Читать книгу Irr(e)-Fahrt_nach_Wien_-_Ein_Reisetagebuch_ - J. B. Camelon - Страница 4

Chapter 1 / Vor dem ersten Tag: In der Stammkneipe / letzte Vorbereitungen

Оглавление

Montag, 20. September: Passau


Berit:

Als Hannah und ich neulich in der Jugendherberge Passau unsere Jugendherbergsausweise abholten, bekamen wir auch ein kleinformatiges Heftchen mit der Aufschrift „Reisetagebuch“ in die Hand gedrückt – witzige Idee! Aber während unserer Fahrradtour von Passau nach Wien, für die wir die Ausweise benötigen, werden wir wohl kaum dazu kommen, irgendwas `reinzuschreiben.

Wir wollen einfach mal `rauskommen aus der Stadt und dem Studentenalltag und uns dabei gleichzeitig sportlich betätigen. Erleben werden wir dabei wohl eher nichts Aufzeichnungswürdiges: wir werden den ganzen Tag Rad fahren und abends vermutlich völlig erschöpft in ein Jugendherbergsbett fallen. Aber jetzt kann ich schnell noch was `reinschreiben!


Also:

Bis eben saßen wir noch auf der Veranda unserer Stammkneipe „Roma“, Hannah und ich - und zwar beide aus unterschiedlichen Gründen sehr mäßig gelaunt: Hannah hat gerade einen Durchhänger, was ihr Studium angeht, und bezweifelt, dass sie ihr erstes juristisches Staatsexamen schafft, und mir geht es erstens genauso und zweitens hatten mich letzte Nacht mal wieder die in voller Laustärke abgespielten Pornofilme meiner Nachbarn um den Schlaf gebracht.


Die Videokonsumenten sind die Kellner des chinesischen Restaurants, über dem ich wohne. Dass es sich um keine Original-Geräusche, sondern Filme handelt, weiß ich nur deshalb, weil sie mal einen Nachbarn von meinem Flur gebeten hatten, ihnen den Videorekorder zu erklären und die Kassette einzulegen. Der hat mir die Story dann belustigt erzählt, als wir uns zufällig im Hausflur begegneten…er hat gut lachen: er wohnt ja auch zur Straße `raus, und nicht wie ich mit Fenster zum Hinterhof und den Chinesen gegenüber! Dann hätte er ihnen wohl nicht so bereitwillig geholfen!

Ruhestörung ist ja ohnehin mein größtes Problem in dieser miesen Bude mit den dünnen Wänden. Einmal habe ich einen Nagel in die Wand geschlagen und beim Nachbarn kam er aus der Wand `raus!

Außerdem fühle ich mich nicht mehr sicher, seit an meinem letzten Geburtstag plötzlich ein fremder Mann in meiner Wohnung stand, als ich gerade im Eingangsflur vor der Kochzeile stand und Chili Con Carne zubereitete. Ich kann mich doch nicht immer einschließen, nur weil die Tür auch außen eine Klinke hat! Ich nehme an, der Mann war auf der Suche nach lohnenden Diebstahlsobjekten. Ich brüllte ihn wütend an, und er rannte sofort weg. Es ist wohl ratsam, umzuziehen – wieder mal!


In dem komischen Wohnblock, in dem ich vorher wohnte und in dem ich Hannah kennengelernt habe, die dort immer noch wohnt, wimmelte es von obskuren Gestalten: Der schizophrene Junge, der sich die Haare mit irgendeiner Substanz zu einem spitzen Turm formte und immer mit sich selbst sprach, die polnische Prostituierte im Apartment neben meinem (die mein Vormieter mit keinem Wort erwähnt hatte), ihr ebenfalls tschechischer oder polnischer Lover, der im gleichen Haus wohnte und der manchmal, wenn ich abends nach Hause kam, neben einem Baum stand und nur wegen seiner glimmenden Zigarette zu sehen war, und nicht zuletzt mein Stalker. In der Universitätsbibliothek hatte er mich zum ersten Mal gesehen, dann ständig verfolgt, und dass er im gleichen Haus wohnte wie ich, entdeckte ich zu meinem Entsetzen an einem Silvesterabend, als ich

gerade zufällig aus dem Fenster schaute und ihn das Haus verlassen sah…


Leider merkte auch er es kurz darauf und hämmerte einmal minutenlang an Hannahs Tür, als ich mich zu ihr geflüchtet hatte. Das war schon Auszugsgrund genug!

Einmal entdeckte ich morgens Blut im Hausflur (angeblich von einer Messerstecherei, sagte eine andere Nachbarin mir).

Und auf dem Weg draußen waren sogar ziemlich oft Blutflecken. Ich weiß auch nicht…Blut hat irgend etwas an sich, dass man es sofort als solches erkennt, sogar im Dunkeln auf der Straße.

Einmal sagte ein Besucher von Hannah: „He – das steht ein Polizeiwagen vor der Tür!“ Und sie sagte:“ Na und? Es ist eher was Besonderes, wenn mal kein Polizeiwagen vor der Tür steht!“

Und dann all die Spinnen, die ich immer wieder in meiner Wohnung fand! Eine war so groß, dass ich mich fast zu Tode erschreckte, als ich sie an der Wand sitzen sah! Ich warf einen Schuh an die Wand – wobei ich anfing, wie verrückt zu zittern - und einen Freund bitten musste, die Leiche zu entsorgen, weil ich es nicht schaffte: Spinnenphobie! Beim Akt des Schuhwurfs liefen mir sogar Tränen übers Gesicht vor Entsetzen.

Selbst am Auszugstag stand noch einmal mein Stalker vor der Tür und bat um einen Liter Milch, und wenig später kam die Polizei und fragte, ob ich den Mieter So-und-so kenne.

Ich war so froh, als ich endlich wieder eine Wohnung im Zentrum gefunden hatte! Und nun habe ich dauernd das Theater mit der Ruhestörung: entweder beim Nachbarn auf der anderen Seite der dünnen Wand ist Party, oder auf der anderen Hofseite laufen die Videofilme in voller Laustärke!

Jedenfalls waren Hannah und ich beide übermüdet, genervt und schlecht gelaunt, zumal in der Kneipe nichts los war und der gelangweilte Wirt immer wieder versuchte, uns in ein Gespräch zu verwickeln.

Wir sprachen unsere ab morgen geplante Radtour nach Wien nochmal durch.

Das sind ungefähr 313 Kilometer auf dem Donauradweg, die Angaben hierzu differieren etwas, ich habe auch die Zahl 326 gelesen. Jedenfalls sind es mehr als 300 Kilometer.Insgesamt ist der Donauradweg viel länger, er führt von der Quelle der Donau in Donaueschingen bis zu deren Mündung ins Schwarze Meer und berührt dabei die folgenden Länder: Deutschland, Österreich, Slowakei, Ungarn, Kroatien, Serbien, Bulgarien und Rumänien.

Aber dafür muss man dann schon sehr durchtrainiert sein und vor allem bessere Räder haben!

Hannah und ich fahren fast täglich mit unseren Fahrrädern, aber die längsten Strecken, die wir in den letzten Jahren zurückgelegt haben, waren Ausflüge vom Passauer Stadtzentrum bis zum oberen Stausee und in den Neuburger Wald, was beides innerhalb von 45 Minuten zu schaffen ist.

Und wir haben nur ganz normale Sporträder, und zwar nicht gerade neuestes Baujahr!

Dies wird unsere erste längere Tour!

Hannah ließ sich nicht von dem Vorhaben abbringen, auch den Rückweg mit dem Rad zurückzulegen. Davon wird in allen Radwanderreiseführern abgeraten: wegen Steigung und Gegenwind! Ostwärts mit der Hauptwindrichtung ist die empfohlene Fahrtrichtung. Auf dem Rückweg führe man also GEGEN die Hauptwindrichtung.

Hoffentlich kriege ich Hannah noch dazu herum, den Zug zu nehmen! Es sieht aber nicht danach aus. „Du hörst immer auf andere!“ warf sie mir vor. „Ein Reiseführer ist nicht ANDERE! Das sind gesammelte Erfahrungswerte!“ entgegnete ich. „Ach Quatsch!“ Und so gab ein Wort das andere.

Was ist nur mit ihr los? So ein Dickkopf! Und ich kann einfach keinen plausiblen Grund erkennen, wider alle Vernunft mit den Rädern zurückzufahren! Wie soll das erst werden, wenn wir unterwegs sind, wenn wir jetzt schon streiten!

Ich bereue diese Schnapsidee schon halb.


Mir wird auch allmählich klar, dass wir nicht besonders toll vorbereitet sind mit unseren alten Fahrrädern.

Die Kneipenwirte haben uns heute Abend noch schnell Satteltaschen geliehen, als sie von unserem Vorhaben hörten. Zufällig hatten sie auch gerade eine Radtour gemacht und die Satteltaschen noch in einem Nebenraum der Kneipe herumliegen. Die sind knallbunt - damit leuchten wir dann wohl kilometerweit!

Wir hatten überlegt, dass es mit Rucksack eigentlich auch gehen müsste: wenn man damit stundenlang laufen kann, müsste man damit auch stundenlang Rad fahren können, oder? Die Wirte schüttelten nur die Köpfe über diese Idee.


Als Hannah und ich uns gerade so richtig wegen der Rückfahrt in den Haaren hatten, kam Daniel mit zwei Freunden in die Kneipe. Er sah die Radtaschen, hörte von unserem Vorhaben – und lachte schallend! Wie all unsere Freunde und Bekannten auch!

Keiner traut uns die 300-Kilometer-Tour zu, aber denen werden wir`s schon zeigen!


Daniel – den ich eigentlich nur oberflächlich von einem gemeinsamen Nebenjob her kenne, woher also will er beurteilen, wie sportlich ich bin? - wies uns freundlicherweise noch darauf hin, dass es laut Wetterbericht ab morgen eine Woche in Strömen regnen soll. Daraufhin schwärmte ich ihm von meinem wasserdichten Schneehemd vor. Genaugenommen ist es nicht meins, sondern gehört meiner ehemaligen Nachbarin Ragna, die so freundlich war, es mir zu leihen. Ein todschickes Teil! Weiß, mit bunten Neonsternen auf einem Ärmel. Ragna war etwas ungehalten, als sie mich dabei erwischte, wie ich an der Innpromenade in ihrem Schneehemd herumspazierte: “Jetzt schon???“ Ich soll es wohl nur für alle Fälle einpacken. „Es darf ruhig regnen - ich habe ein ganz tolles Schneehemd! Es ist semipermeabel!“ sagte ich stolz zu Daniel. „Na super“, meinte er, „dann läuft der Regen ja nur rein und nicht `raus!“ So eine miesmacherische kleine Ratte. Gönnt einem auch nichts. Als er anfing, uns einen Horrorfilm zu erzählen (er kam nämlich gerade aus dem Kino), gingen wir entnervt.

Hannah ist schon nach Hause gefahren. Und zwar mit dem Fahrrad! Denn das Haus, in dem sie wohnt (und in dem ich auch mal wohnte), liegt ja ziemlich weit weg vom Zentrum, durch den Tunnel auf die andere Seite der Donau, Richtung Ilzstadt, und dann noch einen Berg `rauf.

Sie fährt die Strecke natürlich mindestens einmal täglich, und deshalb ist sie viel trainierter als ich. Denn ich kann seit dem letzten Umzug überall zu Fuß hingehen. Außer, ich will Hannah besuchen oder zum Stausee.


Angeblich befahren jährlich ungefähr 300.000 Leute den Donauradweg. Es ist nach dem Bodenseeradweg die zweitmeistbefahrene Radstrecke Europas. 60.000 – 70.000 Leute fahren jährlich die ganze Strecke von Passau nach Wien. Was die können, können wir auch! Ich wüsste nicht, warum nicht!


Ich denke, ich bin mit den Vorbereitungen für morgen so gut wie fertig. Ich habe alles, was ich morgen mitnehmen will, aus den Schränken genommen und auf dem Fußboden aufgestapelt. Und ich habe sogar noch das Geschirr für morgen früh bereitgestellt und die Kaffeemaschine vorbereitet, damit Hannah und ich bei mir frühstücken können, bevor wir losfahren…man, ich bin richtig aufgeregt!!

Andere machen jedes Jahr mehrere Urlaube, und zwar viel weiter weg quer über den Erdball – aber wir als arme Studentinnen haben solche Erfahrungen eben nicht zu verbuchen. Für uns ist dies jetzt was Besonderes. Und wir können dann auch endlich mal sagen:“ Wir waren im Urlaub!“


Spaßeshalber werden wir auch dieses Reisetagebuch einpacken, aber auch Hannah meint: „Da schreiben wir sowieso nichts `rein.“

Sooo, ich habe das dumpfe Gefühl, dass ich sowieso nicht schlafen kann. Ich glaub`, ich geh nochmal kurz in die Disco, um ein paar Leute zu treffen - aber nicht lang! Ich muss noch die Fahrradtaschen packen, und wir wollen ja morgen um acht Uhr früh aufbrechen!

Irr(e)-Fahrt_nach_Wien_-_Ein_Reisetagebuch_

Подняться наверх