wahr, wie wahr alles ist! Es ist zum Lachen ähnlich. Wie lebendige Porträts. Wenn Sie irgend jemand vornehmen, einen Kaufmann, einen Beamten, einen Offizier oder einen Wächter – ist es, als druckten sie ihn lebend ab.«
»Weswegen mühen Sie sich denn ab? Des Spaßes halber, daß jeder, den Sie vornehmen, ähnlich herauskommt? Es ist aber kein Leben darin; es fehlt das Verständnis dafür, das Mitfühlen, das, was bei euch Humanität heißt. Es ist nichts wie Eitelkeit dabei. Sie beschreiben die Diebe und die gefallenen Frauen, als fingen Sie sie auf der Straße ein und führten sie ins Gefängnis. Man hört in Ihren Erzählungen nicht die unsichtbaren Tränen, sondern nur sichtbares, rohes Lachen und Zorn ...«
»Was braucht man denn noch? Das ist ja ausgezeichnet, Sie haben es ja selbst ausgesprochen: Dieser flammende Zorn, das gallige Verfolgen des Lasters, das verächtliche Lachen dem gefallenen Menschen gegenüber ... darin ist ja alles!«
»Nein, nicht alles!« ereiferte sich plötzlich Oblomow. »Schildere einen Dieb, ein gefallenes Weib, einen aufgeblasenen Narren, vergiß aber dabei nicht den Menschen. Wo ist denn die Menschlichkeit? Ihr wollt nur mit dem Kopf schreiben?« sagte Oblomow fast zischend. »Ihr glaubt, man braucht beim Denken kein Herz zu haben? Nein, der Gedanke wird durch die Liebe befruchtet. Reicht dem gefallenen Menschen die Hand, um ihn aufzurichten, oder weint bitterlich über ihn, aber verhöhnt ihn nicht. Liebt ihn, denkt bei ihm an euch selbst und behandelt ihn wie euch selbst, dann werde ich beginnen, euch zu lesen, und werde vor euch mein Haupt neigen ...« sagte er und legte sich wieder bequem auf das Sofa hin. »Sie schildern einen Dieb, ein gefallenes Weib«, sagte er, »und vergessen, den Menschen zu schildern, oder Sie können es nicht. Was ist denn das für eine Kunst, was für poetische Farben haben Sie dabei herausgefunden? Verfolgt das Laster, den Schmutz, aber bitte, ohne Anspruch auf Poesie.«
»Wollen Sie also die Natur dargestellt haben? Rosen, die Nachtigall oder einen frostigen Morgen, während alles um Sie herum braust und wirbelt? Wir brauchen die nackte Physiologie der menschlichen Gesellschaft; wir sind jetzt nicht zu Liedern aufgelegt ...«
»Gebt mir den Menschen, den Menschen!« sagte Oblomow, »liebt ihn ...«
»Den Wucherer, den Heuchler, den diebischen oder stumpfsinnigen Beamten lieben – hören Sie! Was sagen Sie da? Man sieht, daß Sie sich nicht mit Literatur befassen!« sagte Pjenkin erregt. »Nein, man muß sie strafen, aus der Mitte der Bürger, aus der Gesellschaft ausstoßen ...«
»Sie aus der Mitte der Bürger ausstoßen!« begann plötzlich Oblomow voll Begeisterung, sich vor Pjenkin erhebend, »das heißt vergessen, daß in diesem schlechten Gefäß ein höherer Ursprung eingeschlossen war; daß er ein verderbter Mensch, aber doch immerhin ein Mensch, das heißt einer wie ihr ist. Ausstoßen! Und wie wollt ihr ihn aus dem Kreise der Menschheit, aus dem Schoße der Natur, aus Gottes Barmherzigkeit ausstoßen?« schrie er fast mit flammenden Augen.
»Sie übertreiben aber!« sagte Pjenkin, an den jetzt die Reihe zu erstaunen gekommen war.
Oblomow sah, daß auch er zu weit gegangen war. Er verstummte plötzlich, blieb eine Weile stehen, gähnte und legte sich langsam auf das Sofa nieder.
Sie schwiegen beide.
»Was lesen Sie denn?« fragte Pjenkin.
»Ich? ... meistens Reisebeschreibungen.«
Ein erneutes Schweigen.
»Werden Sie also das Poem lesen, wenn es erscheint? Ich würde es Ihnen bringen ...« sagte Pjenkin.
Oblomow schüttelte verneinend den Kopf.
»Dann werde ich Ihnen meine Erzählung schicken!«
Oblomow nickte zum Zeichen der Zustimmung.
»Jetzt muß ich aber in die Druckerei!« sagte Pjenkin. »Wissen Sie, warum ich zu Ihnen gekommen bin? Ich wollte Ihnen den Vorschlag machen, mit mir nach Jekaterinhof zu fahren; ich habe einen Wagen. Ich muß morgen einen Artikel über den Korso schreiben; wir würden zusammen beobachten, wenn mir etwas entginge, würden Sie es mir mitteilen; das wäre lustiger. Kommen Sie mit ...«
»Nein, ich bin unwohl«, sagte Oblomow, das Gesicht verziehend und sich in die Decke einhüllend; »ich fürchte die Feuchtigkeit, es ist jetzt noch nicht trocken. Kommen Sie aber heute zum Mittagessen; wir würden miteinander einiges besprechen ... Mir ist ein doppeltes Unglück passiert ...«
»Nein, unsere ganze Redaktion versammelt sich heute im Restaurant Saint-Georges, von dort aus fahren wir zum Korso. Und in der Nacht muß ich schreiben und beim Morgengrauen in die Druckerei schicken. Auf Wiedersehen!«
»Auf Wiedersehen, Pjenkin!«
In der Nacht schreiben, dachte Oblomow, wann soll man denn schlafen? Er verdient aber sicher fünftausend jährlich! – Das ist ein Brot! Aber immer schreiben, seine Gedanken, seine Seele auf Kleinigkeiten ausgeben, die Überzeugungen ändern, mit dem Verstande und der Phantasie Handel treiben, seine Natur vergewaltigen, sich aufregen, immer glühen und entflammt sein, keine Ruhe kennen und sich immer weiter bewegen ... Und immer schreiben, immer schreiben, wie ein Rad, wie eine Maschine: morgen, übermorgen; es kommen Feiertage, es kommt der Sommer, und er muß immer schreiben! Wann soll man da stehenbleiben und ausruhen? Der Unglückliche!
Er wandte den Kopf zum Tische hin, wo alles leer war, wo das ausgetrocknete Tintenfaß stand und keine Feder zu sehen war, und freute sich, daß er sorglos wie ein neugeborenes Kind dalag, sich nicht mit so viel Dingen zu befassen und sich nicht zu verkaufen brauchte. »Und der Brief des Dorfschulzen und die Wohnung?« erinnerte er sich plötzlich und wurde nachdenklich.
Jetzt aber ertönte wieder ein Läuten.
»Bei mir ist ja heute der reinste Jour!« sagte Oblomow und wartete, wer eintreten würde.
Es kam ein Mann von unbestimmtem Alter mit einem indifferenten Gesicht herein; er befand sich in einer Periode, in der es schwer ist, die Zahl der Jahre zu bestimmen; er war nicht schön und nicht häßlich, nicht groß und nicht klein gewachsen, weder blond noch brünett. Die Natur hatte ihm keinen einzigen ausgeprägten, bemerkbaren Zug verliehen, weder einen bösen noch einen guten. Viele nannten ihn Iwan Iwanitsch, andere – Iwan Wassiljitsch und noch andere Iwan Michailitsch. Sein Familienname wechselte auch beständig; manche sagten, er hieße Iwanow, andere nannten ihn Wassiljew oder Andrejew, noch andere Alexejew. Ein Fremder, der ihn zum ersten Male sah und dem man seinen Namen nannte, merkte sich weder diesen noch das Gesicht; er merkte sich auch nicht, was er sagte. Seine Anwesenheit bietet der Gesellschaft gar nichts, ebenso wie seine Abwesenheit ihr nichts raubt. Sein Geist besitzt weder Scharfsinn noch Originalität, noch sonst welche hervorragenden Eigenschaften, ebenso wie seinem Körper besondere Merkmale fehlen. Er hätte vielleicht das, was er gesehen und gehört hat, erzählen können und die Anwesenden wenigstens auf diese Weise amüsieren, er kam aber nirgends hin; seit er in Petersburg geboren wurde, fuhr er nirgends hin, er sah und hörte folglich nur das, was auch den anderen bekannt war. Ist ein solcher Mensch sympathisch? Liebt er? Haßt er? Leidet er? Er müßte doch lieben und nicht lieben und leiden, da ja niemand davon befreit wird. Er bringt es aber zuwege, alle zu lieben. Es gibt Menschen, in denen man, so sehr man sich auch abmüht, unmöglich Widerspruchsgeist oder Rachedurst usw. hervorrufen kann. Man mag mit ihnen tun, was man will, sie bleiben immer zärtlich. Obwohl man von solchen Menschen sagt, daß sie alle lieben und infolgedessen gut sind, lieben sie doch im Grunde niemand und sind nur darum gut, weil sie nicht böse sind. Wenn andere in seiner Anwesenheit einem Bettler ein Almosen geben, wirft auch er ihm einen Nickel hin, wenn sie den Bettler aber beschimpfen, ihn fortjagen oder verhöhnen, wird auch er mit den anderen schimpfen und höhnen. Man kann ihn nicht reich nennen, weil er nicht reich, sondern eher arm ist; man kann ihn aber auch nicht ausgesprochen arm nennen; übrigens nur darum nicht, weil es noch viel ärmere Menschen gibt als ihn. Er bezieht von irgendwo ein Einkommen von dreihundert Rubel jährlich, außerdem hat er eine mittelmäßige Anstellung und bekommt ein mittelmäßiges Gehalt; er leidet nicht Not und borgt bei niemand Geld, und es fällt niemand ein, bei ihm zu borgen. In seinem Amte wird ihm keine bestimmte, ständige Beschäftigung zugewiesen, weil weder seine Kollegen noch seine Chefs es auf irgendeine Weise herauszubringen vermögen, was er schlechter und was er besser ausführt, um beurteilen zu können, wozu er eigentlich befähigt ist.
Sein Erscheinen auf der Welt wurde wohl kaum von irgend jemand außer von seiner Mutter bemerkt; sehr wenige bemerken ihn während seines Lebens; es wird wohl aber niemand bemerken, wie er aus der Welt verschwinden wird, niemand wird fragen, sein Bedauern ausdrücken, aber auch niemand wird sich über seinen Tod freuen. Er hat weder Feinde noch Freunde, aber eine Menge Bekannte. Vielleicht wird sein Leichenzug die Aufmerksamkeit des Passanten auf sich lenken, der dieser unbestimmten Persönlichkeit durch eine tiefe Verbeugung die ihr zum ersten Male zuteil werdende Ehrenbezeugung erweisen wird; vielleicht wird sogar ein Neugieriger der Prozession nachlaufen, um den Namen des Toten zu erfahren, den er sogleich wieder vergißt.
Dieser ganze Alexejew, Wassiljew, Andrejew, oder wie Sie sonst wollen, daß er heißt, ist ein unvollständiger, unpersönlicher Abklatsch der Masse, ihr dumpfer Widerhall und unklarer Widerschein. Sogar Sachar, der in offenherzigen Gesprächen in den Versammlungen beim Haustor oder im Krämerladen eine scharfe Charakteristik aller Gäste, die seinen Herrn besuchten, entwarf, wurde immer verlegen, wenn dieser ... sagen wir Alexejew an die Reihe kam. Er dachte lange nach, suchte lange irgendeinen scharfen Zug, an dem man sich festhalten könnte, im Äußern, in den Manieren oder im Charakter dieses Menschen zu entdecken, zuckte endlich die Achseln und drückte sich so aus: »Und dieser ist weder Fisch noch Fleisch noch Gemüse!«
»Ah!« empfing ihn Oblomow, »das sind Sie, Alexejew? Guten Tag. Woher? Kommen Sie nicht in meine Nähe; ich gebe Ihnen nicht die Hand. Sie bringen Kälte herein!«
»Aber es ist ja gar nicht kalt! Ich hatte nicht die Absicht, heute zu Ihnen zu kommen«, sagte Alexejew, »ich bin aber Owtschinin begegnet, und er hat mich mitgenommen. Ich komme, um Sie abzuholen, Ilja Iljitsch.«
»Wohin denn?«
»Kommen Sie zu Owtschinin mit. Dort sind Matwjej Andreitsch Oljanow, Kasimir Albertitsch Pchailo und Wassili Sewastjanitsch Kolimjagin.«
»Wozu haben sie sich dort versammelt, und wozu brauchen sie mich?«
»Owtschinin ladet Sie zum Mittagessen ein.«
»Hm! zum Mittagessen ...« wiederholte Oblomow eintönig.
»Und dann fahren alle nach Jekaterinhof; er wird Ihnen sagen lassen, Sie möchten einen Wagen neh men.«
»Und was wird man dort tun?«
»Was! Heut ist doch Korso dort. Wissen Sie nicht? Heute ist der erste Mai!«
»Setzen Sie sich; wir werden uns die Sache überlegen ...« sagte Oblomow.
»Stehen Sie doch auf! Es ist Zeit, sich anzukleiden.«
»Warten Sie ein wenig, es ist ja noch früh.«
»Es ist gar nicht mehr früh! Er hat gebeten, Sie möchten um zwölf Uhr kommen; wir werden etwas früher essen, damit wir um zwei Uhr schon fertig sind, und fahren dann zum Korso. Gehen wir also gleich! Soll ich Ihnen die Kleider geben lassen?«
»Wieso die Kleider? Ich habe mich noch nicht gewaschen.«
»Waschen Sie sich also.«
Alexejew begann im Zimmer auf und ab zu gehen, blieb dann vor einem Bilde stehen, das er tausendmal früher gesehen hatte, blickte flüchtig zum Fenster hinaus, nahm irgendeinen Gegenstand von der Etagere herunter, drehte ihn in den Händen herum, betrachtete ihn von allen Seiten, legte ihn dann hin und begann wieder pfeifend auf und ab zu gehen, um Oblomow beim Aufstehen und Waschen nicht zu stören. So vergingen zehn Minuten.
»Was ist denn mit Ihnen«, fragte plötzlich Alexejew Ilja Iljitsch.
»Was denn?«
»Sie liegen ja noch immer!«
»Muß ich denn aufstehen?«
»Aber gewiß! Man erwartet uns. Sie wollten ja mitkommen.«
»Wohin denn? Ich wollte nirgends mitkommen ...«
»Wir haben doch eben davon gesprochen, daß wir zu Owtschinin zum Essen, und dann nach Jekaterinhof fahren ...«
»Ich soll in dieser Nässe fahren! Und was gibt es dort Besonderes? Es sieht nach Regen aus, es wird trüb«, sagte Oblomow träge.
»Es ist kein Wölkchen am Himmel, und Sie denken sich einen Regen aus! Es ist deshalb trübe, weil die Fenster bei Ihnen schon sehr lange nicht mehr geputzt worden sind. Wieviel Schmutz darauf ist! Man sieht nichts, und außerdem ist die eine Jalousie fast ganz geschlossen.«
»Ja, erwähnen Sie das nur einmal in Sachars Anwesenheit, da wird er Ihnen gleich Abwaschfrauen vorschlagen und mich für den ganzen Tag aus dem Hause jagen!«
Oblomow sann nach, während Alexejew mit den Fingern auf dem Tisch trommelte, an dem er saß, und die Augen zerstreut über die Wände und die Zimmerdecke irren ließ.
»Also wie wird es sein? Was tun wir? Ziehen Sie sich an oder bleiben Sie so?« fragte er nach ein paar Minuten.
»Wohin?«
»Nach Jekaterinhof!«
»Was finden Sie denn an diesem Jekaterinhof!« antwortete Oblomow ärgerlich. »Können Sie denn hier nicht sitzenbleiben? Ist es denn kalt im Zimmer oder ist hier schlechte Luft, daß Sie hinaus wollen?«
»Nein, ich fühle mich bei Ihnen immer wohl; ich bin hier zufrieden«, sagte Alexejew.
»Also, wenn es hier schön ist, wozu dann anderswohin wollen? Bleiben Sie lieber den ganzen Tag bei mir, essen Sie hier zu Mittag, und gehen Sie dann abends, wenn es sein muß ... Übrigens, ich habe ganz vergessen: ich kann ja gar nicht mitfahren! Tarantjew kommt zum Essen; es ist ja heute Samstag.«
»Wenn es so ist ... gut ... wie Sie wollen ...« sagte Alexejew.
»Habe ich Ihnen noch nichts von meinen Angelegenheiten erzählt?« fragte Oblomow lebhaft.
»Von welchen Angelegenheiten? Ich weiß nichts«, antwortete Alexejew, ihn neugierig anblickend.
»Wissen Sie, warum ich so lange nicht aufstehe? Ich habe immer dagelegen und habe nachgedacht, wie ich mich von der Verlegenheit befreien soll.«
»Was ist es denn?« fragte Alexejew und bestrebte sich, ein erschrockenes Gesicht zu machen.
»Ich habe ein doppeltes Unglück! Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
»Was denn für eins?«
»Man jagt mich aus der Wohnung heraus, denken Sie sich – ich soll umziehen: das Einpacken, die Schererei ... es ist schrecklich, daran zu denken! Ich wohne doch nun acht Jahre in dem Hause. Der Hausherr hat mir einen Streich gespielt und sagt: ›Räumen Sie schnell die Wohnung.‹«
»Und noch dazu schnell! Es muß also sein. Das Umziehen ist etwas sehr Unangenehmes; damit sind immer viele Scherereien verbunden«, sagte Alexejew. »Vieles wird zerschlagen und geht verloren – das ist sehr langweilig! Und Sie haben eine so schöne Wohnung ... Was zahlen Sie?«
»Wo findet man eine zweite solche Wohnung«, sagte Oblomow, »und noch dazu in der Eile? Die Wohnung ist trocken und warm; es ist ein ruhiges Haus; man hat mich nur einmal bestohlen. Die Zimmerdecke schaut ganz unzuverlässig aus, der Mörtel ist ganz lose daran, fällt aber doch nicht herab.«
»Wirklich?« sagte Alexejew, den Kopf hin und her wiegend.
»Wie soll man es einrichten, daß ich nicht umziehen muß?« sagte Oblomow grübelnd vor sich hin.
»Haben Sie Ihre Wohnung kontraktlich gemietet?« fragte Alexejew, das Zimmer von der Decke bis zum Fußboden musternd.
»Ja, aber der Kontrakt ist abgelaufen; ich habe die ganze Zeit monatlich gezahlt ... ich weiß aber nicht wie lange.«
Beide sannen nach.
»Was haben Sie also vor?« fragte Alexejew nach einem Schweigen, »ziehen Sie um oder bleiben Sie?«
»Ich habe gar nichts vor«, sagte Oblomow, »ich will gar nicht daran denken. Sachar soll etwas erfinden.«
»Und manche Menschen lieben das Umziehen«, sagte Alexejew, »das Wohnungswechseln ist ihr einziges Vergnügen ...«
»Nun, dann sollen die ›Manchen‹ auch umziehen! Aber ich kann alle diese Veränderungen nicht ausstehen! Die Wohnung ist noch das wenigste! Schauen Sie einmal, was mir der Dorfschulze schreibt. Ich werde Ihnen gleich den Brief zeigen ... Wo ist er? Sachar, Sachar!«
»Ach du himmlische Jungfrau!« krächzte Sachar in seinem Zimmer, indem er von der Ofenbank heruntersprang: »Wann wird mich Gott zu sich rufen?«
Er kam herein und blickte den Herrn mit trüben Augen an.
»Warum hast du den Brief nicht gefunden?«
»Wo soll ich ihn finden? Weiß ich denn, was für einen Brief Sie brauchen? Ich kann nicht lesen.«
»Das ist ganz gleich, suche nur«, sagte Oblomow.
»Sie haben gestern abend irgendeinen Brief gelesen«, sprach Sachar, »und dann hab' ich ihn nicht mehr gesehen.«
»Wo ist er denn«, entgegnete Oblomow ärgerlich. »Ich hab' ihn nicht verschluckt. Ich erinnere mich sehr gut, daß du ihn mir fortgenommen und irgendwohin gelegt hast. Schau einmal nach, wo er ist!«
Er schüttelte die Decke; der Brief fiel aus den Falten auf den Fußboden.
»Sie schieben immer alles auf mich ...«
»Nun, geh nur, geh nur!« Oblomow und Sachar schrien zu gleicher Zeit einander an. Sachar ging, und Oblomow begann den Brief zu lesen, dessen graues Papier mit Kwaß beschrieben zu sein schien und der mit braunem Siegellack versiegelt war.
»Geehrter Herr«, begann Oblomow, »Euer Wohlgeboren, unser Vater und Ernährer, Ilja Iljitsch ...!«
Er übersprang ein paar Begrüßungsworte und Wünsche für sein Wohlergehen und las aus der Mitte weiter:
»Ich berichte Deinem herrschaftlichen Wohlgeboren, daß auf Deinem Gut, Du unser Ernährer, alles in Ordnung ist. Wir haben schon seit fünf Wochen keinen Regen. Der Herrgott zürnt uns wohl, da er uns keinen Regen sendet. Selbst die Alten können sich einer solchen Dürre nicht erinnern. Die Sommersaaten sind wie vom Feuer verbrannt. Die Wintersaaten sind an manchen Stellen von Würmern zernagt, und an manchen Stellen haben frühzeitige Fröste sie zugrunde gerichtet; wir haben sie zu Sommersaaten umgepflügt, wissen aber nicht, ob es geraten wird! Vielleicht wird der barmherzige Gott Deinem herrschaftlichen Wohlgeboren helfen, um uns sorgen wir uns nicht, wir sollen nur krepieren. Und zu Johanni sind noch drei Bauern fort: Laptjew, Balotschow und Wassjka, der Sohn vom Schmied ist allein fort. Ich hab' die Weiber nach den Männern geschickt. Die Weiber sind nicht zurückgekehrt und leben, wie man sagt, in Tscholki, und mein Gevatter aus Werchljewo ist auch nach Tscholki gefahren, der Verwalter hat ihn hingeschickt; man soll einen ausländischen Pflug hingebracht haben, und der Verwalter hat den Gevatter nach Tscholki geschickt, damit er diesen Pflug anschaue. Ich habe dem Gevatter von den flüchtigen Bauern erzählt; ich habe mich dem Kreisrichter zu Füßen geworfen, er hat gesagt: ›Reiche ein Papier ein, dann werden wir die Bauern nach ihrem früheren Wohnort zurückschicken‹, sonst hat er nichts gesagt, und ich bin ihm zu Füßen gefallen und hab' ihn flehentlich gebeten; und er hat mich laut angeschrien: ›Geh, geh! Man hat dir gesagt, daß es gemacht wird – reiche ein Papier ein!‹ Ich habe aber kein Papier eingereicht. Man kann hier niemand zur Arbeit aufnehmen; alle sind an die Wolga gegangen, sie arbeiten dort auf den Barken. Das Volk ist jetzt hier so dumm geworden, unser Ernährer Väterchen Ilja Iljitsch! Unser Leinen kommt dies Jahr nicht auf den Markt: ich hab' die Bleichkammer und die Trockenkammer zugeschlossen und habe den Sitschug angestellt, bei Tag und bei Nacht aufzupassen; er ist ein nüchterner Bauer, ich bin aber bei Tag und Nacht hinter ihm her, damit er nichts von der Herrschaft einsteckt. Die anderen trinken viel und zahlen gar nichts. Die Abgaben sind im großen Rückstand: wir werden Dir, Du unser Väterchen und Wohltäter, in diesem Jahr um zwei Tausend weniger schicken als im vergangenen Jahr, wenn uns die Dürre nicht ganz zugrunde richtet, sonst schicken wir es Dir, was wir Deinem Wohlgeboren hiermit mitteilen.«
Dann folgten Versicherungen der Ergebenheit und die Unterschrift: »Dein Dorfschulze, Dein ergebener Sklave Prokofij Witjaguschkin hat eigenhändig unterschrieben.« Da der Betreffende des Schreibens nicht kundig war, hatte er ein Kreuz hingemalt. »Nach dem Diktat des obigen Dorfschulzen von seinem Schwager Djomka, dem Krummen, geschrieben.«
Oblomow sah sich den Schluß des Briefes an. »Es ist weder der Monat noch das Jahr angegeben«, sagte er, »der Brief liegt gewiß seit vorigem Jahr beim Dorfschulzen; es steht von Johanni und der Dürre drin! Es ist ihm erst jetzt eingefallen, ihn fortzuschicken«; er vertiefte sich in seine Gedanken.
»Nun?« fragte er dann, »was sagen Sie dazu? Er bietet mir ›um zwei Tausend weniger‹ an! Wieviel bleibt denn da? Wieviel habe ich voriges Jahr bekommen?« fragte er, Alexejew anblickend. »Habe ich's Ihnen damals nicht gesagt? ...«
Alexejew wandte seine Augen der Zimmerdecke zu und dachte nach.
»Ich muß Stolz fragen, wenn er kommt«, fuhr Oblomow fort, »ich glaube, sieben oder acht Tausend ... es ist schlimm, wenn das nicht geschrieben wird! Er teilt mir jetzt also nur sechs zu! Ich werde ja verhungern! Wie soll ich damit auskommen?«
»Warum regen Sie sich so auf, Ilja Iljitsch?« sagte Alexejew, »man darf niemals verzweifeln; wenn etwas gemahlen ist, wird Mehl daraus.«
»Hören Sie denn nicht, was er schreibt? Anstatt mir Geld zu schicken, mich irgendwie schadlos zu halten, bereitet er mir, wie um sich über mich lustig zu machen, lauter Unannehmlichkeiten! Und so ist es jedes Jahr! Ich bin jetzt ganz außer mir! ›Um zwei Tausend weniger‹!«
»Ja, das ist ein großer Schaden«, sagte Alexejew, »zwei Tausend, das ist kein Spaß mehr! Alexei Loginitsch soll in diesem Jahr auch nur zwölftausend statt siebzehn bekommen haben.«
»Also doch zwölf und nicht sechs«, unterbrach ihn Oblomow. »Der Dorfschulze hat mich ganz verstimmt! Und wenn es auch tatsächlich so ist, daß Mißernte und Dürre herrschen, warum muß er mich da im vorhinein kränken?«
»Ja ... wirklich«, begann Alexejew, »das sollte er nicht tun; aber wie kann man denn von einem Bauern Feinfühligkeit erwarten? Dieses Volk versteht gar nichts.«
»Was würden Sie an meiner Stelle tun?« fragte Oblomow und blickte Alexejew mit der schwachen Hoffnung an, dieser würde sich zu seiner Beruhigung etwas ausdenken.
»Man muß die Sache überlegen, Ilja Iljitsch, das kann man nicht auf einmal abtun«, sagte Alexejew.
»Soll ich vielleicht dem Gouverneur schreiben?« sagte Ilja Iljitsch nachdenklich.
»Wer ist denn dort Gouverneur?«
Ilja Iljitsch antwortete nicht und sann nach. Alexejew schwieg und vertiefte sich auch in seine Gedanken.
Oblomow zerknitterte den Brief, stützte seinen Kopf auf die Hände, stemmte seine Ellbogen gegen die Knie und saß einige Zeit so da, vom Ansturm beunruhigender Gedanken gepeinigt.
»Wenn wenigstens Stolz bald käme«, sagte er, »er schreibt, daß er bald hier sein wird, und treibt sich dabei Gott weiß wo herum! Er hätte mir alles geordnet.«
Er wurde wieder traurig. Lange Zeit schwiegen beide. Endlich kam Oblomow als erster zur Besinnung.
»Man muß folgendes tun!« sagte er entschlossen und wäre fast aufgestanden, »und das muß möglichst bald geschehen, man darf nicht zögern ... Erstens ...«
Da ertönte ein verzweifeltes Läuten im Vorzimmer, so daß Oblomow und Alexejew zusammenfuhren und Sachar augenblicklich von der Ofenbank herabsprang.
Drittes Kapitel
»Zu Hause?« fragte jemand im Vorzimmer laut und grob. »Wohin soll man um diese Zeit gehen?« antwortete Sachar noch gröber.
Es kam ein etwa vierzigjähriger Mann herein, der einer stämmigen Rasse anzugehören schien, groß, in den Schultern und im ganzen Körper breit war, ausgeprägte Gesichtszüge, einen großen Kopf, einen stämmigen kurzen Nacken, große Glotzaugen und dicke Lippen besaß. Ein flüchtiger Blick auf diesen Menschen erzeugte die Vorstellung von etwas Grobem und Unsauberem. Man sah, daß er sich nicht um die Eleganz seines Anzuges kümmerte. Man kam selten dazu, ihn ordentlich rasiert zu sehen. Doch das war ihm offenbar gleichgültig; seine Kleidung brachte ihn nicht in Verlegenheit und wurde von ihm mit einer zynischen Würde getragen. Das war Michej Andrejitsch Tarantjew, Oblomows Landsmann.
Tarantjew blickte alles düster an, mit halber Verachtung und offenkundiger Feindseligkeit seiner Umgebung gegenüber, er war bereit, über alle und alles auf der Welt zu schimpfen, als wäre er ungerecht gekränkt oder in irgendeiner seiner Eigenschaften verkannt worden, wie ein selbständiger, vom Schicksal verfolgter Charakter, der sich nur unfreiwillig und protestierend fügt. Seine Bewegungen waren selbstbewußt und schwungvoll; er sprach laut, dreist und fast immer zornig; wenn man ihm aus der Ferne zuhörte, schien es, drei leere Fuhren rasselten über eine Brücke. Er ließ sich durch niemands Anwesenheit einschüchtern, suchte nicht lange nach Ausdrücken und war überhaupt immer mit allen grob, ohne seine Freunde auszuschließen, als wollte er einen jeden fühlen lassen, daß er ihm durch sein Sprechen, selbst durch sein Teilnehmen am Mittagessen oder Abendbrot eine große Ehre erwies.
Tarantjew war schlagfertig und schlau; niemand konnte besser als er eine Frage des alltäglichen Lebens oder eine verwickelte juridische Angelegenheit klarlegen: er stellte sogleich eine Theorie auf, wie in dem einen oder dem andern Fall zu handeln war, führte sehr treffende Beweise an und wurde zum Schluß fast immer gegen denjenigen, der seinen Rat begehrt hatte, grob.
Dabei bekleidete er selbst, trotz seiner grauen Haare, noch dasselbe Schreiberamt in irgendeiner Kanzlei, das er vor fünfundzwanzig Jahren angenommen hatte. Es fiel weder ihm noch irgend jemand anderem ein, daß er avancieren könnte. Die Sache war die, daß Tarantjew nur gut zu sprechen verstand; in der Theorie entschied er alles, besonders das, was andere anging, klar und leicht. Sowie er aber nur einen Finger bewegen, sich erheben oder überhaupt den von ihm selbst erdachten Plan anwenden, der Sache eine praktische Richtung geben und sie schnell in Gang bringen sollte, wurde er ein ganz anderer Mensch: dazu reichte es bei ihm nicht aus, es wurde ihm plötzlich zu viel, bald war er unwohl, bald schickte es sich nicht oder es fiel ihm etwas Neues ein, das er auch nicht in Angriff nahm, oder aus dem, wenn er es tat, Gott weiß was herauskam. Dann war er wie ein Kind: bei dem einen paßte er nicht genug auf, bei dem andern wußte er irgendeine Kleinigkeit nicht, oder er kam zu spät und ließ die Sache zum Schluß halbvollendet, oder er packte sie beim verkehrten Ende an und verhunzte alles in einer solchen Weise, daß man es gar nicht wieder gutmachen konnte, und dabei war er noch imstande zu schimpfen.
Sein Vater, der ein altmodischer Gerichtsschreiber in der Provinz war, wollte seinem Sohn seine Kunst und Erfahrung, sich mit fremden Angelegenheiten abzugeben, und seine mit Erfolg zurückgelegte Laufbahn in Amtsdiensten als Erbe überlassen, doch das Schicksal fügte es anders. Der Vater, der, wie es einst in Rußland üblich war, sich seine Bildung für ein paar Kupfermünzen angeeignet hatte, wollte seinen Sohn mit der Zeit mitgehen lassen und wünschte, ihm auch außer der schwierigen Kunst, fremde Angelegenheiten zu vertreten, etwas beizubringen. Er schickte ihn drei Jahre lang zum Popen, wo er Latein lernte.
Der von Natur aus begabte Knabe hatte im Laufe der drei Jahre die lateinische Grammatik samt Syntax bewältigt und begann gerade Cornelius Nepos zu lesen, als sein Vater entschied, daß er schon genügend wußte, daß er auch durch diese seine Kenntnisse der alten Generation gegenüber einen ungeheuren Vorsprung gewonnen hatte und endlich, daß ihm seine weiteren Studien möglicherweise im Amtsdienst schaden konnten. Der sechzehnjährige Michej wußte nun nicht, was er mit seinem Latein beginnen sollte, und vergaß es nach und nach in seinem Elternhause, nahm aber dafür, in Erwartung der großen Ehre, im Landes-und Kreisgericht anwesend sein zu dürfen, an allen Festgelagen seines Vaters teil, und in dieser Schule, inmitten der aufrichtigen Gespräche, verfeinerte und entwickelte sich der Geist des jungen Mannes. Er lauschte mit jugendlicher Empfänglichkeit den Erzählungen des Vaters und dessen Kameraden von verschiedenen strafrechtlichen und zivilen Angelegenheiten, von all den interessanten Fällen, welche durch die Hände aller dieser altmodischen Gerichtsschreiber gegangen waren. Doch das alles führte zu nichts. Michej wurde zu keinem Sachkundigen und Fintenmacher, obwohl alle Bemühungen des Vaters darauf gerichtet waren und auch gewiß von Erfolg gekrönt worden wären, wenn das Schicksal seine Absichten nicht hintertrieben hätte. Michej hatte sich tatsächlich die ganze Theorie der väterlichen Belehrungen angeeignet, er brauchte sie nur anzuwenden; doch er kam infolge des Todes seines Vaters nicht dazu, eine Anstellung bei Gericht zu erlangen, und er wurde von einem Wohltäter, der ihm eine Schreiberstelle in irgendeinem Departement verschafft hatte und ihn später vergaß, nach Petersburg mitgenommen. Auf diese Weise blieb Tarantjew sein Leben lang nur Theoretiker. Er konnte in dem Petersburger Amt mit seinem Latein und mit seiner raffinierten Theorie, gerechte und rechtlose Sachen willkürlich zum Ziele zu führen, nichts anfangen. Und dabei trug er die schlummernde Kraft bewußt mit sich herum, die durch feindliche Umstände ohne Hoffnung auf Befreiung in ihm eingeschlossen war. Vielleicht war Tarantjew infolge dieses Bewußtseins so grob, feindselig, immer zornig und streitsüchtig im Verkehr. Er verhielt sich seinen amtlichen Beschäftigungen, dem Abschreiben von Papieren, dem Zusammennähen von Akten usw. gegenüber voll Bitterkeit und Verachtung. Ihm lächelte in der Zukunft nur die eine letzte Hoffnung entgegen: bei der Akzise angestellt zu werden; das war für ihn der einzige Weg, der für die ihm vom Vater vermachte, aber nicht erreichte Laufbahn einen lohnenden Tausch bot. Und in Erwartung all dessen äußerte sich die fertige, von seinem Vater erschaffene Theorie der Tätigkeit und Lebensführung, diese Theorie der Bestechlichkeit und der Kniffe, nachdem sie um ihre würdigste Anwendung in der Provinz gekommen war, in allen Details seiner nichtigen Existenz zu Petersburg und schlich sich in Ermangelung von offizieller Betätigung in alle seine freundschaftlichen Beziehungen ein. Er war seiner Seele und seinen Prinzipien nach bestechlich und brachte es fertig, in Ermangelung von Geschäften und Bittstellern von seinen Kameraden und Kollegen Bestechungsgelder einzufordern, Gott weiß warum und wofür, ließ sich, von wem und wo es nur ging, bald durch List, bald durch Aufdringlichkeit freihalten, verlangte allen unverdiente Achtung ab und suchte Händel. Seine abgetragenen Kleider brachten ihn niemals in Verlegenheit; doch er wurde unruhig, wenn er in der Perspektive des Tages kein opulentes Mittagmahl mit einer angemessenen Quantität von Wein und Schnaps vor sich sah. Infolgedessen spielte er im Kreise seiner Bekannten die Rolle eines großen Kettenhundes, der alle anbellte und von keinem sich berühren ließ, dabei aber unfehlbar jedes Stück Fleisch im Fluge auffing, woher und wohin es auch fliegen mochte.
So waren die beiden eifrigsten Besucher Oblomows. Warum kamen diese beiden russischen Proletarier zu ihm? Das wußten sie sehr gut: um zu essen, zu trinken und gute Zigarren zu rauchen. Sie fanden warme, ruhige Räume und einen gleichmäßigen, wenn nicht freudigen, so doch gleichgültigen Empfang. Aber warum Oblomow sie zu sich ließ, darüber gab er sich wohl kaum Rechenschaft. Wahrscheinlich aus demselben Grunde, aus welchem noch bis heute in unseren entlegenen Oblomowkas1 in jedem wohlhabenden Hause sich ein Schwarm ähnlicher Persönlichkeiten beiderlei Geschlechtes drängt, ohne Brot, ohne Beschäftigung, ohne Hände, um etwas zu produzieren, nur mit einem Magen, um zu konsumieren, aber fast immer mit einem Rang und einem Titel. Es gibt noch Sybariten, für welche solche Anhängsel in ihrem Leben ein Bedürfnis sind: sie langweilen sich, wenn sie auf der Welt nicht etwas Überflüssiges haben. Wer wird eine irgendwohin verschwundene Tabatiere reichen, oder wer wird das auf den Fußboden herabgefallene Taschentuch aufheben? Wem kann man mit einem Anrecht auf Teilnahme über Kopfweh klagen, einen bösen Traum erzählen und dessen Deutung verlangen? Wer wird vor dem Schlaf vorlesen und einzuschlafen helfen? Und manchmal wird ein solcher Proletarier in die nächste Stadt zum Einkauf geschickt und hilft in der Wirtschaft mit – man wird sich doch mit diesen Dingen nicht selbst befassen!
Tarantjew machte viel Lärm und rüttelte Oblomow aus seiner Unbeweglichkeit und Langeweile auf. Er schrie, stritt und führte selbst etwas von der Art einer Vorstellung auf, indem er den faulen Edelmann von der Notwendigkeit zu sprechen und zu handeln befreite. Tarantjew brachte in das Zimmer, in welchem Schlaf und Ruhe herrschten, Leben, Bewegung und manchmal Kunde von außen, Oblomow konnte ohne einen Finger zu rühren etwas Lebendiges sehen und hören, das sich vor ihm bewegte und sprach. Außerdem war er noch einfältig genug zu glauben, Tarantjew wäre imstande, ihm tatsächlich etwas Brauchbares anzuraten.
Alexejews Besuche wurden von Oblomow aus einem anderen, nicht minder wichtigen Grunde geduldet. Wenn er die Zeit nach seinem Geschmack verbringen, d.h. schweigend daliegen, schlummern oder im Zimmer auf und ab gehen wollte, schien Alexejew gar nicht anwesend zu sein; er schwieg gleichfalls, schlummerte oder blickte in ein Buch hinein und betrachtete mit einem faulen Gähnen, bis zu Tränen, die Bilder und Kleinigkeiten. Er konnte drei Tage ununterbrochen auf diese Weise verbringen. Wenn das Alleinsein Oblomow aber lästig wurde, wenn er das Bedürfnis zu sprechen, zu lesen, zu räsonieren, irgendeine Erregung zu äußern, fühlte, hatte er stets einen gehorsamen und bereitwilligen Gesellschafter vor sich, der sein Schweigen und Sprechen, seine Aufregung und seine Denkweise, wie diese auch sein mochten, mit dem gleichen Diensteifer teilte. Die übrigen Gäste kamen selten, nur auf einen Augenblick, wie die früheren drei; das lebenskräftige Band, das ihn mit ihnen allen verbunden hatte, lockerte sich immer mehr und mehr. Oblomow interessierte sich manchmal für irgendeine Neuigkeit, für ein Gespräch von fünf Minuten, und schwieg dann befriedigt. Man mußte sich ihnen durch Aufmerksamkeit erkenntlich erweisen und an allem, was sie interessierte, teilnehmen. Sie ließen sich vom Menschenstrom forttragen; ein jeder von ihnen faßte das Leben auf seine Weise auf, so, wie Oblomow es nicht auffassen wollte; sie drängten ihn aber auch hinein. Das alles mißfiel ihm, stieß ihn ab, war ihm unangenehm. Nur ein Mensch war nach seinem Geschmack; auch dieser störte ihn in seiner Ruhe; auch dieser liebte das Neue, die Welt, die Wissenschaft und das ganze Leben, doch er liebte das alles tiefer, wärmer, aufrichtiger – und Oblomow, der mit allen freundlich war, liebte nur ihn allein von Herzen und glaubte nur ihm allein, vielleicht deswegen, weil er mit ihm zusammen aufgewachsen war, mit ihm zusammen gelernt und gelebt hatte. Das war Andrej Iwanitsch Stolz. Er war abwesend, doch Oblomow erwartete ihn stündlich.
Fußnoten
1 Die vom Familiennamen des Besitzers abgeleitete Benennung des Gutes.
Viertes Kapitel
»Guten Tag, Landsmann«, sagte Tarantjew kurz angebunden, seine zottige Hand Oblomow hinstreckend. »Warum liegst du noch bis jetzt wie ein Holzklotz da?«
»Komm nicht heran, komm nicht heran: du bringst Kälte mit«, sagte Oblomow, sich zudeckend.
»Was du dir einbildest! Ich sollte Kälte mitbringen?!« schrie Tarantjew auf. »Nimm nur die Hand, wenn man sie dir reicht! Es ist bald zwölf Uhr, und er liegt noch herum!«
Er wollte Oblomow vom Bett aufheben, doch dieser kam ihm zuvor, indem er die Füße rasch herabgleiten ließ und sofort in beide Pantoffeln zugleich schlüpfte.
»Ich wollte selbst bald aufstehen«, sagte er gähnend.
»Ich weiß schon, wie du aufstehen wolltest; du wärest bis zum Mittagessen liegen geblieben. He, Sachar! wo steckst du, alter Dummkopf? Hilf dem Herrn beim Anziehen.«
»Schaffen Sie sich zuerst Ihren eigenen Sachar an, dann können Sie schimpfen!« sagte Sachar, ins Zimmer tretend und Tarantjew feindselig anblickend. »Wieviel Straßenkot Sie hereingebracht haben, wie ein Hausierer!« fügte er hinzu.
»Du redest noch, du Teufelsfratze!« antwortete Tarantjew und hob den Fuß auf, um den vorübergehenden Sachar zu stoßen; doch dieser blieb stehen, wandte sich zu ihm hin und machte sich kampfbereit.
»Rühren Sie mich nur an! Was ist denn das? Ich gehe ...« sagte er und näherte sich der Tür.
»Aber hör doch auf, Michej Andreitsch, wie aufgeregt du bist! Warum läßt du ihn nicht in Ruh'?« sagte Oblomow. »Sachar, gib alles her, was ich brauche!«
Sachar kehrte um und lief, Tarantjew anschielend, geschwind an ihm vorüber. Oblomow stütze sich auf ihn, erhob sich ungern, wie ein sehr ermüdeter Mensch, vom Bett, ließ sich ebenso ungern in einen großen Lehnstuhl sinken und blieb reglos sitzen. Sachar nahm vom Tischchen Pomade, die Kämme und Bürsten, schmierte ihm den Kopf mit Pomade ein, machte ihm einen Scheitel und bürstete ihm dann die Haare.
»Werden Sie sich jetzt waschen?« fragte er.
»Ich werde noch ein wenig warten«, antwortete Oblomow, »geh!«
»Ah, Sie sind auch da?« sagte Tarantjew, sich plötzlich an Alexejew wendend, während Sachar Oblomow frisierte, »ich habe Sie gar nicht gesehen. Weshalb sind Sie hier? Ihr Verwandter ist ein solches Schwein! Ich wollte es Ihnen immer sagen ...«
»Was für ein Verwandter? Ich habe gar keinen Verwandten«, antwortete schüchtern der verblüffte Alexejew und glotzte Tarantjew an.
»Nun dieser da, welcher hier angestellt ist, wer ist es doch gleich? ... Er heißt Afanassjew. Wieso soll er denn nicht Ihr Verwandter sein? Er ist doch Ihr Verwandter.«
»Ich bin doch nicht Afanassjew, ich bin Alexejew«, sagte dieser, »ich habe keinen Verwandten.«
»Das ist nicht Ihr Verwandter? Er ist ebenso unansehnlich wie Sie und heißt auch Wassilij Nikolaitsch.«
»Bei Gott, er ist nicht mit mir verwandt; ich heiße Iwan Alexeitsch.«
»Nun, das ist ganz gleich, er sieht Ihnen ähnlich. Er ist aber ein Schwein; sagen Sie ihm das, wenn Sie ihn sehen.«
»Ich kenne ihn nicht und habe ihn niemals gesehen«, sagte Alexejew, seine Tabatiere öffnend.
»Geben Sie mir einmal Ihren Tabak«, sagte Tarantjew, »Sie haben einfachen und keinen französischen Tabak? Ja gewiß«, sagte er, nachdem er geschnupft hatte, »warum haben Sie keinen französischen?« fügte er dann strenge hinzu. »Wirklich, ich habe noch niemals ein solches Schwein gesehen, wie Ihr Verwandter es ist«, fuhr Tarantjew fort. »Ich habe von ihm einmal, es wird schon zwei Jahre her sein, fünfzig Rubel geborgt. Nun, sind denn fünfzig Rubel viel Geld? Wie sollte man so etwas nicht vergessen? Er denkt aber noch daran; er sagt mir nach einem Monat, wo er mich auch trifft: ›Und wie steht's mit Ihrer Schuld?‹ Es ist mir zu dumm geworden! Außerdem ist er gestern in unser Departement gekommen. ›Sie haben gewiß Ihr Gehalt bekommen‹, sagte er, ›jetzt können Sie mir das Geld zurückgeben.‹ Ich habe ihm mein Gehalt gegeben und habe ihn vor allen so beschämt, daß er mit Mühe zur Tür hinaus gefunden hat. Er sagt: ›Ich bin ein armer Mann, ich brauche es selbst!‹ Als ob ich es nicht brauchte! Bin ich denn so reich, um ihm immer fünfzig Rubel abzuzählen! Gib mir eine Zigarre, Landsmann.«
»Die Zigarren liegen dort in der Schachtel«, antwortete Oblomow, auf die Etagere zeigend. Er saß sinnend in seiner schönen, trägen Stellung im Lehnstuhl, ohne zu sehen, was um ihn her vorging, und ohne zu hören, was gesprochen wurde. Er blickte seine kleinen, weißen Hände liebevoll an und streichelte sie.
»Ah, das sind ja noch immer dieselben?« fragte Tarantjew streng, sich eine Zigarre herausnehmend und Oblomow anblickend.
»Ja, es sind dieselben«, antwortete Oblomow mechanisch.
»Und ich habe dir doch gesagt, du sollst dir andere, ausländische kaufen! So denkst du daran, was man dir sagt! Also schau zu, daß nächsten Samstag welche da sind, sonst komme ich lange nicht mehr her. Was das für ein Zeug ist!« sprach er weiter, sich die Zigarre anzündend, paffte eine Rauchwolke in die Luft und zog eine zweite ein, »man kann das gar nicht rauchen.«
»Du bist heute früh gekommen, Michej Andreitsch«, sagte Oblomow gähnend.
»Bist du vielleicht meiner überdrüssig?«
»Nein, ich habe das nur so bemerkt; du kommst gewöhnlich direkt zum Essen, und jetzt geht es erst auf ein Uhr.«
»Ich bin absichtlich früher gekommen, um zu erfahren, was heute für ein Mittagessen ist. Du fütterst mich immer mit elendem Zeug, ich möchte also erfahren, was du für heute bestellt hast.«
»Frage in der Küche nach«, sagte Oblomow.
Tarantjew ging hinaus.
»Aber was ist denn das!« sagte er, als er zurückkam, »Rindfleisch und Kalbsbraten. Ach, Bruder Oblomow, du verstehst nicht zu leben und bist noch dabei Gutsbesitzer! Was bist du für ein Edelmann? Du lebst wie ein Kleinbürger; du verstehst es nicht, einen Freund zu bewirten! Nun, hast du Madeira gekauft?«
»Ich weiß nicht, frage Sachar«, sagte Oblomow, fast ohne ihm zuzuhören, »es ist gewiß Wein da.«
»Der frühere deutsche? Nein, laß einen in der englischen Handlung kaufen.«
»Dieser ist auch gut genug«, sagte Oblomow, »sonst muß ich noch hinschicken!«
»Gib mir Geld, ich gehe vorüber und bringe eine Flasche mit; ich muß noch einen Gang machen.«
Oblomow wühlte in der Schublade herum und nahm einen roten Zehnrubelschein heraus, wie man sie damals hatte.
»Madeira kostet sieben Rubel«, sagte Oblomow, »und hier sind zehn.«
»Gib nur alles her: man wechselt es dort, habe keine Angst!«
Er riß den Schein Oblomow aus der Hand und versteckte ihn schnell in seiner Tasche.
»Nun, ich gehe«, sagte Tarantjew, den Hut aufsetzend, »ich komme um fünf Uhr wieder; man hat mir eine Anstellung bei der Akzise versprochen und hat gesagt, ich soll mich erkundigen ... Übrigens, hör einmal, Ilja Iljitsch: willst du heute nicht einen Wagen mieten, um nach Jekaterinhof zu fahren? Du könntest auch mich mitnehmen.«
Oblomow schüttelte verneinend den Kopf.
»Bist du zu faul, oder ist es dir um das Geld zu schade? Ach, du Mehlsack!« sagte er. »Nun, vorläufig adieu ...«
»Warte, Michej Andreitsch«, unterbrach ihn Oblomow, »ich muß mich über einiges mit dir beraten.«
»Was hast du denn? Sprich schnell; ich hab' keine Zeit.«
»Mich hat ein doppeltes Malheur betroffen. Man jagt mich aus der Wohnung hinaus ...«
»Du zahlst wohl nicht; sie haben schon recht!« sagte Tarantjew und wollte gehen.
»Was fällt dir ein! Ich zahle immer im voraus. Nein, man will die Wohnung umbauen ... Aber warte doch! Wohin gehst du? Rate mir, was ich tun soll: man drängt mich, ich soll in einer Woche ausziehen ...«
»Warum soll ich eigentlich dein Ratgeber sein? ... Was bildest du dir eigentlich ein ...«
»Ich bilde mir gar nichts ein«, sagte Oblomow, »lärme nicht und schreie nicht, denke lieber darüber nach, was zu tun ist. Du bist ein praktischer Mensch ...«
Tarantjew hörte ihm nicht mehr zu und überlegte sich etwas.
»Nun, also meinetwegen; bedanke dich bei mir«, sagte er, sich setzend und den Hut abnehmend, »und laß beim Mittagessen Champagner servieren: deine Angelegenheit ist erledigt.«
»Wie denn?« fragte Oblomow.
»Gibst du mir Champagner?«
»Also gut, wenn dein Rat so viel wert ist ...«
»Du bist ja gar nicht wert, daß ich dir einen Rat gebe. Warum soll ich dir denn umsonst raten? Frage doch diesen da«, fügte er auf Alexejew hinweisend hinzu, »oder seinen Verwandten.«
»Aber so laß doch gut sein und sprich!« bat Oblomow.
»Also hör zu: du ziehst noch morgen aus ...«
»Das hast du dir ausgedacht? Soviel habe ich auch selbst gewußt ...«
»Warte, unterbrich mich nicht!« schrie Tarantjew ihn an. »Übersiedle morgen in das Haus meiner Gevatterin, auf der Wiborgskajastraße ...«
»Das ist aber etwas ganz Neues, auf die Wiborgskajastraße! Man sagt, daß dort im Winter die Wölfe herumlaufen.«
»Es kommt vor, daß sie von den Inseln herüberlaufen, was geht das dich an?«
»Es ist dort langweilig und öde, und niemand kommt hin.«
»Das ist nicht wahr! Dort wohnt meine Gevatterin; sie hat ihr eigenes Haus mit großem Gemüsegarten. Sie ist eine vornehme Frau, eine Witwe mit zwei Kindern; mit ihr zusammen lebt ihr lediger Bruder; der hat einen ganz anderen Verstand als dieser da in der Ecke«, sagte er, auf Alexejew hinweisend, »da sind wir beide nichts dagegen!«
»Was geht das alles mich an?« sagte Oblomow ungeduldig. »Ich werde nicht dorthin ziehen.«
»Wir werden einmal sehen, ob du nicht dorthin ziehen wirst. Nein, wenn du um Rat bittest, mußt du auch darauf hören, was man dir sagt.«
»Ich werde nicht ausziehen«, sagte Oblomow entschlossen.
»Nun, dann geh zum Teufel!« antwortete Tarantjew, sich seinen Hut aufstülpend, und schritt zur Tür hin.
»Was du für ein seltsamer Kauz bist!« sagte er wieder umkehrend. »Was gefällt dir denn hier so gut?«
»Was ist das für eine Frage? Hier habe ich alles in der Nähe, die Läden, das Theater, die Bekannten ... das Zentrum der Stadt, alles ...«
»Wa-as?« unterbrach ihn Tarantjew. »Wie lang ist's her, daß du ausgegangen bist? Sag einmal. Wie lang ist's her, daß du im Theater warst? Zu welchen Bekannten gehst du? Wozu brauchst du also das Zentrum? Gestatte mir einmal die Frage.«
»Wozu? Es kommt doch Verschiedenes vor!«
»Siehst du, du weißt es selbst nicht. Und dort, stelle dir nur vor, wirst du bei meiner Gevatterin, bei einer vornehmen Frau, still und ruhig leben; niemand wird dich belästigen; dort ist kein Lärm und kein Trubel, und alles ist rein und in Ordnung. Schau mal her, du lebst ja hier wie in einem Gasthof und willst ein Gutsbesitzer und Edelmann sein! Und dort ist es rein und ruhig; du hast auch jemand, mit dem du ein Wort wechseln kannst, wenn du dich langweilst. Außer mir wird niemand zu dir kommen. Es sind zwei Kinderchen da – du kannst mit ihnen spielen, so viel du willst. Was willst du noch? Und was du dir dabei ersparst! Was zahlst du hier?«
»Anderthalbtausend.«
»Und dort brauchst du für das ganze Haus nur tausend Rubel zu zahlen! Und was das für helle, hübsche Zimmer sind! Sie wollte schon lange einen stillen, pünktlichen Mieter haben – ich schlage dich vor ...«
Oblomow schüttelte zerstreut den Kopf.
»Du lügst, du wirst hineinziehen!« sagte Tarantjew. »Du mußt in Betracht ziehen, daß dich das um die Hälfte billiger kommen wird. Du ersparst dir an der Miete allein fünfhundert Rubel. Du wirst eine viel bessere und reinere Kost haben, weder die Köchin noch Sachar wird dich bestehlen ...«
Aus dem Vorzimmer drang ein Brummen herein.
»Und alles wird in Ordnung sein«, sprach Tarantjew weiter, »man kann sich zu dir jetzt gar nicht an den Tisch setzen: man möchte Pfeffer haben, es ist keiner da, man hat keinen Essig gekauft, die Messer sind nicht geputzt; du sagst, die Wäsche geht verloren, überall ist Staub, es ist überhaupt ein Greuel! Und dort wird eine Frau die Wirtschaft führen; weder du noch der Schafskopf Sachar ...«
Das Brummen im Vorzimmer wurde lauter.
»Dieser alte Hund«, fuhr Tarantjew fort, »wird an nichts zu denken brauchen: du wirst mit allem versorgt sein. Was gibt's denn dabei zu überlegen? Ziehe aus, und die Sache ist in Ordnung ...«
»Warum soll ich denn plötzlich, ohne jeden Grund, nach der Wiborgskajastraße übersiedeln ...«
»Was soll man mit dir anfangen!« sagte Tarantjew, sich den Schweiß vom Gesicht wischend; »es ist jetzt Sommer, und dort ist es wie auf dem Lande. Du verfaulst ja ganz auf dieser Gorochowajastraße! ... Dort ist der Besborodkinpark. Ochta ist ganz in der Nähe, die Newa ist zwei Schritte von dir entfernt, du hast deinen eigenen Gemüsegarten – dort ist weder Staub noch Hitze! Da gibt's gar keine Bedenken; ich laufe gleich nach dem Mittagessen zu ihr hinüber – du gibst mir Geld für eine Droschke – und du ziehst gleich morgen ein ...«
»Was das für ein Mensch ist!« sagte Oblomow, »er denkt sich plötzlich Gott weiß was aus: nach der Wiborgskajastraße! Es ist eine Kunst, sich so etwas auszudenken. Bringe es lieber fertig, dir etwas auszudenken, daß ich hierbleiben kann. Ich wohne hier seit acht Jahren und will nicht ausziehen ...«
»Es ist alles erledigt: du ziehst aus. Ich fahre jetzt gleich zur Gevatterin hin, ich werde mich über die Anstellung ein anderes Mal erkundigen ...«
Er wollte gehen.
»Wart, wart, wohin?« hielt Oblomow ihn auf, »ich habe eine noch wichtigere Angelegenheit. Sieh mal, was für einen Brief ich vom Dorfschulzen bekommen habe, und sage, was ich tun soll.«
»Was du für ein Mensch bist!« antwortete Tarantjew, »du kannst nichts selbst machen. Immer muß ich es sein! Wozu taugst du denn eigentlich? Du bist ja kein Mensch, sondern ein Strohsack.«
»Wo ist der Brief? Sachar, Sachar! Er hat ihn schon wieder irgendwohin gesteckt!« sagte Oblomow.
»Hier ist der Brief vom Dorfschulzen«, sagte Alexejew, den zerdrückten Brief reichend.
»Ja, da ist er«, wiederholte Oblomow und begann laut vorzulesen.
»Was sagst du dazu? Was soll ich tun?« fragte Ilja Iljitsch, als er fertig war. »Dürre, Zahlungsrückstände ...«
»Du bist ein ganz verlorener Mann«, sagte Tarentjew.
»Warum denn?«
»Bist du es etwa nicht?«
»Wenn ich ein Verlorener bin, dann sage, was ich tun soll!«
»Und was bekomme ich dafür?«
»Ich habe ja gesagt, daß es Champagner geben wird; was willst du denn noch?«
»Der Champagner ist für das Wohnungssuchen; ich habe dich mit Wohltaten überhäuft, und du fühlst das nicht und streitest noch; du bist undankbar! Suche dir einmal selbst eine Wohnung! Und was für eine Wohnung das ist! Vor allem, wie ruhig du da leben wirst, wie bei einer leiblichen Schwester. Dann sind zwei Kinder und der ledige Bruder da, ich werde jeden Tag kommen ...«
»Gut, gut«, unterbrach Oblomow, »sag mir jetzt, was ich mit dem Dorfschulzen tun soll!«
»Nein, laß außerdem noch Porter holen, dann sag' ich dir's.«
»Jetzt willst du auch noch Porter haben; ist dir denn das alles noch zu wenig ...«
»Nun, dann adieu«, sagte Tarantjew, wieder seinen Hut aufsetzend.
»Ach, du mein Gott! Der Dorfschulze schreibt hier, daß die Einnahmen um zweitausend geringer sind, und er will noch Porter haben! Nun gut, kaufe Porter.«
»Gib Geld!« sagte Tarantjew.
»Dir bleibt ja noch der Rest vom Zehnrubelschein!«
»Und die Droschke in die Wiborgskajastraße?«
Oblomow nahm noch einen Rubel heraus und steckte ihm denselben ärgerlich zu.
»Dein Dorfschulze ist ein Schwindler, das muß ich dir vor allem sagen«, begann Tarantjew, den Rubel in die Tasche steckend, »und du glaubst ihm, du Schlafmütze. Siehst du, was er für ein Lied singt! Von Dürre, Mißernte, Rückständen und von den fortgelaufenen Bauern. Er lügt, das ist alles gelogen! Ich habe gehört, daß man in unserer Gegend, in Schumilowskoje, mit der vorjährigen Ernte alle Schulden bezahlt hat, und bei dir ist plötzlich Dürre und Mißernte. Und Schumilowskoje ist nur fünfzig Werst von deinem Gut entfernt; warum ist denn das Getreide dort nicht ausgebrannt? Was er sich noch ausdenkt: Rückstände! Warum hat er denn nicht aufgepaßt und hat alles vernachlässigt? Woher sind die Rückstände? Gibt es denn in unserer Gegend keine Arbeit oder keinen Absatz? So ein Dieb! Ich würde es ihm schon zeigen! Und die Bauern sind deswegen fortgelaufen, weil er sich von ihnen wohl ordentlich hat bezahlen lassen und ihnen dann zu flüchten erlaubt hat; es ist ihm nicht im Traum eingefallen, dem Kreisrichter zu klagen.«
»Das ist unmöglich«, sagte Oblomow, »er gibt sogar die Antwort des Kreisrichters so natürlich wieder ...«
»Ach, du verstehst gar nichts. Alle Schwindler schreiben natürlich – das kannst du mir glauben! Da sitzt zum Beispiel«, fuhr er auf Alexejew hinweisend fort, »eine ehrliche Seele, das reinste Schaf, wird er so natürlich schreiben? – Niemals. Aber sein Verwandter, der ein Schwein und eine Bestie ist, der bringt es fertig. Und auch du kannst es nicht. Ja, dein Dorfschulze ist also schon darum eine Bestie, weil er so natürlich und geschickt schreibt. Schau mal, wie er sich die Worte ausgesucht hat: ›in ihren früheren Wohnort wieder einsetzen‹.«
»Was soll ich denn mit ihm machen?« fragte Oblomow.
»Setze ihn sofort ab.«
»Wen soll ich denn an seine Stelle setzen? Ich kenne ja die Bauern nicht. Ein anderer wird vielleicht noch schlimmer sein. Ich war schon zwölf Jahre nicht mehr dort.«
»Du mußt selbst ins Dorf fahren; das geht nicht anders; verbringe dort den Sommer und komm im Herbst direkt in die neue Wohnung. Ich werde schon anordnen, daß sie bis dahin fertig ist.«
»Eine neue Wohnung! Allein aufs Gut fahren! Was für übertriebene Maßregeln du vorschlägst!« sagte Oblomow unzufrieden. »Nein, um nicht zum Äußersten zu greifen und einen Mittelweg einzuschlagen ...«
»Nein, Bruder Ilja Iljitsch, du wirst ganz zugrunde gehen. Ich würde an deiner Stelle das Gut längst verpfändet haben und mir dafür ein anderes oder hier ein Haus an einem guten Platze kaufen; das ist dein Gut wert. Und dann würde ich auch das Haus verpfänden und mir ein anderes kaufen ... Wenn ich dein Gut hätte, würde man schon von mir hören.«
»Höre auf zu prahlen und denke dir etwas aus, wie ich alles erledigen kann, ohne auszuziehen und ohne aufs Gut zu fahren ...« bemerkte Oblomow.
»Wirst du dich denn einmal vom Fleck rühren?« fragte Tarantjew, »schau dich nur einmal an: wozu taugst du? Was hat das Vaterland von dir für einen Nutzen? Du kannst nicht einmal aufs Gut fahren!«
»Es ist jetzt noch zu früh, hinzufahren, laß mich erst meinen Plan zu Ende bringen ... Weißt du, Michej Andreitsch«, sagte Oblomow, »fahre du hinüber. Du bist mit der Sache vertraut, kennst auch die Gegend; und ich würde mit dem Reisegeld nicht geizen.«
»Bin ich denn dein Verwalter?« entgegnete Tarantjew stolz, »ich bin es auch gar nicht mehr gewohnt, mit Bauern umzugehen.«
»Was soll ich dann tun!« sagte Oblomow nachdenklich. »Ich weiß wirklich nicht ...«
»Schreibe doch dem Kreisrichter; frag ihn, ob ihm der Dorfschulze von den flüchtigen Bauern erzählt hat!« riet Tarantjew, »und bitte ihn, bei Gelegenheit auf dein Gut zu kommen; schreibe auch dem Gouverneur, er soll dem Kreisrichter auftragen, ihm mitzuteilen, wie sich der Dorfschulze benimmt. ›Ich bitte Euer Wohlgeboren um väterliche Teilnahme, schauen Sie mit barmherzigem Auge auf das mir drohende, unabwendbare Unglück herab, das durch die eigenmächtige Handlungsweise des Dorfschulzen verursacht wurde, auf den endgültigen Ruin, dem ich mit meiner Frau und meinen unmündigen, ohne jede Aufsicht und ohne ein Stück Brot zurückbleibenden zwölf Kindern rettungslos verfalle ...‹«
Oblomow lachte.
»Woher werde ich so viel Kinder nehmen, wenn man verlangt, daß ich sie zeigen soll?« fragte er.
»Schreibe nur: mit meinen zwölf Kindern; man wird das hingehen lassen und keine Erkundigungen einziehen, das wird ›natürlich‹ klingen. Der Gouverneur wird den Brief seinem Sekretär übergeben, und du schreibst zu gleicher Zeit auch ihm, natürlich mit einer entsprechenden Einlage – er wird dann die nötigen Anordnungen treffen. Und bitte auch deine Nachbarn darum, wen hast du dort?«
»Dobrinin ist in der Nähe«, sagte Oblomow, »ich habe ihn hier oft gesehen; er ist jetzt dort.«
»Schreibe auch ihm, bitte ihn recht schön darum: ›Sie werden mir dadurch einen unschätzbaren Dienst erweisen und werden mich, wenn Sie als Christ, als Freund und als Nachbar handeln, sehr verpflichten‹; und lege diesem Brief irgendein Petersburger Ge schenk ... vielleicht Zigarren bei. So mußt du handeln, wenn du etwas verstehen willst. Du bist ein verlorener Mensch! Ich würde meinen Dorfschulzen schon tanzen lassen, ich würde es ihm zeigen! Wann geht die Post dorthin ab?«
»Übermorgen.«
»Setz dich also hin und schreibe sofort.«
»Die Post geht doch erst übermorgen, warum soll ich also gleich schreiben?« bemerkte Oblomow, »das kann ich ja auch morgen tun. Und höre einmal, Michej Andreitsch«, fügte er hinzu, »führe deine ›Wohltaten‹ zu Ende; ich werde noch irgendeinen Fisch oder Geflügel zum Mittagessen bestellen.«
»Was denn noch?«
»Setz dich hin und schreibe. Wieviel Zeit brauchst du denn, um drei Briefe zu verfassen? Du erzählst das so ›natürlich‹ ...« fügte er, ein Lächeln verbergend, hinzu, »und Iwan Alexeitsch würde es abschreiben ...«
»He! Was sind das für Einfalle?« antwortete Tarantjew, »ich soll schreiben! Ich schreibe sogar im Amt schon seit drei Tagen nicht; sowie ich mich hinsetze, fängt mein linkes Auge zu tränen an; ich bin wohl in den Zug gekommen, und auch der Nacken wird mir steif, wenn ich mich bücke ... Oh, du Faulpelz! Du gehst zugrunde, Bruder Ilja Iljitsch, und das für nichts und wieder nichts!«
»Ach, wenn doch Andrej bald kommen würde!« sagte Oblomow, »er würde alles in Ordnung bringen.«
»Was du dir da für einen Wohltäter ausgesucht hast!« unterbrach ihn Tarantjew, »einen verfluchten Deutschen, einen durchtriebenen Schwindler ...«
Tarantjew hatte den Ausländern gegenüber einen instinktiven Widerwillen; in seinen Augen war ein Franzose, ein Deutscher, ein Engländer gleichbedeutend mit Schuft, Betrüger, Übervorteiler oder Räuber. Er machte nicht einmal einen Unterschied zwischen den Nationen, sie waren in seinen Augen alle gleich.
»Hör einmal, Michej Andreitsch«, sagte Oblomow strenge, »ich möchte dich bitten, in deinen Ausdrücken vorsichtiger zu sein, besonders wenn du von einem mir nahestehenden Menschen sprichst ...«
»Von einem nahestehenden Menschen!« entgegnete Tarantjew haßerfüllt, »ist er denn mit dir verwandt? Er ist doch ein Deutscher.«
»Er steht mir näher als alle Verwandten; ich bin mit ihm zusammen aufgewachsen, habe mit ihm gelernt und werde solche Schimpfworte nicht erlauben ...«
Tarantjew wurde purpurrot vor Zorn.
»Ah! Wenn du mich durch einen Deutschen ersetzest«, sagte er, »kommt mein Fuß nie mehr über deine Schwelle.«
Er setzte den Hut auf und wandte sich der Türe zu. Oblomow besänftigte sich sofort.
»Du solltest in ihm meinen Freund ehren und dich über ihn vorsichtiger ausdrücken – das ist alles, was ich verlange; ich glaube, das ist kein so großer Dienst!« sagte er.
»Einen Deutschen ehren?« sagte Tarantjew mit der größten Verachtung, »wofür denn?«
»Ich habe dir schon gesagt, wenigstens dafür, daß er mit mir zusammen aufgewachsen ist und mit mir zusammen gelernt hat.«
»Das will viel heißen! Man hat mit vielen zusammen gelernt!«
»Wenn er hier wäre, hätte er mich schon längst von allen Scherereien befreit, ohne dafür Porter oder Champagner zu verlangen ...« sagte Oblomow.
»So! Du machst mir Vorwürfe! So mag der Teufel dich zugleich mit deinem Porter und Champagner holen! Da hast du das Geld ... Wo hab' ich es hingelegt? Ich habe ganz vergessen, wohin ich diese verfluchten Scheine gesteckt habe.«
Er zog irgendein fettiges, beschriebenes Papier hervor.
»Nein, das sind sie nicht! ...« sagte er. »Wo hab' ich sie hingelegt? ...«
Er durchstöberte seine Taschen.
»Müh dich nicht so ab, laß das!« sagte Oblomow. »Ich werfe dir nichts vor, ich bitte dich nur, von einem Menschen, der für mich so viel getan hat, auf eine anständigere Art zu sprechen ...«
»Der für dich so viel getan hat«, entgegnete Tarantjew zornig. »Wart nur, er wird noch mehr für dich tun, höre nur auf ihn!«
»Warum sagst du mir das?«
»Wenn dich dein Deutscher ausgeraubt haben wird, dann wirst du wissen, ob man einen Russen, einen Landsmann, durch irgendeinen Landstreicher ersetzt ...«
»Hör einmal, Michej Andreitsch ...« begann Oblomow.
»Ich habe schon genug gehört, ich habe schon genug Kränkungen von dir erduldet! Gott sieht, wie oft du mich beleidigt hast ... Sein Vater hat in Sachsen wohl nicht einmal Brot genug gehabt, und ist dann hergekommen, um hier seine Nase zu rümpfen.«
»Warum läßt du die Toten nicht in Ruh'? Was hat der Vater verschuldet?«
»Sie haben beide Schuld, der Vater und der Sohn«, sagte Tarantjew düster. »Mein Vater hat mir nicht ohne Grund geraten, diesen Deutschen aus dem Wege zu gehen, und er hat doch genug Menschen in seinem Leben gesehen!«
»Warum gefällt dir zum Beispiel der Vater nicht?« fragte Ilja Iljitsch.
»Weil er ohne Mantel und Galoschen in unser Gouvernement gekommen ist und dann dem Sohne auf einmal so viel vermacht hat; was heißt das?«
»Er hat dem Sohne nur vierzigtausend zurückgelassen. Das hat er zum Teil als Mitgift von seiner Frau erhalten, und das andere hat er sich dadurch erworben, daß er die Kinder unterrichtet und das Gut verwaltet hat; er hat ein hohes Gehalt bezogen ... Du siehst, daß der Vater ganz unschuldig ist. Und was hat der Sohn verbrochen?«
»Das ist ein lieber Bursch! Er hat aus den vierzigtausend des Vaters plötzlich ein Kapital von dreihunderttausend gewonnen, hat im Amt den Hofratstitel erreicht und ist außerdem gelehrt ... Jetzt reist er noch dazu herum! Er muß überall mit dabei sein! Wird denn ein echter, guter Russe das alles tun? Ein Russe wird sich irgend etwas auswählen und wird dabei langsam, bedächtig und allmählich vorgehen, nicht so wie dieser da! Wenn er noch bei der Akzise wäre, dann wäre es ja begreiflich, wovon er reich geworden ist; er hat aber auch das nicht gemacht, es ist alles so gekommen, als hätte es der Wind hereingeblasen! Das ist nicht ganz richtig zugegangen! Ich würde solche Leute dem Gerichte übergeben! Und jetzt treibt er sich Gott weiß wo herum!« fuhr Tarantjew fort. »Warum reist er in fremden Ländern herum?«
»Er will lernen, alles sehen und wissen.«
»Lernen? Hat er denn noch zu wenig gelernt? Was will er denn lernen? Er lügt, glaube ihm nicht; er betrügt dich vor deinen Augen wie dein Dorfschulze. Was er da glauben machen will! Wird denn ein Hofrat lernen? Du hast in der Schule gelernt, lernst du aber jetzt? Lernt er denn?« Er zeigte auf Alexejew. »Oder sein Verwandter? Welche anständigen Leute lernen denn? Sitzt er denn dort in einer deutschen Schule und lernt seine Aufgaben? Er lügt! Ich habe gehört, er ist hingefahren, sich eine Maschine anzusehen und zu bestellen. Das wird wohl ein Schraubenstock für russisches Geld sein! Ich würde ihn ins Gefängnis stecken ... Er hat auch mit Aktien zu tun ... Oh, diese Aktien sind nichts als Schwindel!« Oblomow lachte auf.
»Was grinst du? Habe ich etwa nicht recht?« sagte Tarantjew.
»Lassen wir das!« unterbrach ihn Ilja Iljitsch. »Geh in Gottes Namen, wohin du wolltest, und ich werde mit Iwan Alexeitsch alle diese Briefe schreiben und werde versuchen, meinen Plan rasch aufzuzeichnen. Das geht dann auf einen Schlag ...«
Tarantjew ging ins Vorzimmer, kam aber plötzlich zurück.
»Ich habe ganz vergessen! Ich bin heute früh mit der Absicht fortgegangen, dich um etwas zu bitten«, begann er, schon gar nicht mehr grob. »Man hat mich für morgen zu einer Hochzeit eingeladen. Rokotow heiratet. Laß mich deinen Frack anziehen, Landsmann; der meinige ist ein wenig schäbig ...«
»Aber das geht ja nicht!« sagte Oblomow, bei dieser neuen Forderung die Brauen furchend, »mein Frack paßt dir nicht ...«
»Er paßt mir; wieso sollte er mir nicht passen!« unterbrach ihn Tarantjew. »Erinnerst du dich, ich habe deinen Rock anprobiert; er war wie für mich genäht! Sachar! Sachar! Komm mal her, altes Rindvieh!«
Sachar brummte wie ein Bär, kam aber nicht.
»Rufe ihn, Ilja Iljitsch! Schau, wie er ist!« klagte Tarantjew.
»Sachar!« rief Oblomow.
»Oh, daß euch alle ...« ertönte es im Vorzimmer zugleich mit dem Sprung von der Ofenbank.
»Nun, was wollen Sie?« fragte er, sich an Tarantjew wendend.
»Gib meinen schwarzen Frack her!« befahl Ilja Iljitsch, »Michej Andreitsch wird zusehen, ob er ihm paßt; er muß morgen zu einer Hochzeit ...«
»Ich gebe den Frack nicht her«, sagte Sachar mit Bestimmtheit.
»Wie wagst du es, wenn dein Herr dir befiehlt?« schrie Tarantjew. »Warum steckst du ihn nicht in den Narrenturm, Ilja Iljitsch?«
»Das fehlte noch, den alten Mann in den Narrenturm zu stecken! Sachar, gib den Frack her, sei nicht eigensinnig!«
»Ich gebe ihn nicht her!« sagte Sachar kühl, »er soll uns zuerst unsere Weste und unser Hemd zurückgeben, die sind jetzt schon fünf Monate bei ihm auf Besuch. Er hat es ebenso wie jetzt zu einem Namenstag genommen, und wir haben die Sachen nicht wiedergesehen. Ich gebe den Frack nicht her!«
»Nun, adieu! Zum Teufel mit euch!« schloß Tarantjew zornig und wandte sich zur Tür, indem er Sachar mit der Faust drohte. »Vergiß also nicht, Ilja Iljitsch, ich miete für dich die Wohnung, hörst du?« fügte er hinzu.
»Nun gut, gut!« sagte Oblomow ungeduldig, um ihn loszuwerden.
»Schreibe unterdessen alles so, wie es sich gehört«, sprach Tarantjew weiter, »und unterlasse es nicht, dem Gouverneur mitzuteilen, daß du zwölf Kinder hast, ›eines kleiner als das andere‹. Und um fünf Uhr soll die Suppe auf dem Tisch sein! Warum hast du keine Piroge bestellt?«
Doch Oblomow schwieg; er hörte ihm schon längst nicht mehr zu und dachte mit geschlossenen Augen an etwas anderes. Als Tarantjew fort war, herrschte im Zimmer zehn Minuten lang eine absolute Stille. Oblomow war durch den Brief des Dorfschulzen und den bevorstehenden Umzug verstimmt und außerdem durch Tarantjews Schwadronieren ermüdet. Endlich seufzte er auf.
»Warum schreiben Sie denn nicht?« fragte Alexejew leise.
»Ich würde Ihnen die Feder beschneiden.«
»Beschneiden Sie sie und gehen Sie dann in Gottes Namen irgendwohin!« sagte Oblomow. »Ich werde damit selbst fertigwerden, und Sie werden es am Nachmittag abschreiben.«
»Aber gewiß«, antwortete Alexejew. »Ich könnte Sie sonst noch wirklich irgendwie stören ... Ich werde unterdessen die Botschaft bringen, man möchte auf uns nicht warten, um nach Jekaterinhof zu fahren. Adieu, Ilja Iljitsch.«
Doch Ilja Iljitsch hörte nichts; er hatte die Beine hinaufgezogen, lag jetzt beinahe im Sessel und versank mit trauriger Miene halb in Schlummer und halb in seine Gedanken.