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Johanna, Josefine und Andreas
ОглавлениеZwei Jahre zuvor
Johanna Scholz wollte nur noch weg von zu Hause. Der Enge der Schöneberger Hinterhofwohnung entkommen. Dem Lärm der Geschwister, dem Gestank des Treppenhauses und dem Dreck und der Dunkelheit des Hofes. Ihr Zimmer, das sie sich mit drei jüngeren Geschwistern hatte teilen müssen, hatte nie einen Sonnenstrahl abbekommen. Der Blick aus dem Fenster mit einfachem Glas, durch das es wie Hechtsuppe zog, wie der Berliner treffend zu sagen pflegte, fiel auf eine Klopfstange, auf der von Zeit zu Zeit mehr als verschlissene Teppiche gereinigt wurden. Mit der Folge, dass dicke Staubwolken den ohnehin schon finsteren Hof noch mehr verdunkelten und einem die Luft zum Atmen nahmen. Statt eines Baumes mit üppigem Grün, wie man sie auf manchen Höfen finden konnte, sah man nur eine bröcklige Brandmauer, die einem das Gefühl vermittelte, gefangen zu sein.
Ihre Eltern Ludwig und Hertha hatten sich alle Mühe gegeben, ihre Sprösslinge durchzufüttern. Das Kostgeld, das Ludwig als Kohlenträger abgab, war nicht gerade üppig, doch Hertha klagte nie und zauberte aus den einfachsten Zutaten die schmackhaftesten Gerichte. Mit siebzehn hatte Johanna dazuverdienen müssen. Unten im Milchladen, quer über die Straße, oft bis spät in die Nacht hinein. Doch ihre freundliche Art hatte ihr den Umgang mit den Kunden erleichtert. Und hin und wieder gab man ihr ein Kännchen Milch, etwas hart gewordenen Käse oder einige Zipfel angegraute Wurst mit.
Johanna war froh, nicht als Dienstmädchen arbeiten zu müssen, denn sie hatte von mancher Freundin wahre Horrorgeschichten gehört. Das ging von winzigen Kammern ohne Fenster und Ofen über keifende Gnädige, denen man nichts recht machen konnte, bis hin zu lüsternen Hausherrn, die ihre Finger nicht bei sich behalten konnten. Nein, wenn schon Bedienen, dann nicht in einer Art Leibeigenschaft rund um die Uhr.
Dann hatte sie bei einem Ausflug in den Grunewald die Gastronomie auf der Halbinsel Schildhorn entdeckt. Dort, wo anfangs Familien noch Kaffee kochen und bis in die 50er Jahre noch mitgebrachte Speisen verzehren konnten. Und plötzlich hatte sie gewusst, was sie machen wollte. An der frischen Luft im Grünen arbeiten. Heitere, ausgelassene Menschen sehen, die in der Sommerfrische die Seele baumeln ließen. Vater Ludwig hatte zur Bedingung gemacht, dass sie bis zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag warten würde. Denn bevor er seine Tochter in fremde Obhut gab, sollte sie erst einmal volljährig werden.
Zwei Wochen nach Beginn des neuen Lebensabschnitts war sie mit der S-Bahn zum Bahnhof Grunewald gefahren und hatte sich in ihrem schönsten Kleid in einem der Ausflugslokale vorgestellt. Und tatsächlich war sie eingestellt worden. Anfangs nur zur Probe, aber ihr Fleiß, ihre Umsicht und der Mangel jeglicher Widerworte hatten es ihr ermöglicht, zu bleiben.
Die beiden anderen Mädchen, Rieke und Martha, verbargen ihre freche Berliner Klappe geschickt vor den Gästen. Nur untereinander gab es hin und wieder Zickereien, besonders wenn ein Gast das Revier wechselte, um sich zu Freunden oder Bekannten zu setzen. Rieke, ungelernt wie Johanna, konnte besonders schnell ihre angeblich gute Kinderstube vergessen. Martha war eher der stille Typ, der vieles mit sich abmachte.
Die drei männlichen Kollegen trugen die Nase ziemlich hoch, denn sie hatten den Beruf erlernt und waren nicht nur „Hilfskräfte“. Sie bedienten hauptsächlich in dem schönen, großen Saal, in den die Reichen und Schönen einkehrten, mit verglasten Arkaden und angeschlossenem Wintergarten sowie einer Terrasse zum Wasser. Adolf, der Älteste von ihnen, ein hochnäsiger Bursche mit ölig zurückgekämmten Haaren, war mitunter sehr gemein und schob den Mädchen seine Fehler zu. Zu den Gästen war er besonders liebenswürdig – schmierig, wie Rieke meinte –, während ihm in der Küche gerne mal die Nerven durchgingen. Er war ein Paradebeispiel für „nach oben buckeln und nach unten treten“. Otto, der Mittlere von den dreien, verhielt sich kollegial und war aufgrund seines schönen Gesichts nicht nur beim Personal, sondern auch unter den Gästen sehr beliebt, besonders bei Frauen. Und Fritz, der Jüngste, ein blasser, dünner Junge, der seine einfache Herkunft nicht verbergen konnte, gab sich alle Mühe, bis zum Oberkellner aufzusteigen.
Johanna hatte nur für einen Augen. Den Sohn des Hauses. Und sie rannte offene Türen ein, wie bald jeder bemerken konnte. Willi, mit unscheinbarem Gesicht, aber hellen „Sternchenaugen“, fing sofort Feuer, als er Johanna sah. Seiner Mutter Else, einer strengen Matrone, die sich als Frau Wirtin bezeichnen ließ, ohne aktiv mitzuarbeiten, gefiel das gar nicht. Deshalb nahm sie sich alsbald Sohnemann zur Brust.
»Du wirst dich doch nicht in dieses unbedeutende Ding verlieben? Du kannst ganz andere Frauen haben. Such dir eine aus der gehobenen Gastronomie, damit ihr später mal den Laden hier übernehmen könnt.«
»Mutter, ich suche mir mein Mädchen nicht nach dem Beruf aus …«
»Solltest du aber. Angle dir die Tochter eines Hoteliers. Bei der stimmt später das Erbe. Die kleine Hinterhofpflanze aus Schöneberg hat dir doch außer einer hübschen Larve nichts zu bieten.«
»Dieser hübschen Larve verdankt sie, bei den Gästen sehr beliebt zu sein. Und ich finde ein bisschen Hinterhof ganz niedlich.«
»Lass mal, Mutter, der Junge weeß schon, wat jut für ihn is«, sagte Heinrich, der dickbäuchige Wirt mit aufgezwirbeltem Kaiser-Wilhelm-Bart. »Und verjiss nich’, wir ha’m ooch janz kleen anjefangen. Und du stammst zwar nich’ vom Hinterhof, aber aus’m Souterrain.«
»Musst du mir das immer wieder vorhalten?«, beschwerte sich Else. »Und lass doch das unsägliche Berlinern. Du machst dich ja bei den Gästen unmöglich.«
»Ach wat! Die sind in der Mehrzahl ebenso mit Spreewasser jetauft wie icke. Die erwarten, dass man ihre Sprache spricht. Wenn se et vornehmer und jelackter woll’n, ha’m wa ja unsere Ober, die Lackaffen.«
»Du bist einfach unmöglich. Schließlich wollen wir keine Bierstampe, sondern ein gutbürgerliches Restaurant haben, mindestens.«
»Du willst dit. Mir fragt ja keener.«
»Also Heinrich, wirklich. Stell mich noch als Xanthippe dar. Jedenfalls ist es nicht gut, dass diese Johanna mit uns unter einem Dach schläft. Wenn das die Leute erfahren …«
»Die Leute werden wohl kaum annehmen, dass wir det Meechen nachts noch durch’n Wald schicken oder se uff’m Fahrrad über de Chaussee jagen. Außerdem hat se ihre eijene Kammer unter’m Dach juchhe und schläft nich’ bei Junior uff’m Zimmer.«
»Na, das wäre ja auch noch schöner …«
»Ja, finde ich auch, Mutter. Das wäre noch viel schöner«, sagte Willi.
»Wenn du so weitermachst, setze ich die Göre vor die Tür, damit das klar ist.«
»Nein, das wirst du nicht tun. Gutes, billiges Personal ist schwer zu finden.«
»Janz meene Meinung«, sagte Heinrich.
1915
Der Wiener Geheimrat Leopold Mandl residierte in Simmering, dem 11. Bezirk, in der Beletage eines klassizistischen Prunkbaus. Die Wohnung, die die halbe Etage einnahm, bestand aus sechs Zimmern – allesamt mit herrlichem Stuck an den Decken, Parkett und verglasten Türen. In den großen Zimmern gab es die sogenannten Wiener Öfen mit herrlichen Jugendstilornamenten. Außer den Zimmern gehörten noch eine sehr große Küche, zwei Bäder und zwei Kammern zur Wohnung.
Mandls Frau, Therese, die sich gern mit dem Titel ihres Gatten anreden ließ, während er sich am liebsten Baron nennen ließ, stammte vom Theater. Ein Umstand, den sie erfolgreich verdrängte, war sie doch ohnehin längst nicht mehr im Gedächtnis des Publikums vorhanden. In den prachtvollen Räumen hielt sie mindestens alle zwei Monate einen literarischen Salon ab, bei dem aus bekannten und auch unbekannten Werken vorgetragen und auch musiziert wurde.
Das Dienstpersonal, das in jenen Zeiten unumgänglich war, bestand aus der Köchin Selma, einer rundlichen, pausbäckigen Frau aus Böhmen, und den Stubenmädchen Elfride und Josefine. Beide trugen schwarze, bodenlange Kleider mit weißen Schürzen und einem Häubchen auf dem Kopf und Schnürstiefel an den Füßen. Selma, die stets in reinstem Weiß gekleidet war, hatte den Vorzug, eine Kammer mit Fenster gleich neben der Küche zu haben, während die beiden Mädchen sich eine enge Kammer ohne Fenster und ohne Heizung teilen mussten.
Elfride Swoboda, eine blasse, zweiundzwanzigjährige Frau mit dunklen, glanzlosen Haaren, hätte man am treffendsten als hübschhässlich bezeichnen können. Deshalb war sie der Gnädigen auch allemal lieber als die auffallend hübsche Josefine Singer mit ihrem seidigen Blondhaar und den frechen Grübchen. Das war natürlich auch dem Baron nicht entgangen, und er ließ keine Gelegenheit aus, das junge Mädchen mit seinen Blicken zu entkleiden. Therese gab einzig Josefine die Schuld daran. Wahrscheinlich hatte sie wieder so aufreizend verschämt geguckt und den Gatten damit ermuntert. Josefine und Elfride schufteten den ganzen Tag von früh bis spät. Das begann morgens mit dem Befeuern der Öfen und setzte sich mit dem Bohnern des Parketts fort. Zwischendurch mussten sie die Mahlzeiten servieren oder der Gnädigen beim Ankleiden und Frisieren helfen beziehungsweise sie unentwegt bedienen, wenn sie sich lasziv auf dem Diwan räkelte und in der „Gartenlaube“ las, die zeitweilig unter der Leitung eines gewissen Dr. Leopold Sacher-Masoch herausgegeben worden war.
Diesem Herrn machte Therese alle Ehre, wenn sie sich immer neue nutzlose Aufgaben für Josefine ausdachte. Sodass das Mädchen oft nachts weinend im Bett lag und von Elfride getröstet werden musste. Trösten wollte sie scheinbar auch der Baron. Denn wie anders sollte man sich erklären, dass Josefine ihm nicht nur das Badewasser in seinem persönlichen Bad einlassen musste, sondern ihm auch den Rücken schrubben, wofür er sich mit einem Glas Sekt und zärtlichem Streicheln bei ihr bedankte. Wenn Gattin Therese schon längst in Morpheus’ Armen lag, suchte er sogar gelegentlich Josefine in ihrer Kammer auf. Elfride musste sich für diese Zeitspanne in der Küche aufhalten. Was ihr einesteils ganz recht war, da sie dem finsteren Treiben nicht beiwohnen musste, andererseits bekam sie weniger Schlaf in diesen Nächten und wurde am darauffolgenden Morgen von heftiger Müdigkeit geplagt.
»Wie hältst du das nur aus?«, fragte sie Josefine, als wieder einmal der Gnädige Thema war.
»Eigentlich gar nicht«, sagte Josefine, »aber was soll ich denn machen? Schlimmer noch als seine erotischen Attacken sind beinahe noch die Angst vor der Gnädigen und die, irgendwann schwanger zu werden. Die bekommt es fertig, mich in ihrer Wut auf die Straße zu setzen. Und nach Hause zurück kann ich in dem Zustand auch nicht. Mein Vater würde mich totschlagen.«
»Du armes Hascherl. Ich möchte nicht in deiner Lage sein. Zum Glück bin ich nicht der Typ vom Herrn Baron. Ich wüsste nicht, was ich sonst täte. Aber dass die Gnädige dich fortschickt, glaube ich nicht. Sie hätte viel zu große Sorge, dass es zum Skandal käme. Eifersüchtig scheint sie schon lange nicht mehr zu sein. Sie tut nur so, wenn du mich fragst. Seine erotischen Fähigkeiten dürften ohnehin sehr bescheiden sein. Aber darüber kannst du besser Auskunft geben.«
»Was willst du hören? Zeitweilig erinnert er mich an ein Karnickel. Eines, das zu früh kommt. Manchmal versagt er sogar völlig. Er redet sich dann mit zu viel Alkoholgenuss heraus.«
Elfride kicherte unter der Bettdecke.
»Das kenne ich. Bei manchen Männern ist das so, sagt meine Mutter.«
»Na ja, der Jüngste ist er ohnehin nicht mehr. Und bei Herren seines Alters ist der Wunsch oft der Vater des Gedankens. Wie dem auch sei, ich bin ihm ausgeliefert. Wenn ich freiwillig das Haus verlassen würde, stünde in meinem Zeugnis mit Sicherheit etwas zwischen den Zeilen, das es mir unmöglich machte, eine andere Stellung zu finden. Also lasse ich die Schmach über mich ergehen und hoffe, er würde irgendwann das Interesse an mir verlieren. Bis dahin werde ich weiter in Angst leben.«
Heute
Andreas Wolff hatte eine heimliche Leidenschaft, von der kaum jemand etwas ahnte. Er liebte Spukgeschichten und übernatürliche Phänomene. Zu Hause im Tausendseelendorf Wolfersweiler, in den südlichen Ausläufern des Schwarzwälder Hochwalds gelegen, hatte man ihm zuletzt Gespenstergeschichten erzählt, als er noch ein kleiner Junge war. Später wollte man von so einem Kram nichts mehr wissen. Doch seit es das Internet gab, konnte er nach Herzenslust immer wieder neue Seiten entdecken, die sich weltweit mit den absonderlichsten Phänomenen befassten. Im Dorf hatte es sich an sich recht gut leben lassen. Doch als junger Mann von zwanzig Jahren wollte er mehr erleben als die jährlich stattfindende historische Laurentiuskirmes mit Markttreiben und einigen Veranstaltungen, die den Höhepunkt im Jahreskreislauf bildeten. Deshalb hatte er sich kurzfristig entschieden, nach Berlin zu gehen. Dorthin, wo das Leben tobte und man so anonym, aber auch so einsam wie kaum anderswo sein konnte. Seine hervorragenden Abiturnoten ermöglichten ihm, einen der heißbegehrten Studienplätze zu ergattern. So widmete er sich der Philosophie, den Geisteswissenschaften allgemein und der Germanistik. Wohin das einmal führen sollte, davon hatte er noch keine konkrete Vorstellung. Er verfuhr nach dem Motto: Kommt Zeit, kommt Rat. Er hatte es sich einfacher vorgestellt, eine preiswerte Wohnung in der Hauptstadt zu finden. Aber schließlich war ihm ein Zimmer in einer Dreier WG angeboten worden, und das genügte ihm fürs Erste.
Manchmal fehlten ihm der Buchwald, der nahegelegene Bostalsee und die vielen Wanderwege und Freizeitmöglichkeiten. Doch Berlin war nicht umsonst eine der grünsten Städte. Mit dem Fahrrad erkundete er den unweit gelegenen Tiergarten oder machte sich auf, den Tegeler Forst, Spandauer Forst oder Grunewald zu entdecken. Bei seiner Online-Recherche stieß er auf ein ganz besonderes Fleckchen Erde im Grunewald: den sogenannten Schandacker, Selbstmörderfriedhof oder auch Friedhof der Namenlosen. Im Jagen 135, nahe dem Schildhornweg, wurde er nach längerem Suchen fündig und war von Anfang an überwältigt von der ganz besonderen Atmosphäre. Dort zwitscherten Vögel und knackten zuweilen Äste, aber sonst war alles friedlich, denn man hörte nicht die aufdringlichen Geräusche des Autoverkehrs.
Neue Bestattungen kamen auf dem Friedhof kaum noch vor. Und wenn, handelte es sich ausnahmslos um Angehörige bereits Bestatteter. Neben wenigen Grabsteinen mit Namen oder Inschriften, gab es auch besonders schlichte, auf denen, ebenso wie auf den einfachen Metallkreuzen, lediglich „Unbekannt“ stand. Weil die Havel unweit des Friedhofs einen Knick machte, waren dort im Laufe der Jahrzehnte hin und wieder Wasserleichen ans Ufer getrieben worden. In der Mehrzahl Verunglückte oder Selbstmörder, denen die christlichen Kirchen als „Todsündern“ die Beerdigung auf ihren Friedhöfen verweigerten. Somit musste die Forstverwaltung des Grunewalds dafür sorgen.
Diese beschloss um 1878, die Leichen nahe am Fundort an einer Waldlichtung zu bestatten. Das sprach sich schnell herum, sodass sich alsbald auch Angehörige von Selbstmördern aus der weiteren Umgebung an den Oberförster wandten beziehungsweise ihre Toten kurzerhand selbst im Wald begruben. Daneben gab es Lebensmüde, die ihrer Familie den Ärger mit den ungnädigen Friedhofsverwaltungen ersparen wollten und sich deshalb in Friedhofsnähe umbrachten. Um weitere wilde Bestattungen zu unterbinden, wurde anfangs ein Maschendrahtzaun befestigt, der 1928 einer niedrigen Mauer wich, um dem Ort ein besseres Aussehen und Ansehen zu verschaffen. Als Eingang diente fortan ein Tor in einem etwa vier Meter hohen Bogen mit einer Holzüberdachung.
Aber nicht nur namenlose Unfallopfer und Selbstmörder waren dort begraben, sondern auch Strafgefangene aus einem Arbeitslager des Ersten Weltkriegs, unbekannte Tote und Bombenopfer des Zweiten Weltkriegs, die man auf den Straßen eingesammelt hatte. Eine weitere Gruppe bildeten Menschen, die diesen Ort für sich als letzte Ruhestätte auserkoren hatten. Unter ihnen Willi Wohlberedt, der über vierzig Jahre Gräberforschung auf Berlins Friedhöfen betrieb und diese in einem mehrbändigen Werk veröffentlichte. Ausgezeichnet wurde er dafür mit einem Ehrengrab.
Zu den bekannten Persönlichkeiten, die den Freitod wählten, gehörte der Schriftsteller Clemens Laar. Eines seiner bekanntesten Bücher war: „Meines Vaters Pferde“. Eingedenk dieser Tatsache hatte man wohl folgenden Spruch für sein Grabkreuz gewählt:
“Mitten im Reiten/ Aus Sonnenseiten/ Erreicht Dich der Ruf./ Und der, der Dich schuf,/ Greift milde nach Dir./ Doch was Du gelebt,/ Es bleibt zurück./ Vom Jubel im Sprung,/ Vom Glühen und Schwung,/ Ein letztes Funkeln/ Im Bügeltrunk./ Und das lachende Wissen,/ Daß Gott uns liebt,/ So lange es auf Erden/ Die Pferde gibt.“
Bekannt war auch das Grab der Pop-Ikone Nico alias Christa Päffgen. Zusammen mit Marilyn Monroe hatte sie das Actors Studio von Lee Strasberg besucht. In Federico Fellinis „La dolce vita“ spielte sie mit. Ebenso in mehreren Filmen von Andy Warhol, der sie schließlich zur Sängerin von „The Velvet Underground“ machte. Obwohl sie 1988 auf Ibiza vom Fahrrad stürzte und dabei tödlich verunglückte, betrachteten viele ihren Tod als Suizid auf Raten, denn sie war heroin- und alkoholabhängig. Mit achtzehn, zu Beginn ihrer Modelkarriere, soll sie bei einem Besuch des Friedhofs geäußert haben, dort gerne begraben zu werden. Dieser Wunsch wurde ihr erfüllt, und sie lag nun an der Seite ihrer Mutter dort.
Andreas verweilte oft stundenlang auf dem Friedhof. Dort, wo manche Gräber hinter Tannen versteckt waren. Wo es keine Grabbepflanzung und keine aufwendigen Grabsteine gab. Stattdessen konnte man auf Plastik-Fähnchen lesen: „Nutzungsdauer abgelaufen. Bitte bei der Friedhofsverwaltung melden“. Und er war keineswegs der Einzige, der dort nachdenklich umherlief. Oft sah er einen alten, gebückt laufenden Mann, der mitunter etwas Ordnung machte. Beim dritten Mal sprach ihn Andreas an.
»Haben Sie auch jemanden hier liegen?«, fragte er etwas unbeholfen.
»Nein, nein. Ich genieße nur die ganz besondere Atmosphäre«, lautete die knappe Antwort. »Ich habe Sie vorhin am Grab von dieser Nico gesehen. Können Sie sich vorstellen, dass dort noch immer in Plastik gehüllte Briefchen, Weinflaschen und Blumensträuße abgelegt werden? Sogar einen Weihnachtsbaum habe ich schon auf dem Grab entdeckt. Freilich kein echter, nur ein kleiner aus Plastik mit Batterien, die ihn leuchten ließen. Haben Sie das Grabkreuz vom Oberförster Willi Schulz gesehen? Er gehört zu denen, wo die Todesursache ungeklärt ist. Man sagt, einige Förster seien nicht darüber hinweggekommen, nach der Abschaffung der Monarchie nicht mehr königlicher, sondern nur noch städtischer Beamter zu sein. Seinem Kreuz hat man ein Geweih verpasst. Ins Holz eingeritzt ist: „Jagd vorbei“. Das nennt man dann wohl Berliner Humor.«
Andreas lächelte gequält.
»Sind Sie auch kein geborener Berliner?«
»Nein, aber nach den vielen Jahrzehnten gefühlter.«
»Den sprichwörtlichen Berliner Humor halte ich auch für etwas gewöhnungsbedürftig«, sagte Andreas.
»Das dürfen Sie nicht so eng sehen, junger Mann. Vieles ist nicht so schroff gemeint, wie es klingt. In Wahrheit hat der Berliner viel Herz. Ein gutes Beispiel dafür ist, dass man die aus der Havel gefischten Wasserleichen als „Opfer der Kälte“ bezeichnete. Das kann man ruhig im übertragenen Sinne sehen. Manchmal schrieb man auch nur „Verunglückt“ auf das Kreuz. Dabei war es offensichtlich, dass es sich um einen Lebensmüden handelte. Man hat seinen Tod damit liebevoll verschleiert. Kommen Sie mal am späten Abend hierher, dann können Sie manche noch sehen.«
Mit dieser seltsamen Aussage verschwand der ältere Herr, als hätte es ihn gar nicht gegeben.
Noch jemand anderen sah Andreas hin und wieder. Eine junge Frau mit blassem Gesicht und hellblonden Locken. Sie wirkte so ätherisch mit ihrer fahlen Haut und ihrem dünnen Kleid, dass Andreas sich nicht traute, sie anzusprechen. Meist stand sie still vor einem der Gräber wie dem des unbekannten Sohnes. Sein Stein trug die Inschrift:
„Geliebt - beweint/ Mein frühes Grab, mein frühes Grab/ drum Mutter ruf mich nicht zurück/ ich lebe noch und liebe Dich/ in diesem schönen Himmelslicht“.
Anschließend ging sie stets zu einem Kreuz der Namenlosen, wo sie lange verharrte, um sich dann beinahe abrupt davon zu entfernen. Andreas kam es vor, als liefe sie nicht, sondern schwebe. Wenn es nicht helllichter Tag gewesen wäre, hätte er geglaubt, ein Geistwesen zu sehen. Aber ließen die sich nicht nur nachts sehen? Auf dem Heimweg ging ihm das Mädchen nicht aus dem Sinn, und er nahm sich vor, den Rat des alten Mannes zu befolgen. Wer weiß, wer oder was ihm spät abends oder nachts dort begegnen würde. Wie recht er mit seiner Vermutung hatte, sollte sich alsbald zeigen.