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Fünftes Kapitel

Oblomow, Edelmann von Geburt, Kollegiensekretär von Rang, lebte seit zwölf Jahren beständig in Petersburg.

Einst, als seine Eltern noch am Leben waren, hatte er weniger Räume, nahm nur zwei Zimmer ein und begnügte sich mit dem einen Diener Sachar, den er sich von dem Gut mitgebracht hatte. Doch nach dem Tode des Vaters und der Mutter war er der einzige Besitzer von dreihundertfünfzig Seelen, die er in einem der entlegensten Gouvernements, beinahe in Asien, geerbt hatte. Er bekam jetzt statt fünf- sieben-bis zehntausend Rubel Jahresrente, und sein Leben spielte sich von nun an in einem anderen, größeren Rahmen ab. Er mietete sich eine größere Wohnung, fügte zu seinem Dienstbotenetat einen Koch hinzu und hielt sogar eine Zeitlang ein paar Pferde. Damals war er noch jung, und wenn man auch nicht behaupten kann, daß er lebhaft war, war er doch wenigstens lebhafter als jetzt; er war noch von verschiedenen Bestrebungen erfüllt, hoffte immer auf etwas, erwartete viel vom Schicksal und von sich selbst, bereitete sich immer zu einer Laufbahn, zu irgendeiner Tätigkeit vor – vor allem natürlich innerhalb seiner Amtsstellung, die ja auch das Ziel seiner Reise nach Petersburg war. Dann hatte er vor, auch in der Gesellschaft eine gewisse Rolle zu spielen. Endlich, in der entfernten Perspektive des Überganges der Jugend in ein gesetztes Alter, schwebte seiner Phantasie ein verlockendes, glückliches Familienleben vor. Aber ein Tag folgte dem anderen, die Jahre flogen hin, der Flaum um sein Kinn wurde zu einem struppigen Bart, die strahlenden Augen verwandelten sich in zwei trübe Punkte, die Gestalt rundete sich, das Haar begann unbarmherzig auszugehen, er vollendete sein dreißigstes Jahr, und er war auf keinem einzigen Gebiete auch nur um einen Schritt nach vorwärts gerückt und stand dort noch immer an der Schwelle seiner Laufbahn, dort, wo er sich vor zehn Jahren befunden hatte.

Das Leben zerfiel in seinen Augen in zwei Hälften: Die eine setzte sich aus Arbeit und Langeweile zusammen, die zweite aus Ruhe und friedlicher Fröhlichkeit. Infolgedessen machte ihn seine wichtigste Laufbahn – das Amt – in der ersten Zeit auf eine sehr unangenehme Weise stutzig.

Er war in dem Innern der Provinz inmitten der sanften und gefühlvollen Sitten und Gebräuche der Heimat aufgewachsen, kam im Laufe von zwanzig Jahren nicht aus den Umarmungen der Verwandten, Freunde und Bekannten heraus und war so von Familiensinn durchdrungen, daß er sich auch sein künftiges Amt in der Art irgendeiner Familienbeschäftigung vorstellte, etwa in der Form des trägen Notierens der Einkünfte und Ausgaben, wie sein Vater es tat. Er glaubte, daß die Beamten irgendeines Ortes einen intimen, innigen Familienkreis bildeten, der sich unermüdlich um die Ruhe und das Vergnügen seiner Mitglieder sorgte, daß der Dienst im Amt durchaus obligatorische Gewohnheit wäre, an die man sich täglich zu halten hätte, und daß nasses Wetter, Hitze oder einfach eine Verstimmtheit immer eine genügende und gesetzliche Ursache wären, um nicht ins Amt zu gehen. Aber wie sehr kränkte es ihn zu sehen, daß mindestens ein Erdbeben sich einstellen müßte, damit ein gesunder Beamter nicht ins Amt zu gehen brauchte; in Petersburg kommen aber leider keine Erdbeben vor, eine Überschwemmung könnte zwar auch als Hindernis dienen, doch auch die tritt selten ein.

Oblomow wurde noch nachdenklicher, als vor seinen Augen Pakete mit der Aufschrift »eilig« und »sehr eilig« vorbeiflimmerten, als man ihm allerlei Erkundigungen und Exzerpte auftrug und zweifingerdicke Hefte vollzuschreiben befahl, die man wie zum Hohn Notizen nannte.

Außerdem mußte alles sehr schnell gehen, alle hatten es so eilig und gönnten sich gar keine Ruhe; sowie sie mit einer Sache fertig waren, stürzten sie mit einem wahren Ingrimm über eine andere her, als ob gerade diese die Hauptsache wäre; wenn sie aber damit fertig waren, verfiel auch sie der Vergessenheit, und es wurde eine dritte Angelegenheit vorgenommen, und so ging es bis in die Unendlichkeit fort! Ein paarmal weckte man ihn in der Nacht und ließ ihn »Notizen« schreiben, oder man holte ihn, wenn er auf Besuch war, durch einen Boten ab – und das wieder der Notizen wegen. Das alles erweckte in ihm große Angst und Langeweile. »Wann soll man denn leben? Wann leben?« flüsterte er bange.

Als er noch zu Hause war, hatte er gehört, der Chef sei der Vater seiner Beamten, und machte sich eine sehr rosige Vorstellung von demselben, indem er ihn fast als einen Verwandten ansah. Er dachte sich, er sei ein zweiter Vater, der nur für das eine lebt, wie er seine Beamten mit und ohne Ursache ununterbrochen belohnen könnte, und der sich nicht nur um ihre Bedürfnisse, sondern auch um ihre Vergnügungen sorgt. Ilja Iljitsch dachte, der Chef müßte sich in die Lage seines Beamten so hineinversetzen, daß er ihn besorgt fragen würde, wie er in der Nacht geschlafen habe, warum seine Augen trüb seien und ob er Kopfschmerzen habe. Doch er war gleich am ersten Tag seines Dienstes bitter enttäuscht. Mit der Ankunft des Chefs begann ein Hin- und Herrennen, ein Trubel, alle wurden verwirrt, stießen einander um, manche zupften sich ihre Kleider zurecht, in der Befürchtung, nicht anständig genug auszusehen, um sich dem Chef zu zeigen.

Oblomow bemerkte späterhin, daß das alles darauf zurückzuführen war, daß es Chefs gab, welche in dem bis zur Blödsinnigkeit erschrockenen Gesicht des Beamten, der ihnen entgegenrannte, nicht nur Achtung sich gegenüber, sondern auch Diensteifer und manchmal sogar Begabung sahen. Ilja Iljitsch brauchte sich vor seinem Chef nicht zu fürchten, da dieser ein gutmütiger Mensch mit angenehmen Manieren war; er hatte noch nie jemand Böses getan, die Beamten waren vollkommen zufrieden und wünschten sich nichts Besseres. Niemand hatte ihn jemals etwas Unangenehmes sagen, schreien oder lärmen gehört; er verlangte nie etwas, er bat immer. Er bat, eine Angelegenheit zu erledigen, er bat, man möchte ihn besuchen, er bat auch, man möchte sich verhaften lassen. Er duzte nie jemand, er sagte zu allen Sie, jedem einzelnen Beamten und allen zusammen. Doch alle seine Untergebenen wurden in seiner Anwesenheit befangen; sie beantworteten seinen freundlichen Blick nicht mit ihrer eigenen, sondern mit einer fremden Stimme, mit welcher sie sonst niemals sprachen. Auch Ilja Iljitsch wurde plötzlich befangen, ohne zu wissen, weshalb, wenn der Chef ins Zimmer trat, und auch er verlor seine eigene Stimme und bekam eine andere, dünne und häßliche, sobald der Chef ihn anredete.

Ilja Iljitsch stand auch trotz des gutmütigen, nachsichtigen Chefs sehr viel Angst und Langeweile im Dienste aus. Gott weiß, was aus ihm geworden wäre, wenn er einen strengen und anspruchsvollen Vorgesetzten über sich gehabt hätte! Oblomow blieb mit Mühe und Not zwei Jahre lang im Amt; vielleicht würde er auch noch ein drittes ertragen haben, um zu einem höheren Rang zu kommen; aber ein besonderer Fall nötigte ihn, den Dienst früher zu verlassen. Er schickte eines Tages ein wichtiges Papier statt nach Astrachanj nach Archangelsk. Die Sache kam ans Licht; man begann nach dem Schuldigen zu suchen. Alle erwarteten neugierig, der Chef würde Oblomow kommen lassen und ihn ruhig und kühl fragen, ob er das Dokument nach Archangelsk fortgeschickt habe, und alle waren darauf gespannt, mit welcher Stimme Ilja Iljitsch ihm antworten würde. Einige meinten, er würde gar nicht antworten, die Stimme würde ihm versagen. Beim Anblick der anderen wurde Ilja Iljitsch selbst von Angst erfaßt, obwohl er zugleich mit allen anderen wußte, der Chef würde sich auf einen Verweis beschränken: doch sein eigenes Gewissen war viel strenger als die zu erwartende Rüge. Oblomow wartete die verdiente Strafe nicht ab, sondern ging nach Hause und schickte ein ärztliches Attest.

Dieses Attest lautete: »Ich, der Gefertigte, bezeuge mit der Beidrückung meines Siegels, daß der Kollegiensekretär Ilja Oblomow mit Herzverfettung und der Erweiterung der linken Herzkammer behaftet ist (Hypertrophia cordis cum dilatatione ejus ventriculi sinistri) und außerdem ein chronisches Leberleiden hat (Chepatitis), das sich gefährlich zu entwickeln droht und sowohl die Gesundheit als auch das Leben des Kranken schädigen könnte; die darauf hinweisenden Anfälle werden wohl durch den täglichen Amtsdienst verursacht. Darum halte ich es, um diesen krankhaften Anfällen vorzubeugen und dieselben zu beschwichtigen, für notwendig, Herrn Oblomow den Dienst vorläufig zu verbieten und ihm überhaupt das Vermeiden jeder geistigen Arbeit und jeder Tätigkeit vorzuschreiben.«

Doch das half nur für einige Zeit; er mußte ja einmal wieder gesund werden – und dann folgte wieder das tägliche Versehen seines Amtes. Oblomow konnte das nicht länger ertragen und suchte um seine Entlassung nach. So schloß seine amtliche Tätigkeit, um niemals wieder aufgenommen zu werden.

Seine gesellschaftliche Laufbahn wollte ihm besser gelingen. In den ersten Jahren seines Aufenthaltes in Petersburg, in seiner ersten Jugend, belebten sich seine ruhigen Gesichtszüge häufiger, die Augen leuchteten lange vor Lebensfeuer, ihnen entströmten Strahlen von Licht, von Hoffnung und von Kraft. Er regte sich wie die anderen auf, hoffte, freute sich über jede Kleinigkeit und litt auch um einer jeden Kleinigkeit willen. Doch das war schon lange her, noch in jener zarten Periode, in welcher man in jedem Nebenmenschen einen aufrichtigen Freund sieht, sich fast in jede Frau verliebt und bereit ist, einer jeden Hand und Herz anzubieten, was manche auch ausführen, um dann das ganze übrige Leben darüber zu trauern. In diesen seligen Tagen fielen auch Ilja Iljitsch nicht wenig weiche, samtene, ja selbst leidenschaftliche Blicke aus den Augen der Schönen zu, außerdem sehr häufig ein vielversprechendes Lächeln, zwei, drei unprivilegierte Küsse und noch mehr freundschaftliche Händedrücke, die bis zu Tränen schmerzten.

Er ließ sich übrigens niemals von den Schönen gefangennehmen, war niemals ihr Sklave und nicht einmal ihr sehr fleißiger Arbeiter, schon deshalb nicht, weil mit der Annäherung an Frauen viel Scherereien verbunden sind. Oblomow beschränkte sich häufiger auf ein Anbeten aus der Ferne, in ehrerbietiger Entfernung. Das Schicksal führte ihn selten in der Gesellschaft mit einer Frau zusammen, daß er für ein paar Tage aufflammen und sich für verliebt halten konnte. Infolgedessen entwickelten sich seine Liebesverhältnisse nicht zu Romanen. Sie blieben gleich im Anfang stehen und ließen sich an Unschuld, Einfachheit und Reinheit von der Liebe irgendeiner erwachsenen Pensionärin nicht überbieten.

Am meisten mied er jene bleichen, traurigen Jungfrauen, die größtenteils schwarze Augen haben, in denen sich die »qualvollen Tage und nicht ganz schuldlosen Nächte« widerspiegelten, Jungfrauen mit von niemand gekannten Leiden und Freuden, mit blauen Ringen unter den Augen, Jungfrauen, die immer etwas anzuvertrauen und zu sagen haben und die, wenn es dazu kommt, erbeben, in plötzliche Tränen ausbrechen, dann den Hals des Freundes plötzlich mit den Armen umschlingen, ihm lange in die Augen, dann gen Himmel schauen und sagen, daß ihr Leben von einem Fluch bedroht sei, und manchmal in Ohnmacht fallen. Er wich ihnen ängstlich aus. Seine Seele war noch rein und jungfräulich; sie erwartete vielleicht ihre Liebe, ihre Zeit, ihre pathetische Leidenschaft, und später hörte sie mit den Jahren scheinbar zu warten auf und verzweifelte.

Noch kühler verabschiedete sich Ilja Iljitsch von dem Haufen seiner Freunde. Gleich nach dem ersten Brief seines Dorfschulzen von den Rückständen und der Mißernte vertauschte er seinen nächsten Freund, den Koch, mit einer Köchin, verkaufte dann die Pferde und schickte dann seine übrigen »Freunde« fort.

Fast nichts übte auf ihn eine genügende Anziehungskraft aus, um ihn aus dem Hause herauszulocken, und er setzte sich mit jedem Tage immer mehr und ständiger in seiner Wohnung fest.

Zuerst fiel es ihm schwer, den ganzen Tag angekleidet zu verbringen; dann wurde er zu faul, auswärts zu speisen, außer bei sehr nahen Verwandten, meistens bei ledigen Kameraden, bei denen man die Krawatte ausziehen und die Weste aufknöpfen durfte, es sich sogar »bequem« machen und eine Stunde lang schlafen konnte. Bald wurden ihm auch die Abende lästig. Er mußte einen Frack anziehen und sich täglich rasieren. Er hatte irgendwo gelesen, nur die Morgendünste wären gesund, während die Abenddünste schadeten, und begann sich vor Nässe zu fürchten. Trotz allen diesen Grillen gelang es seinem Freunde Stolz, ihn unter Menschen zu bringen; aber Stolz verreiste oft aus Petersburg nach Moskau, nach Nischnij-Nowgorod, in die Krim und auch ins Ausland, und ohne ihn gab sich Oblomow gänzlich seiner Abgeschlossenheit und Einsamkeit hin, aus welcher ihn nur etwas Außerordentliches, das sich vom gewöhnlichen Gang seines Lebens scharf abhob, aufscheuchen konnte; doch etwas Ähnliches kam nicht vor und war auch nicht vorauszusehen.

Außerdem war zu ihm mit den Jahren eine kindliche Schüchternheit zurückgekehrt, und weil er die verschiedenartigen äußeren Erlebnisse nicht mehr gewohnt war, erwartete er von allem, was außerhalb der Sphäre seines äußeren Lebens lag, Gefahr und alles Böse.

Ihn erschreckte zum Beispiel nicht der Riß im Plafond seines Schlafzimmers. Er hatte sich daran gewöhnt; es fiel ihm auch nicht ein, daß die stets geschlossene Luft seines Zimmers und das beständige Zuhausesitzen für seine Gesundheit beinahe verderblicher waren als die nächtliche Feuchtigkeit und daß die tägliche Überfüllung des Magens eine Art von progressivem Selbstmord bedeutete. Doch er hatte sich daran gewöhnt und fürchtete das alles nicht. Doch Bewegung, Leben, viele Menschen und Trubel waren ihm etwas Ungewohntes. Er fühlte sich in der Menschenmenge beengt; er stieg mit der schwankenden Hoffnung, glücklich ans Ufer zu gelangen, ins Boot und erwartete, wenn er im Wagen fuhr, die Pferde würden scheu werden und umschmeißen. Manchmal überlief ihn eine nervöse Angst. Er fürchtete sich vor der ihn umgebenden Stille und wußte oft selber nicht, warum es ihn kalt überlief. Es kam vor, daß er ängstlich in eine dunkle Ecke schielte, in der Erwartung, seine Phantasie würde ihm einen Streich spielen und ihm eine übernatürliche Erscheinung zeigen.

Das war das Ende seiner gesellschaftlichen Laufbahn. Er wies mit einer trägen Handbewegung alle seine Jugendhoffnungen von sich, die ihn betrogen hatten oder die er betrogen hatte, all die zarten, traurigen und lichten Erinnerungen, die manchem das Herz noch im Alter klopfen machen.

Sechstes Kapitel

Was macht er denn zu Hause? Liest er? Schreibt er? Lernt er? Ja, wenn ihm ein Buch oder eine Zeitung in die Hand kommt, liest er. Wenn er von irgendeinem merkwürdigen Werk hört, erwacht in ihm der Wunsch, es kennenzulernen; er sucht danach, bittet, ihm das Buch zu bringen; und wenn man es bald bringt, nimmt er es vor und beginnt sich eine Vorstellung über den Gegenstand zu bilden; nur noch ein einziger Schritt, und er würde denselben beherrschen; wenn man aber nach einer Weile hinsieht, ruht er schon wieder, apathisch auf die Zimmerdecke blickend, und das Buch liegt, nicht zu Ende gelesen und unverstanden, neben ihm. Die Abkühlung erfaßt ihn noch schneller als die Begeisterung. Er kehrt nie mehr zu dem verlassenen Buch zurück. Und dabei hatte er wie die andern, wie alle, bis zum fünfzehnten Jahr im Pensionat gelernt; dann entschlossen sich die alten Oblomows nach langem Kampf, Iljuscha nach Moskau zu schicken, wo er, ob er wollte oder nicht, den Lehrkursus bis zu Ende verfolgen mußte. Sein schüchterner, apathischer Charakter hinderte ihn daran, seine Faulheit und seine Launen vor fremden Leuten, in der Schule, wo man zugunsten von verwöhnten Muttersöhnchen keine Ausnahme machte, ganz zu äußern. Er saß notgedrungen in gerader Haltung in der Klasse da, hörte zu, was die Lehrer sagten, weil er nicht anders durfte, und lernte mit Mühe, schwitzend und seufzend seine Aufgaben.

Er überschritt niemals die Zeile, unter welcher der Lehrer mit dem Nagel einen Strich gezogen hatte, stellte ihm keinerlei Fragen und forderte keinerlei Erklärungen. Er begnügte sich damit, was im Hefte stand, und äußerte auch dann keine lästige Neugierde, wenn er nicht alles verstand, was er hörte und lernte. Wenn es ihm irgendwie gelang, ein Buch, das Statistik, Geschichte, politische Ökonomie hieß, zu bewältigen, war er ganz zufrieden. Wenn ihm aber Stolz Bücher brachte, welche er noch außer dem Gelernten lesen sollte, blickte Oblomow ihn lange schweigend an. »Auch du, Brutus, bist gegen mich«, sagte er seufzend und nahm die Bücher vor. Ein so übermäßiges Lesen erschien ihm unnatürlich und lästig. Wozu sind denn alle diese Hefte, auf welche man eine Menge Papier, Zeit und Tinte verwendet? Wozu sind die Schulbücher? Wozu sind endlich die sechs, sieben Jahre des Einsiedlertums, all die Strenge, die Strafen, das Einsperren und Quälen mit Aufgaben, das Verbot zu laufen, herumzutollen und lustig zu sein, wenn noch nicht alles zu Ende ist? Wann soll man denn leben? fragte er sich wieder. Wann soll man denn endlich dieses Wissenskapital, dessen größten Teil man im Leben gar nicht verwenden kann, in Umsatz bringen? Was werde ich zum Beispiel mit politischer Ökonomie, mit Algebra und Geometrie in Oblomowka anfangen? Und die Geschichte macht einen nur niedergeschlagen. Man lernt und liest, daß die Stunde der Trübsal gekommen ist, daß der Mensch unglücklich ist; er sammelt seine Kräfte, arbeitet, läuft hin und her, leidet furchtbar und müht sich ab, und das alles, um sich lichte Tage vorzubereiten. Jetzt kommen sie, und die Geschichte könnte ausrasten. Aber nein, es kommen wieder Wolken, das Gebäude stürzt zusammen, man muß wieder arbeiten und sich abmühen ... Die lichten Tage bleiben nicht, sie flüchten, und das Leben fließt und fließt immerzu weiter und wird immer wieder umgebaut.

Die ernste Lektüre ermüdet ihn. Den Denkern gelang es nicht, in ihm den Durst nach beschaulichen Wahrheiten wachzurufen. Aber die Dichter packten ihn mächtig, und er wurde dabei ein Jüngling wie alle. Auch für ihn kam der glückliche, niemand versagte Augenblick des Lebens, wo die Kräfte aufblühen, die Hoffnung auf das Sein, der Wunsch des Guten, der Taten und Wagnisse erwacht, die Epoche des Herzklopfens, des gesteigerten Pulses, des Bebens, der begeisterten Reden und süßen Tränen. Verstand und Herz läuterten sich. Er schüttelte die Schläfrigkeit von sich ab, die Seele verlangte nach Tätigkeit. Stolz verhalf ihm dazu, diesen Moment um so viel zu verlängern, als es für eine Natur, wie sein Freund sie besaß, nur irgend möglich war. Er ertappte Oblomow bei den Dichtern und hielt ihn im Laufe von anderthalb Jahren im Bann des Gedankens und der Wissenschaft. Er nützte den jugendlichen Aufschwung aus, schloß in das Lesen der Dichter außer dem Genuß neue Ziele ein, wies ihn mit einer gewissen Strenge auf die in der Ferne liegenden Wege ihres Lebens hin und riß ihn mit sich in die Zukunft. Beide regten sich auf, weinten und versprachen einander feierlich, einen vernünftigen und lichten Weg zu wählen. Stolz' jugendliches Feuer steckte Oblomow an, und er verging vor Sehnsucht nach Arbeit, nach einem fernen, aber verlockenden Ziel.

Doch die Blüte des Lebens entfaltete sich, ohne Früchte zu tragen. Oblomow wurde nüchtern und las nur manchmal, auf den Rat von Stolz hin, das eine oder das andere Buch; doch er tat es nicht auf einen Zug, nicht plötzlich und ohne Gier, er ließ seine Augen nur träge den Zeilen folgen. Wie interessant die Stelle, die er las, auch sein mochte, wenn ihn aber die Stunde des Speisens oder Schlafens dabei antraf, legte er das Buch mit dem Einband nach oben hin und ging Mittag essen oder löschte die Kerze aus und ging schlafen. Wenn man ihm den ersten Band gab, verlangte er, als er damit fertig war, nicht nach dem zweiten; wenn man ihm aber denselben brachte, las er ihn langsam zu Ende. Später konnte er nicht einmal den ersten Band bewältigen, sondern verbrachte den größten Teil seiner freien Zeit damit, daß er seine Ellbogen auf den Tisch legte und darauf den Kopf stützte; manchmal gebrauchte er statt der Ellbogen das Buch, welches Stolz ihm aufgedrängt hatte.

So beschloß Oblomow seine wissenschaftliche Laufbahn. Der Tag, an welchem er seine letzte Vorlesung hörte, bildete die Herkulessäulen seiner Gelehrsamkeit. Der Direktor der Anstalt zog durch seine Unterschrift auf dem Diplom denselben Strich, den der Lehrer früher mit seinem Nagel im Buch gezeichnet hatte, und unser Held hielt es für unnötig, seine wissenschaftlichen Bestrebungen diese Grenze überschreiten zu lassen. Sein Hirn bildete ein kompliziertes Archiv von toten Begebenheiten, Personen, Epochen, Ziffern, Religionen, zusammenhanglosen sozialwissenschaftlichen, mathematischen und anderen Wahrheiten, Aufgaben, Theorien usw. Das war eine Bibliothek, die aus einzelnen, verschiedenen Bänden über alle Gebiete des Wissens bestand.

Das Lernen hatte auf Ilja Iljitsch eine seltsame Wirkung ausgeübt: Für ihn lag zwischen der Wissenschaft und dem Leben ein ganzer Abgrund, den er nicht zu überbrücken versuchte. Das Leben und das Wissen existierten für ihn jedes für sich allein. Er lernte alle bestehenden und längst nicht mehr bestehenden Rechte, absolvierte auch den Kursus des praktischen Gerichtsverfahrens; als er aber aus Anlaß irgendeines Diebstahls im Hause einen Bericht an die Polizei schreiben mußte, nahm er einen Bogen Papier und eine Feder, dachte und dachte und ließ einen Schreiber holen. Die Bücher auf dem Gut führte der Dorfschulze. Was hatte denn die Wissenschaft damit zu tun? fragte er sich verblüfft.

Er kehrte ohne die Last des Wissens, das seinem frei herumirrenden oder träge schlummernden Denken eine Richtung hätte geben können, in seine Einsamkeit zurück. Was tat er denn? Er fuhr noch immer fort, sich das Muster seines eigenen Lebens vorzuzeichnen. Er fand darin, nicht ohne Grund, so viel Weisheit und Poesie, die man auch ohne Bücher und Gelehrtheit niemals ausschöpfen konnte. Nachdem er seine amtliche und gesellschaftliche Karriere aufgegeben hatte, begann er die Aufgabe seiner Existenz anders zu lösen, sann über seine Bestimmung nach und entdeckte endlich, daß der Horizont seiner Tätigkeit und seines Lebens in ihm selbst verborgen war. Er begriff, daß das Glück in der Familie und das Besorgen des Gutes sein Anteil waren. Bis dahin war er mit seinen Angelegenheiten nicht ganz vertraut; dieselben wurden statt seiner manchmal von Stolz besorgt. Er war weder in seine Einkünfte noch in seine Ausgaben genau eingeweiht, stellte niemals ein Budget zusammen und befaßte sich überhaupt mit gar nichts.

Der alte Oblomow hatte seinem Sohne das Gut in demselben Zustande übergeben, in dem er es von seinem Vater übernommen hatte. Obwohl er sein ganzes Leben im Dorf verbrachte, zerbrach er sich doch nicht den Kopf und klügelte sich nicht allerlei neue Einrichtungen aus, wie man es jetzt tut, um irgendwelche neue Quellen der Produktivität der Erde zu entdecken oder die alten auszudehnen, zu verstärken und so weiter. Er nahm für seine Felder dieselbe Aussaat, die sein Großvater genommen hatte, und behielt für die Feldfrüchte auch dieselben Absatzgebiete bei. Der Alte war übrigens sehr zufrieden, wenn eine gute Ernte oder ein erhöhter Preis sein Einkommen gegen das vorjährige vergrößerte; er nannte das Gottes Segen. Er liebte keine Anstrengung und keine Extravaganz im Gelderwerb. »Gott wird uns schon satt machen«, sagte er.

Ilja Iljitsch war anders als sein Vater und sein Großvater. Er lernte, lebte in der Welt; das alles brachte ihn auf verschiedene Gedanken, die dem Vater und Großvater fremd gewesen waren. Er begriff nicht nur, daß jeder Gewinn eine Sünde sei, sondern auch, daß es die Pflicht jedes Bürgers bilde, den allgemeinen Wohlstand durch ehrliche Arbeit zu unterstützen. Darum nahm der neue, den Anforderungen der Zeit entsprechende Plan der Einrichtung des Gutes und der Verwaltung der Bauern den größten Teil des Lebensmusters ein, das er sich in seiner Einsamkeit vorzeichnete. Die dem Plan zugrunde liegende Idee, seine Einteilung und Hauptbestandteile – das alles war in seinem Kopf längst fertig; es blieben nur die Details, die Überschläge und Ziffern übrig. Er arbeitet schon einige Jahre unermüdlich an diesem Plan, überlegt ihn sich und grübelt im Gehen und Liegen, zu Hause und wenn er auf Besuch ist darüber nach; er ergänzt und ändert die verschiedenen Teile oder stellt das gestern Erfundene und in der Nacht Vergessene in seinem Gedächtnis wieder her; und manchmal flammt in ihm plötzlich ein neuer, unerwarteter Gedanke wie ein Blitz auf, und sein Hirn beginnt fieberhaft zu arbeiten. Er ist nicht irgendein unbedeutender Vollstrecker fremder, fertiger Gedanken; er selbst ist der Schöpfer und zugleich Vollstrecker seiner Gedanken. Sowie er des Morgens aufgestanden ist, legt er sich gleich nach dem Frühstück auf das Sofa, stützt seinen Kopf auf die Hand und denkt, ohne seine Kräfte zu schonen, so lange nach, bis sein Kopf endlich von der schweren Arbeit müde wird und das Gewissen ihm sagt: Du hast heute für das allgemeine Wohl genug geleistet.

Nachdem Oblomow sich von seinen geschäftlichen Sorgen befreit hatte, liebte er es, sich in sich selbst zu vertiefen und in der von ihm erschaffenen Welt zu leben. Ihm war der Genuß hoher Gedanken zugänglich; ihm war auch menschliches Leid nicht fremd. Er weinte manchmal bitterlich in der Tiefe seiner Seele über den Jammer der Menschheit, litt, ohne daß jemand es erfuhr, namenlos, sehnte sich irgendwohin in die Ferne hinaus, wahrscheinlich in jene Welt, in die Stolz ihn mitzureißen pflegte ... Süße Tränen strömten über seine Wangen ... Es kam auch vor, daß er von Verachtung dem menschlichen Laster, der Lüge, der Verleumdung, dem über die ganze Welt verbreiteten Bösen gegenüber erfüllt wurde und daß in ihm der Wunsch aufflammte, den Menschen ihre Wunden zu zeigen; dann erwachten in ihm Gedanken, wogten wie Wellen im Meer in seinem Hirn auf und ab, wuchsen zu Vorsätzen heran und steckten sein ganzes Blut in Brand; die Vorsätze bilden sich zu Bestrebungen aus; von sittlicher Kraft durchdrungen, wechselt er in einem Augenblick zwei, drei Stellungen, erhebt sich mit leuchtenden Augen vom Lager, streckt die Hand vor und blickt begeistert um sich ... Jetzt gleich wird sich sein Streben verwirklichen und sich in eine Heldentat umsetzen ... und dann, o Gott! Welches Wunder, welche furchtbaren Folgen konnte man von so einer großen Anstrengung erwarten! ... Wenn man aber nach einer Weile hinschaut, ist der Morgen dahingeschwunden, der Tag neigt sich dem Abend zu, und mit ihm zugleich verlangen Oblomows ermüdete Kräfte nach Ruhe; der Sturm und die Erregung besänftigen sich in seiner Seele, der Kopf ernüchtert sich nach dem Denken, und das Blut kreist langsamer durch die Adern. Oblomow legt sich still und sinnend auf den Rücken, richtet seinen traurigen Blick auf das Fenster und folgt mit den Augen wehmütig der Sonne, die sich majestätisch hinter irgendein vierstöckiges Haus versteckt.

Wie oft hatte er der Sonne auf diese Weise das Geleite gegeben!

Des Morgens begannen das Leben, die Aufregung, die Träume von neuem! Er liebte es manchmal, sich als irgendeinen unbesiegbaren Feldherrn zu denken, im Vergleich mit welchem nicht nur Napoleon, sondern sogar Jeruslan Lasarewitsch1 nichts bedeuteten; er dachte sich einen Krieg und dessen Ursachen aus; er ließ zum Beispiel die Völker aus Afrika nach Europa wandern oder führte neue Kreuzzüge an, er kämpfte, besiegelte das Schicksal ganzer Nationen, zerstörte Städte, begnadigte, richtete hin und beging hehre, großmütige Taten. Oder er wählte sich die Laufbahn eines Denkers oder eines großen Künstlers: alle beten ihn an; er erntet Lorbeeren; die Menge läuft ihm nach und ruft aus: »Schaut, schaut, da geht Oblomow, unser berühmter Ilja Iljitsch!« In schlimmen Momenten litt er unter Sorgen, wälzte sich von einer Seite auf die andere, legte sich mit dem Gesicht nach unten und wurde manchmal ganz verzweifelt; dann kniete er nieder und begann leidenschaftlich und inbrünstig zu beten, indem er den Himmel anflehte, irgendein drohendes Gewitter abzuwenden. Dann, nachdem er die Sorge um sein Schicksal dem Himmel überlassen hatte, wurde er allem auf der Welt gegenüber ruhig und gleichgültig, wie heftig das Gewitter auch sein mochte. So verbrauchte er seine sittliche Kraft, so regte er sich oft ganze Tage lang auf und erwachte nur dann tief seufzend aus dem verlockenden Traum oder den quälenden Sorgen, wenn der Tag sich dem Abend zuneigte und die Sonne als ein ungeheurer Ball majestätisch hinter das vierstöckige Haus zu sinken begann. Dann folgte er ihr wieder mit einem sinnenden Blick und einem traurigen Lächeln und schlummerte nach den Aufregungen friedlich ein.

Niemand sah und kannte dieses innere Leben Ilja Iljitschs; alle glaubten, Oblomow läge einfach da, äße, so viel er könne, und es wäre von ihm nichts zu erwarten; es rege sich kaum ein Gedanke in seinem Kopf. So sprach man auch überall, wo man ihn kannte, von ihm. Von seiner Begabung, von dieser inneren, vulkanischen Arbeit seines hitzigen Kopfes und seines humanen Herzens wußte und konnte nur Stolz erzählen; doch er war fast niemals in Petersburg anwesend. Sachar allein, der sein ganzes Leben an der Seite seines Herrn verbrachte, kannte dessen Lebensweise noch genauer; doch er war überzeugt, daß Oblomow und er etwas leisteten, normal und wie es sich gehörte lebten und daß man gar nicht anders leben sollte.

Fußnoten

1 Mythischer Held.

Siebentes Kapitel

Sachar hatte bereits sein fünfzigstes Jahr überschritten. Er war nicht mehr der unmittelbare Nachkomme jener russischen Kalebe, der ritterlichen Diener ohne Furcht und Tadel, welche ihren Herren bis zur Selbstvergessenheit ergeben waren, sich durch alle Tugenden auszeichneten und keinerlei Fehler aufzuweisen hatten. Dieser Ritter war einer mit Furcht und mit Tadel. Er gehörte zwei Epochen an, und beide hatten ihm ihren Stempel aufgedrückt. Von der einen hatte er die grenzenlose Ergebenheit dem Hause der Oblomow gegenüber geerbt und von der späteren, zweiten, die Raffiniertheit und Verderbtheit der Sitten. Obwohl er mit Leidenschaft an dem Herrn hing, kam doch selten ein Tag vor, an welchem er ihm nicht irgend etwas vorlog. Der Diener der alten Zeiten pflegte seinen Herrn vor Verschwendung und Unmäßigkeit zurückzuhalten, Sachar jedoch liebte es, mit seinen Kameraden auf die Rechnung seines Herrn zu trinken; der frühere Diener war keusch wie ein Eunuch, und dieser da lief immer zu einer Gevatterin von sehr verdächtiger Art hin. Der altmodische Diener hütete das herrschaftliche Geld sicherer als jeder Schrank, und Sachar, immer bestrebt, seinen Herrn bei irgendeiner Ausgabe um zehn Kopeken zu betrügen, eignete sich be stimmt jede auf dem Tisch liegende Kupfermünze an. Wenn Ilja Iljitsch vergaß, Sachar den Rest abzufordern, kehrte dieser nie mehr zu ihm zurück. Größere Summen stahl er nicht, vielleicht deshalb, weil er seine Bedürfnisse mit Zehnkopekenstücken maß oder weil er ertappt zu werden fürchtete, aber keinesfalls aus übertriebener Ehrlichkeit. Der alte Kaleb würde eher wie ein gut dressierter Jagdhund neben den seiner Obhut anvertrauten Eßwaren gestorben sein, als sie anzurühren sich getraut zu haben. Sachar aber dachte nur, wie er möglichst viel auch von dem ihm nicht Anvertrauten essen und trinken konnte; jener sorgte sich nur darum, daß sein Herr möglichst viel aß, und war traurig, wenn er nicht aß; und Sachar war traurig, wenn der Herr alles, was auf dem Teller lag, bis auf den Rest aufaß.

Außerdem war Sachar auch eine Klatschbase. Er klagte in der Küche, im Krämerladen, bei den Zusammenkünften am Haustor, daß er ein elendes Leben führe, daß ein so böser Herr noch gar nicht dagewesen sei, er sei launisch, geizig und zornig, man könne es ihm nie recht machen, mit einem Wort, es sei besser zu sterben, als ihn zu bedienen. Sachar tat es nicht aus Bosheit und nicht, weil er dem Herrn schaden wollte, sondern nur so aus der von seinem Vater und Großvater geerbten Gewohnheit, bei jeder Gelegenheit über den Herrn zu schimpfen. Er verbreitete manchmal aus Langeweile oder in Ermangelung eines anderen Gesprächsthemas oder um dem versammelten Publikum mehr Interesse einzuflößen plötzlich irgendein Märchen über seinen Herrn. »Der meinige hat jetzt die Gewohnheit, immer zu einer Witwe zu gehen«, krächzte er leise im Vertrauen; »er hat ihr gestern einen Brief geschrieben.« Oder er erklärte, sein Herr sei ein solcher Kartenspieler und Trunkenbold, wie ihn die Welt noch nie gesehen hatte, und daß er alle Nächte bis zum Morgen Karten spiele und Schnaps trinke. Das entsprach aber gar nicht der Wahrheit: Ilja Iljitsch besuchte gar keine Witwe, schlief ruhig in der Nacht und nahm nie eine Karte in die Hand.

Sachar war unsauber. Er rasierte sich selten, und wenn er sich auch Gesicht und Hände wusch, schien er eher nur so zu tun, als wasche er sich; man konnte ihn übrigens mit gar keiner Seife reinwaschen. Wenn er ins Badehaus ging, verwandelten sich seine Hände nur für zwei Stunden aus schwarzen in rote und wurden dann wieder schwarz.

Er war sehr ungeschickt: Wenn er das Haustor oder die Tür öffnen wollte, machte er eine Hälfte auf, dabei schloß sich die zweite, er lief zu ihr hin, und infolgedessen schloß sich die erste Hälfte. Er konnte nie ein Taschentuch oder einen andern Gegenstand auf einmal vom Fußboden aufheben, sondern beugte sich immer dreimal nieder, als haschte er danach, und fing es vielleicht erst beim viertenmal auf, es kam aber vor, daß er es dabei wieder fallen ließ. Wenn er einen Haufen Geschirr oder andere Sachen durch das Zimmer trug, begannen die obersten Gegenstände gleich beim ersten Schritt zu Boden zu fallen; zuerst fiel ein Gegenstand zu Boden, er machte jählings eine verspätete und unnütze Bewegung, um ihn aufzuhalten, und ließ dabei zwei andere zu Boden gleiten; er sperrt vor Erstaunen den Mund auf und schaut dem fallenden Gegenstand nach, statt auf diejenigen, die er in der Hand hält, zu achten, dadurch beugt er das Präsentierbrett herab, so daß wieder Gegenstände herunterfallen und er am entgegengesetzten Ende des Zimmers mit einem einzigen Glas oder Teller anlangt; manchmal wirft er selbst das letzte, was er noch in der Hand hält, schimpfend und fluchend herab. Wenn er durch das Zimmer schreitet, streift er bald den Tisch und bald den Sessel mit dem Fuß oder mit der Seite, findet nicht sogleich in die offene Türhälfte hinein, sondern stößt mit den Schultern gegen die zweite und schimpft dann über beide Hälften oder über den Hausherrn und den Zimmermann, der die Tür gemacht hat. In Oblomows Arbeitszimmer sind fast alle Gegenstände zerbrochen, besonders die kleinen, die eine behutsame Behandlung beanspruchen, und das alles durch Sachars Schuld. Er wendet seine Geschicklichkeit, eine Sache in die Hand zu nehmen, bei allen Gegenständen an, ohne in der Behandlungsweise des einen oder anderen Gegenstandes irgendeinen Unterschied zu machen. Man sagt ihm zum Beispiel, er soll eine Kerze putzen oder ein Glas mit Wasser füllen, er verbraucht dabei ebensoviel Kraft wie beim Öffnen des Haustors. Wehe der Wohnung, wenn Sachar, von einem jähen Eifer, den Herrn zufriedenzustellen, erfaßt, es sich einfallen ließ, plötzlich überall aufzuräumen, alles zu putzen, aufzustellen und schnell und auf einmal in Ordnung zu bringen; dann nahmen der Schaden und die Verwüstung kein Ende. Ein ins Haus eingedrungener feindlicher Soldat hätte nicht mehr Unheil stiften können – es begann das Schleudern und Zugrunderichten verschiedener Gegenstände, das Zerschlagen des Geschirrs, das Umwerfen von Sesseln; es endete damit, daß man ihn aus dem Zimmer jagen mußte, oder daß er selbst schimpfend und fluchend fortging.

Sachar hatte sich ein für allemal einen bestimmten Wirkungskreis vorgeschrieben, den er nie überschritt. Er stellte des Morgens den Samowar auf, putzte die Stiefel und die vom Herrn verlangten Kleider, aber niemals diejenigen, die er nicht verlangte, sie mochten zehn Jahre dahängen. Dann fegte er – aber nicht jeden Tag – die Mitte des Zimmers aus, ohne je bis in die Ecken einzudringen, und staubte nur jenen Tisch ab, auf dem nichts lag, um die Gegenstände nicht herunternehmen zu müssen. Dann hielt er sich schon für berechtigt, auf der Ofenbank hinzudämmern oder mit Anissja in der Küche und den anderen Dienstboten am Haustor zu plaudern, ohne sich um irgend etwas zu kümmern.

Wenn man ihm etwas außerhalb dieses Gebietes zu tun auftrug, erfüllte er den Befehl ungern, nach langem Hin- und Herstreiten und nach Beweisen, der Auftrag sei unnütz oder unmöglich zu befolgen. Man konnte ihn durch keinerlei Mittel dahin bringen, in diesen seinen Wirkungskreis eine neue beständige Beschäftigung einzuschließen.

Trotz alledem, wenn man den Umstand, daß Sachar zu trinken und zu klatschen liebte, Oblomows Kupfermünzen einsteckte, verschiedene Gegenstände zerbrach und faul war, abrechnete, ergab es sich, daß er seinem Herrn ein tiefergebener Diener war. Er wäre für ihn, ohne es sich zu überlegen, ins Feuer oder ins Wasser gegangen und würde diese Leistung für keine besondere Heldentat angesehen haben, die Bewunderung oder irgendwelche besondere Belohnung beanspruchen durfte. Er hielt das für etwas Natürliches und Selbstverständliches, oder vielmehr er hatte sich darüber gar keine Meinung gebildet und hätte so gehandelt, ohne sich darüber irgendwelche Gedanken zu machen. Er hatte über diesen Gegenstand keinerlei Theorien aufgestellt. Er würde sich ebenso auf den Tod stürzen, wie ein Hund, der im Wald ein wildes Tier sieht, sich auf dasselbe stürzt, ohne darüber nachzudenken, warum er und nicht sein Herr das tut. Wenn es aber zum Beispiel notwendig wäre, eine ganze Nacht lang, ohne ein Auge zu schließen, am Bett des Herrn zu verbringen, und dessen Gesundheit, ja selbst dessen Leben davon abhinge, würde Sachar bestimmt einschlafen. In seinem Benehmen dem Herrn gegenüber äußerte er nicht nur keine Unterwürfigkeit, sondern behandelte ihn sogar eher grob und familiär, zürnte ihm ernstlich einer jeden Kleinigkeit wegen und verleumdete ihn, wie schon mitgeteilt worden ist, am Haustor; aber dadurch wurde das tief in ihm wurzelnde, verwandtschaftliche Gefühl der Ergebenheit nicht bloß Ilja Iljitsch persönlich, sondern allem gegenüber, was den Namen Oblomow trug und ihm vertraut, lieb und teuer war, nur zeitweise in den Schatten gestellt, aber durchaus nicht aufgehoben. Vielleicht stand sogar dieses Gefühl zu Sachars eigener Ansicht über Oblomows Persönlichkeit in Widerspruch; vielleicht hatte die genaue Kenntnis des Charakters seines Herrn Sachar andere Überzeugungen eingeflößt. Wenn man ihm den Grad seiner Anhänglichkeit an Ilja Iljitsch erklärt hätte, würde er diese Tatsache wahrscheinlich bestritten haben. Sachar liebte Oblomowka, wie die Katze ihren Dachboden liebt, wie das Pferd seine Krippe und der Hund die Hütte, in der er geboren wurde und aufwuchs. In der Sphäre dieser Anhänglichkeit bildete er sich seine besonderen, persönlichen Eindrücke aus. Er liebte zum Beispiel den Oblomowschen Kutscher mehr als den Koch, die Viehmagd Warwara flößte ihm noch größere Sympathien ein, und er zog sie alle Ilja Iljitsch vor; aber trotzdem war für ihn der Oblomowsche Koch besser als alle Köche der Welt und war über sie alle erhaben, und Ilja Iljitsch stand hoch über allen Gutsbesitzern. Er konnte den Weinschenk Tarasska nicht ausstehen; doch er würde diesen Tarasska nicht gegen den besten Menschen der ganzen Welt austauschen, weil er aus Oblomowka war. Er behandelte Oblomow ebenso grob und familiär, wie ein Schamane einen Götzen behandelt; er putzt ihn, wirft ihn manchmal um und schlägt ihn vielleicht sogar vor Ärger, aber in seiner Seele wohnt doch immer das Gefühl, wie erhaben doch dieser Götze im Vergleich zu ihm ist. Der geringste Anlaß genügte, um in der Tiefe von Sachars Seele dieses Gefühl wachzurufen, ihn seinen Herrn voll Andacht betrachten zu lassen und ihm manchmal sogar Tränen der Rührung zu entlocken.

Sachar sah alle Herrschaften und Gäste, die zu Oblomow kamen, etwas von oben herab an und bediente sie, reichte ihnen Tee usw. mit einer gewissen Herablassung, als wollte er sie fühlen lassen, welche Ehre für sie der Aufenthalt bei seinem Herrn sei. Er wies sie recht grob ab. »Der Herr ruht«, sagte er, den Ankömmling hochmütig vom Kopf bis zu den Füßen musternd. Manchmal begann er plötzlich statt der Klatschgeschichten und Verleumdungen Ilja Iljitsch in den Laden- und Haustorversammlungen übermäßig zu loben, und dann hatte sein Entzücken keine Grenzen. Er begann alle Eigenschaften des Herrn aufzuzählen, seinen Verstand, seine Freundlichkeit, Freigebigkeit und Güte; und wenn es seinem Herrn an Eigenschaften für das Loblied mangelte, lieh er sie sich bei anderen aus und schmückte ihn mit Vornehmheit, Reichtum oder außerordentlicher Macht. Wenn er dem Hausbesorger, dem Verwalter oder sogar dem Hausbesitzer Angst machen wollte, nahm er immer seinen Herrn zu Hilfe. »Wart nur, ich sag's dem Herrn«, drohte er, »dann kriegst du's schon!« Für ihn gab es auf der ganzen Welt keine größere Autorität. Aber die äußerlichen Beziehungen Sachars zu Oblomow waren immer feindseliger Art. Sie waren während ihres Zusammenlebens einander überdrüssig geworden. Ein intimes tägliches Zusammensein zweier Menschen geht weder an dem einen noch an dem anderen spurlos vorüber; es gehört von beiden Seiten sehr viel Lebenserfahrung, Logik und Herzenswärme dazu, um nur die gegenseitigen Eigenschaften zu würdigen, ohne durch die Fehler zu verletzen und sich verletzt zu fühlen. Ilja Iljitsch kannte schon die eine unschätzbare Eigenschaft Sachars, dessen Anhänglichkeit, und hatte sich daran gewöhnt, indem er seinerseits auch glaubte, es könnte und dürfte nicht anders sein; da er diesen Vorzug ein für allemal für etwas Selbstverständliches hielt, konnte er ihn nicht mehr würdigen, ertrug aber trotz seiner Gleichgültigkeit allem gegenüber Sachars unzählige kleine Fehler nicht mit Geduld. Wenn Sachar trotz der Ergebenheit seinem Herrn gegenüber, wie sie den Dienern in alten Zeiten eigen war, sich von diesen durch moderne Fehler unterschied, hegte auch Ilja Iljitsch seinerseits, obwohl er Sachars Anhänglichkeit innerlich schätzte, nicht mehr jene freundschaftliche, fast verwandtschaftliche Zuneigung zu ihm, wie sie in früheren Zeiten die Herrschaften für ihre Diener empfanden. Er erlaubte sich, manchmal einen ernsthaften Streit mit Sachar zu beginnen. Auch er machte sich seinem Diener lästig. Nachdem Sachar in seiner Jugend im herrschaftlichen Haus als Lakai gedient hatte, wurde er zum Beaufsichtiger Ilja Iljitschs ernannt und hielt sich seitdem nur für einen Luxusartikel, für ein aristokratisches Zubehör des Hauses, das zur Aufrechterhaltung des Glanzes und der Würde der alten Familie bestimmt, aber durchaus kein Gegenstand des täglichen Bedarfes war. Darum tat er gar nichts mehr, wenn er seine Pflichten erfüllt hatte und den jungen Herrn des Morgens angekleidet und des Abends ausgekleidet hatte. Seine angeborene Trägheit wurde durch die Erziehung, die er als Lakai genossen hatte, noch verstärkt. Er machte sich unter der Dienerschaft wichtig und gab sich nicht die Mühe, den Samowar aufzustellen oder die Fußböden zu fegen. Entweder döste er im Vorzimmer vor sich hin oder ging in die Gesindestube und in die Küche plaudern, oder er stand auch mit auf der Brust verschränkten Armen ganze Stunden lang am Haustor und blickte mit schläfriger Nachdenklichkeit um sich. Und nach einem solchen Leben wälzte man ihm plötzlich die schwere Last auf die Schultern, das ganze Haus in Ordnung zu halten! Er mußte den Herrn bedienen, mußte fegen und putzen und Gänge machen! Alles das verlieh seinem Charakter einen düstern Anstrich und rief in ihm Grobheit und Härte hervor; darum brummte er auch jedesmal, wenn die Stimme des Herrn ihn seine Ofenbank zu verlassen nötigte. Aber trotz dieser äußeren Barschheit und Unfreundlichkeit besaß Sachar doch ein weiches, gutes Herz. Er liebte es sogar, seine Zeit mit Kindern zu verbringen. Man sah ihn oft auf dem Hof und am Haustor mit einem ganzen Kinderhaufen. Er versöhnte sie, neckte sie, arrangierte ihnen Spiele oder saß einfach da, hielt auf jedem Knie ein Kind, während irgendein Knirps noch von rückwärts seinen Hals umfaßte oder ihn an seinem Backenbart zupfte.

Auf diese Weise störte Oblomow Sachar durch das immerwährende Beanspruchen seiner Dienste und seiner Anwesenheit, während sein Herz, sein geselliger Charakter, seine Liebe zur Untätigkeit und sein ewiges, unstillbares Bedürfnis zu kauen ihn bald zur Gevatterin, bald in die Küche, bald in den Laden und zum Haustor hin zogen.

Sie kannten einander lange und lebten lange beisammen. Sachar hatte den kleinen Oblomow auf dem Arm getragen, und Ilja Iljitsch hatte ihn noch als einen jungen, beweglichen, gefräßigen und schelmischen Burschen gekannt. Das alte Band zwischen ihnen war unzerreißbar. Ebenso wie Ilja Iljitsch ohne Sachars Hilfe weder aufstehen, noch schlafen gehen, noch sich kämmen, anziehen und Mittag essen konnte, konnte sich auch Sachar keinen andern Herrn als Ilja Iljitsch denken und sich keine andere Existenz vorstellen als diese, die darin bestand, daß er ihn ankleidete, fütterte, ihm Grobheiten sagte, ihn betrog und belog und dabei innerlich doch anbetete.

Achtes Kapitel

Nachdem Sachar hinter Tarantjew und Alexejew die Tür geschlossen hatte, setzte er sich nicht auf die Ofenbank, in der Erwartung, der Herr würde ihn gleich rufen, da er gehört hatte, daß Ilja Iljitsch zu schreiben vorhatte. Doch in Oblomows Arbeitszimmer war alles still wie in einem Grab. Sachar sah durch eine Spalte hinein, und was bot sich seinen Blicken dar? Ilja Iljitsch lag auf dem Sofa und stützte den Kopf auf die Handfläche; vor ihm lag ein Buch. Sachar öffnete die Tür.

»Warum liegen Sie wieder?« fragte er.

»Störe mich nicht; du siehst, ich lese!« sagte Oblomow lakonisch.

»Es ist Zeit, daß Sie sich waschen und schreiben«, sagte Sachar, ohne sich abweisen zu lassen.

»Ja, es ist wirklich Zeit«, sagte Ilja Iljitsch, zur Besinnung kommend. »Gleich, geh nur. Ich werde noch nachdenken.«

»Wann hat er es nur fertiggebracht, sich wieder hinzulegen!« brummte Sachar, auf die Ofenbank springend. »Da hat er sich aber beeilt!«

Oblomow hatte unterdessen die von der Zeit vergilbte Seite zu Ende gelesen, auf der er seine Lektüre vor einem Monat unterbrochen hatte. Er legte das Buch wieder auf seinen Platz, gähnte und vertiefte sich in den nicht zu bannenden Gedanken »über das doppelte Malheur«.

»Was für eine Langeweile!« flüsterte er, seine Beine streckend und wieder einziehend.

Er hatte Lust, sich den Träumen und dem Nichtstun hinzugeben; er richtete die Augen auf den Himmel und suchte die geliebte Sonne, doch sie stand gerade im Zenit und überflutete die Kalkwand des Hauses, hinter dem sie abends vor Oblomows Fenster unterging, mit ihrem blendenden Licht.

Nein, zuerst die Arbeit, dachte er voller Strenge, und dann ...

Der ländliche Morgen war längst vorüber, und der Petersburger neigte sich seinem Ende zu. Zu Ilja Iljitsch drang das Gewirr von menschlichen und nicht menschlichen Stimmen von draußen herein. Der Gesang wandernder Künstler, der meistens von Hundegebell begleitet wurde. Man zeigte auch Meertiere und bot alle möglichen Verkaufsartikel an.

Er legte sich auf den Rücken und verschränkte beide Hände unter dem Kopf. Ilja Iljitsch nahm das Ausarbeiten des Gutsplanes in Angriff. Er ließ im Geiste rasch ein paar ernste, grundlegende Fragen bezüglich der Abgaben und des Pflügens vorübergleiten, erfand eine neue strenge Maßregel gegen die Faulheit und das Vagabundieren der Bauern und ging zur Einrichtung seines eigenen Lebens auf dem Gut über. Ihn beschäftigte das Bauen eines Landhauses; er verweilte mit Vergnügen ein paar Minuten lang bei der Einteilung der Räume, bestimmte die Länge und Breite des Speise- und des Billardzimmers, überlegte es sich, wohin er die Fenster seines Arbeitszimmers verlegen sollte, dachte sogar an die Möbel und die Teppiche. Dann verteilte er die Seitenflügel des Hauses nach der Zahl der Gäste, die er zu empfangen beabsichtigte, räumte den Ställen, Scheunen, Gesindestuben und verschiedenen anderen Nebenbauten Platz ein. Endlich ging er zum Garten über; er beschloß, alle alten Linden und Eichen, so, wie sie waren, zu lassen, die Äpfel- und Birnbäume zu vernichten und statt dessen Akazien zu pflanzen; er dachte auch über einen Park nach, nachdem er aber im Geiste einen annähernden Kostenüberschlag gemacht hatte, fand er, daß die Sache zu teuer sei, verschob diesen Plan auf später und ging zu dem Blumengarten und den Glashäusern über. Jetzt erwachte in ihm der verlockende Gedanke an das zukünftige Obst so lebhaft, daß er sich plötzlich auf seinem Gut vorstellte, nachdem alles schon nach seinem Plan eingerichtet wäre und er dort beständig leben würde.

Er träumte davon, daß er an einem Sommerabend auf der Terrasse am Teetische, unter dem für die Sonne undurchdringlichen Schatten der Bäume, mit einer Pfeife sitze, träge den Rauch einziehe und die sich hinter den Bäumen eröffnende Landschaft, die Kühle und Stille genieße; und in der Ferne breiten sich die gelben Felder aus, die Sonne sinkt hinter den wohlbekannten Birkenhain und rötet den spiegelglatten Teich; über den Feldern steigt Dampf auf; es wird kühl; die Bauern gehen haufenweise nach Hause; die müßige Dienerschaft sitzt am Haustor; von dort tönen lustige Stimmen, Lachen und Balalaikaspiel herüber; die Mädchen spielen Haschen; um ihn herum tollen seine Kleinen, kriechen ihm auf die Knie, hängen sich an seinen Hals; am Samowar sitzt ... die Königin alles dessen, was ihn umgibt, seine Gottheit ... eine Frau! seine Frau! Und unterdessen leuchten aus dem mit eleganter Einfachheit eingerichteten Speisezimmer einladende Lichter heraus, und drin wird der große, runde Tisch gedeckt. Der zu seinem Majordomus ernannte Sachar, der schon einen ganz grauen Backenbart hat, deckt den Tisch, stellt das angenehm tönende Kristall auf und legt das Silber herum, wobei er jeden Augenblick bald ein Glas, bald eine Gabel zu Boden wirft; dann setzt man sich zum reichlichen Abendbrot; da sieht er auch seine Jugendkameraden, seinen unveränderlichen Freund Stolz und andere bekannte Gesichter. Dann begibt man sich zur Ruhe ...

Oblomows Gesicht rötete sich vor Glück; der Traum war so licht, lebendig und poetisch. Er fühlte auf einmal eine wahre Sehnsucht nach Liebe und stillem Glück, und es dürstete ihn plötzlich, die Felder und Hügel seiner Heimat zu sehen und sein Haus, seine Frau und seine Kinder zu haben ...

Nachdem er etwa fünf Minuten auf dem Gesicht gelegen hatte, wandte er sich langsam wieder auf den Rücken um. Sein Gesicht leuchtete von einem sanften, rührenden Gefühl auf; er war glücklich. Er streckte seine Beine langsam und behaglich aus, so daß seine Beinkleider sich ein wenig hinaufschoben, doch er bemerkte diese kleine Nachlässigkeit gar nicht. Die gefälligen Träume trugen ihn leicht und frei, weit in die Ferne. Jetzt gab er sich seinem Lieblingsgedanken ganz hin; er dachte an die kleine Kolonie von Freunden, die sich in kleinen Dörfchen und Farmen, fünfzehn bis zwanzig Werst von seinem Gut entfernt, niederlassen würden, daran, wie sie sich der Reihe nach täglich versammeln würden, um zusammen zu Mittag zu essen, zu soupieren und zu tanzen; er sah nur heitere Tage und heitere, lachende, runde, rotbackige Gesichter mit einem Doppelkinn, deren Besitzer sich eines unverwüstlichen Appetits erfreuten; es würde ewiger Sommer, ewiger Frohsinn herrschen, man würde gut essen und süß faulenzen ...

»Gott, ach Gott!« sagte er aus der Fülle seines Glückes heraus und erwachte. Vom Hof ertönte es fünfstimmig herein: »Kartoffeln! Sand, brauchen Sie keinen Sand? Kohlen! Kohlen! Steuern Sie, gütige Herrschaften, zur Erbauung eines Gotteshauses bei!« Aus dem benachbarten Neubau drang das Klopfen der Hacken und das Schreien der Arbeiter herüber, und auf der Straße hörte man die Wagen rasseln. Überall Stimmen und Bewegung!

»Ach!« seufzte Ilja Iljitsch schmerzlich auf. Was das für ein Leben ist! Wie abscheulich dieser Großstadtlärm ist! Wann wird denn das ersehnte paradiesische Leben beginnen? Wann komme ich in die Felder und die vertrauten Wälder? dachte er. Jetzt würde er gern unter einem Baum auf dem Gras liegen, durch die Äste hindurch auf die Sonne blicken und zählen, wieviel Vögel sich auf die Zweige setzen. Und dann bringt irgendein rotbackiges Dienstmädchen mit nackten, runden und weichen Ellbogen und einem sonnengebräunten Hals bald das Mittagessen und bald das Frühstück herein; die Schelmin senkt die Augen und lächelt ... Wann denn diese Zeit? ... Und der Plan, der Dorfschulze und die Wohnung? tauchte es in seinem Gedächtnis auf.

»Ja, ja!« sagte Ilja Iljitsch, »gleich, sofort!«

Oblomow erhob sich rasch und richtete sich auf dem Sofa auf, ließ dann die Füße vom Sofa herabgleiten, schlüpfte auf einmal in beide Pantoffeln hinein und blieb eine Weile so sitzen; dann erhob er sich endgültig und blieb ein paar Minuten lang sinnend stehen.

»Sachar, Sachar!« schrie er laut, auf den Tisch und das Tintenfaß blickend.

»Was ist denn?« hörte man mit dem Sprunge zugleich. »Wie mich nur meine Beine tragen!«

»Sachar!« wiederholte Ilja Iljitsch sinnend, ohne den Blick vom Tisch zu wenden. »Höre einmal, Bruder ...« begann er, auf das Tintenfaß hinweisend, versank aber, ohne den Satz zu vollenden, in seine Gedanken. Jetzt streckten sich seine Arme nach oben aus, die Knie sanken ein, er begann sich zu strecken, zu gähnen ... »Wir hatten dort noch«, begann er langsam, sich noch immer streckend, »ein Stück Käse, und ... gib mir Madeira; es ist noch weit bis zum Mittagessen, und ich werde jetzt ein wenig frühstücken ...«

»Wo hatten wir einen?« sagte Sachar. »Es ist nichts geblieben ...«

»Wieso ist nichts geblieben?« unterbrach ihn Ilja Iljitsch. »Ich erinnere mich ganz genau; es war noch ein so großes Stück da ...«

»Nein, nein! Es ist gar nichts zurückgeblieben!« wiederholte Sachar beharrlich.

»Es war noch etwas da!« sagte Ilja Iljitsch.

»Nein!« antwortete Sachar.

»Nun, dann kaufe Käse.«

»Geben Sie mir Geld.«

»Dort liegt kleines Geld, nimm es!«

»Hier ist nur ein Rubel vierzig, und ich brauche einen Rubel sechzig Kopeken.«

»Dort waren noch Kupfermünzen!«

»Ich habe keine gesehen!« sagte Sachar, von einem Fuß auf den anderen tretend. »Es war Silber da, das liegt hier noch, es waren aber keine Kupfermünzen dabei!«

»Es waren welche dabei; gestern hat sie der Hausierer mir selbst in die Hand gegeben.«

»Ich war dabei«, sagte Sachar, »ich habe gesehen, daß er Kleingeld gegeben hat, ich habe aber keine Kupfermünzen gesehen ...«

Vielleicht hat Tarantjew sie genommen? dachte Ilja Iljitsch unschlüssig, aber nein, der hätte auch das Kleingeld genommen.

»Was gibt es also sonst noch?« fragte er.

»Gar nichts! Ich muß Anissja fragen, ob der gestrige Schinken noch da ist«, sagte Sachar. »Soll ich ihn bringen?«

»Bringe, was da ist. Wieso ist denn sonst nichts geblieben?«

»Nun, es ist eben nichts geblieben!« sagte Sachar und ging.

Und Ilja Iljitsch spazierte langsam und sinnend im Zimmer herum.

»Ja, ich habe viel Sorgen«, sagte er leise. »Zum Beispiel der Plan – wieviel Arbeit er noch erfordert! ... Und es ist doch ein Stück Käse übriggeblieben«, fügte er sinnend hinzu, »Sachar hat ihn aufgegessen und sagt, daß keiner da war! Und wo sind die Kupfermünzen hingekommen?« sagte er, mit der Hand auf dem Tisch herumtastend.

Nach einer Viertelstunde stieß Sachar die Tür mit dem Präsentierbrett auf, das er in beiden Händen hielt, und wollte, als er im Zimmer war, die Tür mit dem Fuß zuschlagen, doch er hatte falsch gezielt und traf den leeren Raum; das Weinglas fiel herab, ihm folgte der Pfropfen der Karaffe und eine Semmel.

»Du kannst keinen Schritt machen, ohne daß so etwas vorkommt!« sagte Ilja Iljitsch. »Nun, so hebe doch das, was du fallen gelassen hast, auf; er steht noch da und bewundert es!«

Sachar beugte sich mit dem Präsentierteller herab, um die Semmel aufzuheben, bemerkte aber, als er sich niedergekauert hatte, daß seine beiden Hände beschäftigt waren und er nichts hatte, womit er die Semmel aufheben konnte.

»Nun, hebe es einmal auf!« sagte Ilja Iljitsch spöttisch. »Nun also? Warum tust du es denn nicht?«

»Oh, daß euch der Teufel hole, ihr verfluchten«, wandte sich Sachar wütend an die herabgeworfenen Gegenstände, »wo kommt es denn vor, daß knapp vor dem Mittagessen gefrühstückt wird?«

Er stellte das Präsentierbrett hin und hob alles, was ihm heruntergefallen war, vom Fußboden auf; er nahm die Semmel, blies sie ab und legte sie auf den Tisch.

Ilja Iljitsch begann zu frühstücken, und Sachar blieb in einiger Entfernung stehen und blickte ihn von der Seite an, als hätte er vor, etwas zu sagen. Aber Oblomow frühstückte, ohne ihm die geringste Beachtung zu schenken. Sachar räusperte sich zweimal. Oblomow sah sich noch immer nicht um.

»Der Verwalter hat soeben wieder herübergeschickt«, begann Sachar endlich schüchtern, »er sagt, der Baumeister war bei ihm, er fragt, ob er unsere Wohnung anschauen darf? Es ist alles des Umbaues wegen ...«

Ilja Iljitsch aß, ohne ein Wort zu erwidern.

»Ilja Iljitsch!« sagte Sachar nach einer Weile noch leiser.

Ilja Iljitsch gab sich den Anschein, als hörte er nichts.

»Man fordert, daß wir nächste Woche ausziehen«, krächzte Sachar.

Oblomow trank ein Glas Wein und schwieg.

»Was sollen wir denn anfangen, Ilja Iljitsch?« fragte Sachar fast flüsternd.

»Habe ich dir denn nicht verboten, mir davon zu sprechen!« sagte Ilja Iljitsch streng, erhob sich und kam auf Sachar zu. Dieser wich vor ihm zurück.

»Was du für ein giftiger Mensch bist, Sachar!« fügte Oblomow überzeugt hinzu.

Sachar fühlte sich verletzt.

»Aber«, sagte er, »ich bin giftig! Warum bin ich denn giftig? Ich habe niemand umgebracht.«

»Natürlich bist du giftig!« wiederholte Ilja Iljitsch, »du vergiftest mir das Leben.«

»Ich bin nicht giftig!« sagte Sachar.

»Warum läßt du mir mit der Wohnung keine Ruhe?«

»Was soll ich denn tun?«

»Und was soll ich denn tun?«

»Sie wollten doch dem Hausherrn schreiben!«

»Ich werde ihm auch schreiben; warte nur; aber das geht doch nicht so schnell!«

»Sie sollten ihm jetzt gleich schreiben!«

»Jetzt, jetzt! Ich habe noch Wichtigeres zu tun. Du glaubst, das ist wie Holzhacken? Eins, zwei, drei? Da«, sagte Oblomow, die trockene Feder in das Tintenfaß tauchend, »es ist ja gar keine Tinte drin! Wie soll ich schreiben?«

»Ich werde gleich Kwaß hineintun«, sagte Sachar, nahm das Tintenfaß in die Hand und ging damit rasch ins Vorzimmer, während Oblomow nach Papier zu suchen begann. »Ich glaube, es ist auch kein Papier da!« sprach er zu sich selbst, in der Schublade herumstöbernd und auf dem Tisch herumtastend. »Nirgends! Ach, dieser Sachar, er ist unerträglich!«

»Und du willst kein giftiger Mensch sein?« sagte Ilja Iljitsch zu Sachar, der wieder hereinkam, »du kümmerst dich um gar nichts! Weshalb ist kein Papier im Hause?«

»Was ist denn das für eine Plage, Ilja Iljitsch! Ich bin ein Christ, warum sagen Sie, daß ich giftig bin? Was Ihnen einfällt; ich soll giftig sein! Wir sind beim alten Herrn geboren und aufgewachsen, er hat uns Hund zu schimpfen und bei den Ohren zu reißen geruht, wir haben aber nie ein solches Wort gehört, er hat sich so etwas nicht ausgedacht! Das ist ja eine Sünde! Da ist Papier, bitte!«

Er nahm von der Etagere einen halben Bogen grauen Papiers herab und reichte es ihm.

»Kann man denn darauf schreiben?« fragte Oblomow, das Papier fortwerfend, »ich habe damit für die Nacht mein Glas zugedeckt, um zu verhindern, daß etwas ... Giftiges hineinkommt.«

Sachar wandte sich ab und blickte auf die Mauer.

»Nun, da kann man nichts machen. Gib her, ich schreibe das Konzept, und Alexejew schreibt es dann ab.«

Ilja Iljitsch setzte sich an den Tisch und schrieb schnell: »Euer Wohlgeboren! ...«

»Wie schlecht die Tinte ist!« sagte er, »passe nächstes Mal besser auf und erfülle deine Pflichten, wie es sich gehört!« Er dachte ein wenig nach und begann dann wieder zu schreiben:

»Die Wohnung, welche ich im zweiten Stock des Hauses gemietet habe, in welchem Sie einiges umzubauen beabsichtigen, entspricht vollkommen meiner Lebensweise und den von mir infolge des langen Wohnens in diesem Hause angenommenen Gewohnheiten. Durch meinen Leibeigenen, Sachar Trofimow, benachrichtigt, daß Sie mir mitzuteilen befohlen haben, daß die von mir gemietete Wohnung ...«

»Das ist ungeschickt«, sagte er, »hier steht zweimal daß und dort zweimal welche.«

Er murmelte vor sich hin und stellte die Worte um; dann sah er, daß welcher sich auf Stock bezog – das ging wieder nicht. Er änderte das, so gut es ging, um und begann darüber zu grübeln, wie er die Wiederholung von daß vermeiden könnte. Bald strich er ein Wort durch, bald schrieb er es wieder hin. Er stellte daß dreimal um, doch dabei kam entweder ein Unsinn oder die Nachbarschaft eines zweiten daß heraus.

»Man kann dieses zweite Daß gar nicht loswerden!« sagte er ungeduldig. »Ach! Zum Teufel mit diesem Brief! Ich soll mir wegen solcher Kleinigkeiten den Kopf zerbrechen! Ich bin es nicht mehr gewohnt, Geschäftsbriefe zu schreiben. Und jetzt ist es schon bald drei Uhr.«

»Sachar, da hast du es!« Er zerriß den Brief in vier Stücke und warf sie zu Boden.

»Hast du's gesehen?« fragte er.

»Ich hab's gesehen«, antwortete Sachar, die Papierschnitzel aufhebend.

»Also, laß mich jetzt mit der Wohnung in Ruhe. Und was hast du da?«

»Die Rechnungen.«

»Ach, du mein Gott! Du quälst mich zu Tode! Nun, wieviel steht da, sag's schnell!«

»Der Schlächter bekommt 86 Rubel 54 Kopeken.«

Ilja Iljitsch schlug die Hände zusammen.

»Bist du verrückt? Der Schlächter allein bekommt einen solchen Haufen Geld?«

»Wir haben seit drei Monaten nicht gezahlt, da kann sich schon ein Haufen ansammeln! Hier steht es drin, man hat es nicht gestohlen!«

»Und du willst nicht giftig sein?« sagte Oblomow. »Du hast für eine Million Fleisch gekauft! Wie kannst du so viel in dich hineinbringen? Wenn man wenigstens etwas davon hätte.«

»Ich hab's nicht aufgegessen!« gab Sachar barsch zur Antwort.

»Nein! Du hast's nicht gegessen!«

»Warum werfen Sie mir mein Essen vor? Da, sehen Sie!« Und er streckte ihm die Rechnungen hin.

»Nun, wem noch?« fragte Ilja Iljitsch, die fettigen Hefte ärgerlich von sich stoßend.

»Noch 121 Rubel 18 Kopeken dem Bäcker und Gemüsehändler.«

»Das ist ja der Ruin! Das ist unerhört!« sagte Oblomow ganz außer sich. »Bist du denn eine Kuh, daß du so viel Grünzeug zusammenkaufst ...«

»Nein! Ich bin ein giftiger Mensch!« bemerkte Sachar bitter, sich gänzlich vom Herrn abwendend. »Wenn Sie Michej Andreitsch nicht zu sich lassen würden, hätten wir weniger verbraucht!« fügte er hinzu.

»Nun, wieviel macht also das Ganze aus, rechne!« sagte Ilja Iljitsch und begann selbst zu rechnen.

Sachar zählte an seinen Fingern herum.

»Zum Teufel, was für ein Unsinn herauskommt; jedesmal etwas anderes!« sagte Oblomow. »Nun, wieviel hast du herausgebracht, zweihundert?«

»Warten Sie, lassen Sie mir Zeit!« sagte Sachar, die Augen schließend und brummend, »acht Zehner und zehn Zehner sind achtzehn und zwei Zehner ...«

»Nun, du wirst so niemals fertig«, sagte Ilja Iljitsch, »geh in dein Zimmer und gib mir morgen die Rechnung, sorge auch für Papier und Tinte ... So ein Haufen Geld! Ich habe gesagt, man soll nach und nach zahlen, er geht aber immer darauf aus, alles auf einmal zu begleichen ... Ist das ein Volk!«

»Zweihundertfünfzig Rubel zweiundsiebzig Kopeken«, sagte Sachar, als er mit dem Zusammenrechnen fertig war. »Geben Sie mir das Geld.«

»Aber natürlich, sofort! Wart nur noch: Ich werde morgen nachrechnen ...«

»Wie Sie wollen, Ilja Iljitsch, aber man verlangt das Geld ...«

»Nun, laß mich nur in Ruh'! Wenn ich sage morgen, dann kriegst du's auch morgen. Geh in dein Zimmer, ich habe zu tun. Ich habe größere Sorgen ...«

Ilja Iljitsch setzte sich in den Sessel hinein, zog die Füße hinauf und wollte sich gerade in seine Gedanken versenken, als ein Läuten ertönte. Es erschien ein kleiner Mann mit einem mäßigen Bäuchlein, mit einem weißen Gesicht, roten Backen und einer Glatze, die im Nacken mit schwarzen, dichten Haaren wie mit Fransen verbrämt war. Die Glatze war rund, rein und glänzte so, als wäre sie aus Elfenbein geschnitzt. Das Gesicht des Gastes zeichnete sich durch einen besorgten, aufmerksamen Ausdruck allem gegenüber, was er anblickte, durch einen reservierten Blick, durch ein gemäßigtes Lächeln und einen bescheidenen, offiziellen Ausdruck aus. Er trug einen bequemen Frack, der sich beinahe bei einer bloßen Bewegung schon weit und behaglich öffnete wie ein Tor. Seine Wäsche war, wie um mit der Glatze zu harmonieren, von blendendem Weiß. Er trug auf dem Zeigefinger der rechten Hand einen großen, massiven Ring mit irgendeinem dunklen Stein.

»Doktor! Durch welche Schicksalsfügung kommen Sie?« rief Oblomow aus, dem Gast die eine Hand hinstreckend und ihm mit der zweiten einen Sessel hinschiebend.

»Es dauert mir zu lange, daß Sie immer gesund sind und mich nicht holen lassen, darum komme ich selbst«, antwortete der Doktor scherzhaft. »Nein«, fügte er dann ernst hinzu, »ich war oben bei Ihrem Nachbarn und bin bei der Gelegenheit nachschauen gekommen, wie es Ihnen geht.«

»Danke. Und was ist mit dem Nachbar?«

»Was mit ihm ist? Die Sache wird sich drei, vier Wochen, vielleicht auch bis zum Herbst hinziehen, und dann ... dann steigt das Wasser in die Brust. Das bekannte Ende. Nun, und wie geht es Ihnen?«

Oblomow schüttelte traurig den Kopf.

»Schlecht, Doktor. Ich habe selbst daran gedacht, Sie um Rat zu fragen. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Der Magen arbeitet fast gar nicht, ich fühle einen Druck unter der Herzgrube, mich quält Sodbrennen, ich atme schwer ...« zählte Oblomow mit kläglicher Stimme auf.

»Geben Sie mir die Hand«, sagte der Doktor, griff nach dem Puls und schloß für einen Augenblick die Augen. »Husten Sie?« fragte er.

»In der Nacht besonders, wenn ich soupiert habe.«

»Hm! Leiden Sie an Herzklopfen? An Kopfschmerzen?«

Der Doktor stellte noch ein paar ähnliche Fragen, neigte dann seine Glatze und versank in ein tiefes Nachdenken. Nach zwei Minuten hob er plötzlich den Kopf und sagte mit entschlossener Stimme:

»Wenn Sie noch zwei, drei Jahre in diesem Klima leben, immer liegen, Fettes und Schwerverdauliches essen – werden Sie an Schlagfluß sterben.«

Oblomow fuhr zusammen.

»Was soll ich denn tun? Helfen Sie mir, um Gottes willen!« sagte er.

»Dasselbe, was die andern tun: ins Ausland reisen.«

»Ins Ausland!« wiederholte Oblomow erstaunt.

»Ja. Warum denn nicht?«

»Aber, ich bitte Sie, Doktor, ins Ausland! Wie kann man denn das?«

»Warum soll man denn nicht hinreisen?«

Oblomow richtete die Augen schweigend auf sich selbst, dann auf sein Arbeitszimmer und wiederholte mechanisch:

»Ins Ausland!«

»Was hindert Sie denn daran?«

»Was mich hindert? Alles ...«

»Wieso alles? Haben Sie denn kein Geld?«

»Ja, ja. Ich habe wirklich kein Geld«, sagte Oblomow lebhaft, durch dieses so natürliche Hindernis erfreut, hinter das er sich ganz, mit Haut und Haar, verstecken konnte. »Schauen Sie einmal, was der Dorfschulze mir schreibt ... Wo ist der Brief? Wo habe ich ihn hingelegt? Sachar!«

»Gut, gut«, sagte der Doktor, »das geht mich nichts an; meine Pflicht ist, Ihnen zu sagen, daß Sie die Lebensweise, den Ort, die Luft, die Beschäftigung, alles, alles verändern müssen.«

»Gut, ich werde es mir überlegen«, sagte Oblomow. »Wohin soll ich denn fahren, und was soll ich tun?«

»Fahren Sie nach Kissingen«, begann der Doktor, »verleben Sie dort den Juni und Juli. Trinken Sie den dortigen Brunnen. Dann begeben Sie sich in die Schweiz oder nach Tirol und machen eine Traubenkur durch. Dort verbringen Sie den September und Oktober ...«

»Zum Teufel auch, nach Tirol!« flüsterte Ilja Iljitsch kaum hörbar.

»Dann irgendwohin, in eine trockene Gegend, vielleicht nach Ägypten ...«

»Das auch noch!« flüsterte Oblomow.

»Beseitigen Sie die Sorgen und Unannehmlichkeiten ...«

»Sie haben gut reden«, bemerkte Oblomow, »Sie bekommen keine solchen Briefe vom Dorfschulzen ...«

»Sie müssen auch die Gedanken verscheuchen«, fuhr der Doktor fort.

»Die Gedanken?«

»Ja, geistige Anstrengung.«

»Und der Plan der Gutseinrichtung? Ich bitte Sie, bin ich denn ein Holzklotz ...«

»Wie Sie wollen. Es ist meine Pflicht, Sie zu warnen. Sie müssen auch den Leidenschaften aus dem Wege gehen, sie sind der Kur hinderlich. Sie müssen sich bestreben, sich durch Reiten, Tanzen, durch mäßige Bewegung in der frischen Luft und durch angenehme Gespräche, besonders mit Damen, zu zerstreuen, damit das Herz nur von angenehmen Empfindungen und nicht zu stark zum Klopfen gebracht wird.«

Oblomow lauschte ihm mit gesenktem Kopfe.

»Dann?« fragte er.

»Dann vermeiden Sie es vor allem, zu lesen und zu schreiben! Mieten Sie eine Villa, deren Fenster nach dem Süden gerichtet sind, schaffen Sie sich viel Blumen an und bestreben Sie sich, Musik und Frauen in der Nähe zu haben ...«

»Und wie soll die Nahrung sein?«

»Meiden Sie das Fleisch und überhaupt jede tierische Nahrung, auch die mehligen und salzigen Speisen. Sie können eine leichte Bouillon und Gemüse essen; nehmen Sie sich aber in acht, jetzt droht fast überall die Cholera, so daß man vorsichtig sein muß ... Sie können acht Stunden täglich gehen. Kaufen Sie sich ein Gewehr ...«

»O Gott!« stöhnte Oblomow.

»Endlich«, schloß der Doktor, »reisen Sie für den Winter nach Paris und zerstreuen Sie sich dort ohne Bedenken im Wirbel des Lebens. Fahren Sie vom Theater zum Ball, in die Maskerade, aufs Land, auf Besuch, damit um Sie herum Freude, Lärm, Lachen sind ...«

»Brauche ich vielleicht noch etwas?« fragte Oblomow mit schlecht zurückgehaltenem Ärger.

Der Doktor sann nach.

»Vielleicht sollten Sie noch Meerluft einatmen. Schiffen Sie sich in England ein und fahren Sie bis nach Amerika ...«

Er erhob sich und verabschiedete sich.

»Gut, gut, ich befolge es sicher«, antwortete Oblomow sarkastisch, ihn hinausbegleitend.

Der Doktor ließ Oblomow in einem jammervollen Zustande zurück. Er schloß die Augen, legte beide Hände auf den Kopf, kauerte sich auf dem Sessel zu einem Knäuel zusammen und blieb so sitzen, ohne irgendwo hinzublicken und ohne etwas zu fühlen.

Hinter ihm ertönte der schüchterne Ruf:

»Ilja Iljitsch! Was soll ich denn dem Verwalter sagen?«

»Was denn?«

»Wegen des Ausziehens!«

»Du fängst wieder davon an?« fragte Oblomow erstaunt.

»Was soll ich denn tun, Väterchen Ilja Iljitsch? Sagen Sie selbst, mein Leben ist auch so nicht süß, ich schaue schon ins Grab ...«

»Nein, es scheint, daß du mit deinem Umzug mich ins Grab jagen willst«, sagte Oblomow. »Hör einmal, was der Doktor sagt!«

Sachar fand nichts zu erwidern, er seufzte nur so auf, daß die Zipfel seines Halstuches auf seiner Brust erbebten.

»Du hast beschlossen, mich umzubringen?« fragte Oblomow wieder, »du bist meiner überdrüssig, ja? Nun, so sprich doch!«

»Aber Gott sei mit Ihnen! Leben Sie, solange Sie wollen! Wer wünscht Ihnen Böses?« brummte Sachar, durch die tragische Wendung, die das Gespräch annahm, ganz verlegen gemacht.

»Du!« sagte Ilja Iljitsch, »ich habe dir verboten, auch nur ein Wort vom Umzug zu sagen, und du läßt keinen Tag vorübergehen, ohne mich fünfmal daran zu erinnern. Das verstimmt mich doch, begreife das doch. Meine Gesundheit taugt auch so nicht viel.«

»Ich hab' mir gedacht, Herr ... ich hab' gedacht, warum wir denn eigentlich nicht ausziehen sollen?« sagte Sachar mit vor innerer Erregung bebender Stimme.

»Warum wir nicht ausziehen sollen! Du beurteilst das so leichtfertig!« antwortete Oblomow, sich zusammen mit dem Sessel zu Sachar umwendend. »Hast du's dir ordentlich überlegt, was es heißt, auszuziehen, he? Du hast dir das gewiß nicht überlegt!«

»Nein, ich hab' mir's nicht überlegt!« antwortete Sachar demütig, bereit, dem Herrn in allem beizustimmen, um die Sache nur nicht zu pathetischen Szenen kommen zu lassen, die er wie die Pest fürchtete.

»Wenn du's dir nicht überlegt hast, dann höre zu und sage, ob wir umziehen können oder nicht. Was heißt das, umziehen? Das heißt, der Herr soll für den ganzen Tag fortgehen und vom Morgen ab angekleidet herumgehen ...«

»Nun, und wenn es so ist?« bemerkte Sachar, »warum sollten Sie nicht für den ganzen Tag fortgehen? Es ist ja doch nur ungesund, zu Hause zu sitzen. Wie schlecht Sie jetzt aussehen! Früher waren Sie so frisch wie eine Gurke, und jetzt, seit Sie zu Hause sitzen, sehen Sie Gott weiß wie aus. Sie sollten durch die Straßen gehen, sich die Leute oder sonst was anschauen ...«

»Sprich keinen Unsinn und höre zu«, sagte Oblomow. »Durch die Straßen gehen!«

»Ja, wirklich«, fuhr Sachar mit großem Eifer fort. »Man erzählt, daß jetzt ein unerhörtes Ungeheuer gezeigt wird. Sie sollten es sich ansehen. Sie können ja ins Theater oder zum Maskenball gehen, und wir würden hier unterdessen umziehen.«

»Was du für Dummheiten sagst! Du sorgst dich sehr um die Ruhe deines Herrn! Ich soll mich, deiner Meinung nach, den ganzen Tag irgendwo herumtreiben, es macht dir nichts, daß ich Gott weiß wo und wie essen werde und nach dem Mittagessen mich nicht ausruhen kann! ... Sie sollen da ohne mich alles einpacken! Wenn man nicht aufpaßt, kommen nur Scherben an. Ich weiß«, sagte Oblomow mit wachsender Überzeugung, »was ein Umzug bedeutet! Das bedeutet Wirrwarr und Lärm; man wirft alle Sachen auf einen Haufen auf den Fußboden. Da ist der Koffer, die Sofalehne, da sind Bilder, Pfeifen, allerlei Flaschen dabei, die man fast niemals sieht, die aber dann, der Teufel weiß woher, auftauchen! Man muß auf alles aufpassen, damit es nicht verloren und zerschlagen wird ... Die eine Hälfte ist hier, die zweite auf der Fuhre oder in der neuen Wohnung; man will rauchen, greift nach der Pfeife, der Tabak ist aber schon fort ... Man will sich niedersetzen, weiß aber nicht wohin; wenn man etwas anrührt, macht man sich schmutzig; alles ist staubig; man kann sich nicht waschen und muß mit solchen Händen herumgehen, wie du sie hast ...«

»Ich habe reine Hände«, bemerkte Sachar, und zeigte statt der Hände etwas, das wie zwei Schuhsohlen aussah.

»Zeig sie mir lieber nicht!« sagte Ilja Iljitsch, sich abwendend. »Und wenn man trinken will«, sprach er weiter, »und nach der Karaffe greift, ist kein Glas da ...«

»Man kann auch aus der Karaffe trinken!« bemerkte Sachar gutmütig.

»Ihr haltet's mit allem so: man kann auch nicht fegen und nicht abstauben und keine Teppiche klopfen. Und in der neuen Wohnung«, fuhr Ilja Iljitsch fort, von dem seiner Vorstellung lebhaft erscheinenden Bild des Umzuges selbst hingerissen, »wird man in drei Tagen nicht fertig, alles liegt nicht auf seinem Platze, die Bilder stehen an der Wand und liegen auf dem Fußboden, die Galoschen befinden sich auf dem Bett, die Stiefel sind mit dem Tee und der Pomade in einem Bündel. Bald bemerkt man, daß der Fuß des Sessels abgebrochen ist, bald, daß das Glas auf dem Bilde zerbrochen ist oder daß das Sofa voller Flecken ist. Es ist nichts da; wenn man nach etwas frägt, weiß niemand, wo es ist, man hat es entweder verloren oder in der alten Wohnung zurückgelassen; dann muß man hinlaufen ...«

»Manchmal läuft man zehnmal hin und her«, unterbrach Sachar.

»Ja, siehst du!« sprach Oblomow weiter. »Und wenn man in der neuen Wohnung des Morgens aufsteht, was ist das dann für eine Qual! Es gibt weder Wasser noch Kohlen, und im Winter muß man in der Kälte sitzen, die Zimmer sind ausgefroren, man hat aber kein Holz; dann muß man herumlaufen und sich welches borgen ...«

»Und was für Nachbarn Gott einem noch schickt«, bemerkte Sachar wieder, »bei manchen kann man sich nicht nur kein Bündel Holz, sondern auch nicht einmal einen Krug Wasser ausbitten.«

»Na also!« sagte Ilja Iljitsch, »man könnte glauben, daß die Schererei ein Ende hat, wenn man bis zum Abend umgezogen ist, man hat aber noch zwei Wochen lang zu tun. Man meint, alles ist geordnet ... Wenn man aber hinsieht, ist richtig etwas noch zurückgeblieben. Die Stores müssen aufgehängt, die Bilder angenagelt werden, man ist ganz erschöpft und möchte gar nicht weiterleben ... Und die Ausgaben, die Ausgaben ...«

»Voriges Mal, vor acht Jahren, hat's zweihundert Rubel ausgemacht, ich erinnere mich noch ganz genau«, bestätigte Sachar.

»Nun, ist das vielleicht ein Spaß!« sagte Ilja Iljitsch. »Und wie unbehaglich man sich anfangs in der neuen Wohnung fühlt! Man gewöhnt sich ja nicht so bald daran. Ich werde an dem neuen Ort fünf Nächte nicht schlafen können; ich werde traurig sein, wenn ich des Morgens aufstehe und statt des Aushängeschildes des Drechslers mir gegenüber etwas anderes sehe oder wenn jene geschorene Alte nicht vormittags aus dem Fenster herausschaut ...

Siehst du jetzt selbst ein, wozu du deinen Herrn bringen wolltest?« fragte Ilja Iljitsch vorwurfsvoll.

»Ich sehe es ein«, flüsterte Sachar demütig.

»Warum hast du mir also vorgeschlagen, umzuziehen? Können denn menschliche Kräfte das alles ertragen?«

»Ich habe geglaubt, daß es andere gibt, die nicht schlechter sind als wir und die umziehen, daß also auch wir es tun könnten ...« sagte Sachar.

»Was? Was?« fragte Ilja Iljitsch, sich erstaunt auf seinem Sessel aufrichtend. »Was hast du gesagt?«

Sachar wurde plötzlich verlegen, da er nicht wußte, wodurch er seinem Herrn Anlaß zu dem pathetischen Ausrufe und zu der Bewegung gegeben hatte. Er schwieg.

»Andere sind nicht schlechter!« wiederholte Ilja Iljitsch entsetzt, »so weit bist du also gekommen! Nun weiß ich also, daß ich für dich ebensogut wie ein ›anderer‹ bin.«

Oblomow verneigte sich ironisch vor Sachar und machte ein höchst beleidigtes Gesicht.

»Aber ich bitte, Ilja Iljitsch, stelle ich Sie denn mit irgendwem gleich? ...«

»Geh mir aus den Augen!« sagte Oblomow befehlend und wies mit der Hand auf die Tür hin, »ich kann dich nicht sehen. Ah! Die ›anderen‹! Gut!«

Sachar zog sich mit einem tiefen Seufzer zurück.

»Ist das ein Leben!« brummte er, sich auf die Ofenbank setzend.

»Mein Gott!« stöhnte auch Oblomow, »ich hatte vor, den Morgen nützlicher Arbeit zu widmen, man hat mich aber für den ganzen Tag verstimmt. Und wer denn? Der eigene, ergebene, erprobte Diener! Was er da gesagt hat! Wie konnte er das nur?«

Es gelang Oblomow lange nicht, sich zu beruhigen; er legte sich hin, stand auf, ging im Zimmer herum und legte sich dann wieder hin. In dem Umstande, daß Sachar ihn bis auf die Stufe der »andern« herabsteigen ließ, sah er einen Eingriff in seine Rechte auf Sachars ausschließliche Bevorzugung der Person des Herrn allen Menschen gegenüber. Er drang in die Tiefe dieses Vergleiches ein und untersuchte, was die »andern« seien und was er sei, in welchem Grade eine solche Parallele möglich und gerecht erscheine und wie groß die ihm durch Sachar zugefügte Beleidigung sei; endlich ob Sachar ihn bewußt gekränkt habe, ob es seine Überzeugung sei, daß man Ilja Iljitsch einem »andern« gleichstellen könne, oder ob das seiner Zunge nur so, ohne Anteilnahme seines Kopfes entschlüpft sei. Das alles hatte Oblomows Eitelkeit verletzt, und er beschloß, Sachar den Unterschied zwischen sich selbst und jenen, die er unter der Benennung »andere« meinte, zu zeigen und ihn auf die ganze Niedertracht seiner Handlung hinzuweisen.

»Sachar!« rief er gedehnt und feierlich.

Als Sachar diesen Ruf hörte, sprang er nicht wie sonst mit den Füßen klopfend von der Ofenbank herab und brummte nicht; er kroch langsam vom Ofen herunter und ging, alles mit den Händen und den Seiten streifend, langsam und ungern hin, wie ein Hund, welcher der Stimme des Herrn anhört, daß sein Streich entdeckt worden ist und daß man ihn ruft, um ihn zu bestrafen. Sachar öffnete halb die Tür, wagte es aber nicht, einzutreten.

»Komm herein!« sagte Ilja Iljitsch.

Obschon die Tür sich leicht öffnen ließ, machte Sachar sie so auf, als könne er nicht durchkriechen, blieb deshalb in der Tür stecken und kam nicht herein.

Oblomow saß auf dem Sofarand.

»Komm her!« Er gab nicht nach.

Sachar befreite sich mit Mühe aus der Tür, schloß sie aber gleich hinter sich und lehnte seinen Rücken fest an sie an.

»Hierher!« sagte Ilja Iljitsch, mit dem Finger auf den Platz neben sich hinweisend. Sachar machte einen halben Schritt nach vorwärts und blieb zwei Klafter von der bezeichneten Stelle entfernt stehen.

»Noch näher!« sagte Oblomow.

Sachar gab sich den Anschein, als schreite er weiter, er bewegte sich aber nur, stampfte mit dem Fuße und blieb auf derselben Stelle. Da Ilja Iljitsch sah, es würde ihm diesmal nicht gelingen, Sachar näher zu locken, ließ er ihn dort stehen und blickte ihn eine Zeitlang schweigend und vorwurfsvoll an. Sachar, der sich bei dieser lautlosen Betrachtung seiner Person unbehaglich fühlte, gab sich den Anschein, daß er den Herrn nicht beachte, wandte ihm mehr als jemals seine Seite zu und warf Ilja Iljitsch in diesem Augenblicke nicht einmal seinen einseitigen Blick zu. Er schaute beharrlich nach links, nach der entgegengesetzten Seite hin. Dort erblickte er einen ihm längst bekannten Gegenstand – die Spinnwebenfransen um die Bilder herum, und sah in der Spinne einen lebendigen Vorwurf seiner Nachlässigkeit.

»Sachar!« sagte Ilja Iljitsch leise und würdevoll.

Sachar antwortete nicht; er schien zu denken: Nun, was willst du? Einen andern Sachar? Ich stehe ja hier! und richtete seinen Blick an seinem Herrn vorbei von links nach rechts; er wurde auch dort durch den Spiegel, der mit dichtem Staub wie mit einem Schleier bedeckt war, an sich selbst erinnert; durch diesen Staub hindurch blickte ihn wild und düster, wie durch einen Nebel hindurch, sein eigenes unfreundliches, häßliches Gesicht an. Er wandte seinen Blick unzufrieden von diesem traurigen, ihm nur zu gut bekannten Gegenstand ab und entschloß sich, ihn für einen Augenblick auf Ilja Iljitsch haften zu lassen. Ihre Blicke begegneten sich. Sachar ertrug den Vorwurf nicht, der sich in den Augen des Herrn ausdrückte, und senkte die seinigen zu seinen Füßen herab. Hier sah er wieder im Teppich, der von Staub und Flecken durchsetzt war, ein trauriges Zeugnis für den Eifer, den er im herrschaftlichen Dienst äußerte.

»Sachar!« wiederholte Ilja Iljitsch ausdrucksvoll.

»Was wünschen Sie?« flüsterte Sachar kaum hörbar und fuhr in der Vorahnung einer pathetischen Rede ein wenig zusammen.

»Gib mir Kwaß!«

Sachar fiel ein Stein vom Herzen; in seiner Freude stürzte er rasch wie ein Knabe zur Kredenz hin und brachte Kwaß.

»Nun, wie fühlst du dich?« fragte Ilja Iljitsch sanft, nachdem er aus dem Glas getrunken hatte und es in der Hand hielt, »gewiß nicht gut?«

Der wilde Ausdruck in Sachars Gesicht milderte sich augenblicklich durch den in seinen Zügen aufflammenden Strahl von Reue. Sachar fühlte die ersten Anzeichen des in seiner Brust erwachten und sein Herz erfüllenden Gefühls der Ehrfurcht dem Herrn gegenüber und begann ihm plötzlich gerade in die Augen zu blicken.

»Fühlst du dein Vergehen?« fragte Ilja Iljitsch wieder.

Was ist das für ein »Vergehen«? dachte Sachar betrübt. Irgend etwas Trauriges; man muß ja gegen seinen Willen weinen, wenn er so zu reden anfängt.

»Ilja Iljitsch«, begann Sachar mit dem tiefsten Ton, über den seine Stimme zu gebieten hatte, »ich habe nur gesagt, daß ...«

»Nein, warte!« unterbrach ihn Oblomow, »verstehst du, was du getan hast? Da, stelle das Glas auf den Tisch und antworte!«

Sachar antwortete nicht und begriff gar nicht, was er verbrochen hatte, doch das hinderte ihn nicht daran, den Herrn ehrfurchtsvoll anzublicken; er senkte sogar ein wenig den Kopf, im Bewußtsein seiner Schuld.

»Wie, willst du denn kein giftiger Mensch sein?« sagte Oblomow.

Sachar schwieg immer und blinzelte nur ein paarmal heftig.

»Du hast deinen Herrn gekränkt!« sprach Ilja Iljitsch langsam und sah Sachar starr an, dessen Verlegenheit genießend. Sachar wußte nicht, wo er vor Bangigkeit hin sollte.

»Du hast mich doch gekränkt?« fragte Ilja Iljitsch.

»Ich habe Sie gekränkt!« flüsterte Sachar, durch dieses neue traurige Wort ganz verwirrt. Er richtete seine Blicke nach rechts, nach links und geradeaus, indem er irgendwo nach Rettung suchte, und an ihm huschte wieder das Spinngewebe, der Staub, sein eigenes Spiegelbild und das Gesicht des Herrn vorüber. Wenn ich in die Erde sinken könnte! Ach, warum nur der Tod nicht kommt! dachte er, als er sah, daß er, was er auch beginnen mochte, der pathetischen Szene nicht ausweichen könne. Und er fühlte, daß er immer häufiger und häufiger blinzelte und daß ihm gleich Tränen entströmen würden. Endlich antwortete er dem Herrn mit den Worten eines bekannten Liedes, das er in Prosa gesetzt hatte:

»Wodurch hab' ich Sie denn gekränkt, Ilja Iljitsch?« fragte er fast weinend.

»Wodurch?« wiederholte Oblomow. »Hast du denn darüber nachgedacht, was das heißt: die ›andern‹?«

Er schwieg und blickte Sachar noch immer an.

»Soll ich dir sagen, was das ist?«

Sachar bewegte sich wie ein Bär in seiner Höhle und seufzte so auf, daß man es im ganzen Zimmer hörte.

»Der ›andere‹, den du meinst, ist ein elender, armer, grober, ungebildeter Mensch, er lebt schmutzig und armselig auf dem Dachboden; oder er schläft auf irgendeinem Lumpen auf dem Hof. Was kann einem solchen Menschen geschehen? Gar nichts. Er frißt Kartoffeln und Hering. Die Not schleudert ihn aus einer Ecke in die andere, und er läuft den ganzen Tag herum. Er wird also auch in eine neue Wohnung ziehen. Zum Beispiel Ljagajew, er nimmt sein Lineal unter den Arm, bindet seine zwei Hemden in ein Taschentuch ein und geht ... ›Wohin gehst du?‹ ›Ich ziehe um‹, antwortet er. So macht es der ›andere‹! Und ich bin deiner Meinung nach auch ein ›anderer‹, he?«

Sachar blickte den Herrn an, trat von einem Fuß auf den andern und schwieg.

»Was ist der ›andere‹?« sprach Oblomow weiter. »Der ›andere‹ ist ein Mensch, der sich selbst die Stiefel putzt, sich selbst ankleidet, wenn er auch wie ein gnädiger Herr aussieht; das ist aber nicht wahr, er weiß nicht einmal, was Dienstboten sind; er hat niemand, den er hinschicken kann, er holt sich selbst, was er braucht; er schürt selbst das Holz im Ofen, staubt manchmal selbst ab ...«

»Es gibt viele solche Deutsche«, sagte Sachar düster.

»Na also! Und ich? Wie, glaubst du, bin ich der ›andere‹?«

»Sie sind ein ganz anderer!« sagte Sachar weinerlich, da er immer noch nicht begriff, was der Herr sagen wollte. »Gott weiß, was Sie haben ...«

»Ich bin ein ganz anderer, ja? Warte, sieh einmal zu, was du sagst! Denke einmal darüber nach, wie der ›andere‹ lebt! Der ›andere‹ arbeitet ohne auszuruhen, läuft herum, müht sich ab«, sprach Oblomow weiter, »wenn er nicht arbeitet, ißt er auch nicht. Der ›andere‹ macht Bücklinge, der ›andere‹ bittet und erniedrigt sich ... Und ich? Nun, sage einmal: Was glaubst du, bin ich der ›andere‹, was?«

»Aber Väterchen, quälen Sie mich nicht so mit traurigen Worten!« flehte Sachar. »Ach du mein Gott!«

»Ich bin der ›andere‹! Renne ich denn herum, arbeite ich denn? Esse ich denn wenig? Sehe ich denn mager und ärmlich aus? Fehlt es mir denn an etwas? Ich glaube, ich habe jemand, der mich bedient und für mich arbeitet! Ich habe mir, Gott sei Dank, seitdem ich lebe, noch kein einziges Mal selbst einen Strumpf angezogen! Warum soll ich mir denn die Mühe machen? Aus welchem Grunde? Und wem muß ich das sagen? Hast du mich denn nicht seit meiner Kindheit bedient? Du weißt das alles, du hast gesehen, daß ich verwöhnt worden bin, daß ich niemals Hunger und Kälte gelitten habe, daß ich keine Not gekannt, mir mein Brot nicht selbst verdient und mich überhaupt nicht mit schwerer Arbeit befaßt habe. Wie konntest du es also wagen, mich mit anderen zu vergleichen? Besitze ich denn eine solche Gesundheit, wie diese ›andern‹? Kann ich denn das alles tun und ertragen?«

Sachar hatte endgültig jede Fähigkeit verloren, Oblomows Rede zu verstehen; aber seine Lippen bliesen sich vor innerer Erregung auf; die pathetische Szene donnerte wie ein Gewitter über seinem Haupt. Er schwieg.

»Sachar!« wiederholte Ilja Iljitsch.

»Was wünschen Sie?« zischte Sachar kaum hörbar.

»Gib noch Kwaß her.«

Sachar brachte Kwaß, und als Ilja Iljitsch, nachdem er getrunken hatte, ihm das Glas zurückgab, wollte er schnell in sein Zimmer gehen.

»Nein, nein, warte!« sagte Oblomow, »ich frage dich: Wie konntest du deinen Herrn so bitter kränken, den du als Kind auf dem Arme getragen hast, dem du dein ganzes Leben dienst und der dein Wohltäter ist?«

Sachar hielt es nicht länger aus. Das Wort Wohltäter gab ihm den Rest! Er begann immer häufiger zu blinzeln. Je weniger er begriff, was Ilja Iljitsch ihm in seiner pathetischen Rede mitteilte, desto trauriger wurde er.

»Verzeihen Sie, Ilja Iljitsch«, begann er reuevoll zu krächzen, »das habe ich aus Dummheit, wirklich nur aus Dummheit ...«

Und da Sachar nicht begriff, was er getan hatte, wußte er nicht, welches Zeitwort er hinzufügen sollte.

»Und ich«, fuhr Oblomow im Ton eines gekränkten und nicht nach seinem Verdienst gewürdigten Men schen fort, »sorge mich noch Tag und Nacht und mühe mich ab, manchmal flammt mir der Kopf und das Herz stockt; ich schlafe in der Nacht nicht, wälze mich herum und denke immer darüber nach, wie ich es am besten einrichten soll ... und über wen grüble ich? Für wen? Nur für euch, für die Bauern; folglich auch für dich. Du glaubst vielleicht, wenn du siehst, daß ich manchmal ganz unter die Decke krieche, daß ich wie ein Klotz daliege und schlafe; nein, ich schlafe nicht, ich denke immer an das eine, wie es einzurichten ist, daß die Bauern an nichts Not leiden, daß sie ihre Nachbarn nicht beneiden, daß sie beim Strafgericht mich vor Gott nicht anklagen, sondern daß sie für mich beten und mir nur Gutes nachsagen. Die Undankbaren!« schloß Oblomow mit bitterem Vorwurf.

Die letzten traurigen Worte rührten Sachar endgültig. Er begann allmählich zu schluchzen.

»Väterchen, Ilja Iljitsch!« flehte er. »Hören Sie auf! Was sagen Sie da, Gott sei mit Ihnen! Ach du heilige Gottesmutter! Was für ein Unglück hat uns denn so unerwartet betroffen ...«

»Und du«, fuhr Oblomow, ohne auf ihn zu hören, fort, »du solltest dich schämen, so etwas auszusprechen! Was für eine Schlange ich an meiner Brust gewärmt habe!«

»Eine Schlange!« rief Sachar aus, schlug die Hände zusammen und zuckte so geräuschvoll mit der Schulter, als wären zwanzig Käfer ins Zimmer hereingeflogen und summten drin. »Wann habe ich denn von einer Schlange gesprochen?« fragte er schluchzend, »ich sehe nicht einmal im Traum so etwas Häßliches!«

Sie hatten beide aufgehört, einander und zum Schluß auch sich selbst zu verstehen.

»Wie hat deine Zunge nur so etwas aussprechen können?« sprach Ilja Iljitsch weiter, »und ich habe noch für ihn auf meinem Plan ein besonderes Haus, einen Gemüsegarten und Pachtkorn bestimmt und ein Gehalt festgesetzt! Du solltest mein Verwalter, mein Majordomus und meine Vertrauensperson sein! Die Bauern sollten sich bis zur Erde vor dir verneigen; alle sollten dich immer nur Sachar Trofimitsch nennen! Und er ist immer noch unzufrieden und hat mich unter die ›andern‹ eingereiht! Das ist der Lohn! Wie du deinen Herrn ehrst!«

Sachar schluchzte noch immer, und auch Ilja Iljitsch selbst war aufgeregt. Indem er Sachar ins Gewissen redete, erfüllte er sich tief mit dem Bewußtsein der Wohltaten, die er den Bauern erwiesen hatte, und sprach die letzten Vorwürfe mit zitternder Stimme und mit Tränen in den Augen zu Ende.

»Nun, und jetzt geh mit Gott!« sagte er mit versöhnender Stimme zu Sachar. »Wart, gib mir noch Kwaß! Meine Kehle ist mir ganz ausgetrocknet, du könntest selbst darauf kommen, du hörst doch, daß dein Herr heiser ist? So weit hast du mich gebracht! Ich hoffe, du hast dein Vergehen begriffen«, sagte Ilja Iljitsch, als Sachar den Kwaß gebracht hatte, »und wirst in Zukunft deinen Herrn nicht mit andern vergleichen. Um deine Schuld gutzumachen, richte es irgendwie mit dem Hausherrn ein, damit ich nicht umzuziehen brauche. So sorgst du für die Ruhe deines Herrn. Du hast mich ganz verstimmt und mich eines jeden neuen, nützlichen Gedankens beraubt. Und wem hast du das geraubt? Dir selbst; ich habe mich ganz euch gewidmet, ich habe mich euretwegen pensionieren lassen und sitze hier eingeschlossen. Nun, Gott verzeih es dir! Jetzt schlägt es drei! Es bleiben nur zwei Stunden bis zum Essen; was kann man in zwei Stunden fertigbringen – gar nichts. Und ich habe eine Menge zu tun. Ich werde also den Brief bis zur nächsten Post verschieben und den Plan morgen entwerfen. Nun, und jetzt lege ich mich ein wenig nieder. Ich bin ganz ermattet; laß die Stores herab und schließe fest die Türen, damit man mich nicht stört; ich werde vielleicht eine Stunde lang schlafen; und wecke mich um halb fünf ...«

Sachar begann seinen Herrn im Arbeitszimmer von der ganzen Welt abzuschließen; zuerst deckte er ihn selbst zu und steckte die Decke unter ihn, dann ließ er die Stores herab, schloß alle Türen fest ab und ging in sein Zimmer.

»Daß dich der Teufel hol'!« brummte er, sich die Tränenspuren abwischend und auf die Ofenbank steigend. »Ein besonderes Haus, ein Gemüsegarten, ein Gehalt!« sagte Sachar, der nur die letzten Worte verstanden hatte. »Er versteht es, traurige Worte zu sagen. Er schneidet damit wie mit einem Messer ins Herz! Hier ist mein Haus und mein Gemüsegarten, hier werde ich auch sterben!« sagte er, wütend auf die Ofenbank schlagend. »Ein Gehalt! Wenn ich die Zehner und Kupfermünzen nicht sammeln würde, könnte ich mir keinen Tabak kaufen und meine Gevatterin nicht bewirten! Zum Kuckuck auch! ... Warum nur der Tod nicht kommt!«

Ilja Iljitsch legte sich auf den Rücken, schlief aber nicht gleich ein. Er dachte und dachte und wurde ganz aufgeregt.

»Ein zweifaches Unglück auf einmal!« sagte er und wickelte sich ganz mit dem Kopf in die Decke ein, »wie soll man dem widerstehen!«

Aber in Wirklichkeit hatte das zweifache Unglück, das heißt der unheilverkündende Brief des Dorfschulzen und die Übersiedlung in die neue Wohnung, Oblomow zu erregen aufgehört und war nur mehr unter die unangenehmen Erinnerungen gereiht worden. Die Unannehmlichkeiten, mit denen der Dorfschulze droht, sind noch in weiter Ferne, dachte er, bis dahin kann sich vieles ändern. Ein Regen könnte das Getreide in besseren Stand setzen; vielleicht ergänzt der Dorfschulze die Zahlungsrückstände, die flüchtigen Bauern werden »wieder in ihren früheren Wohnort eingesetzt werden«, wie er schreibt. Wohin sind diese Bauern geflüchtet? dachte er und vertiefte sich schon vom künstlerischen Standpunkt aus in die Betrachtung dieses Umstandes. Sie sind wohl in der Nacht, ohne Brot, in der Nässe fortgelaufen. Wo haben sie denn geschlafen? Doch nicht im Wald? Da kann man doch gar nicht sitzen! Im Bauernhaus stinkt es zwar, aber es ist wenigstens warm ... Warum rege ich mich denn auf? dachte er. Der Plan ist ja bald fertig – warum mache ich mir denn jetzt schon Angst? Ach, wie ich doch bin ... Der Gedanke an den Umzug beunruhigte ihn etwas mehr. Das war das neuere, spätere Unglück; doch in Oblomows ruhigem Geiste war auch dieses Faktum in das Stadium der Geschichte übergegangen. Obwohl er die Unvermeidlichkeit dieses Umzuges dunkel ahnte, um so mehr, als jetzt Tarantjew sich mit dieser Angelegenheit befaßte, schob er im Geiste dieses aufregende Ereignis seines Lebens doch wenigstens um eine Woche hinaus und hatte auf diese Weise volle acht Tage der Ruhe gewonnen! Und vielleicht würde Sachar alles noch so einzurichten versuchen, daß der Umzug überhaupt unnötig wurde; möglicherweise würde es auch so gehen. Der Umbau könnte auf den nächsten Sommer verschoben oder auch ganz aufgegeben werden. Die Sache würde sich schon irgendwie einrichten lassen! ... Man konnte doch nicht tatsächlich umziehen! ... So regte er sich abwechselnd auf und beschwichtigte sich selbst und fand endlich in diesen versöhnenden und beruhigenden Worten: vielleicht, möglicherweise, irgendwie auch diesmal, was er stets gefunden hatte, ein ganzes Arsenal von Hoffnungen und Tröstungen, wie sie in der Bundeslade unserer Väter eingeschlossen waren; es gelang ihm auch im gegenwärtigen Augenblick, sich damit vor dem zweifachen Unglück zu schützen. Schon umfing eine angenehme, leichte Starrheit seine Glieder und begann seine Gefühle ganz leicht mit Schlaf zu umnebeln, wie die ersten, schüchternen Fröste die Oberfläche der Gewässer trüben; noch ein Augenblick, und sein Bewußtsein wäre Gott weiß wohin fortgeflogen, aber plötzlich erwachte Ilja Iljitsch und öffnete die Augen.

»Ich habe mich ja noch nicht gewaschen! Das geht doch nicht! Ich habe ja auch noch nichts getan«, flüsterte er. »Ich wollte den Plan zu Papier bringen, habe es aber nicht getan, habe weder dem Kreisrichter noch dem Gouverneur geschrieben, habe einen Brief an den Hausherrn angefangen und ihn nicht beendigt, habe die Rechnungen nicht durchgesehen und kein Geld herausgegeben – der ganze Morgen ist verlorengegangen!«

Er sann nach ...

»Was ist denn das? Und der ›andere‹ würde das alles getan haben!« tauchte es in seinem Kopfe auf. »Der andere ... Was ist denn das, der ›andere‹?«

Er vertiefte sich in das Vergleichen seiner selbst mit dem »anderen«. Er dachte und dachte, und jetzt begann er sich über den »anderen« eine Vorstellung zu bilden, die derjenigen, die er Sachar beigebracht hatte, ganz entgegengesetzt war. Er mußte zugeben, daß der andere alle Briefe fertiggebracht hätte, ohne daß welcher und daß aufeinandergestoßen wären; der andere würde auch in die neue Wohnung übergesiedelt sein, hätte den Plan verwirklicht und wäre aufs Gut gefahren.

Auch ich könnte ja alles das tun ... dachte er. Mir scheint, ich sollte auch schreiben; ich habe doch früher kompliziertere Sachen als Briefe geschrieben! Wohin ist denn mein ganzes Wissen verschwunden? Und was ist es denn für eine Kunst umzuziehen? Man braucht nur zu wollen! Der »andere« trägt auch nie einen Schlafrock, ergänzte er noch die Charakteristik des anderen; »der ›andere‹« ... hier gähnte er ... »schläft fast gar nicht ... Der ›andere‹ genießt das Leben, kommt überallhin, sieht alles, ihn interessiert alles ... Und ich! ich ... bin nicht der ›andere‹!« – sagte er traurig und versank in tiefe Nachdenklichkeit. Er zog sogar den Kopf aus der Decke heraus.

Es kam einer der klaren, bewußten Momente in Oblomows Leben. Entsetzen erfaßte ihn, als in seiner Seele plötzlich eine lebendige, klare Vorstellung von dem Schicksal und der Bestimmung der Menschen erstand, als er zwischen dieser Bestimmung und seinem eigenen Leben eine flüchtige Parallele zog und als in seinem Kopfe verschiedene Lebensfragen eine nach der andern erwachten und furchtsam im Durcheinander aufwirbelten wie Vögel, die ein plötzlicher Sonnenstrahl in der schlummernden Ruine erweckt hat. Sein Mangel an geistiger Regsamkeit, das geringe Wachstum seiner sittlichen Kräfte und die Schwere, die ihm in allem hinderlich war, kränkten ihn und stimmten ihn traurig; an ihm fraß der Neid, daß andere so voll und ganz leben, während auf den schmalen, armseligen Pfad seiner Existenz ein schwerer Stein geworfen zu sein schien. In seiner schüchternen Seele erstand das qualvolle Bewußtsein, daß viele Saiten seiner Natur gar nicht geweckt worden waren, daß einige nur sehr leise berührt worden und keine einzige ganz ausgeklungen war. Und dabei fühlte er schmerzlich, daß in ihm wie in einem Grab etwas Schönes, Lichtes eingeschlossen war, das jetzt vielleicht schon tot war oder wie Gold in dem Schoß des Berges eingeschlossen lag und daß es schon längst Zeit war, dieses Gold in Scheidemünzen zu verwandeln. Aber die ser Schatz war schwer und tief mit Unrat und angeschwemmtem Schutt belastet. Jemand schien die ihm vom Leben und von der Welt zugedachten Schätze gestohlen und in seiner eigenen Seele vergraben zu haben. Etwas hinderte ihn daran, sich ins Leben zu stürzen und mit vollen Segeln des Verstandes und des Willens hinzufliegen. Ein heimlicher Feind hatte ihn beim Beginn seines Weges mit seiner schweren Hand belastet und ihn vom geraden Pfad der menschlichen Bestimmung weit fortgeschleudert ... Und ihm schien, er könnte aus dem Dickicht und der Wildnis niemals herausfinden. Der Wald um ihn herum und in seiner Seele wird immer dichter und dunkler; der Pfad verwildert immer mehr und mehr; das klare Bewußtsein erwacht immer seltener und weckt die schlummernden Kräfte nur für Augenblicke auf. Der Verstand und der Wille sind längst paralysiert und, wie es scheint, für immer. Die Ereignisse seines Lebens haben einen mikroskopischen Umfang angenommen, er wird aber auch damit nicht fertig; er geht nicht von einem Ereignis zum andern über, sondern wird von ihnen wie von einer Welle auf die andere geschleudert; er hat nicht die Macht, dem einen seine Willenskraft entgegenzustemmen oder sich von einem zweiten vernünftig hinreißen zu lassen. Diese heimliche Selbstbeichte erweckte in ihm ein bitteres Gefühl. Fruchtloses Bedauern der Vergangenheit, brennende Gewissensbisse verwundeten ihn wie Nadeln, und er bot alle seine Kräfte auf, um die Last dieser Vorwürfe von sich abzuschütteln, außerhalb seiner Person einen Schuldigen zu finden und auf ihn seinen Stachel zu richten. Aber auf wen? ... »Das alles ist ... Sachars Schuld!« flüsterte er. Er erinnerte sich an die Details der Szene mit Sachar, und sein Gesicht erglühte vor Scham. Wenn das jemand gehört hätte! ... dachte er, bei diesem Gedanken erstarrend. Gott sei Dank, daß Sachar es niemand wiedergeben kann; man würde es ihm auch nicht glauben; Gott sei Dank!

Er seufzte, verfluchte sich, wälzte sich von einer Seite auf die andere, suchte nach dem Schuldigen und fand ihn nicht. Sein Ächzen und Seufzen drang sogar Sachar zu Ohren.

»Wie der Kwaß ihn aufbläst!« brummte Sachar zornig.

»Warum bin ich denn so?« fragte Oblomow fast weinend und steckte den Kopf wieder unter die Decke. »Warum?« Nachdem er erfolglos nach einem Feind gesucht hatte, der ihn daran hinderte, wie es sich gehörte, wie die »andern« zu leben, seufzte er, schloß die Augen, und nach ein paar Minuten begann wieder der Schlummer seine Empfindungen allmählich zu fesseln. »Ich möchte ... auch ...« sagte er, mit Anstrengung blinzelnd, »irgend etwas tun ... Hat die Natur mich denn so stiefmütterlich behandelt ... Aber nein, ich kann mich, Gott sei Dank, nicht beklagen ...« Dann folgte ein versöhnender Seufzer. Er kehrte von der Erregung zu seinem normalen Zustand, zu dem der Ruhe und Apathie zurück. »Das ist mein Schicksal ... Was soll ich denn tun? ...« flüsterte er mit Mühe, vom Schlaf überwältigt. »Um zweitausend weniger ...« sagte er plötzlich laut im Schlaf. »Gleich, gleich, warte ...« und wachte halb auf. »Es wäre aber ... interessant zu erfahren ... warum ich ... so bin ...?« flüsterte er wieder. Seine Lider schlossen sich ganz. »Ja, warum? ... Wahrscheinlich ... darum ...« bestrebte er sich zu sagen, doch es gelang ihm nicht.

Er kam also nicht auf die Ursache. Die Zunge und die Lippen erstarrten augenblicklich auf dem halben Satz und blieben halb geöffnet. Anstatt eines Wortes ertönte wieder ein Seufzer, und dann hörte man das gleichmäßige Schnarchen eines ruhig schlafenden Menschen.

Der Schlaf hielt den langsamen, trägen Gang seiner Gedanken auf und versetzte ihn in einem einzigen Augenblick in eine andere Epoche, zu andern Menschen, an einen andern Ort, wohin der Leser und wir ihm im nächsten Kapitel folgen werden.

Neuntes Kapitel

Oblomows Traum

Wo sind wir? In welchen gesegneten Erdenwinkel hat uns Oblomows Traum entführt? Was das für eine herrliche Gegend ist!

Es gibt dort zwar kein Meer, keine hohen Berge, keine Felsen und Abgründe, keine Urwälder – nichts Grandioses, Wildes und Düsteres! Wozu braucht man denn auch dieses Wilde und Grandiose? Zum Beispiel das Meer! Wir brauchen es nicht! Es stimmt den Menschen nur traurig. Wenn man es anblickt, möchte man weinen. Das Herz erfüllt sich angesichts dieser unübersehbaren Gewässer mit Angst; der durch die Eintönigkeit dieses endlosen Bildes ermüdete Blick kann nirgends ausruhen. Das Brüllen und wilde Rollen liebkosen nicht das verzärtelte Ohr. Sie murmeln seit dem Urbeginn der Welt immer ein und dasselbe düstere, rätselhafte Lied; und immer sind darin dieselben Seufzer, dieselben Klagen eines zur Qual verurteilten Ungeheuers und dieselben durchdringenden, drohenden Stimmen zu hören. Die Vögel zwitschern nicht ringsumher; nur die schweigenden Möwen flattern gleich Verurteilten traurig am Ufer umher und kreisen über dem Wasser.

Das Brüllen der Tiere ist machtlos bei diesem Stöhnen der Natur, auch die Stimme des Menschen ist nichtig, und der Mensch selbst ist so klein und schwach und verschwindet spurlos unter den Einzelheiten des unendlichen Bildes! Vielleicht ist das der Grund, warum der Anblick des Meeres ihn so bedrückt. Nein, wir brauchen kein Meer! Selbst dessen Stille und Reglosigkeit lassen in der Seele kein freudiges Gefühl aufkommen; in dem kaum sichtbaren Beben der Wassermasse sieht der Mensch immer dieselbe unfaßbare, wenn auch schlummernde Macht, welche seinen stolzen Willen manchmal so tückisch verhöhnt und seine kühnen Pläne und all seine Arbeit und Mühe so tief begräbt.

Berge und Abgründe stimmen den Menschen auch nicht heiter. Sie sind drohend und furchtbar wie die entblößten, auf ihn gerichteten Krallen und Zähne eines wilden Tieres; sie erinnern uns zu lebhaft an unsere sterbliche Beschaffenheit und flößen uns Angst und Bangigkeit um unser Leben ein. Und der Himmel sieht dort über den Felsen und Abgründen so fern und unerreichbar aus, als hätte er sich von den Menschen losgesagt.

Der friedliche Winkel, in dem unser Held sich plötzlich befand, war anderer Art. Der Himmel scheint sich dort noch näher an die Erde zu schmiegen, aber nicht um noch mächtiger seine Pfeile herabzuschleudern, sondern nur um sie fester und liebevoller zu umfassen. Er dehnt sich so niedrig über dem Kopfe aus wie das verläßliche Dach eines Elternhauses, um den auserkorenen Winkel vor allerlei Mißgeschick zu schützen.

Die Sonne scheint dort hell und heiß fast ein halbes Jahr lang und verschwindet dann langsam und gleichsam ungern von dort, als wende sie sich noch zwei-, dreimal nach dem geliebten Ort hin, um ihn im Herbst, zur Zeit des Unwetters, mit einem klaren, warmen Tage zu beschenken.

Die Berge scheinen dort nur die Modelle jener furchtbaren, irgendwo errichteten Ungetüme zu sein, die die Phantasie erschrecken. Es ist eine Reihe abschüssiger Hügel, von denen es angenehm ist, im Herumtollen auf dem Rücken herabzurutschen, oder auf denen es sich gut sitzen läßt, wenn man der scheidenden Sonne sinnend das Geleite gibt.

Der Fluß fließt lustig, spielend und scherzend dahin; bald dehnt er sich zu einem breiten Teich aus, bald eilt er als ein schneller Streifen vorwärts, oder er verlangsamt seinen Lauf, wie in tiefes Sinnen versunken, und kriecht kaum sichtbar über die Steine hin, indem er seitwärts fröhliche Bäche entspringen läßt, bei deren Rauschen es süß zu schlummern ist.

Der ganze Winkel bildet fünfzehn, zwanzig Werst in der Runde eine Reihe malerischer, fröhlicher und lachender Landschaften. Die sandigen, steilen Ufer des klaren Flusses, das vom Hügel zum Wasser herabsteigende niedere Gebüsch, der sich krümmende Graben, mit einem Quell auf dem Grunde, und der Birkenhain, das alles schien mit Absicht zusammengestellt und von einer Meisterhand gemalt zu sein.

Das von Stürmen ermüdete oder das ganz unberührte Herz verlangt danach, sich in diesen von allen vergessenen Winkel zu verstecken und dort ein von niemandem gekanntes Glück zu empfinden. Alles verspricht dort ein ruhiges, langes Leben, bis die Haare ergrauen, und einen unmerklichen, schlafähnlichen Tod.

Der Jahreskreis vollzieht sich dort regelmäßig und ungestört; zu der vom Kalender verkündeten Zeit beginnt im März der Frühling, eilen die schmutzigen Bäche von den Hügeln herab, taut die Erde auf und läßt einen warmen Dampf aufsteigen. Der Bauer wirft den Schafpelz ab, geht im Hemd hinaus und bewundert lange die Sonne, die Augen mit der Hand schützend und freudig die Schultern reckend; dann faßt er den umgeworfenen Wagen bald an der einen und bald an der zweiten Deichsel oder betrachtet und stößt mit dem Fuß den träge im Schuppen liegenden Pflug, indem er sich zu der gewohnten Arbeit vorbereitet. Im Frühling kommen keine plötzlichen Schneegestöber vor, die die Felder verschütten und die Bäume unter der Last des Schnees zusammenbrechen lassen. Der Winter behält wie eine unnahbare, kalte Schöne seinen Charakter bis zur gesetzlichen Zeit der Wärme bei; er neckt nicht durch Tauwetter und läßt nicht unter unerhörten Frösten ächzen; alles geschieht nach der gewohnten, von der Natur vorgeschriebenen Ordnung. Im November beginnt der Schnee und Frost, der sich zu den Drei Königen so verstärkt, daß der Bauer, der für einen Augenblick sein Haus verläßt, bestimmt mit Reif auf dem Bart zurückkehrt, und im Februar fühlt eine feine Nase in der Luft schon das linde Wehen des nahen Frühlings.

Aber der Sommer ist in dieser Gegend besonders berückend.

Dort muß man die frische, trockene Luft, die nicht mit Zitronen und Lorbeer getränkt, sondern einfach vom Geruch von Wermut, Fichten und Faulbaum erfüllt ist, suchen; dort findet man die klaren Tage, die manchmal heißen, doch nie sengenden Sonnenstrahlen und einen fast drei Monate lang wolkenlosen Himmel. Wenn die klaren Tage sich einstellen, dauern sie drei, vier Wochen lang; die Abende sind dort warm und die Nächte schwül. Die Sterne flimmern so freundlich, so herzlich auf dem Himmel. Wenn es regnet, ist es ein wohltuender Sommerregen. Er strömt schnell und reichlich herab und hüpft fröhlich wie die großen, heißen Tränentropfen eines plötzlich erfreuten Men schen; und sowie er aufgehört hat, betrachtet die Sonne wieder mit einem hellen, liebevollen Lächeln die Felder und Hügel und trocknet sie; und das ganze Land lächelt wieder glücklich, wie um die Sonne zu begrüßen. Der Bauer bewillkommnet freudig den Regen. »Der Regen wäscht, die Sonne trocknet!« sagt er, das Gesicht, die Schultern und den Rücken freudig den warmen Tropfen preisgebend. Die Gewitter sind dort nicht furchtbar, sondern nur wohltuend; sie treffen immer zu derselben, für sie eingesetzten Zeit ein und vergessen fast niemals den Eliastag, wie um die bekannte Volksüberlieferung aufrechtzuerhalten.

Auch die Zahl und Stärke der Donnerschläge scheint jährlich dieselbe zu sein, als hätte der Staat dem ganzen Land aus seiner Schatzkammer ein bestimmtes Maß Elektrizität überwiesen. Man hört in dieser Gegend von keinerlei Stürmen und Verwüstungen. Niemand hat jemals in der Zeitung von diesem gottbegnadeten Winkel von etwas Derartigem gelesen. Und man würde nie etwas darüber drucken und von dieser Gegend etwas erfahren, wenn die Bauerswitwe Marina Kulkowa, achtundzwanzig Jahre alt, nicht auf einmal vier Kinder zur Welt gebracht hätte, wovon, o Schrecken, selbst in den Zeitungen zu lesen war.

Der Herr strafte dieses Land weder mit der ägyptischen noch mit sonst irgendeiner Seuche. Niemand von den Einwohnern kann sich an irgendwelche furchtbare Himmelszeichen, an Feuerbälle oder an plötzliche Dunkelheit erinnern; es gibt dort keine giftigen Schlangen; die Heuschrecken fliegen nicht dorthin; es gibt dort weder brüllende Löwen noch Tiger und nicht einmal Bären und Wölfe, weil keine Wälder da sind. Auf den Feldern und im Dorfe irren nur zahlreiche kauende Kühe, blökende Schafe und glucksende Hühner umher.

Gott weiß, ob ein Dichter oder Träumer sich mit der Art des friedlichen Winkels befreundet hätte. Diese Herren lieben es, wie bekannt, den Mond zu betrachten und den Trillern der Nachtigall zu lauschen. Sie lieben eine kokette Luna, die sich in rauchige Wolken kleidet, geheimnisvoll durch die Baumzweige schimmert oder silberne Strahlengarben in die Augen ihrer Anbeter schüttet. Und hierzulande wußte man nichts von einer Luna – alle nannten sie Mond. Er blickte die Dörfer und Felder gutmütig wie mit weit offenen Augen an und erinnerte sehr an einen gut geputzten Präsentierteller aus Messing.

Vergeblich hätte der Dichter ihn mit verzückten Augen betrachtet; er würde den Dichter ebenso einfältig anblicken, wie eine rundwangige Dorfschöne die leidenschaftlichen, beredten Blicke des städtischen Hofmachers erwidert.

Man hörte in dieser Gegend auch keine Nachtigallen, vielleicht weil es dort keine schattigen Lauben und keine Rosen gab; dafür gibt es dort eine Menge Wachteln! Im Sommer, bei der Ernte, fangen die Bauernjungen sie mit den Händen. Man glaube aber nicht, daß die Wachteln dort einen Gegenstand gastronomischen Genusses bildeten – nein, eine solche Verderbtheit der Sitten war zu den Einwohnern des Landes nicht gedrungen. Die Wachtel ist ein Vogel, der von Urbeginn an nicht zum Essen bestimmt war. Er erfreute dort die Menschen durch seinen Gesang; darum hing fast in jedem Hause unter dem Dache eine Wachtel in einem Holzkäfig.

Der Dichter und Träumer wäre auch von der Gesamtansicht dieser bescheidenen und ungekünstelten Gegend nicht befriedigt. Es würde ihm nicht gelingen, dort einen Abend in schweizerischer oder schottischer Art zu sehen, da die ganze Natur, der Wald, das Wasser, die Wände der Hütten und die sandigen Hügel, alles in purpurnem Widerschein erglüht; wenn sich auf dem roten Hintergrunde eine der sich schlängelnden sandigen Straße folgende Kavalkade von Männern scharf abhebt, die irgendeine Lady auf ihrer Spazierfahrt nach einer düstern Ruine begleitet haben und die in das sichere Schloß eilen, wo sie eine vom Großvater erzählte Episode aus dem Krieg der zwei Rosen, eine Gemse zum Abendessen und eine von einer jungen Miß zur Laute gesungene Ballade erwartet, Bilder, mit denen Walter Scott unsere Phantasie so reich bevölkert hat. Nein, in unserer Gegend gab es nichts Ähnliches.

Wie still und schläfrig ist alles in den drei, vier Dörfchen, aus denen der Winkel besteht! Sie waren nicht weit voneinander entfernt und schienen zufällig von einer Riesenhand hingeworfen zu sein, sich nach allen Richtungen hin zerstreut zu haben und seitdem so dazuliegen. Die eine Hütte, die an den Absturz des Grabens hingeraten ist, hängt seit undenkbaren Zeiten so da, indem sie mit der einen Hälfte in der Luft hängt und sich auf drei Pfähle stützt. Drei, vier Generationen hatten ruhig und glücklich darin gelebt. Es scheint, ein Huhn sollte sich hineinzugehen fürchten; darin lebt aber mit seiner Frau Onissim Suslow, ein solider Mann, der sich seiner vollen Größe nach in seiner Wohnung nicht aufstellen könnte. Nicht jeder kann in Onissims Hütte eintreten; nur wenn der Besucher sie darum bittet, den Rücken dem Wald und den Eingang ihm zuzuwenden1. Die Stufen hingen über dem Graben, und man mußte, um mit dem Fuße hinaufzugelangen, sich mit der einen Hand am Gras und mit der zweiten am Dach des Hauses festhalten und dann geradeaus auf die Stufen steigen. Ein zweites Haus klebte wie ein Schwalbennest am Hügel; drei Häuser stehn hier zufällig beisammen, und zwei andere befinden sich ganz auf dem Grunde des Grabens.

Im Dorf ist alles still und schläfrig; die Hütten stehn weit offen; man sieht keine Seele; nur die Fliegen wirbeln in Wolken umher und summen in der Hitze. Wenn man ins Haus tritt, ruft man vergeblich laut nach jemand. Totes Schweigen ist die Antwort; selten ertönt das schmerzliche Stöhnen oder dumpfe Husten einer alten Frau, die auf dem Ofen ihren Tod erwartet, oder es erscheint hinter dem Wetterverschlag ein barfüßiges, langhaariges dreijähriges Kind, das nichts als ein Hemd anhat, den Eintretenden schweigend und starr anblickt und sich schüchtern wieder versteckt. Dieselbe tiefe Stille und derselbe Frieden liegen auch auf den Feldern; nur hie und da krabbelt auf dem schwarzen Acker, wie eine Ameise, ein von der Hitze gesengter Bauer herum, indem er dem Pfluge folgt und sich in Schweiß badet.

Stille und durch nichts gestörte Ruhe herrschen auch in den Sitten der Menschen in dieser Gegend. Es hat dort niemals Diebstahl, Mord oder irgendwelche schreckliche Zufälle gegeben; weder starke Leidenschaften noch kühne Unternehmungen regten hier die Gemüter auf. Und was für Leidenschaften und Unternehmungen konnten sie aufregen? Jeder kannte dort sich selbst. Die Einwohner dieser Gegend lebten in großer Entfernung von anderen Menschen. Die nächsten Dörfer und die Kreisstadt waren fünfundzwanzig und dreißig Werst von ihnen entfernt. Die Bauern brachten zu einer bestimmten Zeit das Getreide zum nächsten Hafen an der Wolga hin, welcher ihr Kolchis und ihre Herkulessäulen war, und dann fuhren manche von ihnen einmal im Jahre auf den Jahrmarkt – außer diesen hatten sie keinerlei Beziehungen zu irgend jemand. Ihre Interessen waren auf sie selbst gerichtet und kreuzten und berührten keine fremden Angelegenheiten. Sie wußten, daß achtzig Werst von ihnen entfernt die Gouvernementsstadt lag, doch nur wenige waren dort gewesen; dann wußten sie, daß sich irgendwo weiter Saratow und Nischnij-Nowgorod befanden; sie hatten auch gehört, daß es Moskau und Petersburg gab und daß hinter Petersburg Franzosen und Deutsche lebten; aber weiter begann für sie wie die Alten eine dunkle Welt, unbekannte Länder, die mit Ungeheuern, zweiköpfigen Menschen und Riesen bevölkert waren; dann folgte völlige Finsternis, und endlich schloß alles mit dem Tisch, der die Erde trägt. Und da ihr Winkel nicht an der Fahrstraße lag, konnte man auch gar nicht zu den neuesten Nachrichten darüber, was auf der weiten Welt vorging, kommen; die Holzgeschirrhändler wohnten nur zwanzig Werst von ihnen entfernt und wußten nicht mehr als sie. Sie hatten nicht einmal etwas, womit sie ihr Leben vergleichen konnten, ob sie gut oder schlecht lebten, ob sie reich oder arm waren und ob man sich noch etwas wünschen konnte, das andere besaßen. Die glücklichen Menschen lebten in der Meinung, daß es nicht anders sein könnte und dürfte, und waren davon überzeugt, daß auch alle anderen ebenso wie sie lebten und daß es eine Sünde sei, anders zu leben. Sie würden es auch gar nicht glauben, wenn man ihnen sagen würde, daß andere Menschen irgendwie anders pflügten, säten, mähten und verkauften. Was für Leidenschaften und Aufregungen konnten sie denn haben? Sie hatten wie alle Menschen ihre Sorgen und Schwächen, so die Einzahlung der Steuer oder des Pachtzinses, außerdem kannten sie die Trägheit und den Schlaf; doch das alles kam sie billig zu stehen, ohne daß ihr Blut in Wallung kam.

In den letzten fünf Jahren starb von den einigen hundert Seelen niemand, weder eines gewaltsamen noch eines natürlichen Todes. Und wenn dort jemand vor Alter oder von einer chronischen Krankheit in den ewigen Schlaf überging, konnte man sich über einen so ungewöhnlichen Fall gar nicht genug wundern. Es fiel ihnen dabei gar nicht als etwas Besonderes auf, daß zum Beispiel der Schmied Taraß sich selbst in seiner Erdhütte fast zu Tode verbrannte, so daß man ihn mit Wasser begießen mußte, um ihn wieder zur Besinnung zu bringen.

Von den Verbrechen war eines, nämlich das Stehlen von Erbsen und Rüben aus den Gemüsegärten, sehr verbreitet, und eines Tages verschwanden zwei junge Schweine und ein Huhn – ein Ereignis, das die ganze Umgegend empörte und das einstimmig mit der am vorhergehenden Tage vorübergefahrenen Fuhrkolonne, die mit Holzgeschirr zum Markt fuhr, in Zusammenhang gebracht wurde. Sonst waren Zufälle jeder Art sehr selten. Eines Tages wurde übrigens hinter dem Gehege im Graben bei der Brücke ein liegender Mensch gefunden, der wohl zu der in die Stadt wandernden Arbeiterkolonne gehörte. Die Dorfjungen hatten ihn zuerst bemerkt und brachten ganz entsetzt ins Dorf die Nachricht, daß im Graben ein furchtbarer Drachen oder Werwolf daliege, wobei sie hinzudichteten, er hätte sie fangen wollen und hätte Kusjka fast aufgegessen. Die mutigeren Bauern bewaffneten sich mit Heugabeln und Hacken und begaben sich in einem Haufen zum Graben.

»Wohin wollt ihr?« hielten die Alten sie zurück, »sitzt euch der Kopf zu fest im Nacken? Was habt ihr dort zu suchen? Laßt's gehen; man treibt euch ja nicht hin.«

Aber die Bauern machten sich trotzdem auf den Weg und begannen fünfzig Klafter von der Stelle entfernt das Ungeheuer mit verschiedenen Stimmen zu rufen; sie erhielten keine Antwort; sie blieben stehen; dann rückten sie wieder vorwärts. Im Graben lag ein Bauer und stützte seinen Kopf auf den Hügel; neben ihm lagen ein Sack und ein Stock, auf dem zwei Paar Bastschuhe hingen. Die Bauern wagten weder nahe heranzukommen noch ihn zu berühren.

»He, Bruder!« schrien sie der Reihe nach und kratzten sich dabei bald den Nacken, bald den Rücken, »wie heißt du? Wer bist du? He, du! Was hast du hier zu suchen?«

Der Fremde machte eine Bewegung, um den Kopf zu heben, es gelang ihm jedoch nicht; er war wohl krank oder sehr müde.

Einer der Bauern wollte ihn mit der Heugabel berühren.

»Laß ihn, laß ihn!« schrien viele auf einmal, »wer weiß, wie er ist. Du siehst, er redet nicht; vielleicht ist er irgend so einer ... Rührt ihn nicht an, Kinder! Kommt«, sagten einige; »wirklich kommt; was ist er uns denn, etwa ein Vetter? Es kann einem dabei noch etwas geschehen!«

Und alle kehrten ins Dorf zurück und berichteten den Alten, daß dort ein Fremder liege, nichts spreche, und Gott weiß was er für einer sei ...

»Wenn's ein Fremder ist, dann rührt ihn nicht an!« sagten die Alten, auf der Hausschwelle sitzend und die Ellbogen auf die Knie stützend, »laßt ihn in Ruh'! Ihr hättet gar nicht hingehen sollen!«

So war der Winkel, in den Oblomow durch den Traum plötzlich zurückversetzt wurde. Von den drei oder vier dort zerstreuten Dörfchen hieß eines Sosnowka und ein zweites Wawilowka, beide in der Entfernung einer Werst voneinander gelegen. Sosnowka und Wawilowka waren das erbliche Besitztum des Geschlechts der Oblomow und waren darum unter dem gemeinsamen Namen Oblomowka bekannt. In Sosnowka befand sich das Herrschaftshaus, und es bildete die Residenz. Fünf Werst von Sosnowka entfernt lag der kleine Flecken Werchljowo, der auch einst den Oblomows gehört hatte und längst in andere Hände übergegangen war, und noch einige zu diesem Flecken gehörige, hie und da zerstreute Hütten. Der Flecken gehörte einem reichen Gutsbesitzer, der sich auf seinem Gut niemals sehen ließ; er wurde von einem Verwalter deutscher Abstammung bewirtschaftet. Das ist die ganze Geographie dieses Winkels.

Ilja Iljitsch ist des Morgens in seinem kleinen Bettchen erwacht. Er ist erst sieben Jahre alt. Ihm ist leicht und froh zumute. Wie hübsch, rotwangig und dick er ist! Solche runde Wangen bringt mancher Schelm selbst dann nicht zuwege, wenn er die seinigen mit Absicht aufbläst. Die Kinderfrau wartet auf sein Erwachen. Sie beginnt ihm die Strümpfchen anzuziehen; er widersetzt sich, tollt herum, strampelt mit den Beinen, die Kinderfrau fängt ihn, und beide lachen. Endlich ist es ihr gelungen, ihn auf die Füße zu stellen; sie wäscht ihn, kämmt sein Köpfchen und führt ihn zu der Mutter hin. Als Oblomow die längst verstorbene Mutter erblickte, erbebte er selbst im Traum vor Freude und heißer Liebe zu ihr; aus seinen Wimpern rannen im Schlaf langsam zwei warme Tränen hervor und blieben reglos stehen. Die Mutter bedeckte ihn mit leidenschaftlichen Küssen, betrachtete ihn mit gierigen, besorgten Augen, um zu sehen, ob seine Äuglein nicht trüb seien, fragte, ob ihm nichts weh tue, erkundigte sich bei der Kinderfrau, ob er ruhig geschlafen habe, ob er in der Nacht nicht erwacht sei oder sich im Schlaf nicht herumgewälzt und ob er kein Fieber gehabt habe; dann nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn zum Heiligenbild. Dort kniete sie nieder und sagte ihm, ihn mit der einen Hand umfassend, die Worte des Gebetes vor. Der Knabe wiederholte sie zerstreut und blickte durchs Fenster, aus dem Kühle und Fliederduft sich ins Zimmer ergoß.

»Mamachen, gehen wir heute spazieren?« fragte er plötzlich mitten im Gebet.

»Ja, Herzchen«, sagte sie eilig, ohne die Augen vom Heiligenbild abzuwenden, und sprach die heiligen Worte rasch zu Ende.

Der Knabe wiederholte sie träge, aber die Mutter legte ihre ganze Seele hinein. Dann gingen sie zum Vater und dann zum Tee.

Am Teetisch sah Oblomow die bei ihnen wohnende uralte, achtzigjährige Tante, die unablässig über ihre Dienerin brummte, die vor Alter mit dem Kopf wackelnd hinter ihrem Sessel stand und sie bediente. Dort waren auch die drei alten Mädchen, entfernte Verwandte seines Vaters, der ein wenig geisteskranke Schwager seiner Mutter, der bei ihnen auf Besuch wohnende Besitzer von sieben Seelen Tschekmenjew, und noch verschiedene Greise und Greisinnen anwesend. Dieser ganze Hofstaat des Hauses Oblomow fing Ilja Iljitsch auf und begann ihn mit Liebkosungen und Lobsprüchen zu überhäufen; er hatte kaum Zeit, die Spuren der ungebetenen Küsse abzuwischen. Dann begann seine Fütterung mit Semmeln, Zwieback und Sahne. Und dann, nachdem seine Mutter ihn nochmals geliebkost hatte, erlaubte sie ihm, im Garten, auf dem Hof und auf der Wiese spazierenzugehen, indem sie die Kinderfrau streng ermahnte, das Kind nicht allein zu lassen, ihn nicht in die Nähe der Pferde, der Hunde, des Ziegenbocks zu führen, nicht weit vom Haus fortzugehen und vor allem ihn nicht an den Graben heranzulassen, als an die gefürchtetste Stelle der Gegend, die einen bösen Ruf genieße. Man hatte dort einmal einen Hund gefunden, den man nur darum für toll erklärte, weil er vor den Menschen, die mit Heugabeln und Hacken auf ihn loszogen, fortrannte, und irgendwo hinter dem Berg verschwand; in dem Graben lud man die krepierten Tiere ab; im Graben setzte man Räuber, Wölfe und verschiedene andere Wesen voraus, die es weder in der Gegend noch überhaupt auf der Welt gab.

Das Kind hatte die Ermahnungen der Mutter nicht abgewartet; es war schon auf dem Hof. Es betrachtete mit freudigem Erstaunen, als wär's zum erstenmal, das Elternhaus mit dem schiefen Tor, mit dem in der Mitte gesenkten Dach, auf dem zartes grünes Moos wuchs, mit den wackelnden Stufen, mit verschiedenen Neben- und Überbauten und einem vernachlässigten Garten. Es wäre zu gerne auf die das Haus umsäumende, hängende Galerie gestiegen, um von dort aus auf den Fluß zu schauen; doch die Galerie ist alt, hält sich kaum, und auf ihr dürfen nur die Dienstboten, nicht aber die Herrschaften gehen. Es achtete nicht auf das Verbot der Mutter und wollte sich schon den verlockenden Stufen nähern, als die Kinderfrau in der Tür erschien und es mit Mühe und Not fing. Es flüchtete vor ihr zum Heuboden hin, in der Absicht, auf der steilen Treppe hinaufzusteigen, und kaum hatte sie Zeit gehabt, den Heuboden zu erreichen, als sie schon sein Vorhaben, auf den Taubenschlag zu steigen, auf den Viehhof und, was Gott verhüte, in den Graben zu gelangen, vereiteln mußte.

»Ach du mein Gott, was das für ein Kind ist, das reinste Quecksilber! Wirst du ruhig sitzen? Schäme dich!« sagte die Kinderfrau.

Und der ganze Tag und alle Tage und Nächte der Kinderfrau waren von Herumlaufen und von Unruhe erfüllt: bald von Qual, bald von lebhafter Freude um das Kind, bald von Angst, daß es hinfalle und sich die Nase zerschlage, bald von Rührung, die durch seine aufrichtige kindliche Liebkosung hervorgerufen wurde, oder von dunklem Bangen für seine ferne Zukunft. Nur das machte ihr Herz schlagen, diese Aufregung erwärmte das Blut der Alten und erhielt irgendwie ihr schläfriges Leben aufrecht, das sonst vielleicht längst erloschen wäre.

Das Kind ist aber nicht immer ausgelassen; manchmal wird es plötzlich ruhig, sitzt neben der Kinderfrau und blickt alles so durchdringend an. Sein kindlicher Verstand beobachtet alle vor ihm auftauchenden Erscheinungen; diese graben sich tief in seine Seele ein und wachsen und reifen zugleich mit ihm.

Es ist ein herrlicher Morgen; die Luft ist kühl; die Sonne steht noch nicht hoch. Das Haus, die Bäume, der Taubenschlag und die Galerie, alles wirft weithin lange Schatten. Im Garten und auf dem Hof haben sich kühle Plätzchen gebildet, die zum Sinnen und Schlafen einladen. Nur in der Ferne glüht das Korn wie im Feuer, und der Fluß glänzt und funkelt so in der Sonne, daß die Augen schmerzen.

»Warum ist es hier dunkel und dort hell, und warum wird es auch da hell sein, Kinderfrau?« fragte das Kind. »Darum, Väterchen, weil die Sonne dem Mond entgegengeht, ihn aber nicht sieht und traurig wird; wenn sie ihn aber von ferne sieht, hellt sie sich wieder auf.«

Das Kind denkt nach und schaut immer um sich; es sieht, wie Antip Wasser holen fährt, wie neben ihm ein zweiter, zehnmal so großer Antip schreitet, das Faß erscheint so groß wie ein Haus, und der Schatten des Pferdes hat die ganze Wiese bedeckt; der Schatten hat nur zwei Schritte über die Wiese gemacht und ist plötzlich hinter den Berg gerückt, während Antip noch nicht einmal Zeit gehabt hat, vom Hofe hinauszufahren. Der Knabe macht auch zwei Schritte, noch ein Schritt, und er wird hinter dem Berge sein. Er will zum Berge hingehen, um nachzusehen, wo das Pferd hingekommen ist. Er geht zum Tore hin; aber jetzt ertönt aus dem Fenster die Stimme der Mutter:

»Kinderfrau, siehst du nicht, daß das Kind in die Sonne gelaufen ist? Führe es in den Schatten; wenn ihm das Köpfchen heiß wird, tut es ihm weh, es wird ihm übel werden, und es wird nicht essen. Es wird noch zu dem Graben hinlaufen.«

»So ein Wildfang!« brummt leise die Kinderfrau, ihn zum Hause zurückführend.

Das Kind schaut und beobachtet mit scharfem, allumfassendem Blick, was die Erwachsenen tun und womit sie den Morgen verbringen. Kein einziges Detail, kein einziger Zug entgleitet der gespannten Aufmerksamkeit des Kindes; das Bild des häuslichen Lebens prägt sich unauslöschlich in die Seele ein; der noch ungeformte Verstand wird vom lebendigen Beispiel durchsetzt und zeichnet unbewußt das Programm seines Lebens nach dem es umgebenden Leben.

Man kann nicht sagen, daß der Morgen im Hause der Oblomows verlorenging. Das Klopfen der Messer, die in der Küche das Fleisch und das Gemüse zerhackten, drang selbst bis ins Dorf. Aus dem Dienstbotenzimmer drang das Zischen des Spinnrades und die leise, feine Stimme einer Frau herüber; es war schwer zu unterscheiden, ob sie weinte oder ein trauriges Lied ohne Worte improvisierte. Sowie Antip mit dem Faß auf den Hof zurückgekehrt war, kamen ihm aus allen Ecken Frauen und Kutscher mit Kübeln, Trögen und Krügen entgegen. Dort trug eine Alte eine Schüssel Mehl und einen Haufen Eier aus der Vorratskammer in die Küche; und jetzt schüttete der Koch plötzlich Wasser durchs Fenster aus und bespritzte damit die Arapka, die den ganzen Morgen kein Auge vom Fenster wendete, freundlich mit dem Schweif wedelte und sich beleckte.

Der alte Oblomow ist auch nicht ohne Beschäftigung. Er sitzt den ganzen Morgen am Fenster und beaufsichtigt unermüdlich alles, was auf dem Hofe vorgeht.

»He, Ignaschka! Was trägst du, Dummkopf?« fragte er den über den Hof schreitenden Mann.

»Ich trage die Messer in die Gesindestube zum Schleifen hin«, antwortete dieser, ohne den Herrn anzuschauen.

»Gut, trage sie nur hin und schleife sie ordentlich!«

Dann rief er irgendeiner Frau zu:

»He, Frau! Frau! Wohin bist du gegangen?«

»In den Keller, Väterchen«, sagte sie, indem sie stehenblieb, sich die Hand vor die Augen hielt und ins Fenster schaute, »ich habe Milch zum Mittagessen geholt.«

»Gut! geh, geh!« antwortete der Herr, »gib aber acht, daß du die Milch nicht ausschüttest. Und du, Sachar, du Lausbub, wohin rennst du wieder?« schrie er darauf, »ich werde dich das Herumrennen schon lehren! Ich sehe dich schon zum drittenmal über den Hof laufen. Marsch zurück, ins Vorzimmer!«

Und Sachar ging wieder ins Vorzimmer schlafen. Wenn die Kühe von der Weide zurückkehrten, sorgte der Alte als erster dafür, daß sie getränkt wurden; wenn er aus dem Fenster wahrnahm, daß der Hofhund ein Huhn verfolgte, traf er sofort strenge Maßregeln gegen diese Ruhestörung.

Auch seine Frau ist sehr beschäftigt; sie bespricht drei Stunden lang mit dem Schneider Awjerka, wie man aus dem Wams ihres Mannes ein Röckchen für Iljuscha herauskriegen soll, sie zeichnet selbst mit Kreide und paßt auf, daß Awjerka kein Tuch stiehlt; dann geht sie in die Mägdekammer und sagt jedem Mädchen, wieviel Spitzen sie den Tag zu flechten hat; dann ruft sie Nastassja Iwanowna oder Stjepanida Apapowna oder sonst irgendwen aus ihrem Hofstaat herbei, mit ihr im Garten spazierenzugehen, wobei sie praktische Ziele verfolgt; sie sieht nach, wie die Äpfel reifen, ob der gestrige, der schon reif war, herabgefallen ist, hier muß gepfropft, dort gestützt werden usw. Doch die größte Sorge war der Küche und dem Mittagessen gewidmet. Bezüglich des Mittagessens hielt das ganze Haus eine Versammlung ab, zu der auch die uralte Tante eingeladen wurde. Jeder schlug ein Gericht vor: der eine Suppe mit Gekröse, der andere Nudeln oder Magen oder Kaidaunen oder eine braune oder weiße Brühe als Sauce. Jeder Ratschlag wurde in Betracht gezogen, genau überlegt und dann nach dem endgültigen Beschluß der Hausfrau angenommen oder abgelehnt. Unaufhörlich wurde bald Nastassja Pjetrowna, bald Stjepanida Iwanowna in die Küche geschickt, um an etwas zu erinnern oder einen Befehl zu widerrufen, um Zucker, Honig, Wein zum Kochen hinzutragen und nachzusehen, ob der Koch alles Verabfolgte verbrauchte.

Die Sorge um das Essen bildete das hauptsächlichste Lebensinteresse in Oblomowka. Was für Kälber wurden dort zu den Feiertagen gemästet! Was für Geflügel gezogen! Was für Erwägungen und Kenntnisse, welche Sorgfalt wurden bei dessen Behandlung angewendet! Die Truthühner und Küchlein, die für Namensfeste oder andere feierliche Tage bestimmt waren, wurden mit Nüssen gemästet; die Gänse wurden jeder Möglichkeit sich zu bewegen beraubt; man ließ sie ein paar Tage vor dem Feiertag unbeweglich im Sack hängen, damit sie vor Fett trieften. Was für gesottene, gesalzene und gebackene Konserven gab es dort! Was für Honig, was für Kwaß wurde dort gekocht, was für Pirogen wurden in Oblomowka gebacken!

So arbeitete und mühte sich alles im Laufe des Vormittags ab und führte so ein wahres Ameisenleben. Diese arbeitsamen Ameisen kannten auch an Sonn- und Feiertagen keine Ruhe; dann ertönte das Klopfen der Messer in der Küche noch lauter und öfter; die Frau wiederholte ein paarmal die Reise aus der Vorratskammer in die Küche mit einer doppelten Quantität von Mehl und Eiern; auf dem Geflügelhof gab es häufigeres Stöhnen und Blutvergießen. Man backte eine Riesenpiroge, die von den Herrschaften selbst noch am folgenden Tage gegessen wurde; am dritten und vierten Tag gingen die Reste in die Mägdekammer über; die Piroge lebte noch am Freitag, und ein ganz altbackenes Ende davon, ohne jede Füllung wurde als Zeichen besonderer Gnade Antip überlassen, der, nachdem er sich bekreuzigt hatte, diese interessante Versteinerung furchtlos, mit lautem Krachen zerstörte, indem er weniger aus der Piroge selbst, als aus dem Bewußtsein, daß es eine herrschaftliche Piroge sei, Genuß zog, wie ein Archäologe, der mit Vergnügen einen schlechten Wein aus den Scherben irgendeines tausendjährigen Geschirrs trinkt.

Und das Kind sah alles und beobachtete alles mit seinem kindlichen, nichts auslassenden Verstand. Es sah, wie nach dem in nützlicher Arbeit verbrachten Morgen die Mittagsstunde kam. Der Mittag ist heiß; kein Wölkchen ist am Himmel. Die Sonne steht reglos über dem Kopfe und sengt das Gras. Durch die Luft geht ein Windhauch, und sie ist schon ohne Bewegung erstarrt. Weder ein Baum noch das Wasser regt sich; über dem Dorf und dem Feld lagert vollkommene Stille – alles scheint ausgestorben zu sein. Die menschliche Stimme tönt laut und weit in die Leere. Man hört in einer Entfernung von zwanzig Klaftern einen Käfer fliegen und summen, und im dichten Gras schnarcht immer etwas, als hätte sich jemand hingelagert und schlafe süß.

Auch im Hause herrscht Totenstille. Es ist die Stunde des allgemeinen Nachmittagsschlafes angebrochen. Das Kind sieht, daß Vater und Mutter, die uralte Tante und der ganze Hofstaat sich jeder in seine Ecke begeben haben; und wer keine besitzt, geht auf den Heuboden, ein anderer in den Garten, ein dritter sucht im Vorhaus Kühlung, und mancher deckt sich vor den Fliegen das Gesicht mit einem Tuche zu und schläft dort ein, wo ihn die Hitze und das umfangreiche Mittagessen zu Boden gestreckt haben. Der Gärtner hat sich im Garten unter einem Busch, neben seinem Brecheisen hingelegt, und der Kutscher schläft im Stall. Ilja Iljitsch schaute in die Gesindestube hinein; dort lagen alle auf den Bänken, auf dem Fußboden umher, die Kinder sich selbst überlassend; diese krochen auf dem Hofe herum und wühlten im Sand. Auch die Hunde hatten sich tief in ihre Hütten verkrochen, da sie ja niemand anzubellen hatten. Man konnte durch das ganze Haus gehen, ohne jemand zu begegnen; man konnte getrost alles herausstehlen und auf Fuhren von dem Hofe fortführen; niemand würde daran gehindert haben, wenn es in jener Gegend Diebe gegeben hätte. Das war ein alles verschlingender, unbezwingbarer Schlaf, das wahre Ebenbild des Todes. Alles ist tot; aus den Ecken dringt das verschiedenartige Schnarchen in allen Tönen und Arten herüber. Ab und zu hebt jemand im Schlaf den Kopf, blickt sinnlos und erstaunt nach allen Richtungen hin und dreht sich auf die andere Seite um oder spuckt, ohne die Augen zu öffnen, im Schlafe aus, schmatzt mit den Lippen oder brummt etwas durch die Nase und schläft wieder ein. Ein zweiter springt rasch, ohne irgendwelche vorhergehende Vorbereitungen mit beiden Füßen vom Lager auf, als fürchte er, die kostbaren Augenblicke zu verlieren, greift nach dem Krug mit Kwaß, und nachdem er die darin schwimmenden Fliegen so zurückgeblasen hat, daß sie zum andern Rand weggeschwemmt werden – wovon die bis dahin reglosen Insekten sich in der Hoffnung auf eine Besserung ihres Schicksals heftig zu bewegen beginnen –, netzt er sich die Kehle und fällt dann wieder wie angeschossen aufs Bett hin.

Und das Kind beobachtete immerzu. Es ging nachmittags wieder mit der Kinderfrau in die freie Luft. Doch auch die Kinderfrau konnte trotz der strengen Ermahnungen der Gnädigen und trotz des eigenen Willens dem Bann des Schlafes nicht widerstehen. Auch sie wurde von dieser in Oblomowka herrschenden allgemeinen Krankheit angesteckt. Zuerst beaufsichtigte sie eifrig das Kind, ließ es nicht weit von sich fort, brummte streng, wenn es herumtollte; dann, als sie die Symptome der nahenden Ansteckung fühlte, begann sie es zu bitten, nicht aus dem Tor hinauszugehen, nicht den Ziegenbock zu reizen, nicht auf den Taubenschlag oder die Galerie zu steigen. Sie selbst setzte sich irgendwo hin in den Schatten, auf die Stiege, die Schwelle des Kellers oder einfach auf das Gras, mit der Absicht, den Strumpf zu stricken und das Kind zu beaufsichtigen. Doch dann hielt sie es nur träge zurück und wackelte mit dem Kopf. Ach, der Wildfang wird, bevor man sich versieht, auf die Galerie klettern, dachte sie fast im Schlaf, oder auch, er geht ... zum Graben ... Hier senkte sich der Kopf der Alten auf die Knie, der Strumpf entglitt ihren Händen, sie verlor das Kind aus den Augen und schnarchte leise mit halbgeöffnetem Munde. Und es erwartete ungeduldig diesen Moment, mit dem sein selbständiges Leben begann. Es glaubte dann, in der ganzen Welt allein zu sein; es lief auf den Fußspitzen von der Kinderfrau fort, sah nach, wo ein jeder schlief; es blieb stehen und beobachtete aufmerksam, wie jemand erwachte, ausspuckte und im Schlafe etwas brummte. Dann stieg es mit bebendem Herzen auf die Galerie und lief auf den knarrenden Brettern rundherum, kletterte auf den Taubenschlag, versteckte sich in die Tiefe des Gartens, lauschte dem Summen eines Käfers und folgte mit den Augen weit seinem Fluge durch die Luft; hörte es im Grase zirpen, suchte und fand die Ruhestörer; es fing eine Libelle, riß ihr die Flügel ab und sah, was aus ihr wurde, oder steckte einen Strohhalm in sie hinein und beobachtete, wie sie mit diesem Anhängsel flog; es betrachtete voll Vergnügen, mit verhaltenem Atem, wie die Spinne das Blut der gefangenen Fliege aussaugte und wie das arme Opfer zwischen ihren Füßen zappelte und summte. Das Kind schloß damit, daß es sowohl das Opfer als auch die Peinigerin tötete. Dann kroch es in eine Rinne, grub darin herum und suchte sich Wurzeln, die es von der Rinde reinigte und voll Vergnügen aß, sie den Äpfeln und dem Eingesottenen der Mutter vorziehend. Es läuft auch aus dem Tor hinaus; es möchte gerne in den Birkenhain; dieser scheint ihm so nahe zu sein, daß es ihn in fünf Minuten erreichen könnte, wenn es nicht ringsherum über den Weg, sondern geradeaus über die Rinnen, die Hecken und die Gruben ginge; doch es fürchtet sich; man sagt, daß es dort Unholde, Räuber und wilde Tiere gibt. Es möchte auch gern zu dem Graben laufen; dieser ist nur fünfzig Klafter vom Garten entfernt; das Kind ist schon zum Rand hingelaufen, kneift die Augen zu und will wie in den Krater eines Vulkans hineinblicken ... Aber plötzlich erstehen vor ihm all die Erzählungen und Überlieferungen, die über diesen Graben umgehen. Entsetzen erfaßt es, es rennt halbtot und vor Angst zitternd zur Kinderfrau zurück und weckt sie auf. Sie schüttelte den Schlaf von sich, ordnete das Kopftuch, steckte ihre grauen Haarsträhnen mit dem Finger darunter, gab sich den Anschein, gar nicht geschlafen zu haben, blickte bald Iljuscha, bald die herrschaftlichen Fenster mißtrauisch an und begann die Stricknadeln des auf ihren Knien liegenden Strumpfes ineinanderzustecken.

Unterdessen begann die Hitze nach und nach abzunehmen, in der Natur belebte sich alles; die Sonne näherte sich schon dem Walde. Und allmählich wurde die Stille im Hause gestört. Irgendwo in einer Ecke knarrte eine Tür. Man hörte auf dem Hofe Schritte, auf dem Heuboden nieste jemand. Bald trug ein Mann, sich unter der Schwere beugend, einen ungeheuren Samowar eilig aus der Küche vorüber. Man begann sich zum Tee zu versammeln. Der eine hatte ein streifiges Gesicht und tränende Augen, der andere hatte vom Liegen auf den Wangen und Schläfen rote Flecken; ein dritter sprach nach dem Schlaf wie mit einer fremden Stimme. Das alles schnauft, ächzt, gähnt, kratzt sich den Kopf und streckt sich, nur mit Mühe zur Besinnung kommend. Das Mittagessen und der Schlaf haben einen unstillbaren Durst erzeugt. Der Durst sengt die Kehle; jeder trinkt bis zu zwölf Schalen Tee, doch auch das hilft nicht. Man seufzt und stöhnt; man nimmt zum Preiselbeer- und Birnenwasser und zum Kwaß Zuflucht. Manche helfen sich auch mit Medikamenten, um nur die Trockenheit in der Kehle zu beheben. Alle suchen Befreiung vom Durste wie von einer Strafe Gottes; alle rennen herum, alle sind ermattet wie eine Karawane von Reisenden in der arabischen Wüste, die nirgends eine Wasserquelle findet.

Das Kind ist auch hier, bei seiner Mama. Es betrachtet die es umgebenden, seltsamen Gesichter und lauscht ihrem schläfrigen, trägen Gespräche. Es findet es lustig, sie anzuschauen, ein jeder von ihnen gesprochene Unsinn interessiert es. Nach dem Tee beschäftigen sich alle mit irgend etwas. Der eine geht zum Fluß und schreitet langsam am Ufer entlang, indem er mit dem Fuße Steine ins Wasser wirft; ein zweiter setzt sich ans Fenster und fängt jede flüchtige Erscheinung mit den Augen auf. Wenn eine Katze über den Hof läuft oder eine Dohle vorbeifliegt, verfolgt der Beobachter die eine und die andere mit dem Blicke und mit seiner Nasenspitze, indem er den Kopf bald nach rechts, bald nach links wendet. So lieben manchmal Hunde ganze Tage lang am Fenster zu sitzen, indem sie den Kopf in die Sonne legen und jeden Vorübergehenden genau mustern. Die Mutter erfaßt Iljuschas Kopf, legt ihn auf ihre Knie und kämmt ihm langsam das Haar, indem sie dessen Weichheit bewundert und auch Nastassja Iwanowna und Stjepanida Tichonowna bewundern läßt, und spricht mit ihnen von Iljuschas Zukunft, wobei sie ihn zum Helden irgendeiner von ihr erdichteten, glänzenden Episode macht. Die Anwesenden versprechen ihm goldene Berge.

Doch es fing zu dunkeln an. In der Küche prasselte wieder das Feuer und ertönte wieder das häufige Klopfen der Messer. Das Nachtessen wurde zubereitet. Die Dienerschaft hatte sich am Haustor versammelt, man hörte dort lachen und Balalaika spielen. Man spielte Haschen. Und die Sonne verbarg sich schon hinter dem Wald; sie warf noch ein paar warme Strahlen zurück, welche den ganzen Wald in einem feurigen Streifen durchschnitten und die Wipfel der Fichten in helles Gold tauchten. Dann erloschen die Strahlen allmählich. Der letzte Strahl hing so lange, er bohrte sich wie eine feine Nadel in das Dickicht der Zweige; doch auch er erlosch. Die Gegenstände verloren ihre Formen. Alles verschwamm zuerst in eine graue und dann in eine dunkle Masse. Das Singen der Vögel wurde immer schwächer, bald verstummten sie ganz, außer einem einzigen eigensinnigen, der gleichsam allen zum Trotze inmitten der ringsherum herrschenden Stille in Zwischenräumen eintönig allein zirpte; doch dann ertönte sein Zirpen immer seltener, und endlich pfiff auch er zum letzten Male, schwach und tonlos, regte seine Flügel, indem er die Blätter um sich herum in Bewegung brachte ... und schlief ein. Alles verstummte. Nur die Grillen zirpten noch lauter um die Wette. Von der Erde stiegen weiße Dämpfe auf und breiteten sich über die Wiese und den Fluß aus. Auch der Fluß wurde ruhiger, nach einer Weile plätscherte darin etwas zum letzten Male auf, und er regte sich nicht mehr. Es roch nach Feuchtigkeit. Es wurde immer dunkler und dunkler.

Die Bäume gruppierten sich zu Ungeheuern zusammen; im Walde wurde es unheimlich. Dort knarrte plötzlich etwas, als wechselte eines von den Ungeheuern den Platz, und ein trockener Zweig schien unter seinem Fuße zu knistern. Am Himmel leuchtete gleich einem lebendigen Auge der erste Stern hell auf, und in den Fenstern des Hauses schimmerten Lichter.

Jetzt traten die Minuten der allgemeinen, feierlichen Stille in der Natur ein, jene Minuten, in denen der schöpferische Geist intensiver arbeitet und die poetischen Träume heißer lodern, in denen die Leidenschaften im Herzen heftiger flammen oder der Gram schmerzlicher wird und der Keim des verbrecherischen Gedankens schneller reift und in denen ... in Oblomowka alle so fest und ruhig schlafen.

»Mama, komm spazieren«, sagt Iljuscha.

»Was dir einfällt, Gott sei mit dir! Wie kann man denn jetzt spazierengehen«, antwortete sie, »es ist feucht, du wirst nasse Füßchen bekommen; es ist auch gruselig, jetzt geht der Unhold durch den Wald, er trägt die kleinen Kinder fort.«

»Wohin trägt er sie fort? Wie ist er? Wo wohnt er?« fragte das Kind.

Und die Mutter ließ ihrer Phantasie freien Lauf. Das Kind lauscht ihr, die Augen öffnend und wieder schließend, bis der Schlaf es endlich ganz überwältigt. Dann kam die Kinderfrau, nahm es von dem Schoße der Mutter und trug es, während es den Kopf schläfrig über ihre Schultern hängen ließ, ins Bett.

»Gott sei Dank, jetzt ist der Tag vorüber!« sagten die Oblomower, sich ins Bett legend, ächzend und ein Kreuz schlagend, »wir hätten ihn glücklich verlebt; gebe Gott, daß es morgen auch so ist! Gelobt sei der Herr! Gelobt sei der Herr!«

Dann träumte Oblomow von einer anderen Zeit; er schmiegt sich an einem endlosen Winterabend ängstlich an die Kinderfrau, und sie flüstert ihm von einem unbekannten Lande zu, wo es weder Nacht noch Kälte gibt, wo immer Wunder geschehen, wo Milch und Honig fließen, wo niemand das runde Jahr etwas tut und wo den ganzen lieben Tag lauter solche Helden wie Ilja Iljitsch und so schöne Mädchen, wie sie weder im Märchen wiederzugeben noch mit der Feder zu beschreiben sind, herumspazieren. Dort gibt es auch eine gute Zauberin, die manchmal in der Gestalt eines Hechtes erscheint und sich irgendeinen stillen, arglosen Liebling auserwählt, mit anderen Worten irgendeinen Faulpelz, dem alle Unrecht tun, und ihn ganz ohne Grund mit allerlei Schätzen überschüttet, und er ißt nur und zieht die fertigen Kleider an und heiratet dann die unerhört schöne Militrissa Kirbitjewna. Das Kind verschlang gierig mit offenen Ohren und Augen das Märchen. Die Kinderfrau oder vielmehr die Überlieferung vermied in dem Märchen so geschickt alles, was in Wirklichkeit vorkommt, daß Phantasie und Verstand, die sich vom Erdachten durchdringen ließen, bis zum Alter dessen Sklaven blieben. Die Kinderfrau erzählte gutmütig das Märchen vom dummen Jemelja, diese boshafte und tückische Satire auf unsere Vorfahren und vielleicht auch auf uns selbst. Und wenn der erwachsene Ilja Iljitsch auch später erfährt, daß es weder Milch- und Honigflüsse noch gute Zauberinnen gibt, wenn er auch lächelnd über die Märchen der Kinderfrau scherzt, ist sein Lächeln doch nicht aufrichtig, es wird von einem heimlichen Seufzer begleitet. Das Märchen hat sich bei ihm mit dem Leben verwebt, und er trauert manchmal unbewußt darüber, warum das Märchen nicht das Leben und das Leben kein Märchen ist. Er träumt unwillkürlich von Militrissa Kirbitjewna; es zieht ihn immer dorthin, wo man den ganzen lieben Tag nur spazierengeht, wo es keine Sorgen und keine Traurigkeit gibt; er behält für immer die Neigung bei, auf dem warmen Ofen zu liegen, in einem fertigen, nicht durch Arbeit gewonnenen Kleide herumzugehen und auf die Rechnung der guten Zauberin zu essen. Auch Oblomows Vater und Großvater hatten in der Kindheit dieselben Märchen gehört, die in der stereotypen Ausgabe des Altertums von den Lippen der Kinderfrauen und Hofmeister Jahrhunderte und Generationen hindurch überliefert wurden.

Unterdessen läßt die Kinderfrau vor der Phantasie des Kindes ein neues Bild erstehen.

Sie erzählt ihm von den Heldentaten unserer Achilles und Ulysses, von dem Mut eines Ilja Muromez, eines Dobrinja Nikititsch, eines Aljoscha Popowitsch, eines Polkan und eines Wanderkrüppels, davon, wie sie die unzähligen Heere der Ungläubigen geschlagen haben, wie sie darin wetteiferten, einen Kelch grünen Weines auf einen Atemzug, ohne sich zu räuspern, zu leeren; dann sprach sie von den bösen Räubern, von schlafenden Prinzessinnen, von versteinerten Städten und Menschen; zum Schlusse ging sie zu unserer Dämonologie, zu Toten, Ungeheuern und Werwölfen über.

Mit der Einfachheit und Gutmütigkeit eines Homer, mit derselben lebendigen Wahrheit des Details und Plastizität der Bilder überlieferte sie dem Gedächtnis und der Phantasie des Kindes die Iliade des russischen Lebens, die von unseren Homeriden in jenen nebelhaften Zeiten erschaffen wurde, als der Mensch mit den Gefahren und den Geheimnissen der Natur und des Lebens noch nicht vertraut war, als er noch vor dem Werwolf und dem Waldunhold zitterte, als er vor der ihn umgebenden Drangsal bei Aljoscha Popowitsch Schutz suchte und als die Luft, das Wasser, der Wald und das Feld vom Wunder beherrscht wurden. Das Leben eines damaligen Menschen war gefahrvoll und unsicher; er brauchte nur die Schwelle des Hauses zu verlassen, um einem Unheil zu begegnen; da konnte er jeden Augenblick von einem wilden Tiere zerrissen oder von einem Räuber erstochen werden, ein böser Tatare konnte ihm sein Gut rauben, oder er konnte auch spurlos, ohne irgendwelche Kunde von sich zu senden, verschwinden.

Oder es erschienen plötzlich Himmelszeichen, feurige Säulen und Kugeln; dort, über dem frischen Grabe, flammt ein Feuer auf, oder im Walde scheint jemand mit einer Laterne herumzuspazieren, furchtbar zu lachen und mit den Augen in der Dunkelheit zu funkeln. Auch mit dem Menschen selbst geschah so viel Unbegreifliches; mancher lebte lange und glücklich, ohne daß ihm etwas geschah, und plötzlich begann er ganz unverständlich zu reden oder mit einer ganz anderen Stimme zu schreien, oder er irrte auch schlafend in der Nacht herum; ein anderer bekam plötzlich Krämpfe und wälzte sich auf dem Boden. Und bevor so etwas geschah, krähte ein Huhn mit der Stimme eines Hahnes, und eine Krähe krächzte über dem Dache. Der schwache Mensch war ganz hilflos, während er sich entsetzt im Leben umschaute, und suchte in seiner Phantasie nach dem Schlüssel zu den Geheimnissen der ihn umgebenden und der eigenen Natur.

Und vielleicht führte die Schläfrigkeit und beständige Ruhe des trägen Lebens, der Mangel an Bewegung und an wirklichen Ängsten, Abenteuern und Gefahren den Menschen dazu, anstatt der Wirklichkeit eine andere, erdachte Welt zu erschaffen und darin sich seine Phantasie tummeln und ergötzen zu lassen oder nach der Erklärung der einfachen Verkettung der Umstände und der Ursachen der Erscheinung außerhalb der Erscheinung selbst zu suchen. Unsere armen Vorfahren haben wie herumtastend gelebt; sie beflügelten nicht ihren Willen und hemmten ihn auch nicht, und dann wunderten sie sich und entsetzten sich über das Böse und über die Unbequemlichkeit ihres Lebens und wollten alles Unverständliche bei den stummen und unklaren Hieroglyphen der Natur erfragen. Der Tod wurde für sie durch den vor kurzem zuerst mit dem Kopfe und nicht mit den Füßen aus dem Tore hinausgetragenen Toten verursacht; eine Feuersbrunst – weil der Hund drei Nächte unter dem Fenster geheult hatte; und sie richteten ihre ganze Sorge darauf, daß man den Toten mit den Füßen zuerst aus dem Tore hinaustrug, und dabei aßen sie dasselbe und ebensoviel und schliefen wie bisher auf Gras; der heulende Hund wurde geschlagen oder fortgejagt, und die Funken des Kienspans wurden wie bisher in die Ritze des faulenden Fußbodens geworfen. Und der Russe liebt es bis heute, inmitten des ihn umgebenden, strengen, phantasielosen Lebens an die verlockenden Sagen des Altertums zu glauben, und er wird sich von diesem Glauben vielleicht noch lange nicht lossagen.

Indem der Knabe den Märchen der Kinderfrau von unserem Goldenen Vlies, von dem »Wundervogel« lauschte und sie ihm von den undurchdringlichen Mauern und den Geheimverliesen des Zauberschlosses erzählte, suchte er seinen Mut anzufachen, indem er sich an die Stelle der Helden setzte, und es überlief kalt seinen Rücken, oder er litt an dem Mißgeschicke des Kühnen. Ein Märchen folgte dem andern. Die Kinderfrau erzählte voll Feuer, bilderreich gestaltend und ganz hingerissen; an manchen Stellen wurde sie von Begeisterung erfüllt, weil sie zur Hälfte selbst an die Märchen glaubte. Die Augen der Alten leuchteten; ihr Kopf zitterte vor Erregung; die Stimme erstreckte sich auf sonst ungewohnte Töne. Das Kind schmiegte sich an sie mit Tränen in den Augen, von unerklärlicher Angst erfaßt. Wenn von den um Mitternacht aus den Gräbern steigenden Toten oder von den in der Gefangenschaft des Ungeheuers schmachtenden Opfern oder vom Bären mit dem Holzfuße, der durch die Dörfer und Flecken wandert und seinen abgehauenen Fuß sucht, die Rede war, knisterten die Haare des Kindes vor Entsetzen; die kindliche Phantasie erstarrte bald und flammte bald wieder auf; in ihm spielte sich ein quälender, schmerzlich-süßer Vorgang ab; die Nerven spannten sich wie Saiten. Wenn die Kinderfrau düster die Worte des Bären wiederholte: »Knarre, knarre, Lindenfuß: ich gehe durch die Flecken, ich gehe durch die Dörfer, alle Frauen schlafen, nur eine Frau schläft nicht, sie sitzt auf meinem Felle, kocht mein Fleisch, spinnt mein Haar« usw., und wenn der Bär endlich in die Hütte trat und im Begriffe war, den Dieb, der ihm sein Bein geraubt hatte, zu packen, hielt das Kind es nicht länger aus, es stürzte sich zitternd und quietschend in die Arme der Kinderfrau und lachte dabei laut vor Freude, daß es sich nicht in den Krallen des Tieres, sondern auf der Ofenbank, neben der Kinderfrau, befand. Die Phantasie des Knaben wurde von seltsamen Gespenstern bevölkert; Angst und Bangigkeit hatten sich für lange Zeit, vielleicht für immer, in seiner Seele eingenistet. Er blickt traurig um sich, sieht im Leben nichts als Unheil und Gefahren und träumt immer von jenem Zauberland, wo es weder Unglück noch Sorgen noch Traurigkeit gibt, wo Militrissa Kirbitjewna lebt, wo man so gut bewirtet und umsonst bekleidet wird.

Das Märchen hielt in Oblomowka nicht nur die Kinder, sondern auch die Erwachsenen bis ans Ende des Lebens in seinem Bann. Alle im Hause und im Dorf, vom gnädigen Herrn und seiner Frau angefangen bis zum stämmigen Schmied Taraß – alle zittern sie vor etwas an einem dunklen Abend. Jeder Baum verwandelt sich dann in einen Riesen, jeder Busch in eine Räuberhöhle. Das Klappern des Fensterladens und das Heulen des Windes im Rauchfang machte die Männer, die Frauen und die Kinder erblassen. Niemand ging am Dreikönigstag nach zehn Uhr abends allein aus dem Tor hinaus; ein jeder fürchtete sich, in der Nacht vor Ostern in den Stall zu gehen, da er dort einen Kobold anzutreffen fürchtete. In Oblomowka glaubte man an alles: an Werwölfe und Gespenster. Wenn man ihnen erzählte, daß eine Heugarbe auf dem Felde herumspaziert sei, würden sie, ohne weiter nachzudenken, daran glauben; wenn jemand das Gerücht verbreiten wollte, das sei kein Hammel, sondern etwas anderes, oder daß Marfa oder Stjepanida eine Hexe sei, würden sie sich sowohl vor dem Hammel als auch vor Marfa fürchten; es würde ihnen nie einfallen, zu fragen, warum der Hammel kein Hammel mehr sei und warum Marfa sich in eine Hexe verwandelt habe, und sie würden noch über denjenigen herstürzen, der daran zu zweifeln gewagt hätte – so stark war der Glauben an das Wunderbare in Oblomowka!

Ilja Iljitsch wird ja später sehen, daß die Welt einfach eingerichtet ist, daß die Toten nicht aus den Gräbern steigen, daß Riesen, sowie sie sich zeigen, auf den Jahrmarkt kommen und daß Räuber ins Gefängnis gesperrt werden; wenn aber der Glaube an die Gespenster auch verschwindet, bleibt doch ein Überrest von Angst und unfaßbarer Bangigkeit zurück. Ilja Iljitsch hat erfahren, daß es keine Ungeheuer gibt, die Unheil anrichten, er weiß aber kaum, wodurch es verursacht wird, erwartet bei jedem Schritt etwas Schreckliches und fürchtet sich; auch jetzt noch zittert er, von einer unbezwinglichen, in der Kindheit in seine Seele gesäten Bangigkeit erfaßt, wenn er im dunklen Zimmer bleibt oder einen Toten sieht; er lacht des Morgens über seine Angst und erbleicht wieder am Abend.

Dann sah sich Ilja Iljitsch als dreizehn-, vierzehnjährigen Knaben. Er lernte schon im Flecken Werchljowo, fünf Werst von Oblomowka entfernt, beim dortigen Verwalter, dem Deutschen Stolz, der für die Kinder der Edelleute der Umgegend ein kleines Pensionat eingerichtet hatte. Er hatte einen eigenen Sohn, Andrej, der fast im selben Alter wie Oblomow war, und noch einen Knaben, den er aufgenommen hatte, der fast niemals lernte, sondern meistens an Skrofeln litt und die ganze Kindheit mit verbundenen Augen oder Ohren verbrachte; er weinte heimlich, weil er nicht bei der Großmutter, sondern in einem fremden Hause inmitten von Bösewichtern lebte, weil niemand ihn liebkoste und niemand ihm seinen Lieblingskuchen backte. Außer diesen Kindern gab es keine anderen in der Pension.

Vater und Mutter mußten sich darein fügen und den Wildfang Iljuscha lernen lassen. Das kostete Tränen, Heulen und Launen. Endlich führte man ihn fort. Der Deutsche war ein tüchtiger, strenger Mensch, wie fast alle Deutschen. Vielleicht hätte Iljuscha bei ihm auch etwas Ordentliches gelernt, wenn Oblomowka von Werchljowo fünfhundert Werst entfernt gewesen wäre. Wie sollte er aber so lernen? Der Reiz der Oblomower Umgebung, Lebensweise und Gewohnheiten erstreckte sich bis nach Werchljowo; auch dort war ja einst Oblomowka gewesen; dort atmete alles, außer dem Stolzschen Hause, dieselbe Trägheit, Ungekünsteltheit der Sitten, Ruhe und Reglosigkeit aus. Der Verstand, das Herz des Kindes waren von allen Bildern, Szenen und Sitten dieses Lebens erfüllt, bevor es das erste Buch in die Hand bekam. Und wer weiß, wie früh die Entwicklung des geistigen Kernes im kindlichen Hirn beginnt? Wie kann man das Keimen der ersten Begriffe und Eindrücke in der kindlichen Seele verfolgen? Vielleicht während das Kind die Worte noch kaum aussprach oder auch noch gar nicht aussprach und selbst noch nicht gehen konnte und nur alles mit jenem starren, stummen kindlichen Blick betrachtete, den die Erwachsenen stumpf nennen, sah es und erriet es schon die Bedeutung und den Zusammenhang der Erscheinungen der es umgebenden Sphäre, gestand das nur weder sich selbst noch andern ein. Vielleicht bemerkte und verstand Iljuscha schon längst, was in seiner Gegenwart gesprochen und getan wurde: wie sein Papa in Plüschhosen und einer wattierten braunen Tuchjoppe den langen, lieben Tag mit den Händen auf dem Rücken aus einer Ecke in die andere geht, Tabak schnupft und sich schneuzt und die Mutter vom Kaffee zum Tee und vom Tee zum Mittagessen übergeht; wie es dem Vater niemals zu kontrollieren einfällt, wieviel Garben gemäht worden sind, und eine etwaige Fahrlässigkeit zu bestrafen, wie er aber, wenn ihm sein Taschentuch nicht schnell genug gereicht wird, über Unordnung schimpft und das ganze Haus auf den Kopf stellt. Vielleicht hatte sein kindlicher Verstand längst beschlossen, daß man so und nicht anders leben sollte, als die Erwachsenen um ihn herum lebten. Ja, wie sollte er auch einen anderen Beschluß fassen! Und wie lebten die Erwachsenen in Oblomowka?

Stellten sie sich die Frage, wozu das Leben ihnen gegeben war? Gott weiß! Und wie beantworteten sie diese? Wahrscheinlich gar nicht. Das erschien ihnen sehr einfach und klar. Sie hatten nichts von einem sogenannten mühevollen Leben gehört, von Menschen, die quälende Sorgen in der Brust trugen, die aus irgendeinem Grunde von einem Ort zum andern über das Antlitz der Erde irrten oder ihr Leben der ewigen, endlosen Arbeit weihten. Die Einwohner von Oblomowka glaubten auch nicht recht an seelische Stürme; sie hielten den Kreislauf des ewigen Strebens irgend wohin und nach irgendwas nicht für das wahre Leben; sie fürchteten sich vor dem Drang der Leidenschaften wie vor dem Feuer, und während bei anderen Menschen der Körper durch die vulkanische Arbeit der inneren seelischen Flamme schnell aufgebraucht wurde, ruhte die Seele der Oblomower friedlich, ohne Störungen im weichen Körper. Das Leben zeichnete sie weder durch frühzeitige Furchen noch durch zerrüttende moralische Schläge und Leiden. Diese guten Menschen faßten das Leben nicht anders als ein Ideal der Ruhe und Untätigkeit auf, das ab und zu durch allerlei unangenehme Zufälle, wie Krankheiten, Verluste, Streitigkeiten und unter anderem durch Arbeit gestört wurde. Sie ertrugen die Arbeit als eine Strafe, die noch unseren Vorvätern auferlegt wurde, die sie aber nicht lieben konnten und von der sie sich bei jeder Gelegenheit befreiten, da sie das für möglich und sogar für nötig hielten.

Sie brachten sich niemals durch irgendwelche nebelhaften geistigen oder moralischen Fragen in Verwirrung; darum erfreuten sie sich auch immer des Frohsinns und einer blühenden Gesundheit, darum lebten sie dort so lange; die Männer erinnerten mit vierzig Jahren an Jünglinge; die Greise kämpften nicht mit einem schweren, qualvollen Tod, sondern starben gleichsam verstohlen, erstarrten still und hauchten unmerklich ihren letzten Seufzer aus, nach dem sie unerhört lange gelebt hatten. Darum heißt es auch, daß die Menschen früher kräftiger waren. Ja, sie waren in der Tat kräftiger. Früher beeilte man sich nicht, dem Kinde den Sinn des Lebens zu erklären und es dazu wie zu etwas sehr Kompliziertem und Ernstem vorzubereiten; man quälte es nicht mit Büchern, welche im Kopfe eine Menge von Fragen erzeugen, die am Hirn und Herzen nagen. Die Norm des Lebens war fertig und war ihnen von den Eltern beigebracht worden, die sie ebenfalls fertig vom Großvater und dieser vom Urgroßvater mit dem Vermächtnis übernommen hatten, über deren Unberührtheit und Heiligkeit wie über das Feuer der Vesta zu wachen. Wie alles bei Lebzeiten der Großväter und Väter getan wurde, so wurde es auch unter Ilja Iljitschs Vater und so wird es vielleicht bis heute in Oblomowka getan.

Worüber hatten sie denn zu sinnen und sich zu erregen, was zu ergründen und welche Ziele zu erreichen? Das war alles unnötig. Das Leben rann wie ein ruhiger Fluß an ihnen vorbei, sie brauchten nur am Ufer dieses Flusses zu bleiben und die unvermeidlichen Erscheinungen zu beobachten, welche ungerufen der Reihe nach vor einem jeden von ihnen erstanden.

Und auch der Phantasie des schlafenden Ilja Iljitsch zeigten sich ebenfalls der Reihe nach, gleich lebenden Bildern, die drei Hauptmomente des Lebens, die sich ebensowohl in seiner Familie wie auch bei den Verwandten und Bekannten abspielten: Geburt, Hochzeit und Begräbnis. Dann folgte eine bunte Prozession ihrer freudigen und traurigen Unterabteilungen: Taufen, Namenstage, Familienfeste, Fastenanfang und -ende, geräuschvolle Diners, Familienbesuche, Begrüßungen, Gratulationen, offizielle Tränen und Lächeln. Alles wurde so genau, so ernsthaft und feierlich erfüllt. Er sah sogar bekannte Personen vor sich und ihren Ausdruck bei verschiedenen Gelegenheiten, ihre Besorgtheit und Geschäftigkeit. Wenn man ihnen eine noch so kitzlige Heiratsvermittlung, eine noch so feierliche Hochzeit oder einen Geburtstag einzurichten übergeben hätte, würden sie alles nach allen Regeln, ohne die geringste Fahrlässigkeit besorgt haben. Warum es sich darum handelte, welcher Platz einem jeden der Anwesenden anzuweisen war, wie und was aufgetragen werden sollte, wer mit wem während der Zeremonie zu fahren hatte, wie man sich bei irgendeinem Vorzeichen verhalten mußte, dagegen ward in Oblomowka nie auch nur der geringste Verstoß begangen. Verstand man dort etwa nicht ein Kind aufzuziehen? Man braucht sich nur anzuschauen, was für rosige und gewichtige Kupidos die dortigen Mütter tragen und führen. Sie bestehen darauf, daß die Kinder dick, weiß und gesund sein müssen. Sie werden dem Frühling abschwören und nichts davon wissen wollen, wenn sie bei seinem Antritt nicht eine Lerche gebacken haben. Wie sollten sie das nicht alles wissen und nicht erfüllen? Das ist ihr ganzes Leben und Wissen, darin sind alle ihre Leiden und Freuden. Sie gehen darum jeder anderen Sorge und Trauer aus dem Wege, weil ihr Leben immer von diesen unvermeidlichen Urereignissen erfüllt war, die ihrem Verstand und ihrem Herzen unendliche Nahrung boten. Sie erwarteten mit Herzklopfen irgendeinen Vorgang, ein Festessen, eine Zeremonie, um später, nachdem der Mensch getauft, verheiratet oder begraben, ihn selbst und sein Schicksal zu vergessen und sich in ihre gewohnte Apathie zu versenken, aus der sie durch einen neuen, ähnlichen Fall, einen Geburtstag, eine Hochzeit usw. aufgerüttelt wurden. Sowie ein Kind geboren wurde, war die erste Sorge der Eltern, wie man am genauesten, ohne das geringste zu vergessen, alle vom Anstand geforderten Zeremonien, in diesem Falle das Taufessen, bewerkstelligen sollte; dann begann die sorgfältige Pflege des Kleinen. Die Mutter stellt sich und der Kinderfrau die Aufgabe: ein gesundes Kind aufzuziehen, es vor Erkältung, vor einem bösen Blick und anderen feindlichen Umständen zu hüten. Man war voll Eifer darum besorgt, daß das Kind stets lustig sei und viel esse. Sowie der Bursche auf den Füßen stehen, das heißt, sobald er der Kinderfrau entraten kann, schleicht sich schon in das Herz der Mutter der heimliche Wunsch, für ihn eine möglichst gesunde, rotbackige Gefährtin zu finden. Es beginnt wieder eine Epoche der Zeremonien, der Festessen, und endlich kommt die Hochzeit. Darauf konzentriert sich das ganze Pathos des Lebens. Dann beginnen wieder die Wiederholungen. Das Gebären von Kindern, die Zeremonien und Festessen, bis das Begräbnis die Szenerie ändert; das geschieht aber nicht für lange Zeit. Die einen Personen machen den anderen Platz, die Kinder werden zu Jünglingen und zugleich zu Bräutigamen, sie heiraten, setzen ähnliche Geschöpfe in die Welt – und nach diesem Programm zieht sich das Leben als ein ununterbrochenes, eintöniges Gewebe hin und zerreißt unmerklich, am Grabe angelangt.

Zwar drängten sich ihnen manchmal auch andere Sorgen auf; doch die Einwohner von Oblomowka nahmen sie meistens mit stoischer Reglosigkeit auf, und nachdem die Sorgen eine Weile über ihren Häuptern gekreist waren, flogen sie weiter wie Vögel, die an eine glatte Wand heranfliegen und, da sie keinen Unterschlupf finden, an den harten Stein vergeblich mit den Flügeln schlagen und dann weiterfliegen. So fiel zum Beispiel eines Tages ein Teil der Galerie an der einen Seite des Hauses herab und begrub unter seinem Schutt eine Gluckhenne mit ihren Küchlein; auch Antips Frau, Arinja, die sich gerade mit der Spinnbank unter die Galerie gesetzt hatte, hätte ihr Teil abbekommen, aber sie ging gerade in dem Augenblick ein Flachsbündel holen. Im Hause wurde Alarm geschlagen. Alle, klein und groß, kamen herbeigelaufen und entsetzten sich bei der Vorstellung, daß statt der Henne mit ihren Küchlein hier die Gnädige selbst mit Ilja Iljitsch hätte spazierengehen können. Alle schrien auf und begannen einander vorzuwerfen, wieso es ihnen nicht längst eingefallen war: dem einen, daran zu erinnern, dem zweiten, die Reparatur anzuordnen, dem dritten, die Reparatur vorzunehmen. Alle wunderten sich darüber, daß die Galerie abgestürzt war, und dabei hatten sie sich am Tage zuvor gewundert, daß sie sich noch so lange hielt! Jetzt begannen Sorgen und Beratungen, wie die Sache wieder in Ordnung zu bringen sei; man bedauerte die Gluckhenne mit den Küchlein und ging langsam auseinander, nachdem man streng verboten hatte, Ilja Iljitsch an die Galerie heranzulassen. Dann befahl man nach etwa drei Wochen Andjuschka, Pjetruschka und Wassjka, die herabgestürzten Bretter und Geländer zu den Scheunen hinzuschleppen, damit sie nicht im Wege lagen. Dort verblieben sie bis zum Frühling. Jedesmal, wenn der alte Oblomow sie aus dem Fenster erblickte, erfüllte ihn der Gedanke an die Reparatur mit Sorge; er ließ den Zimmermann kommen, begann sich mit ihm zu beraten, was vorzuziehen sei, der Bau einer neuen Galerie oder die Demolierung der Überreste; dann schickte er ihn mit den Worten nach Hause: »Geh nur, ich werd's mir überlegen!« Das dauerte so lange, bis Wassjka oder Motjka dem Herrn berichtete, daß, als er diesen Morgen auf die Überreste der Galerie stieg, die Ecken von den Mauern weit wegstanden und jeden Augenblick wieder abstürzen konnten. Dann wurde der Zimmermann zu einer endgültigen Beratung gerufen, deren Ergebnis der Beschluß war, den übergebliebenen Teil der Galerie vorläufig mit den alten Bruchstücken zu stützen, was auch bis zum Ende desselben Monats erfüllt wurde.

»Die Galerie ist ja wieder wie neu!« sagte der Alte zu seiner Frau. »Schau einmal, wie schön Fjedot die Balken verteilt hat, wie die Säulen am Hause des Adelsmarschalls! Jetzt ist's in Ordnung, und für lange Zeit.«

Jemand erinnerte ihn daran, daß man bei dieser Gelegenheit auch das Haustor und die Stiege reparieren könnte, weil nicht nur die Katzen, sondern auch die Schweine durch die Stufen in den Keller krochen.

»Ja, ja, das sollte man«, antwortete Ilja Iwanowitsch besorgt und ging sofort die Stiege besichtigen.

»Sie wackelt wirklich!« sagte er und brachte die Stiege mit dem Fuß wie eine Wiege ins Wackeln.

»Sie hat ja auch damals gewackelt, als man sie gemacht hat«, bemerkte jemand.

»Und hat es etwas geschadet?« erwiderte Oblomow; »sie ist nicht auseinandergefallen, obschon sie seit sechzehn Jahren nicht repariert wurde. Luka hat sie damals gut gebaut! ... Das war ein Zimmermann, wie er sein soll ... er ist schon tot – Gott hab' ihn selig! Heutzutage sind die Leute nichts mehr wert; sie können so etwas nicht nachmachen.«

Und er wandte seine Augen zur Seite ab, und die Stiege soll, wie man sagt, bis heute wackeln und noch immer nicht zerfallen sein.

Luka scheint wirklich ein tüchtiger Zimmermann gewesen zu sein.

Man muß den Herrschaften übrigens Gerechtigkeit widerfahren lassen. Manchmal konnten sie bei einem Unglück oder einer Unannehmlichkeit in große Unruhe und sogar in Erregung und Zorn geraten. Wie hatte man nur das oder jenes vernachlässigen und beim alten lassen können? Man muß gleich irgendwelche Maßregeln aufbieten. Und man spricht von nichts anderem als nur davon, wie man zum Beispiel die Brücke, die über den Graben führt, reparieren soll oder wie der Garten an einer Stelle zu umzäunen ist, damit das Vieh die Bäume nicht schädigt, denn ein Teil des Geheges ist ganz auf der Erde. Ilja Iwanowitsch ließ sich durch seine Sorgsamkeit sogar so weit hinreißen, daß er einmal im Garten herumspazierend das Gehege eigenhändig ächzend und stöhnend in die Höhe hob und dem Gärtner befahl, schnell zwei Pfähle hinzustellen. Dank dieser Anordnung Oblomows blieb das Gehege den ganzen Sommer so stehen und wurde erst im Winter durch den Schnee wieder umgeworfen. Endlich ging man sogar so weit, auf die Brücke drei neue Bretter zu legen, gleich nachdem Antip mit dem Pferd und dem Faß in den Graben gefallen war. Er war nach dem Fall noch nicht einmal ganz hergestellt, als die Brücke schon wieder neu hergerichtet war. Die Kühe und Ziegen hatten durch den neuen Fall des Geheges im Garten auch nicht viel gewonnen. Sie hatten nur die Johannisbeerstauden abgenagt und erst den zehnten Lindenbaum in Angriff genommen, ohne noch die Apfelbäume erreicht zu haben, als der Befehl erlassen wurde, das Gehege ordentlich wieder herzustellen und es sogar mit einer Rinne zu umgeben. Die beiden Kühe und die Ziege, die auf frischer Tat ertappt wurden, kriegten ihr Teil ab. Man bleute ihnen gehörig die Seiten durch!

Ilja Iljitsch träumte noch von dem großen dunklen Salon im Elternhause mit alten Lehnstühlen aus Erlenholz, die immer mit Überzügen bedeckt waren, mit einem ungeheuren, plumpen und harten Sofa, das mit verblaßtem, fleckigem, blauem Berkan gepolstert war, und mit einem großen Lederfauteuil.

Der lange Winterabend beginnt. Die Mutter sitzt mit eingezogenen Füßen auf dem Sofa und strickt träge einen Kinderstrumpf, indem sie gähnt und sich ab und zu mit der Stricknadel den Kopf kratzt. Neben ihr sitzen Nastassja Iwanowna und Pjelageja Ignatjewna, stecken ihre Nasen in die Arbeit und nähen fleißig etwas zu den Feiertagen für Iljuscha oder für seinen Vater oder für sich selbst. Der Vater geht mit den Händen auf dem Rücken im Zimmer auf und ab und ist dadurch sehr befriedigt, oder er setzt sich in einen Lehnstuhl und beginnt, nachdem er eine Weile gesessen hat, wieder herumzugehen, aufmerksam dem Widerhall seiner Schritte lauschend. Dann schnupft er Tabak, schneuzt sich und schnupft wieder. Im Zimmer brennt dunkel eine einzige Unschlittkerze, und auch das wird nur an Winter- und Herbstabenden zugelassen. An den Sommerabenden bestrebten sich alle, ohne Kerzen, bei Tageslicht, schlafen zu gehen und aufzustehen. Das wurde teils aus Gewohnheit, teils aus Sparsamkeitsrücksichten getan. Die Oblomower geizten sehr mit jedem Gegenstand, der nicht im Hause erzeugt, sondern durch Kauf erworben wurde. Sie würden sehr gastfreundlich einen prachtvollen Truthahn oder ein Dutzend junger Hühner zur Ankunft eines Gastes abstechen, würden aber keine überflüssige Rosine in die Speisen legen und erblassen, wenn derselbe Gast sich eigenmächtig das Glas mit Wein vollschenkte. Übrigens kam dort ein solches Vergehen fast gar nicht vor; das tat höchstens irgend ein Waghals, ein in der öffentlichen Meinung verlorener Mensch; ein solcher Gast wurde gar nicht in den Hof hereingelassen. Nein, dort herrschten andere Sitten. Der Gast rührte dort nichts an, bevor er dreimal genötigt worden war. Er wußte sehr wohl, daß das einmalige Nötigen eher die Bitte einschloß, vom angebotenen Gericht oder Wein abzustehen, als sie zu kosten. Man zündete auch nicht für einen jeden zwei Kerzen an. Die Kerzen wurden in der Stadt für bares Geld gekauft und wurden wie alle gekauften Sachen von der Hausfrau selbst hinter Schloß und Riegel aufbewahrt. Die Stummeln wurden sorgfältig gezählt und aufgehoben. Überhaupt liebte man es dort nicht, Geld auszugeben, und so notwendig man einen Gegenstand auch brauchte, gab man dafür nur mit großem Herzweh und nur dann Geld aus, wenn die Ausgabe unbedeutend war. Das Bezahlen eines großen Geldbetrages wurde von Stöhnen, Weinen und Schimpfen begleitet. Die Oblomower willigten eher ein, Unbequemlichkeiten aller Art zu ertragen, und gewöhnten sich sogar, diese nicht mehr als solche anzusehen, als Geld auszugeben. Darum ist das Sofa im Salon längst fleckig, darum heißt auch Ilja Iwanowitschs Fauteuil nur Ledersessel, in Wirklichkeit besteht es halb aus Bast und halb aus Stricken; vom Leder ist nur auf der Lehne ein Fleck geblieben, und das übrige ist schon vor fünf Jahren in Stücke zerfallen und hat sich abgeschält; darum ist vielleicht das Haustor noch immer schief und wackelt die Stiege. Wenn man aber für etwas, es mochte noch so notwendig sein, auf einmal zwei-, drei-, fünfhundert Rubel zahlen sollte, erschien ihnen das wie ein Selbstmord. Als der alte Oblomow hörte, daß einer der jungen Gutsbesitzer der Umgegend nach Moskau gereist war und dort für ein Dutzend Hemden dreihundert Rubel, für Stiefel fünfundzwanzig Rubel und für eine Weste zur Hochzeit vierzig Rubel gezahlt hatte, schlug er ein Kreuz und sagte schnell, man müsse einen solchen Kerl ins Gefängnis stecken. Sie waren überhaupt für die Theorien der Sozialwissenschaft von der Notwendigkeit einer raschen und lebhaften Zirkulation des Kapitals, von der verstärkten Produktivität und dem Austausch der Produkte taub. Sie glaubten in ihrer Einfalt, die einzige Verwendung des Kapitals wäre, es im Koffer liegen zu lassen, was sie denn auch taten.

Auf den Lehnstühlen des Salons sitzen und schnaufen in verschiedenen Stellungen die Bewohner oder die gewohnten Gäste des Hauses. Unter den Anwesenden herrscht zum größten Teil tiefes Schweigen. Man sieht einander täglich, die gegenseitigen geistigen Schätze sind erschöpft und erforscht, und von außen erhält man nur wenig Neues. Es ist still; man hört nur die Schritte der schweren, zu Hause angefertigten Stiefel Ilja Iwanowitschs, außerdem tickt das Pendel der Wanduhr dumpf im Gehäuse, und der von Zeit zu Zeit von Pjelageja Ignatjewna oder von Nastassja Iwanowna mit der Hand oder mit den Zähnen abgerissene Faden stört die tiefe Stille. So vergeht manchmal eine halbe Stunde, die durch nichts anderes als durch das laute Gähnen von irgend jemand unterbrochen wird, der dann den Mund bekreuzigt und sagt: »Der Herr erbarme sich!« Nach ihm gähnt sein Nachbar, dann öffnet der nächste langsam, wie auf ein Kommando, den Mund und so weiter; das ansteckende Spiel der Luft in der Lunge macht die ganze Runde, wobei manchem die Tränen kommen. Oder Ilja Iwanowitsch tritt ans Fenster, blickt hinaus und sagt mit einiger Verwunderung: »Es ist erst fünf Uhr, und draußen ist es schon so dunkel!«

»Ja«, antwortet irgend jemand, »um diese Zeit ist es immer dunkel; jetzt beginnen die langen Abende.«

Und im Frühling wundert und freut man sich, daß lange Tage beginnen. Wenn man sie gefragt hätte, wozu sie diese langen Tage brauchen, würden sie es selber nicht gewußt haben.

Und dann schweigen sie wieder. Dann beginnt irgendwer die Kerze zu putzen und löscht sie plötzlich aus – alles kommt in Bewegung: »Das bedeutet einen unverhofften Gast!« sagt sicher jemand. Manchmal wird dieser Vorfall zum Ausgangspunkt eines Gespräches.

»Was könnte das für ein Gast sein?« sagte die Hausfrau, »vielleicht gar Nastassja Fadjewna? Ach, das wäre schön! Aber nein: sie wird vor dem Feiertag nicht kommen. Das wäre eine Freude! Wie wir uns da umarmen und zusammen weinen würden. Wir würden die Früh- und die Mittagsmesse zusammen halten ... Ich kann ihr aber nicht nachkommen! Obwohl ich jünger bin, kann ich nicht so lange stehen!«

»Wann ist sie denn von uns abgereist?« fragte Ilja Iwanowitsch, »mir scheint, nach dem Eliastag.«

»Was du sagst, Ilja Iwanowitsch! Du verwechselst immer alles. Sie hat nicht einmal den Sjemik2 abgewartet!« verbesserte die Frau.

»Mir scheint, sie war hier zu den Petrifasten«, entgegnete Ilja Iwanowitsch.

»Du machst es immer so!« sagte die Frau vorwurfsvoll, »du streitest und stellst dich dabei ganz bloß ...«

»Warum soll sie denn nicht zu den Petrifasten hiergewesen sein? Mat hat damals noch immer Pirogen mit Pilzen gebacken, sie liebt das ...«

»Das war ja Marja Onissimowna. Die liebt Pirogen mit Pilzen – wieso weißt du das nicht mehr? Und auch Marja Onissimowna war nicht bis zum Eliastag, sondern bis zum heiligen Prochor und Nikonor bei uns auf Besuch.«

Sie berechneten die Zeit nach den Feiertagen, den Jahreszeiten, nach den verschiedenen Ereignissen im Hause und in der Familie, ohne jemals auf den Monat oder das Datum hinzuweisen. Das geschah teilweise auch deshalb, weil außer Oblomow selbst alle anderen sowohl die Benennung der Monate als auch die Reihenfolge des Datums verwechselten.

Der besiegte Ilja Iwanowitsch schweigt, und die ganze Gesellschaft beginnt wieder vor sich hinzudämmern. Iljuscha, der sich hinter den Rücken der Mutter verkrochen hat, döselt auch vor sich hin oder schläft manchmal ganz ein.

»Ja«, sagt dann jemand von den Gästen tief seufzend, »Marja Onissimownas Mann, der verstorbene Wassilij Fomitsch, war, Gott habe ihn selig, so gesund und ist doch gestorben! Er hat nicht einmal sechzig Jahre gelebt; so einer hätte hundert Jahre leben sollen!«

»Wir werden alle sterben; wann ein jeder von uns sterben wird, das ist Gottes Wille!« entgegnet Pjelageja Ignatjewna seufzend. »Die einen sterben, und bei Chlopows soll man kaum Zeit zum Taufen haben; man sagt, Anna Andrjewna ist schon wieder niedergekommen – zum sechstenmal.«

»Jetzt geht es noch«, sagte die Hausfrau, »wieviel Scherereien wird's aber erst geben, wenn ihr Bruder heiratet und Kinder bekommt! Auch die jüngeren wachsen heran und müssen auch heiraten; man muß dort die Töchter verheiraten, und wo gibt es hier Bräutigame? Jetzt wollen ja alle eine Mitgift und noch dazu in barem Geld ...«

»Worüber sprecht ihr?« fragte Ilja Iwanowitsch herantretend.

»Wir sprechen darüber, daß ...« und man wiederholt ihm das Gespräch.

»So ist das menschliche Leben!« bemerkt Ilja Iwanowitsch belehrend, »der eine stirbt, der zweite wird geboren, der dritte heiratet, und wir werden immer älter. Ein Tag gleicht ebensowenig dem andern wie ein Jahr dem andern! Warum ist das so? Wie schön wäre es, wenn jeder Tag so wie der gestrige und gestern wie morgen wäre! ... Es ist traurig, wenn man darüber nachdenkt.«

»Der Alte altert und der Junge wächst«, sagte jemand in der Ecke mit schläfriger Stimme.

»Man muß mehr zu Gott beten und über nichts nachdenken!« bemerkte die Hausfrau streng.

»Das ist wahr, das ist wahr«, antwortete Ilja Iwanowitsch schnell und ängstlich, nachdem er zu philosophieren versucht hatte, und begann wieder auf und ab zu gehen.

Man schweigt wieder lange Zeit; es ist nur das Zischen des durch die Nadel hin und her gezogenen Zwirns zu hören. Manchmal hob die Hausfrau das Schweigen auf.

»Ja, es ist draußen dunkel«, sagt sie. »Wenn wir, so Gott will, die Feiertage erleben, werden die Verwandten auf Besuch kommen, dann wird es lustig sein und die Abende werden unmerklich vergehen. Wie lustig es wäre, wenn Malanja Pjetrowna käme! Was sie für Einfälle hat! Zinn gießen, Wachs schmelzen und vor das Haustor laufen; sie bringt mir alle Mädchen auf Abwege. Sie denkt sich allerlei Spiele aus ... so ist sie!«

»Ja, sie ist eine Weltdame!« bemerkte jemand der Anwesenden. »Vor drei Jahren ist es ihr auch eingefallen, Bergrutschen zu veranstalten; damals als Luka Sawitsch sich die Braue zerschlagen hat ...«

Plötzlich kam Leben in alle, man blickte Luka Sawitsch an und brach in Gelächter aus.

»Wie ist denn das mit dir geschehen, Luka Sawitsch? Nun, erzähle einmal!« sagte Ilja Iwanowitsch und schüttelte sich vor Lachen.

Und alle fahren fort zu lachen; Iljuscha ist erwacht und lacht auch mit.

»Was ist denn da zu erzählen?« sagte der verlegene Luka Sawitsch. »Das alles hat Alexej Naumitsch sich ausgedacht: es ist ja gar nichts geschehen!«

»Wieso denn?« entgegneten alle im Chor. »Wieso soll denn nichts geschehen sein? Sind wir denn gestorben? ... Und was ist denn mit der Stirn? Es ist darauf noch bis jetzt eine Schramme zu sehen ...«

Und man lachte wieder.

»Warum lacht ihr denn?« versuchte Luka Sawitsch während der Lachpause zu sagen. – »Es wäre ja sonst ... nichts geschehen ... aber Wassjka, dieser Schuft ... hat mir einen alten Handschlitten gegeben ... er ist unter mir auseinandergegangen, und da ist's geschehen ...«

Allgemeines Gelächter übertönte seine Stimme. Er bestrebte sich vergeblich, die Geschichte seines Falles zu Ende zu erzählen. Das Lachen hatte die ganze Gesellschaft erfaßt, drang ins Vorzimmer und in die Mägdekammer, bemächtigte sich des ganzen Hauses, alle erinnerten sich an den komischen Vorfall, alle lachen lange, auf einmal und unbeschreiblich wie die olympischen Götter. Sowie sie aufzuhören beginnen, fängt irgend jemand wieder von neuem an – und dann geht's wieder los. Endlich gelingt es ihnen nach großer Mühe, sich zu beruhigen.

»Nun, wirst du zu den Feiertagen wieder Schlitten rutschen?« fragt Ilja Iwanowitsch nach einer Weile.

Jetzt kam ein neuer Lachausbruch, der zehn Minuten anhielt. »Soll man vielleicht Antipka sagen, er möchte zu den Fasten einen Berg machen?« sagt Oblomow von neuem. »Luka Sawitsch soll ein großer Liebhaber davon sein; er kann's gar nicht erwarten ...«

Das Lachen der ganzen Gesellschaft ließ ihn nicht ausreden.

»Ist denn jener ... Handschlitten noch ganz?« sagte einer der Anwesenden durch das Lachen hindurch. Ein erneutes Gelächter.

Alle lachten lange und begannen endlich nach und nach zu verstummen; der eine trocknete sich die Tränen, der zweite schneuzte sich, der dritte hustete und spuckte wütend und sagte dabei mit Mühe:

»Ach du mein Gott! Der Schleim erstickt mich ganz ... Wie er uns damals lachen gemacht hat! Bei Gott, das war eine Sünde! Wie er mit dem Rücken nach oben gelegen hat, und die Rockschöße waren auseinander ...«

Hierauf erfolgte der endgültig letzte, andauerndste Lachanfall, und dann schwiegen alle. Der eine seufzte, der andere gähnte laut mit einem Spruche, und alles versenkte sich in Schweigen.

Man hörte wie früher nur das Ticken des Pendels, das Klopfen von Oblomows Stiefeln und das leise Knistern des abgebissenen Fadens. Plötzlich blieb Ilja Iwanowitsch mit beunruhigter Miene mitten im Zimmer stehen und griff sich an die Nasenspitze.

»Was ist denn das für ein Unglück? Schau einmal!« sagte er. »Es wird eine Leiche sein; mir juckt immer die Nasenspitze ...«

»Ach du mein Gott!« sagte die Frau, die Hände zusammenschlagend. »Was für eine Leiche soll denn das sein, wenn die Nasenspitze juckt? Wenn die Nasenwurzel juckt, dann kommt eine Leiche. Wie vergeßlich du bist, Ilja Iwanowitsch, Gott sei mit dir! Wenn du das vor irgend jemand, zum Beispiel vor Gästen, sagtest, wäre das eine Schande.«

»Was bedeutet es denn, wenn die Nasenspitze juckt?« fragte Ilja Iwanowitsch verlegen.

»Daß du ins Glas schauen wirst. Wie kann man denn sagen, daß es eine Leiche bedeutet?«

»Ich verwechsle das immer!« sagte Ilja Iwanowitsch. »Wie soll man sich denn das alles merken? Bald juckt die Nase an der Seite, bald an der Spitze, bald an den Brauen ...«

»An der Seite«, fing Pjelageja Iwanowna an, »bedeutet Neuigkeiten, wenn die Brauen jucken, kommen Tränen, an der Stirne bedeutet es, daß man sich verneigen wird, wenn sie an der rechten Seite juckt, vor einem Manne, wenn es die linke Seite ist, vor einer Frau; wenn die Ohren jucken, kommt Regen, die Lippen bedeuten Küsse, der Schnurrbart, daß man geschenkte Leckereien essen wird, der Ellbogen, daß man an einem neuen Ort schlafen wird, die Sohlen – eine Reise ...«

»Nun, Pjelageja Iwanowna, du bist ein Hauptkerl!« sagte Ilja Iwanowitsch. »Oder, wenn die Butter billig wird, dann juckt vielleicht der Nacken ...«

Die Damen begannen zu lachen und zu flüstern; mancher von den Herren lächelte; es wurde wieder ein Lachausbruch vorbereitet, doch in diesem Augenblick ertönte es zugleich wie das Knurren eines Hundes und das Fauchen einer Katze, wenn sie bereit sind, aufeinander loszustürzen. Das war das Schlagen einer Uhr.

»Aber es ist ja schon neun Uhr!« sagte Ilja Iwanowitsch mit freudigem Erstaunen. »So was, man merkt ja gar nicht, wie die Zeit vergeht. Heh, Wassjka! Wanjka! Motjka!«

Es erschienen drei verschlafene Gesichter.

»Warum deckt ihr nicht die Tische?« fragte Oblomow erstaunt und ärgerlich. »Ihr denkt gar nicht an die Herrschaft! Nun, was steht ihr da? Schnell den Schnaps her!«

»Darum hat die Nasenspitze gejuckt!« sagte Pjelageja Iwanowna lebhaft. »Sie werden Schnaps trinken und dabei ins Glas schauen.«

Nach dem Abendbrot gehen alle in ihre Betten, nachdem sie einander geküßt und bekreuzigt haben, und der Schlaf herrscht über den sorglosen Häuptern.

Ilja Iljitsch träumt nicht von einem und nicht von zwei solchen Abenden, sondern von einer Reihe von Wochen, Monaten und Jahren, während welcher die Tage und Abende auf diese Weise verlebt wurden. Nichts störte die Eintönigkeit dieses Lebens, die den Oblomowern nicht zur Last fiel, da sie sich gar keine andere Lebensweise vorstellten; und selbst wenn sie es könnten, würden sie sich entsetzt davon abwenden. Sie würden kein anderes Leben wünschen und lieben. Es täte ihnen leid, wenn die Verhältnisse ihnen Veränderungen aufzwängen, was für welche es auch sein mochten. An ihnen würde Bangigkeit nagen, wenn das Morgen nicht dem Heute und das Übermorgen nicht dem Morgen ähnlich wäre. Wozu brauchen sie Ereignisse, Veränderungen, Zufälle, welche die anderen fordern? Mögen die anderen den Brei essen, den sie sich eingebrockt haben, aber sie, die Oblomower, geht das alles nichts an. Die anderen mochten leben, wie sie wollten. Sind doch die Zufälle selbst dann beunruhigend, wenn sie Gewinn bringen; sie erfordern Scherereien, Sorgen, man muß herumrennen, darf nicht auf einer Stelle sitzenbleiben, muß handeln oder schreiben, sich, mit einem Wort, bewegen; ist denn das ein Spaß! Sie haben ganze Jahrzehnte lang geschnauft, geschlummert, gegähnt oder sind bei den Äußerungen ihres ländlichen Humors in gutmütiges Gelächter ausgebrochen oder haben sich zu einer Runde versammelt und erzählt, was einem jeden von ihnen geträumt hat. Wenn der Traum schaurig war, sannen alle nach und fürchteten sich ernstlich; wenn er prophetisch war, freuten sich alle aufrichtig oder waren betrübt, je nachdem, ob sie etwas Trauriges oder Trostreiches im Traume gesehen hatten. Wenn der Traum die Erfüllung irgendeines Vorzeichens erforderte, wurden diesbezüglich energische Maßregeln getroffen. Oder man spielte Schwarzen Peter, Meine Tante – deine Tante und an den Feiertagen mit den Gästen Boston; man legte auch Karten, indem man den Cœur-König und die Treff-Dame zum Mittelpunkt nahm und eine Heirat wahrsagte. Manchmal kam irgendeine Natalja Fadjewna für eine oder zwei Wochen auf Besuch. Zuerst nahmen die Alten die ganze Umgegend durch, wie ein jeder lebte und was er tat; sie drangen nicht nur in die Familienverhältnisse, in das Leben hinter den Kulissen, sondern auch in die geheimen Gedanken und Vorsätze, in das Innere der Seele eines jeden ein; sie beschimpften und verurteilten die Unwürdigen, besonders die untreuen Männer, zählten dann die verschiedenen Ereignisse auf: Namenstage, Taufen, Geburtstage, wer womit bewirtet hat, wer eingeladen war und wer nicht. Dadurch ermüdet, beginnen sie sich alle ihre neuen Kleidungsstücke zu zeigen, die Kleider, Mäntel, sogar die Unterröcke und die Strümpfe. Die Hausfrau prahlt mit irgendwelchen Leinenstücken, mit Zwirn und Spitzen häuslicher Arbeit. Doch auch diese Unterhaltung erschöpft sich. Dann nimmt man Kaffee, Tee und Eingesottenes zu Hilfe. Und zuletzt geht man zum Schweigen über. Man sitzt lange da, blickt einander an und seufzt ab und zu tief auf. Manchmal beginnt eine von ihnen zu weinen. »Was hast du, Mütterchen?« fragte eine andere beunruhigt.

»Ach, Täubchen, es ist traurig!« antwortet der Gast tief seufzend. »Wir Unglücklichen haben Gott erzürnt. Es wird nichts Gutes dabei herauskommen.« – »Ach, Liebe, jage uns keine Furcht ein!« unterbricht die Hausfrau sie. – »Ja, ja«, fährt jene fort, »es kommen die letzten Tage; ein Volk wird sich gegen ein anderes erheben, ein Reich gegen ein anderes ... es kommt der Weltuntergang!« spricht endlich Natalja Fadjewna zu Ende, und beide weinen bitterlich. Natalja Fadjewna hat keinerlei Grund, eine solche Annahme zu machen, niemand hat sich gegen einen anderen erhoben, es hat in jenem Jahre nicht einmal einen Kometen gegeben; aber die alten Frauen haben zuweilen dunkle Ahnungen.

Manchmal wurde dieser Zeitvertreib durch irgendeinen unerwarteten Zufall gestört; wenn zum Beispiel im ganzen Hause klein und groß an Kohlendunst erkrankte. Von anderen Krankheiten hörte man im Hause oder im Dorfe kaum jemals; höchstens daß jemand sich im Dunkeln an einem Pfahl stieß oder vom Heuboden herabrutschte oder daß vom Dach ein Brett herabfiel und jemand auf den Kopf traf. Doch das alles kam selten vor, und gegen solche Zufälle wurden bewährte Hausmittel angewandt; die verletzte Stelle wurde mit Flußschwamm und Bertram eingerieben. Man gab Weihwasser zu trinken oder sagte ein Sprüchlein – und alles wurde wieder gut. Doch der Kohlendunst verursachte ihnen oft Beschwerden. Dann wälzten sich alle auf den Betten herum; man hörte ein Ächzen und Stöhnen; der eine belegte sich den Kopf mit Gurken und verband ihn sich mit dem Handtuch, der andere legte sich Moosbeeren in die Ohren und roch Meerrettich, der dritte ging im Hemd in den Frost hinaus, der vierte lag einfach bewußtlos am Fußboden herum. Das kam periodisch ein- oder zweimal im Monat vor, denn man liebte es nicht, die Wärme unnütz zum Schornstein hinauszulassen, und machte die Öfen schon zu, wenn darin noch solche Feuerzungen sprühten wie in »Robert der Teufel«. Man konnte keinen einzigen Ofen und keine einzige Ofenbank berühren, ohne daß man Blasen bekam.

Aber einmal wurde die Eintönigkeit ihres Lebens durch einen wahrhaft unverhofften Vorfall gestört. Als alle vom schweren Mittagessen ausgeruht hatten und sich zum Tee versammelten, kam plötzlich ein aus der Stadt zurückgekehrter Bauer herein, machte sich lange mit seinem Brustlatz zu schaffen und zog endlich einen zerdrückten, an Ilja Iwanowitsch Oblomow gerichteten Brief hervor. Alle wurden starr; die Hausfrau wechselte sogar ihre Gesichtsfarbe; aller Augen richteten sich und aller Nasen reckten sich nach dem Brief hin.

»Wie sonderbar! Von wem ist das?« sagte endlich die Gnädige, als sie wieder zur Besinnung gekommen war.

Oblomow ergriff den Brief und drehte ihn verblüfft in den Händen herum, ohne zu wissen, was er damit anfangen sollte.

»Wo hast du das her?« fragte er den Bauer. »Wer hat dir's gegeben?«

»Im Gasthof, wo ich in der Stadt abgestiegen bin«, antwortete der Bauer. »Man ist zweimal von der Post fragen gekommen, ob keine Bauern aus Oblomowka da sind; es wäre ein Brief für den gnädigen Herrn da.«

»Nun? ...«

»Nun, ich hab' mich zuerst versteckt, und der Soldat ist mit dem Brief fortgegangen. Aber der Küster aus Werchljowo hat mich gesehen und hat's gesagt. Man ist zum zweitenmal hingekommen. Als sie zum zweitenmal gekommen sind, haben sie geschimpft und mir den Brief gegeben und haben noch fünf Kopeken von mir genommen. Ich hab' gefragt, was ich damit tun soll, wo ich ihn hingeben soll. Da haben sie es Eurem Wohlgeboren abzugeben befohlen.«

»Du hättest ihn nicht nehmen sollen«, bemerkte die Gnädige unzufrieden.

»Ich wollte ihn ja gar nicht nehmen. Wozu brauchen wir denn einen Brief? – Wir brauchen keinen. Man hat uns nicht befohlen, Briefe anzunehmen, ich trau' mich nicht; geht selbst mit dem Brief hin! Da hat der Soldat aber sehr geschimpft; er wollte sich bei der Obrigkeit beklagen; da hab' ich ihn genommen.«

»Dummkopf!« sagte die Gnädige.

»Von wem kann er denn sein?« sagte Oblomow nachdenklich, die Adresse betrachtend. »Die Handschrift kommt mir bekannt vor, wirklich!«

Und der Brief wanderte aus einer Hand in die andere. Jetzt begann man Voraussetzungen und Annahmen zu machen, von wem und worüber er sein konnte. Endlich waren alle ganz ratlos. Ilja Iwanowitsch befahl, seine Brille zu holen; man suchte sie anderthalb Stunden. Er setzte sie auf und dachte schon daran, den Brief zu öffnen.

»Laß das, Ilja Iwanowitsch, öffne ihn nicht«, hielt ihn seine Frau ängstlich auf. »Wer weiß, was das für ein Brief ist! Vielleicht ist etwas Schreckliches, irgendein Unglück darin. Man kann ja vom heutigen Volk alles erwarten! Du wirst noch morgen oder übermorgen früh genug alles erfahren – er läuft dir ja nicht davon.«

Und der Brief wurde mit der Brille hinter Schloß und Riegel aufbewahrt. Alle gaben sich nun mit dem Tee ab. Der Brief hätte dort jahrelang liegenbleiben können, wenn er nicht ein zu außergewöhnliches Ereignis gewesen wäre und die Oblomower nicht in solchen Aufruhr versetzt hätte. Beim Tee und auch am nächsten Tage wurde von nichts anderem als von dem Brief gesprochen. Endlich ertrugen sie es nicht länger, versammelten sich am vierten Tage und öffneten ihn ängstlich. Oblomow blickte auf die Unterschrift.

»Radischtschew«, las er. »Ah, das ist ja von Philipp Matweitsch!«

»Ah so! Von dem!« ertönte es von allen Seiten. »Er lebt also noch immer? Ist er noch nicht gestorben! Nun, Gott sei Dank! Was schreibt er?«

Oblomow begann laut vorzulesen. Es ergab sich, daß Philipp Matweitsch ihn das Rezept des Bieres zu schicken bat, das in Oblomowka besonders gut gebraut wurde.

»Man muß es ihm schicken!« sagten alle, »und ihm einen Brief schreiben.«

So vergingen etwa zwei Wochen.

»Man muß ihm schreiben!« sagte Ilja Iwanowitsch wiederholt zu seiner Frau. »Wo ist denn das Rezept?«

»Ja, wo ist es?« antwortete die Frau. »Man muß es erst finden. Aber warum hast du es so eilig? Wenn Gott uns den Feiertag erleben läßt und wir zu fasten aufhören, dann wirst du ihm schreiben; es ist auch dann noch Zeit ...«

»Das ist wahr, ich schreibe ihm zu den Feiertagen«, sagte Ilja Iwanowitsch.

Zu den Feiertagen kam man wieder auf den Brief zu sprechen. Ilja Iwanowitsch machte endgültig Anstalten, zu schreiben. Er zog sich in das Arbeitszimmer zurück, nahm die Brille und setzte sich an den Tisch. Im Hause herrschte tiefe Stille; es wurde den Dienstboten zu stampfen und zu lärmen verboten. »Der gnädige Herr schreibt!« sagten alle mit so ängstlicher und ehrfurchtsvoller Stimme, mit der man spricht, wenn im Hause ein Toter ist. Kaum hatte er langsam, schief, mit zitternder Hand und mit einer Vorsicht, als hätte er etwas Gefährliches auszuführen, »Geehrter Herr« niedergeschrieben, als seine Frau erschien.

»Ich habe überall gesucht, das Rezept ist nicht da«, sagte sie. »Ich muß noch im Schlafzimmer im Schrank nachsehen. Und wie soll man denn den Brief schicken?«

»Mit der Post«, antwortete Ilja Iwanowitsch.

»Und was kostet es dahin?«

Oblomow suchte einen alten Kalender hervor.

»Vierzig Kopeken«, sagte er.

»Da soll man nun vierzig Kopeken für Dummheiten ausgeben«, bemerkte sie, »wir wollen lieber warten, bis es aus der Stadt eine Gelegenheit dorthin gibt. Sage den Bauern, sie sollen sich danach erkundigen.«

»Es ist wirklich wahr, wir schicken ihn lieber, wenn eine Gelegenheit da ist«, sagte Ilja Iwanowitsch, kratzte mit der Feder auf dem Tisch herum, steckte sie in das Tintenfaß und nahm die Brille ab.

»Das ist in der Tat besser«, schloß er, »der Brief läuft ja nicht davon; wir werden noch Zeit haben, ihn fortzuschicken.«

Es ist unbekannt, ob Philipp Matweitsch zu dem Rezept gelangt ist.

Ilja Iwanowitsch nahm manchmal auch ein Buch in die Hand – es war ihm ganz gleichgültig, was für eins. Er kam gar nicht auf den Gedanken, daß das Lesen ein tatsächliches Bedürfnis sein könne, sondern hielt es für einen Luxus, für ein Ding, das man leicht entbehren konnte, ebenso wie man ein Bild an der Wand haben kann oder auch nicht zu haben braucht oder spazierengehen oder auch nicht gehen kann; infolgedessen war es ihm ganz gleichgültig, was das für ein Buch war, er betrachtete es als einen Gegenstand, der zur Zerstreuung bestimmt ist, wenn man sich langweilt oder nichts zu tun hat. »Ich habe schon lange nichts gelesen«, sagt er oder ändert den Satz und sagt, »ich werde einmal ein Buch lesen«, oder er sieht einfach im Vorbeigehen zufällig das ihm vom Bruder überlassene Häuflein Bücher und nimmt, ohne zu wählen, was ihm unter die Hand kommt. Ob er Golikow, »Das neueste Traumbuch«, Cheraskows »Rosiade«, eine Tragödie von Sumarokow oder eine vorjährige Zeitungsnummer hervorzieht, er liest alles mit gleichem Vergnügen, indem er von Zeit zu Zeit bemerkt: »Schau nur, was er sich ausgedacht hat! So ein Schelm! Ach, daß dich der Kuckuck!« Diese Ausrufe bezogen sich auf die Autoren, deren Beruf in sei nen Augen gar keine Achtung verdiente; er hatte sich den Schriftstellern gegenüber sogar jene teilweise Verachtung angeeignet, mit der man sie in früheren Zeiten belegt hat. Er und viele andere hielten den Dichter für einen lustigen Kumpan, einen Bummler, Trunkenbold und Spaßvogel in der Art eines Seiltänzers.

Manchmal las er auch aus den vorjährigen Zeitungen laut vor oder teilte die Nachrichten auf folgende Weise mit:

»Man schreibt da aus Haag«, sagt er, »daß S.M. der König nach der kurzen Reise wohlbehalten in das Schloß zurückzukehren geruht hat«, und sieht dabei alle Zuhörer über die Brille an. Oder: »In Wien hat der und der Botschafter sein Kreditivschreiben eingehändigt. Und da schreibt man«, las er noch, »daß man die Werke der Frau Genlis ins Russische übersetzt hat.«

»Man übersetzt wohl immer nur deswegen«, bemerkt einer der Zuhörer, ein kleiner Gutsbesitzer, »um unsereinem, den Edelleuten, das Geld herauszulocken.«

Und der arme Iljuscha mußte immer zu Stolz fahren, um zu lernen. Sowie er am Montag erwacht, erfaßt ihn schon Bangigkeit. Er hört die laute Stimme Wassjkas, der von der Stiege herunterschreit:

»Antipe! spann den Schecken an! Der junge Herr fährt zum Deutschen hin.«

Sein Herz erbebt. Er geht traurig zur Mutter hin. Diese kennt schon den Grund und beginnt die Pille zu vergolden, indem sie selbst heimlich über die Trennung auf eine ganze Woche seufzt. Man weiß nicht, was alles man ihm an dem Morgen vorsetzen soll, man bäckt für ihn Semmeln und Kringel, gibt ihm Gesalzenes, Gebackenes, Gesottenes, verschiedene Obstmarmeladen und allerlei andere trockene und flüssige Leckereien und selbst Lebensmittel mit. Das alles geschieht in der Voraussetzung, daß man beim Deutschen nicht zu reichlich gefüttert wird.

»Dort wird man nicht fett«, sagten die Oblomower; »zu Mittag geben sie Suppe, Braten und Kartoffeln, zum Tee Butter und zum Abendbrot gibt es leere Schüsseln.«

Übrigens träumte Ilja Iljitsch meistens von den Montagen, an denen er Wassjkas Stimme, die den Schecken einzuspannen befahl, nicht hörte und an denen die Mutter ihn beim Tee mit einem Lächeln und mit der angenehmen Nachricht empfing:

»Heute fährst du nicht; am Donnerstag ist ein großer Feiertag; lohnt es sich denn für drei Tage hin- und herzufahren?«

Oder sie erklärt ihm plötzlich, daß jetzt die Gedenkwoche ist. »Jetzt hat man zum Lernen keine Zeit. Wir werden Pfannkuchen backen.«

Oder die Mutter blickt ihn auch Montagfrüh forschend an und sagt:

»Du hast trübe Augen. Bist du wohlauf?« und schüttelt den Kopf.

Der Schelm ist wohlauf wie ein Fisch im Wasser, aber er schweigt.

»Bleibe diese Woche zu Hause«, sagt sie, »und dann werden wir sehen, was Gott uns gibt.«

Und alle im Hause waren davon überzeugt, daß das Lernen und der Gedenk-Samstag nicht zusammentreffen dürfen oder daß ein Feiertag am Donnerstag ein unbezwingbares Hindernis für das Lernen während der ganzen Woche sei. Nur ab und zu brummte ein Diener oder eine Magd, die des jungen Herrn wegen geschimpft worden waren:

»Wart nur, du Tunichtgut! Wirst du schon bald zu deinem Deutschen abfahren?«

Ein anderes Mal erscheint plötzlich Antipka beim Deutschen auf dem bekannten Schecken am Anfang oder in der Mitte der Woche, um Ilja Iljitsch abzuholen.

»Es ist Marja Sawischna oder Natalja Fadjewna oder es sind die Kusowkows mit allen Kindern zu Besuch gekommen. Sie sollen also mit mir nach Hause fahren!«

Und Iljuscha bleibt drei Wochen lang zu Hause, und dann ist die Karwoche nicht mehr weit, oder es kommt ein Feiertag, oder jemand von der Familie beschließt, daß während der Thomaswoche nicht gelernt wird; dann bleiben nur noch zwei Wochen bis zum Sommer, und es lohnt sich nicht hinzufahren; im Sommer ruht der Deutsche selbst aus, so daß man das Lernen am besten bis zum Herbst verschiebt. Und, siehe da ... Ilja Iljitsch erholt sich in dem halben Jahre; und wie er während der Zeit gewachsen ist! Wie dick er geworden ist! Wie gut er schläft! Man kann ihn im Hause gar nicht genug bewundern und bemerkt dabei, daß das Kind mager und blaß ist, wenn es vom Deutschen zurückkehrt.

»Wie leicht kann ein Unglück geschehen!« sagten Vater und Mutter, »das Lernen läuft nicht davon, man kann sich aber keine Gesundheit kaufen; die Gesundheit ist das Teuerste im Leben. Er kommt vom Lernen wie aus einem Spital heraus; sein ganzes Fett geht verloren, er wird so mager ... und er ist auch so ein Wildfang; er möchte immer laufen!«

»Ja«, bemerkte der Vater, »das Lernen ist kein Spaß, es jagt einen jeden ins Bockshorn.«

Und die zärtlichen Eltern suchten nach einem neuen Vorwand, um den Sohn zu Hause zu behalten; es gebrach auch außer den Feiertagen nicht an Ausreden. Im Winter kam es ihnen zu kalt vor, in der Sommerhitze konnte man auch nicht fahren, manchmal regnete es auch, und im Herbst störte die Nässe. Manchmal kommt ihnen Antipka nicht ganz vertrauenswürdig vor; er ist nicht betrunken, schaut aber so wild drein; es könnte etwas zustoßen, er wird irgendwo steckenbleiben oder abstürzen.

Die Oblomows bestrebten sich übrigens, jeden Vorwand vor ihren eigenen Augen möglichst zu begründen, besonders aber Stolz gegenüber, der sowohl ihnen ins Gesicht wie auch hinter ihrem Rücken dieser Verzärtelung wegen mit Donnerwettern nicht geizte. Die Zeiten des Prostakows und Skotinins3 waren längst vorüber. Das Sprichwort: Lernen ist Licht, Unwissenheit Finsternis, wanderte schon durch die Flecken und Dörfer, zugleich mit den durch die Hausierer verbreiteten Büchern. Die Eltern begriffen den Vorteil der Bildung, aber nur den äußern. Sie sahen, daß alle Karriere machten, das heißt einen hohen Rang, Orden und Geld erlangten, und das nur durch Lernen; daß die alten Schreiber, die im Amt verknöcherten Sachkundigen, die bei ihren längst angenommenen Gewohnheiten, Kniffen und Gänsefüßchen gealtert waren, jetzt schlecht dran waren. Es verbreiteten sich drohende Gerüchte von der Notwendigkeit, nicht nur des Schreibens und Lesens kundig zu sein, sondern auch mit allerlei in diesen Kreisen unbekannten Wissenschaften vertraut zu sein. Zwischen einem Titularrat und einem Kollegienassessor hatte sich ein Abgrund aufgetan, der nur durch ein Diplom zu überbrücken war. Die alten Beamten, die als Gewohnheitstiere aufwuchsen und mit Bestechungsgeldern genährt wurden, begannen zu verschwinden. Viele, die noch nicht Zeit gehabt hatten zu sterben, wurden wegen Unverläßlichkeit fortgejagt, andere wurden dem Gerichte übergeben; am glücklichsten waren noch diejenigen zu nennen, welche mit der neuen Sachlage nichts zu tun haben wollten und sich mit heilen Knochen in ihre wohlerworbenen Nester verkrochen.

Die Oblomows sahen das alles und begriffen den Vorteil der Bildung, doch nur diesen augenscheinlichen Vorteil. Von dem inneren Bedürfnis, zu lernen, hatten sie noch einen sehr vagen und unbestimmten Begriff, und darum wollten sie für ihren Iljuscha einige glänzende Vorrechte erhaschen. Sie träumten von einer gestickten Uniform für ihn, stellten sich ihn als Bureauchef vor, und die Mutter verstieg sich sogar bis zum Gouverneur; doch sie wollten das alles irgendwie mit billigen Mitteln, mit allerlei Kniffen erreichen, die auf dem Wege zur Bildung und den Ehren verstreuten Steine und Hindernisse heimlich umgehen, ohne sich die Mühe zu geben, darüber zu springen, das heißt, sie wollten ihn nur soviel lernen lassen, daß weder die Seele noch der Körper erschöpft und die gesegnete, in der Kindheit erworbene Fülle verloren werde, bloß um die vorgeschriebene Form einzuhalten und irgend wie ein Zeugnis zu erlangen, in dem es heißen sollte, daß Iljuscha sich alle Wissenschaften und Fertigkeiten angeeignet habe.

Dieses ganze Oblomower Erziehungssystem fand in der Stolzschen Methode eine starke Opposition. Der Kampf war beiderseits sehr hartnäckig. Stolz traf seine Gegner offen, geradeaus und beharrlich, und sie wichen den Schlägen durch die erwähnten und durch andere Schliche aus. Der Sieg wurde nie entschieden. Die deutsche Beharrlichkeit hätte vielleicht über den Eigensinn und die Verstocktheit der Oblomower gesiegt, doch der Deutsche stieß in seinem eigenen Hause auf Schwierigkeiten, und das Schicksal wollte es, daß der Sieg sich weder auf die eine noch auf die andere Seite hin neigte. Es handelte sich nämlich darum, daß der Sohn von Stolz Oblomow verwöhnte, indem er ihm die Aufgaben vorsagte oder für ihn übersetzte.

Ilja Iljitsch sieht deutlich seine Lebensweise zu Hause und bei Stolz vor sich. Sowie er zu Hause erwacht, steht schon Sacharka, später sein berühmter Kammerdiener Sachar Trofimitsch, vor seinem Bett.

Sachar zieht ihm, wie es zuvor die Kinderfrau getan hatte, die Strümpfe und Schuhe an, und Iljuscha, schon ein vierzehnjähriger Knabe, tut nichts, als ihm bald den einen, bald den anderen Fuß hinstrecken; und sowie ihm irgend etwas nicht paßt, versetzt er Sacharka mit dem Fuß einen Stoß auf die Nase. Wenn der unzufriedene Sacharka sich darüber zu beklagen wagte, bekam er auch noch von den Erwachsenen Prügel. Dann kämmt ihn Sacharka, zieht ihm den Rock an, indem er Ilja Iljitschs Hände vorsichtig in die Ärmel steckt, um ihn nicht zu sehr anzustrengen, und erinnert den jungen Herrn daran, daß er das eine oder andere tun muß; zum Beispiel daß man sich des Morgens beim Aufstehen wäscht usw.

Wenn Ilja Iljitsch etwas wünscht, braucht er nur zu blinzeln – und drei, vier Diener stürzen hin, um seinen Wunsch zu erfüllen; wenn er etwas fallen läßt, wenn man etwas herunterreichen oder hinlaufen und etwas bringen soll, hat er als ein lebhafter Knabe Lust, sich darüber herzustürzen und alles selbst zu tun, aber der Vater, die Mutter und die drei Tanten schreien fünfstimmig auf:

»Wohin? Wozu? Und wozu sind der Wassjka, der Wanjka und der Sacharka da? He! Wassjka! Wanjka! Sacharka! Wo schaut ihr hin, ihr Tagediebe? Wartet nur! ...«

Und es gelingt Ilja Iljitsch nicht, irgend etwas selbst zu tun. Später fand er, daß es auch so viel bequemer sei, und lernte selbst zu befehlen: »He, Wassjka! Wanjka! Gib das, gib jenes! Ich will das nicht, ich will etwas anderes! Lauf hin und hol's!«

Manchmal wurde ihm die zärtliche Besorgtheit der Eltern lästig. Wenn er über die Stiege oder über den Hof läuft, ertönen plötzlich zehn verzweifelte Stimmen hinter ihm: »Ach, ach! Reicht ihm die Hand, haltet ihn auf! Er fällt, er zerschlägt sich ... Halt, halt!«

Wenn er im Winter ins Vorhaus hinausläuft oder das Fenster öffnet – wird wieder gerufen: »Ach, wohin? Das darf man nicht! Lauf nicht, geh nicht, öffne nicht; du wirst dich anstoßen und erkälten ...« Und Iljuscha blieb traurig zu Hause, wie eine exotische Blume in einem Glashause gehegt und gepflegt, und wuchs ebenso wie diese unter Glas langsam und träge. Die nach Betätigung strebenden Kräfte wandten sich nach innen hin und welkten.

Und manchmal erwachte er so kräftig, frisch und lustig; er fühlte, daß in ihm etwas wogte und flammte, als hätte sich irgendein Kobold in ihm eingenistet, der ihn immer reizte, bald auf das Dach zu klettern oder auf den Braunen zu steigen und in die Wiesen zu reiten, wo das Gras gemäht wurde, bald sich rittlings auf den Zaun zu setzen oder die Dorfhunde zu necken; oder ihn ergriff plötzlich der Wunsch, durch das Dorf zu rennen, dann ins Feld und durch den Hohlweg in den Birkenhain zu gelangen und sich in drei Sätzen auf den Grund des Grabens zu stürzen oder mit den Dorfjungen Schneeball zu spielen und seine Kräfte zu prüfen. Der Kobold stachelt ihn auf; er sucht sich zu bezähmen, doch endlich erträgt er es nicht mehr und springt plötzlich im Winter ohne Hut von der Stiege in den Hof hinab, von dort aus läuft er durchs Tor, faßt in jede Hand einen Schneeklumpen und eilt dem Haufen der Kinder entgegen. Der frische Wind schneidet ihm ins Gesicht, der Frost zwickt ihn in die Ohren, die Kälte dringt ihm in den Mund und in den Hals ein, und die Brust ist von Freude erfüllt, er rennt mit plötzlicher Beweglichkeit, quietscht und lacht. Er hat die Dorfjungen schon erreicht; er schleudert den Schnee auf sie – vorbei; er hat keine Übung; er wollte gerade einen anderen Schneeball werfen, als ihm ein ganzer Schneeblock das Gesicht bedeckt hat, er fällt; es schmerzt ihn, weil es ihm ungewohnt ist, aber es ist ihm fröhlich zumut, er lacht und hat Tränen in den Augen ... Und im Hause wird gejammert. Iljuscha ist fort. Es wird geschrien und gelärmt. Sacharka stürzt auf den Hof hinaus, ihm folgen Wassjka, Mitjka, Wanjka – sie laufen alle bestürzt auf dem Hof herum. Ihnen rennen, sie bei den Fersen packend, zwei Hunde nach, welche bekanntlich einen Menschen nicht gleichgültig laufen sehen können. Die Burschen stürzen schreiend und stöhnend und die Hunde bellend durch das Dorf hin. Endlich stoßen sie aufeinander und beginnen Gericht zu halten. Der eine wird bei den Haaren gepackt, der andere bei den Ohren, es werden Hiebe ausgeteilt; man droht auch ihren Vätern! Dann bemächtigt man sich des jungen Herrn, wickelt ihn in den mitgebrachten Schafpelz, dann in den Rock des Vaters und in zwei Decken ein und bringt ihn feierlich nach Hause. Zu Hause hatte man schon die Hoffnung verloren, ihn zu sehen, da man ihn für verloren hielt; doch als die Eltern ihn lebend und unversehrt erblicken, ist ihre Freude unbeschreiblich. Man dankte Gott, gab ihm Pfefferminz-, dann Holunder- und abends Himbeertee zu trinken und hielt ihn drei Tage lang im Bett, während ihm nur eines hätte nützen können: wieder Schneeball zu spielen ...

Oblomow

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