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Das Unheil nimmt seinen Lauf

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Johanna war mit ihrer schlanken Figur und den goldblonden, aufgesteckten Haaren ein Hingucker. Den männlichen Gästen entging aber nicht, dass Willi, der Sohn des Hauses, ein Auge auf sie geworfen hatte, womit sie für viele tabu wurde. Einer, der sich eiskalt lächelnd darüber hinwegsetzte, war Ferdinand von Hohensee – von seinen Freunden nur Ferdi gerufen –, ein arroganter, von sich überzeugter Jüngling aus reichem Hause, der glaubte, die gesamte Frauenwelt müsse ihm zu Füßen liegen.

Johanna mochte den Schönling nicht. Trotzdem bediente sie ihn freundlich und zuvorkommend. Auch entging ihr nicht, dass er sie mit den Augen verfolgte und es stets so einrichtete, in ihrem Revier einen Tisch zu belegen. Aber für sie war er einer, den sie nicht einmal erhört hätte, wenn er der einzige Mann auf der Welt gewesen wäre. Und trotz aller Freundlichkeit strahlte sie das auch aus. Ein Umstand, der Ferdi noch mehr anstachelte.

»Na, Frolleinchen, wo gehen wir denn heute noch hin nach Feierabend?«, fragte er sie ungeniert.

»Ich weiß nicht, was Sie noch vorhaben. Ich meinerseits werde die müden Füße hochlegen und früh schlafen gehen.«

»Schlafen ist eine gute Idee, aber nicht allein. Da versäumt man so viel.«

Ferdis Freunde grölten.

»Schlafen ist ein wenig wie Sterben. Das kann man nur allein.«

»Sieh an, das Servierfrollein ist gebildet. Wer hätte das gedacht? Sie hat gelesen, dass der Schlaf als kleiner Bruder des Todes bezeichnet wird. Na, vor dem Schlafen gibt es noch einiges andere, was man tun kann, und das geht allein ungleich schlechter.«

Wieder grölten Ferdis Freunde, und Johannas Gesicht überzog eine feine Röte.

»Ich weiß nicht, was Sie meinen. Ich hole dann mal Ihre Bestellung, bevor der Schaum vom Bier ganz verschwunden ist.«

An diesem Abend zechten Ferdinand und seine Freunde noch ausgiebig, und zu später Stunde machte sich ein gefährliches Glitzern in seinen Augen bemerkbar. Johanna war heilfroh, als die unliebsame Gesellschaft endlich von dannen zog. Um zu ihrem Zimmer zu gelangen, musste sie später etwa hundert Meter zurücklegen, denn es befand sich in einem Wohnhaus, das zu der Gastronomieanlage gehörte. Der Weg war nicht besonders gut ausgeleuchtet, sodass Johanna stets eine leichte Gänsehaut befiel. Zu allem Unglück konnte sie Willi diesmal nicht begleiten, weil es noch geschäftliche Dinge mit seinen Eltern zu bereden gab.

Sie hatte fast die Haustür erreicht, als Ferdinand aus seinem Versteck hervorkam und sie mit der Hand vor dem Mund am Schreien hinderte. Grob zerrte er sie in ein Gebüsch, um anschließend am Ufer wie ein wildes Tier über sie herzufallen. Sein angetrunkener Zustand enthemmte ihn völlig, und Johannas Qual bereitete ihm zusätzliche Lust. Als er endlich von ihr abließ, blieb Johanna weinend im Sand liegen. Sie fühlte sich beschmutzt und ekelte sich vor sich selbst.

Irgendwie musste sie ins Haus gelangt sein und hatte sich nach dem Entkleiden endlos lange über der Waschschüssel gewaschen. Den Geruch seiner Geilheit und den schalen Geschmack in ihrem Mund konnte sie nicht entfernen. Irgendwann erlöste sie ein gnädiger Schlaf.

Am nächsten Morgen ließ sie sich nichts anmerken, vor allem vor Willi nicht. Doch es schien, als kenne er sie inzwischen so gut, um sogleich zu bemerken, dass sie etwas bedrückte. Johanna gab vor, Kopfschmerzen zu haben und schluckte brav eine Veronal-Tablette, die Willi ihr verabreichte.

Bald wurde ihr immer öfter übel, und sie musste sich morgens übergeben. Als ihre Regel ausblieb, bestätigten sich ihre schlimmsten Befürchtungen. Ferdinand hatte sie geschwängert. Wenn er im Lokal auftauchte, grinste er sie frech an und tat, als sei nichts gewesen. Und Johanna spielte mit. Aus Scham und Verzweiflung, aber in ihr wuchs der Hass unaufhaltsam. In ihren freien Stunden unternahm sie einsame Spaziergänge im Wald und entdeckte dabei den sogenannten Schandacker. Sie konnte auf einmal gut nachfühlen, was Frauen veranlassen konnte, ihrem jungen Leben ein vorzeitiges Ende zu setzen. Wenn sie völlig in sich gekehrt von dort zurückkam, konnten sie nur Willis Fröhlichkeit und seine liebevolle Art etwas aufheitern. Doch das war stets nur vorübergehend. Ferdinand, der Strolch hatte mit einem Schlag ihre Zukunft zerstört, wurde ihr bewusst. Johanna war zu aufrichtig, um auch nur den Gedanken zuzulassen, Willi die Frucht der Schande unterzujubeln. Das hatte er einfach nicht verdient, und sie hätte ihm nie wieder tief in die Augen sehen können. Es gab nur einen Ausweg: den Freitod.

Wann ihr der Gedanke gekommen war, stattdessen Ferdinand büßen zu lassen, hätte sie später nicht mehr mit Bestimmtheit sagen können. Dass sie damit nur noch ihre Lage verschlimmern würde, ließ sie gedanklich erst gar nicht zu. Sie war derart von Rache und Hass getrieben, dass sie nur noch auf eine passende Gelegenheit wartete.

Die kam, als etwa zwei Wochen später Ferdinand mit seinen Kumpanen erneut ausgiebig zechte. Johanna befürchtete, er würde in seinem Zustand irgendwann eine unbedachte Äußerung machen, um sie endgültig bloßzustellen. Hatte er doch den gesamten Abend schon sein dreckiges Grinsen aufgesetzt und mit seinen Zechkumpanen getuschelt. Als die nach und nach genug hatten und sich auf den Heimweg machten, blieb er demonstrativ zurück. Und er trank nicht weiter, sondern strebte wohl an, nüchterner zu werden, indem er Kaffee trank und plötzlich etwas essen wollte.

Johanna nahm den Teller dampfender Ochsenschwanzsuppe in der Küche entgegen und entschloss sich im letzten Moment anders. Sie ging mit dem Teller in eine Kammer, in der sich neben allerlei Putzmitteln auch ein Behälter mit Rattengift befand. Johanna schüttete eine gehörige Portion von dem Pulver in den Teller und rührte gut um. Dann ging sie nach draußen und servierte Ferdinand lächelnd seine Bestellung.

Schon nach wenigen Löffeln, erkannte er, dass da etwas nicht stimmen konnte.

»Hallo, Frollein Hanni, da ist wohl außer dem Schwanz noch etwas, das darunter herauskommt, mit in die Suppe gekommen«, sagte er. »Die schmeckt ja fürchterlich.«

»Das ist ein ganz neues Rezept von unserem Küchenchef. Hat man sich erst an den Geschmack gewöhnt, soll sie der Potenz dienlich sein«, flötete Johanna.

»So? Na, dafür soll mir jedes Mittel recht sein.« Ferdinand löffelte weiter, bis der Teller leer war.

Johanna bediente weiter die Gäste, sah aber immer wieder zu Ferdinand hin, dem es augenscheinlich immer schlechter ging. Er schleppte sich zur Toilette und erbrach sich schon unterwegs. Willi winkte Johanna heran und forderte sie auf, ihm zu helfen, Ferdinand über die Straße in ein Gästezimmer zu bringen. Sie stützten ihn gemeinsam auf dem Weg, wo ihm immer wieder die Beine versagten. Endlich angekommen, legten sie ihn aufs Bett und stellten einen Eimer daneben. Dann verschloss Willi die Tür, als würde er eine Gruft versiegeln.

»Sollten wir nicht einen Arzt rufen?«, fragte Johanna leise.

»Damit er feststellt, dass der Kerl vergiftet wurde? Das können wir uns nicht leisten.«

»Du weißt …?« Johanna brach hilflos ab.

Willi nickte. »Ich sehe doch, was seit einiger Zeit mit dir los ist. Seitdem habe ich dich nicht mehr aus den Augen gelassen, und den Penner auch nicht. Ich denke, er hat seine gerechte Strafe bekommen dafür, dass er dich entehrt und noch zusätzlich verhöhnt hat. Du musst das Teufelsbalg nicht bekommen. Wir können es wegmachen lassen. Das liegt ganz bei dir.«

Johanna weinte wie ein kleines Kind. Jetzt fiel die ganze Anspannung von ihr ab. Dass Willi so unerschütterlich zu ihr hielt, konnte sie beinahe nicht fassen.

»Was machen wir mit ihm, wenn er stirbt?«, fragte Johanna, als sie sich wieder etwas gefangen hatte.

»Am besten im Wald verscharren oder mit Gewichten in der Havel versenken. Aber vergraben wird man ihn wohl weniger finden.«

»Und wenn er nicht stirbt?«

»Das halte ich für ausgeschlossen. Dem könnte jetzt auch kein Arzt mehr helfen.«

»Was willst du sagen, wenn man nach ihm fragt? Jeder hat doch gesehen, dass wir ihn fortgeschafft haben.«

»Ganz einfach, dass er seinen Rausch ausgeschlafen hat und am frühen Vormittag mit seinem Wagen abgedüst ist.«

»Aber der Wagen steht doch noch auf dem Parkplatz …«

»Den fahre ich in den frühen Morgenstunden weg. Ich stelle ihn am Anhalterbahnhof oder sonst irgendwo ab. Den Schlüssel werfe ich weg.«

»Es tut mir so leid, dich da mit hineinzuziehen. Du hast doch mit der Sache gar nichts zu tun.«

»Als dein zukünftiger Ehemann schon. Oder glaubst du, ich lasse dich mit dem Schlamassel allein? Die Welt wird so ein Stück Dreck kaum vermissen. Und wir lassen uns von so etwas nicht die Zukunft verbauen.«

Johanna wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie war buchstäblich sprachlos.


Josefines Angst war nicht unbegründet, denn bald litt auch sie unter Morgenübelkeit. Dass sie ihre Regel nicht bekam, hielt sie nicht für ausschlaggebend. Das war schon öfter mal vorgekommen. Aber die Veränderung ihres Körpers war unübersehbar. Er wirkte weicher und fraulicher, und ihre kleinen Brüste wurden voller und straffer.

»Du bekommst ein Kind«, sagte Elfride, »ich kenne die Symptome von meiner Schwester. Der alte Baron ist also doch noch ein ganzer Mann.«

»Was soll ich denn jetzt nur tun?«, jammerte Josefine, »ob er mir das Geld gibt, um es wegmachen zu lassen?«

»Dem traue ich zu, dass er behauptet, es sei nicht von ihm, sondern von irgendeinem Burschen, den du beim Heurigen kennengelernt hast.«

»Aber da war niemand. So einfach lasse ich mich nicht mit jemandem ein.«

»Weiß ich doch, du Schaf. Aber er wird die Ausrede benutzen, um besser vor der Gnädigen dazustehen.«

Die Gnädige erwies sich dann alles andere als das. Als die ersten Rundungen auch bei Josefines Bauch zu sehen waren, zitierte sie das Mädchen in ihren Salon.

»Mach die Tür zu, damit niemand hört, was ich dir zu sagen habe«, sagte Therese Mandl scharf. »Du musst nicht denken, dass ich dumm bin und keine Augen im Kopf habe. Du bist also unzweifelhaft guter Hoffnung. Wie stellst du dir deine Zukunft vor? Ein dickes Trampel ist mir in meinem Haushalt nicht von Nutzen. Ganz zu schweigen von dem Kindergeschrei, wenn das Baby erst da ist. Und die Leute werden tratschen und vermuten, der Geheimrat sei der Vater. Der Skandal wäre unbeschreiblich.«

»Aber er ist es doch. Ich habe keinen anderen Mann an mich herangelassen«, begehrte Josefine verzweifelt auf.

»Du wagst es, deinen Frevel offen zuzugeben?«

»Was hätte ich denn machen sollen? Der Herr Baron ist der Herr, und ich habe mich nicht getraut, Widerstand zu leisten.«

»Ach, Papperlapapp. Mir ist nicht entgangen, dass du ihm von Anfang an schöne Augen gemacht hast. Und er ist eben auch nur ein Mann, der der Versuchung nicht widerstehen konnte. Was hast du dir da in deinem Spatzenhirn zusammenfantasiert? Dass er mich fortschickt und du die neue Frau an seiner Seite wirst?«

»Nein, an so etwas habe ich überhaupt nicht gedacht.«

»Wie könntest du auch. Mein Gatte braucht eine Frau an seiner Seite, die mit ihm die gesellschaftlichen Pflichten wahrnimmt. Eine mit Geist und Kultur. Eben so jemanden wie mich. Ein unbedeutendes Stubenmädel aus der Gosse ist für ihn nur ein Stück junges Fleisch.«

»Meine Eltern sind rechtschaffende Leute. Ich stamme keineswegs aus der Gosse.«

»Aber dort wirst du landen. Oder glaubst du, du findest einen Mann, der dich als gefülltes Täubchen nimmt?«

»Aber es gibt doch Mittel und Wege, um … um das ungeschehen zu machen.«

»So, du willst uns erpressen? Mein Gatte soll dir das Geld für die Folgen deiner Leichtlebigkeit geben? Das haben schon ganz andere versucht.«

»Wo soll ich denn hin? Zurück zu meinen Eltern kann ich auch nicht.«

»In die Gosse, wo du hingehörst. Wenn du Glück hast, nehmen die Dirnen dich bei sich auf. Und irgendeine wird bestimmt auch die Betreuung des Kindes übernehmen, wenn du deiner neuen Arbeit nachgehst.«

Therese lachte gehässig.

»Übung hast du ja schon darin, dich ohne Ansehen der Person hinzugeben.«

»Nein, ich kann das nicht. Ich bin doch keine Hure.«

»Doch das bist du. Eine, die sich mit ihrem Körper Vorteile verschafft. Davon habe ich viele am Theater kennengelernt. Kaum eine ist dadurch glücklich geworden. Ich will, dass du auf der Stelle mein Haus verlässt. Oder ist es dir lieber, wenn ich deine Eltern informiere?«

»Nein, bitte nicht. Meine Mutter würde die Schande nicht überleben.«

»Dann ist alles gesagt. Der Lohn, den du noch zu beanspruchen hast, wird dir als Überbrückung dienen. Und ich bin sogar bereit, noch etwas draufzulegen, wenn du nur aus meinem Blickfeld verschwindest. Na, bin ich nicht großzügig? Und jetzt pack deine Sachen und mach dich davon!«


Der Grunewald mit seinem geheimnisvollen Friedhof erwies sich als wahrer Magnet für Andreas. Er war geradezu süchtig danach, sich Geschichten zu den namenlosen Gräbern auszudenken. Zusätzlich machte er Fotos mit seiner Digitalkamera von den schönsten Motiven wie dem überirdisch schönen Jesusantlitz auf einem der fast vollständig zugewachsenen Grabsteine. Die Fotos, die er für besonders gelungen hielt, druckte er aus und hängte sie an die Wand, an der sein Schreibtisch stand.

Edmund, ein rotzfrecher Rockertyp mit wilden Haaren und einer seiner beiden Mitbewohner, fand das mehr als grenzwertig.

»Bist du jetzt unter die Nekrophilen gegangen, Alter?«, fragte er kopfschüttelnd.

»Keineswegs. Denn es sind schließlich keine Fotos von Leichen, an denen ich mich aufgeile, sondern besonders schöne Gräber eines verwunschenen Friedhofs. Dieser Ort gibt mir viel. Ich kann dir nicht einmal erklären, warum.«

»Dann solltest du als Totengräber oder Bestatter jobben. Da hättest du Gelegenheit, das eine oder andere kalte Händchen zu tätscheln.«

»Red keinen Unsinn. Ich sage doch, es geht mir keinesfalls um die Leichen.«

»Die Leichenschändung ist keineswegs eine Erscheinung der Moderne. Schon die Ägypter sollen angeblich absichtlich die Einbalsamierung der Leichen verzögert haben, um sich mit diesen sexuell zu vergnügen. Heute wird das allerdings strafrechtlich verfolgt und schwer geahndet.«

»Kannst du nicht jemand anders mit deinem Halbwissen auf die Nerven gehen?«

»Oh, da nimmt jemand übel. Leo, komm doch mal! Wie findest du die morbide Sammlung unseres Mitbewohners?«

Leo rückte seine Hornbrille zurecht und strich seine aschblonden Schnittlauchlocken aus der Stirn, um anschließend interessiert die Fotos zu betrachten.

»Jedem Tierchen sein Plaisierchen, würde ich sagen. Ich sehe da durchaus ein gewisses Talent. Warum widmest du dich nicht hauptberuflich dem Fotografieren? Oder beteilige dich mal an einem dieser Fotowettbewerbe. Vielleicht springt ein Abo einer Tageszeitung oder einer Illustrierten heraus.«

»Weil ich es nur als ein Hobby betrachte. Und bevor noch mehr Jobvorschläge von euch kommen, solltet ihr die Tür von draußen zumachen.«

Edmund und Leo machten sich teils amüsiert, teils pikiert davon und diskutierten in der Küche noch eine Weile. Andreas hielt sie für Ignoranten. Zumindest Edmund, denn Leos Bemerkungen waren ja nicht unbedingt negativ gewesen. Dass beide nicht nachvollziehen konnten, was ihn bewegte, lag womöglich daran, dass sie nicht die einzigartige Atmosphäre des Ortes erlebt hatten. Oder war er wirklich nicht normal? Statt blühender Wiesen oder traumhafter Sonnenuntergänge nahm er Gräber auf von Leuten, die er nicht einmal gekannt hatte. Auch dass er sich in eine Frau verlieben konnte, von der er nichts wusste und die ätherisch wie ein Geist wirkte, fiel ihm jetzt auf. Was, wenn sie wirklich einer war? Ach, Blödsinn. Deshalb war er noch lange nicht nekrophil veranlagt, entwickelte allenfalls einen Hang zum Morbiden.

Noch am selben Abend machte sich Andreas auf in den Grunewald. Es begann schon zu dämmern, und er musste sich beeilen, dass er nicht bei völliger Dunkelheit auf dem Friedhof ankam oder womöglich gar nicht erst den Weg dorthin fand. Bewappnet mit einer Taschenlampe und seiner Kamera, die auch Nachtsichtaufnahmen zuließ, stieg er über die niedrige Mauer, denn das Tor war schon abgeschlossen.

Sogleich fiel ihm die völlig veränderte Atmosphäre auf. Die Beschaulichkeit war einer düsteren Ahnung gewichen. Denn er nahm seltsame Energien, flüchtige Schatten und ein unheimliches Flüstern wahr. Dann sah er plötzlich die dunklen Umrisse eines flachen Gebäudes, das bei Tag nicht dort gewesen war. Moment mal, im Internet hatte er gelesen, dass es einmal eine Leichenhalle gegeben hatte, die 1911 aus Backsteinen erbaut und Jahrzehnte später wieder abgerissen worden war. Wie konnte es sein, dass er etwas sah, das nicht mehr vorhanden war? Doch es sollte nur der Auftakt zu einigen Erlebnissen sein, die ihm noch im Nachhinein Gänsehaut bescheren würden.

In einiger Entfernung bildete sich urplötzlich ein weißer Nebel, aus dem Gestalten einer anderen Epoche hervorkamen. Andreas hätte schwören können, dass ein Soldat mit einer Uniform, wie man sie im ersten Weltkrieg getragen hatte, darunter war. Er hatte nur ein Bein und stützte sich schwerfällig auf eine Krücke. Über dem linken Auge trug er einen schmutzigweißen Verband. Ihm folgte ein abgemagerter Mann in einer Art Sträflingskleidung, die ihm in Fetzen am Leib hing. Zwei Frauen mit Mänteln aus Wolldecken und mit um den Kopf gebundenen Schals schleppten einen schweren Koffer, den sie immer wieder absetzen mussten. Dann ging ein Mann mit schwarzem Bart, wilden Haaren und typischem Russenkittel so nah an ihm vorbei, dass er eine Bewegung am Ärmel spürte. Gleichzeitig hörte er ein Flüstern an seinem Ohr: »Du Bolschewiki? Dann verschwinde!«

Andreas war wie paralysiert. Er konnte nicht einmal die Kamera zücken, um auf den Auslöser zu drücken. Als der Spuk vorbei war, setzte er sich auf eine einsame, blaugestrichene Bank und steckte sich mit zitternden Händen eine Zigarette an. Nicht wissend, wie lange er so verweilte, hörte er plötzlich ein leises Kinderweinen. Der Strahl seiner Taschenlampe konnte aber kein Kind erfassen. Erst als er sie ausknipste, huschte eine kleine Gestalt mit einer Art Kinderkleidchen in einiger Entfernung vorbei. Als er ihr nachging, war natürlich niemand da.

Als Nächstes sah er eine Frau auf der Bank sitzen. Für einen Moment hoffte er, es würde die geheimnisvolle Fremde sein, die ihm nicht mehr aus dem Kopf ging. Doch beim Näherkommen erkannte er seinen Irrtum. Diese Frau sah wesentlich älter aus, obwohl sie vielleicht erst Mitte zwanzig war. Anders als die anderen löste sie sich nicht nach einer Weile auf, sondern sah ihn erwartungsvoll an.

»Hallo, ich bin Minna«, sagte sie mit seltsam verhallter Stimme.

»Ich heiße Andreas. Was machen Sie hier nachts alleine auf dem Friedhof?«

»Mich zieht es immer wieder hierher zurück. Einst hätte man mich um ein Haar lebendig begraben.«

»Wie das?«, fragte Andreas ungläubig.

»Man fand mich an der Uferböschung und erklärte mich für tot. Als man mich einsargte, entdeckte man plötzlich, dass ich noch lebte. Es war ein gefundenes Fressen für die Journaille, und ich war für längere Zeit das Stadtgespräch Nummer eins.«

»Wann war denn das?«, fragte Andreas aus einer Ahnung heraus.

»1919. Meinetwegen kamen Särge mit Sichtfenster und Luftlöchern groß in Mode. Heutzutage soll es Särge mit Schnorchel geben, und eine Schnur im Sarg dient zum Läuten einer Glocke am Grabstein.«

Die Frau, die sich Minna nannte, plauderte locker wie übers Wetter. Andreas wusste, dass eine Minna Braun tatsächlich dort begraben wurde. Und nachdem man sie gerettet hatte, war sie nach Jahren mit ihrem zweiten Selbstmordversuch erfolgreich gewesen, hieß es zumindest. Aber wenn diese Frau auch damals überlebt hatte, müsste sie jetzt fast hundert Jahre sein, überlegte Andreas. Die Frau, die neben ihm saß, war jedoch um mehr als zwei Drittel jünger. Also hatte er es entweder mit einem Geist zu tun oder mit einer geistig Verwirrten. Noch bevor er eine Lösung fand, war die Gestalt verschwunden. So lautlos, wie sie aufgetaucht war.

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