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Kapitel 2: Haareschneiden und andere Komplikationen

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Es ist Sonntagmorgen, als Yari von einem vorwitzigen Sonnenstrahl, der direkt in sein Gesicht scheint, geweckt wird. Noch nicht wirklich wach, öffnet er die Augen und blickt zum Fenster, wo er erkennen kann, dass die Sonne gerade durch die Wolken bricht, die schon seit Tagen den Himmel bedecken und das Land immer wieder mit Regenschauern überziehen.

Da seine Hände inzwischen soweit verheilt sind, dass er endlich wieder im Stall arbeiten kann, schlägt Yari die Decke zurück und will gerade aufstehen, als sich zwei Arme um seinen Oberkörper schlingen. Einen Moment erstarrt er in der Bewegung, atmet dann aber einmal tief durch und senkt seinen Blick auf Kai, der ihn im Halbschlaf festhält.

»Kai, ich muss aufstehen. Die Pferde füttern.« Vorsichtig versucht er, sich aus dem Griff zu befreien, aber Kai hält ihn nur umso stärker fest.

Schließlich gibt er mit einem ergebenen Seufzen auf und lässt sich wieder zurück ins Kissen sinken. So viel hat er inzwischen gelernt: Wenn Kai ihn im Halbschlaf festhält, müsste er sich schon mit Gewalt von ihm lösen und das will er nicht.

Kaum hat sich Yari wieder hingelegt, kuschelt sich Kai noch mehr an ihn ran und gibt ein wohliges Brummeln von sich, was Yari amüsiert schmunzeln lässt. Einem plötzlichen Bedürfnis folgend, legt er Kai den Arm um die Schultern und zieht ihn so noch ein wenig fester an sich heran, gleichzeitig lehnt er sein Kinn an Kais Kopf.

So daliegend beobachtet er, wie die Sonne langsam immer stärker durch die Wolken bricht.

Erst als Kai sich wieder zu regen beginnt und diesmal verschlafen, aber wach, die Augen aufschlägt, bewegt sich auch Yari. Sanft lächelnd sieht er Kai an, während er ihm gleichzeitig mit der freien Hand eine Strähne aus dem Gesicht streicht.

»Guten Morgen. Lässt du mich jetzt aufstehen oder müssen die Pferde noch länger auf ihr Heu warten?« Als er den verwirrten Blick Kais sieht, kann Yari nicht länger widerstehen und drückt kurz seine Lippen auf dessen Stirn. »Ich bin ab heute wieder für Rocky und Blacky zuständig, das haben wir doch gestern Abend besprochen.«

Es dauert eine Weile, dann lässt Kai ihn los und zieht sich die Decke über den Kopf.

Grinsend bleibt Yari noch einen Moment liegen, weil er neugierig ist, ob es Kai nicht zu warm unter der Decke wird. Immerhin ist schon Juli und es ist dementsprechend auch am Morgen ziemlich warm im Zimmer.

Als sich dann der Deckenberg aber wirklich nicht weiter bewegt, steht Yari auf und geht seine Kleidung holen. Er will noch unter die Dusche, bevor er in den Stall geht.

Das hat er in den letzten Tagen beinahe am meisten vermisst, genießt er es doch, direkt nach dem Aufstehen unter die Dusche zu steigen und den Schlaf so ganz aus seinem Körper zu vertreiben.

Während Yari im Bad ist, schlägt Kai die Decke zurück. So langsam wird es ihm doch zu warm. Außerdem fühlt er sich ohne Yari im Bett ganz schön einsam.

Obwohl er nicht mehr einschlafen kann, bleibt er liegen und beobachtet durch das Fenster, wie die Sonne die Wolken vertreibt. Endlich scheint das schlechte Wetter mal eine Pause zu machen.

Kai hat es gerade geschafft, sich auf die Bettkante zu setzen als Yari mit seinem Schlafanzug über dem Arm wieder ins Zimmer zurückkommt.

Obwohl er noch ziemlich verschlafen ist, lächelt Kai ihm schief entgegen. »Entschuldige, dass ich dich festgehalten habe.«

Als Yari ihn mit zur Seite geneigtem Kopf ansieht, merkt Kai, dass ihm ziemlich warm wird. Es wird sogar noch schlimmer, als sich sein Freund zu ihm runterbeugt und ihm die Hand unters Kinn legt. So wird er sanft gezwungen, den Kopf noch etwas weiter anzuheben. Mit angehaltenem Atem wartet Kai gespannt darauf, dass sich endlich ihre Lippen berühren, und seufzt genüsslich auf, als es endlich so weit ist.

Für Kais Geschmack viel zu schnell zieht sich Yari wieder zurück und richtet sich auf. »Ich bin dir nicht böse. Du darfst mich auch festhalten, solange wir nichts anderes gleichzeitig machen und du mich nicht überraschst.« Zärtlich streichelt er kurz über Kais Wange, ehe er ihn loslässt und lächelnd einen Schritt zurücktritt. »Wir sehen uns beim Frühstück.«

Enttäuscht, dass Yari wirklich ernst macht, sieht Kai ihm nach. »Bis später.«

Kaum hat Yari das Zimmer verlassen, steht Kai auch auf und geht zu seinem Schrank, aus dem er sich eine bequeme Hose und ein altes Oberteil raussucht. Dabei fällt ihm ein, dass Yari noch gar nicht weiß, dass Aja später vorbeikommen wird. Hoffentlich wird er die Neuigkeit gut aufnehmen.

Kai hat sich angewöhnt, frische Kleidung mit ins Bad zu nehmen, seit ihn Rashid vor drei Tagen nur mit dem Handtuch um die Hüften im Flur erwischt hat. Das war ihm dann doch etwas zu peinlich gewesen.

Unterdessen ist Yari bei den Boxen und streichelt den beiden Pferden zur Begrüßung über die Nüstern. Wie hat er es doch vermisst, in den Stall zu gehen.

Zufrieden und erleichtert, dass die beiden gut aussehen und ihre Augen glänzen, geht er nach einem letzten Streichler ins Heulager, um die vorbereiteten Netze zu holen.

Beim Tragen merkt er, dass seine Hände noch ziemlich empfindlich sind, und ist erleichtert, als die schweren Netze endlich in den Boxen hängen.

Nur steht er jetzt vor dem Problem mit dem Eimer. Rashid um Hilfe bitten will er nicht, also überlegt Yari hin und her, bis ihm die rettende Idee kommt.

Mit schnellen Schritten geht er zum Schrank in der Sattelkammer, in dem sie die Sachen für die Lederpflege und diverse Kleinigkeiten aufbewahren. Tatsächlich findet er dort, was er sucht: einen dicken Lappen, der groß genug ist, dass er ihn um seine Hand wickeln kann. Nicht ideal, aber besser als nichts.

Mit der umwickelten Hand klappt es überraschend gut, weshalb Yari nur einmal die Hand wechseln muss, weil mit der Zeit die Schmerzen dann doch etwas zu störend werden.

Als endlich beide Pferde mit frischem Wasser versorgt sind, setzt sich Yari noch eine Weile auf die Treppe und genießt die warmen Strahlen der Morgensonne, während er seine Gedanken schweifen lässt. Noch ist es nicht allzu heiß, aber Ren meinte gestern, dass alles auf ein paar heiße oder zumindest schwüle Tage hindeutet.

Erst als Yari am Stand der Sonne sieht, dass es Zeit fürs Frühstück ist, steht er auf. Eigentlich möchte er ja noch etwas sitzenbleiben und die Ruhe genießen, aber weil er nicht will, dass ihn Kai oder – was für ihn deutlich schlimmer wäre – Rashid holen kommt, steht er mit einem letzten Blick auf die in der Morgensonne leuchtenden Wolken auf.

Wie gewohnt, wäscht sich Yari gründlich die Hände und genießt es geradezu, auch wenn es ihn vorher öfters genervt hat. Für ihn sind diese Kleinigkeiten ein Zeichen, dass sich sein Leben wieder in mehr oder weniger normalen Bahnen bewegt.

Aus der Küche kann Yari schon die Stimme von Kai und Ren hören, die sich über irgendwelche Stoffe unterhalten, die dringend ein Edo oder Wladiwostock eingekauft werden müssen. Er hat ja beim Sortieren des Lagers auch schon bemerkt, dass von einigen Farben nicht mehr viel da ist. Yari fragt sich, was es mit Wladiwostok auf sich hat. Das ist mindestens eine Woche entfernt, selbst wenn man die Express-Postkutsche und dann noch das schnellste Schiff, das Kai nehmen darf, erwischt.

Als Yari in die Küche kommt, sieht er, dass auch Rashid schon da ist und sie wohl nur noch auf ihn warten. »Guten Morgen. Entschuldigt, ich habe wohl die Zeit ein wenig falsch eingeschätzt.« Er geht zu Kai und haucht ihm einen schnellen Kuss auf die Lippen, hat er doch in den letzten Tagen dieses kleine Ritual lieben gelernt.

Auch Rashid hat sich inzwischen halbwegs daran gewöhnt, dass Yari sich den beiden Meistern gegenüber gar nicht so verhält, wie es sich für einen Sklaven gehört. Erst gestern konnte er beobachten, wie sich Yari das Halsband anlegte, bevor er in den Laden ging und sich vor Kunden wie ein Sklave verhielt. Er findet es erstaunlich, wie gut der andere schauspielern und sich verstellen kann, wenn es darauf ankommt.

Rashid empfindet es außerdem von Vorteil, dass sich das Verhältnis zwischen Meister Kai und Yari verbessert hat, denn Yari sieht ihn nicht mehr warnend an und sie konnten sich in den letzten Tagen sogar normal unterhalten, wenn er nicht zu nahe bei ihm stand ist.

Nachdem sie gegessen haben, holt Kai tief Luft. »Du, Yari, ich muss dir noch etwas sagen.« Erst als er sich sicher ist, dass er die volle Aufmerksamkeit seines Gegenübers hat, spricht er weiter: »Nachher kommt Aja vorbei, um uns die Haare zu schneiden.«

Kai beobachtet seinen Freund genau und so entgeht ihm nicht, wie dieser sich kurz versteift und dann die Augen zusammenkneift.

»Und das weißt du natürlich erst seit heute Morgen«, meint Yari. Deutlich ist die Ironie herauszuhören, was Kai zusammenzucken lässt.

»Nein, ich weiß es schon, seit ich ihr die Unterlagen zurückgebracht habe. Sie kommt alle drei Monate vorbei, um uns die Haare zu schneiden, das ist nämlich ihr zweiter Beruf. Bei uns macht sie es allerdings umsonst, weil ich ihre Buchhaltung kontrolliere. Das letzte Mal hast du nur nichts davon mitgekriegt, weil du den ganzen Tag im Stall gewesen bist und wir dich nicht noch nicht damit belasten wollten. Aber so langsam hast du einen Haarschnitt wirklich nötig, so oft, wie du dir inzwischen genervt die Haare hinter die Ohren streichst.«

Wütend, dass ihn Kai wieder so kurzfristig vor vollendete Tatsachen stellt, ballt Yari die Fäuste. Tief Luft holend versucht er, sich zu beruhigen, was aber nicht viel bringt: »Ach, du weißt das schon seit Tagen und konntest es mir nicht früher sagen? Das ist wie bei der Fahrt zum Onsen, da hast du es mir auch erst am Morgen vorher gesagt. Und dass wir Anfang August nach Edo fahren, weiß ich auch nur, weil Großvater etwas gesagt hatte, damit er diesen Hemingway informieren konnte.« Wirklich sauer steht Yari auf und stützt sich auf dem Tisch ab. »Außerdem, was hat es eigentlich mit Wladiwostok auf sich? Da braucht man ja allein für den Hin- und Rückweg mindestens zwei Wochen, wenn nicht sogar drei!« Mit funkelnden Augen fixiert er den schweigenden Kai. »Ach, du willst es mir nicht sagen. Gut, dann kann ich ja gehen und du kannst dich weiter mit Großvater und Rashid darüber unterhalten. Ich scheine es ja nicht wissen zu dürfen!«

Noch bevor irgendjemand etwas sagen kann, stürmt Yari aus der Küche und wirft die Tür ins Schloss.

Geschockt sitzt Kai da und kann es kaum glauben, dass sein Freund so ausgerastet ist. Hilfesuchend blickt er zu seinem Großvater, der bis jetzt geschwiegen hat, sich nun aber räuspert.

»Du hast jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder du bleibst jetzt hier sitzen und lässt ihn seine Wut pflegen oder du gehst raus und klärst das mit ihm.« In aller Ruhe trinkt Ren einen Schluck Tee. Das hat sein Enkel verbockt, denn Ren hat ihm schon seit Tagen gesagt, dass er wegen Aja und Wladiwostok mit Yari reden muss.

Mit einem ergebenen Seufzen schiebt Kai seinen Stuhl zurück und steht auf. Am besten redet er mit Yari, bevor dieser sich noch weiter in seine Wut reinsteigert.

Als er im Hinterhof steht, blickt sich Kai suchend um. Bei den Pferden scheint Yari nicht zu sein, zumindest sieht er ihn nicht, und Rocky steht auch nicht so da, als würde sein Freund bei ihm in der Box sitzen. Dann hört er es im Lager rumpeln und geht zögernd dem Geräusch nach.

In der Tür bleibt er stehen, sieht er doch, was da so gerumpelt hat: Yari ist gerade dabei, einen der Strohballen auseinanderzunehmen und in die Schubkarre zu verfrachten, dass die einzelnen Strohhalme nur so durch die Gegend fliegen.

»Yari?«, versucht Kai zögernd, auf sich aufmerksam zu machen, was er gleich wieder bereut, als ihn zwei wütende Augen ansehen.

»Was willst du? Hast du noch etwas vergessen zu sagen? Vielleicht, dass du morgen für ein paar Tage verreist?« Mit verschränkten Armen steht Yari da und macht deutlich, wie sehr es in ihm brodelt.

Schluckend geht Kai ein paar Schritte auf ihn zu und bleibt erst stehen, als er seinen Freund mit den Fingern berühren könnte, wenn er den Arm ausstrecken würde. »Yari, es tut mir leid. Ja, es war ein Fehler, dass ich dir nicht früher gesagt habe, dass Aja heute kommt. Nur … verdammt: Ich habe es vergessen, verdrängt … wie auch immer du es nennen willst.« Während er redet, ringt Kai mit seinen Händen und schafft es zudem kaum, seinem Freund in die Augen zu sehen.

Stocksteif steht Yari da und zuckt nicht einmal mit der Wimper. »Du hast es also vergessen. Immer wieder. Dabei hättest du mehr als genug Zeit gehabt, es mir zu sagen. Jeden Abend, jeden Morgen und immer, wenn wir uns gesehen haben! Hast du auch nur einen Moment daran gedacht, dass ich mich vielleicht mental darauf vorbereiten muss, dass mich jemand anders als du oder Großvater anfassen wird?«

Als Kai den Mund aufmacht, um etwas zu erwidern, hebt Yari den Finger. »Ich war noch nicht fertig! Und ich bin mir ziemlich sicher, dass du mir jetzt sagen wolltest, dass Aja keine Fremde sei, sondern eine Freundin.« Deutlich kann er in Kais Gesicht lesen, dass er recht hat. »Dann sage ich dir eins: Sie ist deine Freundin. Ich kenne sie kaum! Wie oft habe ich sie in den letzten Monaten gesehen? Das kann ich an den Fingern einer Hand abzählen! Und jetzt verschwinde und lass mich in Ruhe meine Arbeit machen, damit ich fertig bin, wenn sie kommt!« Abrupt dreht sich Yari um und geht wieder zu den Strohballen, um den nächsten auseinanderzunehmen.

Sprachlos steht Kai da und weiß nicht, was er sagen soll, hat ihm Yari doch alles, was er sagen wollte, im wahrsten Sinne des Wortes um die Ohren geworfen. Er muss leider zugeben, dass sein Freund recht hat.

Mit gesenktem Kopf dreht er sich zur Tür um und will das Lager schon verlassen, als er aus einem Impuls heraus die Tür zumacht und abschließt. Das große Tor ist ja immer abgesperrt, wenn sie keine Lieferungen reintragen müssen. Mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck, der mehr Mut ausstrahlt, als er wirklich fühlt, stellt sich Kai direkt vor Yari: »Ich gehe nicht weg, bis wir das hier und jetzt geklärt haben. Ich weiß, dass ich Mist gebaut habe und es dir wirklich schon viel früher hätte sagen müssen, nur kann ich es jetzt leider auch nicht mehr ändern. Und das mit Wladiwostok wollte ich dir sagen, wenn Rashid wieder bei Yu ist und wir wieder unsere Ruhe haben.« Die Haltung von Yari imitierend verschränkt Kai die Arme und sieht ihn mit funkelnden Augen an.

Yari dreht sich wortlos um und will aus dem Lager gehen. Erschrocken stellt er fest, dass Kai sie eingeschlossen hat. Wütend dreht er sich wieder um: »Mach sofort diese verdammte Tür auf!« Drohend geht er auf Kai zu und baut sich regelrecht vor ihm auf.

Diesmal lässt sich Kai aber nicht einschüchtern und erwidert fest den Blick seines Freundes: »Nein. Wir bleiben so lange hier drin, bis wir das verdammt noch mal geklärt haben.« Nun reckt er das Kinn noch ein wenig mehr nach oben. »Wenn du den Schlüssel willst, dann musst du ihn dir holen!« Trotzig steht er mit verschränkten Armen da und wartet auf eine Reaktion.

Die lässt nicht lange auf sich warten, aber sie ist anders, als gedacht: Yari steht mit geballten Fäusten vor ihm, doch statt ihn zu packen oder sonst etwas zu machen, geht er einfach weg und setzt sich mit dem Rücken zu Kai auf den am weitesten entfernten Heuballen.

Erleichtert schließt Kai nach einem Moment die Augen, hat er doch mit dem Schlimmsten gerechnet. Aber warum rastet Yari wegen dieser Sache so aus? Dann fällt ihm ein, was sein Freund gesagt hat. Sich mental selbst einen Tritt in den Hintern gebend, flucht Kai lautlos vor sich hin. Da hat er ja noch größeren Mist gebaut, als er gedacht hatte.

Langsam geht er zu Yari und setzt sich hinter ihm auf die Heuballen. Dabei achtet er genau darauf, dass er ihn nicht aus Versehen berührt. »Es tut mir ehrlich leid. Ich hätte es dir wirklich noch am Mittwoch sagen müssen, dass Aja heute vorbei kommt. Es war nicht fair von mir, dass ich dich vor vollendete Tatsachen gestellt habe. Aja hat sicher auch noch nächste oder übernächste Woche Zeit, wenn du dich heute noch nicht bereit dazu fühlst, dir von ihr die Haare schneiden zu lassen.« Bewusst lässt Kai seine Stimme so ruhig wie möglich klingen.

Lange bleibt Yari stumm sitzen und fixiert die Heunetze, als hätte er noch nie etwas gesehen, was interessanter gewesen wäre. Schließlich senkt er seufzend den Kopf. »Kai, es geht verdammt noch mal nicht nur darum. Wieso redest du nicht mit mir, aber dafür mit Großvater und Rashid?« Deutlich ist zu hören, dass Yari nicht nur wütend, sondern auch sehr verletzt ist.

Kai muss wieder schlucken. Nach einer Eingebung suchend, betrachtet er die Heuballen, das Stroh und alles, was noch so in dem schwachen Licht, das durch die beiden Fenster reinkommt, zu sehen ist. »Dass Rashid es vor dir erfahren hat, war reiner Zufall. Er ist in die Küche gekommen, als ich mit Großvater darüber geredet habe. Bitte glaub mir, Yari, dass ich dir nie das Gefühl geben wollte, dass ich dich ausschließen will. Dafür bedeutest du mir nämlich viel zu viel. Das Letzte, was ich will, ist dich verletzen.«

Als Yari spürt, dass Kai die Stirn an seine Schulter legt, will er am liebsten aufspringen, doch er bleibt sitzen, denn Kai scheint es wirklich ehrlich zu meinen. »Was hat es mit Wladiwostok auf sich?« Auch wenn seine Stimme nun etwas versöhnlicher klingt, hat er die Arme immer noch verschränkt und sieht Kai nicht an.

Dieser seufzt schwer, hatte er doch gehofft, dass er in den nächsten Tagen in Ruhe mit seinem Freund darüber reden könnte. Aber wenn er jetzt wieder ausweicht, ist der nächste Streit schon absehbar.

»In Wladiwostok findet vom zwölften bis zum fünfundzwanzigsten September eine Art große Messe statt, auf der die neuesten Stoffe und Kleider vorgestellt werden. Zudem sind da auch Händler und Schneider aus den verschiedensten Ländern anzutreffen, die neben Stoffen, Tüchern und Kleidern auch noch andere Sachen verkaufen.«

»Was hat das mit dir zu tun?«

Wegen dieser Frage schließt Kai kurz die Augen. Jetzt kommt der schwere Teil. »Aja und ich fahren dieses Jahr zum vierten Mal gemeinsam da hin. Für sie ist es wichtig, weil sie dort sehen kann, wie die neuesten Schnitte aussehen. Teilweise bekommt sie sogar Schnittmusterbögen für die Kleider. Ich wiederum bekomme da seltene Stoffe aus dem römischen und dem ägyptischen Reich viel günstiger und schneller, als wenn ich sie hier auf dem Markt kaufe. Da lohnen sich sogar die Kosten für die Reise und den Transport der Stoffe hierher. Aber die Chinesen sind dort kaum vertreten, die sind dafür in Edo auf dem großen Markt, wo wir beide ja nächsten Monat hinfahren werden.«

Als Kai fertig ist, herrscht lange nachdenkliches Schweigen zwischen ihnen.

»Ich nehme an, dass ich dann hier bei Großvater bleiben werde?« Fragend dreht Yari den Kopf, blickt dann aber gleich wieder geradeaus. Noch ist er nicht dazu bereit, Kai mehr Aufmerksamkeit als nötig zu schenken.

Bedrückt nickt Kai. Dann wird ihm aber bewusst, dass sein Freund das ja gar nicht sehen kann. »Ja, du kannst uns leider nicht begleiten. Aja und ich teilen uns aus Kostengründen nicht nur auf dem Schiff eine Kabine, sondern auch in Wladiwostok ein Hotelzimmer.« Obwohl Kai Yari nicht berührt, kann er deutlich sehen, dass sich Yari bei den Worten noch mehr anspannt als ohnehin schon. »Du musst dir aber keine Sorgen machen. Aja weiß ganz genau, dass ich nur auf Männer stehe. Sonst müsste ich mir sowieso ein eigenes Zimmer nehmen, weil Yu mich sonst einen Kopf kürzer machen würde.« Einen Moment gibt Kai seinem Freund Zeit, diese Information zu verarbeiten. »Ich weiß, es ist nicht nur das, was dich beschäftigt. Leider kann ich es nicht mehr ändern und ich muss zugeben, dass ich dir nicht einmal versprechen kann, dass du nächstes Jahr mitkommen kannst. Weil wir uns die Kosten für diese Reise gerade so leisten können. Ich werde in den fünf bis sechs Wochen gut zweitausendfünfhundert bis viertausend Silbermünzen ausgeben müssen. Du kannst dir ja vorstellen, dass das so kurz nach Edo, wo ich auch mit mindestens achthundert Silbermünzen rechnen muss, eine starke Belastung ist.«

Ängstlich sieht Kai zu seinem Freund, hoffentlich versteht dieser sein Dilemma. Er würde ihn ja wirklich liebend gern mitnehmen, nur wäre das Aja gegenüber sehr unfair, weil sie sich dann zu dritt die kleinen Zimmer teilen müssten.

Vom Verstand her kann Yari die Gründe ja verstehen, aber trotzdem schmerzt es ihn zu hören, dass Kai ihn mit Ren allein lassen wird – und das für mehrere Wochen. »Wann und wie lange?« Obwohl er die Frage mehr vor sich hin murmelt, kann ihn Kai verstehen.

»Wir werden am ersten September losfahren und ziemlich sicher den ganzen Monat und vermutlich noch die erste Oktoberwoche weg sein. Im schlimmsten Fall sogar noch länger, je nachdem, wie lange wir für die Überfahrt mit dem Schiff brauchen werden.«

Als Yari spürt, wie sich zitternde Finger auf seine Schulter legen, versteift er sich unwillkürlich und steht auf. Er braucht jetzt einfach mehr Abstand zu Kai, damit er all dies verarbeiten und – was noch wichtiger ist – auch verdauen kann.

Gerade, als er ihn noch einmal auffordern will, die Tür aufzuschließen, klopft es.

»Kai? Yari? Aja ist da und bereitet gerade alles im Wohnzimmer vor«, hören sie Rens Stimme, was Yari wieder daran erinnert, dass er sich ja heute auch noch von Aja die Haare schneiden lassen muss.

Zum ersten Mal seit Langem wünscht Yari sich die emotionale Taubheit zurück, die ihn die letzten Jahre hat überleben lassen.

»Wir kommen gleich, Großvater«, ruft Kai. Mit einem letzten Blick auf seinen Freund, der ihm mit geballten Fäusten den Rücken zudreht, steht er auf. »Soll ich Aja sagen, dass wir nächsten oder übernächsten Sonntag bei ihr vorbeikommen, damit sie dir dann die Haare schneiden kann?« Fragend sieht er Yari an. Dabei zögert er unbewusst den Zeitpunkt hinaus, an dem er die Tür wieder aufschließen und somit damit rechnen muss, dass sich sein Freund von ihm abwendet.

Um sich zu sammeln, schließt Yari für einen Moment die Augen. »Nein, ich … es ist schon in Ordnung, wenn sie mir die Haare heute schneidet.«

Zwar sagt er das laut, aber innerlich schreit er auf, dass er noch nicht bereit ist, sich von ihr noch einmal anfassen zu lassen. Aber wenn er jetzt sagt, dass er es nicht will, dann muss er sich später außerhalb seines Zuhauses von ihr die Haare schneiden lassen und das will er noch weniger.

Als er in der darauffolgenden Stille das leise Klicken der Tür hört, dreht er sich nicht gleich um, sondern erst, nachdem er sich soweit gefangen hat, dass man ihm seine Gefühle nicht direkt ansieht.

Obwohl Kai nichts gesagt hat, ist er sich nicht wirklich sicher, ob sich Yari richtig entschieden hat. So aufgewühlt wie sein Freund gerade ist, wäre es doch sicher besser, wenn dieser warten würde. Das will er ihm nun sagen, als dieser sich endlich umdreht. Als er dann jedoch in Yaris Gesicht sieht, das eine beinahe perfekte Maske der Gleichgültigkeit ist, entscheidet er sich dagegen. Stattdessen sieht er Yari nur stumm an und hofft, dass dieser noch irgendetwas zu ihm sagt. – Egal was.

Aber Yari denkt gar nicht daran, mit Kai zu reden, und geht schweigend an ihm vorbei zu den Boxen, um die frisch gestopften Heunetze aufzuhängen. Zwar ist es noch etwas zu früh, aber er weiß ja nicht, wie lange es dauern wird, bis Aja fertig ist.

Mit einem tiefen Seufzer geht er schließlich zur Hintertür, wo Kai zu seiner Überraschung auf ihn wartet. »Kai, bitte. Ich brauche jetzt wirklich mal eine Weile für mich allein. Keine Angst, ich laufe schon nicht weg.« Deutlich ist zu erkennen, dass er jedes Wort ernst meint.

Kai wartet eine Weile und beobachtet die vorbeiziehenden Wolken, nachdem Yari ins Haus gegangen ist, hat er doch auch den Satz verstanden, den sein Freund nicht ausgesprochen hat, nämlich dass er nicht mal weglaufen könnte, wenn er wollte, da er durch seinen Status als Sklave an Kai gebunden ist.

Als Kai dann auch ins Haus geht, ist aus dem Wohnzimmer schon das Lachen von Aja zu hören.

»Hallo, Aja. Na, bist du schon fleißig dabei, Großvater von seiner Haarpracht zu befreien?« Grinsend lässt er sich von seiner immer noch lachenden Freundin umarmen.

»Hallo, Kai. Natürlich. Ren hat für sein Alter einfach unglaublich viele Haare, die müssen geschnitten werden.« Mit bester Laune nimmt sie ihre unterbrochene Arbeit wieder auf. »Yari war kurz hier und hat gesagt, dass er in seinem Zimmer ist und wir ihn rufen sollen, wenn er dran ist.« Obwohl sie hoch konzentriert am Arbeiten ist, blickt sie kurz zu ihm rüber. »Hattet ihr beiden Streit? Er wirkte irgendwie angespannt.«

Da Kai nicht weiß, was er sagen soll, nickt er einfach nur, während er sich an die Wand lehnt, und mustert nun das weiße Leinentuch, das Aja immer auf den Boden unter dem Stuhl legt, damit die Haare später nicht in der ganzen Wohnung herumfliegen. Diese stumme Bestätigung bringt ihm nicht nur von Aja einen erstaunten Blick ein, sondern auch von seinem Großvater.

Der sitzt zwar ebenfalls mit einem Leinentuch umwickelt ruhig auf dem Stuhl, aber trotzdem sehen die alten Augen deutlich, wie bedrückt sein Enkel ist. »Kai, das ist ja auch kein Wunder. Du hast Yari schon wieder vor vollendete Tatsachen gestellt und als er dann auch noch nachgefragt hat, was es mit Wladiwostok auf sich hat, hast du einfach geschwiegen. Versuch dich einfach mal in ihn hineinzuversetzen, dann kannst du dir ja vorstellen, wie es in ihm aussehen muss.« Leider kann er seinen Enkel nun nicht mehr ansehen, da Aja ihm nachdrücklich den Kopf nach unten drückt, um besser an die Nackenhaare zu kommen.

Zerknirscht nickt Kai vor sich hin. »Sag mal, wo ist denn Rashid?«, fragt er plötzlich. Bis jetzt ist ihm gar nicht aufgefallen, dass der große Ägypter nicht im Wohnzimmer ist.

»Ach, der ist unten in der Küche und macht für Yari einen Um Ali. Er meinte, dass es vielleicht seine Laune heben wird, wenn er etwas Süßes bekommt«, meint Ren, der immer noch mit gesenktem Kopf dasitzt.

Kai kann nur bedrückt den Kopf schütteln. Ob das diesmal reichen wird? So wütend hat er Yari noch nie erlebt.

Nachdem Aja bei Ren die Haare fertig geschnitten hat, erlöst sie ihn von dem Leinentuchwickel und mustert ihn zufrieden. »So, du bist bereit, der Damenwelt wieder den Kopf zu verdrehen«, zwinkert sie ihm lächelnd zu, bevor sie sich zu Kai umdreht. »Also, dann würde ich sagen, dass ich mit dir weitermache, damit Yari noch etwas mehr Zeit hat, um sich zu beruhigen.«

Da Kai der Logik nichts entgegensetzen kann, nickt er und folgt seiner Freundin runter ins Badezimmer, wo sie ihm wie immer hilft, auch wirklich alle Haare nass zu bekommen, ohne dabei das halbe Bad unter Wasser zu setzen.

Unterdessen sitzt Yari auf seinem Bett und hält Osis in den Händen, den er nachdenklich mustert. Wieso fühlt er sich nur so seltsam, seit er mit Kai diesen Streit gehabt hat? Leider kann ihm der kleine Stoffdrache auch keine Antwort darauf geben, weshalb Yari mit glasigem Blick aus dem Fenster starrt.

Erst als Kai ihn ruft, richtet er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Hier und Jetzt. »Ja, ich komme.« Seine innere Stimme ignorierend, dass er sich weigern soll, steht Yari auf und geht zu Kai, der ruhig in der Tür steht.

»Aja ist schon unten im Badezimmer und wartet dort auf dich.«

Yari nickt und geht runter ins Bad, wo er von der lächelnden Aja erwartet wird.

»Da bist du ja.« Sie deutet zur Badewanne. »Am besten ziehst du gleich das Oberteil aus und beugst dich über den Wannenrand, damit ich dir dabei hel… Was hast du denn, Yari?«

Verwirrt sieht sie ihn an, denn Yari weicht mit panischen Gesichtsausdruck immer weiter zurück. Besorgt geht sie einen Schritt auf ihn zu, doch das bewirkt nur, dass ihr Gegenüber noch einen Schritt macht und jetzt mit der Wand im Rücken dasteht und schwer atmet.

Jetzt wird ihr klar, dass sie Hilfe braucht. Sie will gerade Kai holen, als dieser ins Bad blickt.

»Klappt es?« Alarmiert durch Ajas Gesichtsausdruck kommt er rein und erkennt sofort, dass sein Freund mit einer Panikattacke zu kämpfen hat. Am liebsten würde er sofort zu ihm stürmen, doch da Kai weiß, dass das kontraproduktiv wäre, macht er genau das Gegenteil. Ganz ruhig greift er nach Yaris Händen, sodass dieser sie wegziehen könnte.

»Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich habe ihm nur gesagt, dass er sich das Oberteil ausziehen und sich dann über den Wannenrand beugen soll.« Verwirrt und besorgt steht Aja da und weiß nicht, was sie tun soll.

»Dann weiß ich, was los ist. Ich kümmere mich hier um alles und wir kommen dann hoch ins Wohnzimmer«, sagt Kai und wirft Aja einen beruhigenden Blick zu.

Kaum ist er mit seinem Freund allein, wendet Kai seine ganze Aufmerksamkeit ihm zu. »Yari, hör auf meine Stimme und versuche, ganz ruhig ein und aus zu atmen. Immer wieder ein und aus.« Bewusst lässt Kai seine Stimme ganz ruhig klingen. »Wir sind allein und es kann dir nichts passieren. Ich bin bei dir und …«

Schmerzhaft stöhnt Kai auf, als sein lockerer Griff plötzlich so stark erwidert wird, dass er glaubt, ihm würden jeden Moment die Knochen brechen. Doch das dauert nur Sekunden, dann findet er sich in einer schraubstockartigen Umarmung wieder.

Nach Luft schnappend schlingt auch er seine Arme um den zitternden Yari. »Ganz ruhig, lass es raus.«

Dieser Aufforderung kommt Yari nur zu gern nach. Sich an Kai festklammernd, lässt er den Kopf an dessen Schulter sinken und beginnt leise zu erzählen. Wie er immer wieder dazu gezwungen wurde, sich auszuziehen und irgendwo drüber zu beugen und was dann passierte.

Während Kai ihm zuhört, fährt er mit den Händen immer wieder sanft über Yaris Rücken. Dabei versucht er die Wut und das Entsetzen über das, was er da hört, zu ignorieren oder wenigstens runter zu schlucken, denn jetzt braucht Yari ihn als Freund und Stütze.

Schließlich stehen sie nur noch schweigend da. Zögernd löst sich Yari und blickt Kai unsicher in die Augen. Lächelnd erwidert Kai den Blick und streicht seinem Freund eine Strähne hinters Ohr.

»Bleib bitte bei mir. Ich weiß nicht, ob ich …«

»Natürlich bleibe ich und helfe dir, wenn du es möchtest.« Sanft legt Kai die Hand an Yaris Wange. »Fühlst du dich bereit oder soll ich Aja nach Hause schicken?«

Besorgt sieht er, wie es in den himmelblauen Augen zu flackern beginnt und Yari dann auf der Unterlippe kauend zur Badewanne blickt. »Ich weiß es nicht, aber ich will es versuchen.«

Mit einer Entschlossenheit, die ihn selbst überrascht, löst sich Yari aus Kais Armen und geht zur Badewanne. Die Zähne zusammenbeißend zieht er sich das Oberteil über den Kopf und greift nach der Brause. Unsicher, was er jetzt tun soll, sieht er zu Kai, der sich mit einem beruhigenden Lächeln neben ihn auf den Wannenrand setzt.

»Du musst dir nur die Haare gründlich nass machen. Aja wollte dir nur helfen, damit du nicht das halbe Bad unter Wasser setzt, aber du kannst es auch allein machen und natürlich auch so, wie du dich dabei am wohlsten fühlst.«

Nachdenklich nickt Yari und lässt dann das Wasser laufen. Er beugt sich nur so weit wie nötig über die Wanne und lässt das Wasser über seinen Kopf laufen.

Ruhig dasitzend sieht Kai ihm zu und ist stolz auf seinen Freund. Er weiß nicht, ob er selbst den Mut und die Kraft hätte, sich immer wieder diesen Ängsten zu stellen. Weil er spürt, dass er keine hektische Bewegung machen darf, greift Kai so langsam wie möglich nach dem Handtuch, das Aja bereitgelegt hat, und legt es seinem Freund um die Schultern, nachdem dieser sich wieder aufgerichtet hat.

»Du bist geschickter als ich. Wenn ich mir allein die Haare nass machen muss, spritzt es in alle Richtungen.«

Yari sagt nichts dazu, sondern greift nach seinem Oberteil, aber Kai schüttelt den Kopf. »Glaub mir, es ist deutlich angenehmer, wenn du beim Haareschneiden das Oberteil nicht trägst. Zwar wickelt Aja uns immer ein Leinentuch um den Oberkörper, aber trotzdem gibt es immer diese fiesen kleinen Härchen, die drunter rutschen, sich im Stoff festsetzen und dann einfach nur kratzen und stechen.«

Yari nickt. »Bei Sklaven wird da nie so drauf geachtet. Entweder müssen wir uns die Haare selbst schneiden, wenn es der Besitzer verlangt, oder es wird von einem anderen Sklaven oder Bediensteten gemacht, indem die Haare einfach büschelweise gepackt und dann abgeschnitten werden. Oder es wird gleich eine Glatze rasiert.«

Weil er sich nackt fühlt, versucht Yari, die Handtuchenden ein wenig mehr zusammenzuziehen, was ihm leider nicht wirklich gelingt. Um wenigstens ein wenig Sicherheit zu bekommen, greift er nach Kais Hand und lässt sie auch nicht mehr los, als er mit ihm nach oben ins Wohnzimmer geht.

Dort sitzen Aja und Ren Tee trinkend und schwatzend zusammen. Instinktiv versucht Yari, sich hinter Kai zu verstecken, als ihn die beiden bemerken.

»Yari, da bist du ja.« Mit einem freundlichen Lächeln steht Aja auf. »Wenn du bereit bist, setz dich bitte auf den Stuhl und dann lege ich dir ein Leinentuch um, damit du nicht ganz so voll mit Haaren wirst.« Auffordernd deutet sie mit der Hand auf den Stuhl, der auf dem großen Leinentuch steht, und greift dann nach dem anderen Tuch.

Sich regelrecht an Kai festkrallend, setzt sich Yari mit klopfendem Herzen hin. Er wäre am liebsten wieder aufgesprungen, als ihm von hinten das Tuch umgeworfen und dann im Nacken verknotet wird. Zittrig holt er tief Luft, dabei packt er Kais Hand noch fester, als sich dieser von ihm lösen will. »Bleib!«, flehend sieht er ihn an.

Kai nickt. »Ich gehe nicht weg. Ich wollte zwar nur kurz den Stuhl holen, aber es geht auch so.« Weil er Aja nicht unnötig stören will, stellt sich Kai für den Moment direkt vor Yari.

Aja lässt sich nichts anmerken. »Hast du irgendeinen Wunsch, wie du deine Frisur haben möchtest?« Zwar würde sie gern wissen, was genau los ist, aber nachdem sie den Blick von Kai gesehen hat, verzichtet sie auf Fragen nach Yaris Befinden.

Da Yari nicht damit gerechnet hat, dass er nach seinen Wünschen gefragt wird, muss er einen Moment lang nachdenken. »Ich will keine Glatze, ansonsten ist es mir egal.« Nur mit Mühe kann er das Zittern aus seiner Stimme fernhalten, will er doch nicht, dass sie merkt, wie viel Angst er gerade hat.

»Gut, dann werde ich dir eine pflegeleichte Frisur machen, die zu dir passt.«

Vorsichtig beginnt sie zu schneiden und achtet dabei darauf, Yaris Haut möglichst wenig zu berühren. Sie hält den Schnitt bewusst einfach, da sie sich sonst mehr mit den Fingern an ihm abstützen müsste.

Immer wieder muss Yari die Augen schließen und tief durchatmen, um seine zum Zerreißen gespannten Nerven wenigstens ein wenig unter Kontrolle zu halten und nicht aufzuspringen, was ihm stellenweise sehr schwerfällt, besonders, als Aja seinen Kopf nach vorn beugt, damit sie besser an die Haare im Nacken kommt. Oder als sie sich vor ihn stellt und mit der Schere mehr oder weniger direkt vor seinen Augen herumhantiert.

Schweigend steht Kai entweder neben oder vor seinem Freund und beobachtet ihn ganz genau, damit er sofort einschreiten kann, wenn es ihm zu viel werden sollte. Doch Yari scheint sich gut unter Kontrolle zu haben, zumindest lässt er sich vor Aja nichts anmerken, obwohl Kais Hand immer mal wieder beinahe schmerzhaft gedrückt wird.

»So, Yari, wir sind beinahe fertig. Ich werde jetzt nur noch mit dem Messer den letzten Schliff machen und dann hast du es überstanden.« Aja ist erleichtert. So langsam macht sie sich wirklich Sorgen um den angespannten jungen Mann. So kreidebleich wie er trotz seiner gebräunten Haut ist, würde es sie nicht wundern, wenn er plötzlich umkippt.

Sie greift nach dem Messer und beginnt dann die Haarspitzen zu bearbeiten, damit leichte Stufen entstehen, wodurch die dichten Haare nicht mehr ganz so schwer und kompakt wirken.

Nach ein paar Minuten legt sie das Messer zur Seite und geht musternd um Yari herum. »So, du bist fertig.« Zufrieden mit ihrer Arbeit, stellt sie sich hinter ihn und löst den Knoten von dem Leinentuch, das sie ihm dann sehr vorsichtig abnimmt.

Erleichtert springt Yari auf und will schon nach seinem Oberteil greifen, als er von Kai zurückgehalten wird.

»Geh erst mal duschen. Du hast überall kleine Härchen auf Schultern und Rücken.«

Ergeben nickt Yari, behält das Oberteil aber in der Hand. Kai wird er sowieso nicht loslassen, bis er sich entweder im Bad eingeschlossen hat oder wieder etwas mehr als nur eine Hose trägt.

So kommt es, dass er Kai mehr oder weniger mit sich nach unten zieht und wirklich erst vor der offenen Badezimmertür dessen Hand loslässt. Allerdings geht er nicht sofort ins Bad, sondern gibt Kai erst noch einen schnellen Kuss. »Danke.«

Noch bevor Kai reagieren oder etwas sagen kann, steht er verdutzt vor der geschlossenen Tür und hört, wie der Schlüssel umgedreht wird. »Gern geschehen«, stammelt er.

Die Hände in den Hosentaschen vergrabend geht Kai wieder nach oben, wo Aja schon dabei ist, die Haare auf den Leinentüchern vorsichtig in einen großen Eimer zu verfrachten.

»Ah, Kai, da bist du ja wieder. Sagst du mir jetzt, was mit Yari los ist? Solche Panik vor dem Haareschneiden ist für einen erwachsenen Mann schon sehr ungewöhnlich.«

Um Zeit zu schinden, rückt Kai die ohnehin schon beinahe perfekt dastehenden Stühle nach. »Deine Aufforderung im Bad hat ihn an schlimme Erlebnisse erinnert. Es war nicht das Haareschneiden, was ihm Probleme gemacht hat, sondern dass du ihn dabei zwangsläufig berührt und dann auch noch mit dem Messer gearbeitet hast. Die Details erspare ich dir aber lieber.« Traurig sieht er Aja an, die ihn erschrocken ansieht. »Weißt du, ich wusste ja, dass es Sklaven sehr schwer haben, aber das, was Yari durchmachen musste, ist doch nicht mehr normal. Warum haben sie ihn so gequält?« Eine einzelne Träne läuft über seine Wange.

Bei dem Anblick erwacht Aja aus ihrer Schockstarre. Sofort eilt sie zu ihrem Freund und nimmt ihn in den Arm. Kai kann sich nun auch endlich gehen lassen und fängt hemmungslos an zu schluchzen.

»Ich kann dir auch nicht sagen, warum er so leiden musste. Ich kann nur vermuten, dass es an seiner Ausstrahlung liegt. Denn egal wie schlecht es ihm geht, strahlt er einen Stolz und eine Willensstärke aus, die für einen Sklaven so ungewöhnlich ist, dass es gewisse Menschen provozieren könnte.«

Als Kai sie verständnislos anblickt, holt Aja seufzend Luft. »Ich kann es nur vermuten, aber ich glaube, dass sie versucht haben, Yaris Willen zu brechen. Oder dass es sie erregt hat, wenn sie ihn zwingen konnten, ihnen bei allem, was sie verlangt haben, zu gehorchen.« Fest nimmt sie ihn wieder in den Arm. »Ach, Kai. Ich weiß, es ist hart und brutal, aber du darfst dich davon nicht fertigmachen lassen. Hör Yari zu und sei für ihn da, wie vorhin im Bad. Nur musst du auch immer daran denken, dass auch du jemanden zum Reden brauchst, wenn es dir zu viel wird, denn sonst wirst du irgendwann zusammenbrechen.«

Währenddessen hat sich Yari gründlich geduscht und auch die Haare noch einmal gewaschen. Fertig angezogen steht er vor dem Spiegel und muss zugeben, dass es so wirklich besser ist, als wenn ihm andauernd die Haare ins Gesicht fallen.

Nachdem er sich die feuchten Haare gekämmt hat, geht er mit schnellen Schritten in die Küche. Rashid und Ren ignorierend, die gerade das Mittagessen kochen, geht er schnurstracks in die Vorratskammer und schnappt sich eins der Honiggläser. Als er wieder rauskommt, hält ihm Ren nur schweigend einen sauberen Löffel hin. Sodass sich Yari mit dem Honig nur noch auf seinen Stuhl fallen lassen muss.

Während Yari mit geschlossenen Augen den ersten Löffel genießt, sehen sich Ren und Rashid nur schweigend an, bevor sie sich wieder ans Gemüseschneiden machen.

Seine Umgebung vollkommen ausblendend, gönnt sich Yari gleich noch einen Löffel. Zwar würde er eine große Tafel Nussschokolade bevorzugen, aber die wird er wohl nicht bekommen können.

Als ihm bewusst wird, was er da gerade gedacht hat, lässt er den Löffel beinahe ins Glas fallen. Wieso weiß er, dass er Nussschokolade mag, wenn er noch nie welche gegessen hat? Ist das etwa eine Erinnerung aus seiner Vergangenheit? Hat er damals Schokolade essen können?

Nachdem er noch einen dritten Löffel Honig gegessen hat, verschließt Yari das Glas wieder und stellt es zurück in die Vorratskammer, bevor er den Löffel abwäscht, den er bis jetzt im Mund gehabt hatte, um auch noch das letzte bisschen Honig auszukosten.

»Großvater, ich bin dann wieder im Stall, die Pferde noch ein wenig bewegen und füttern«, sagt er, ohne zu wissen, wie spät es überhaupt ist.

»Ist gut, wenn du dann später Zeit und Lust hast, können wir ja nach dem Mittagessen noch eine Partie Schach spielen.«

Der Vorschlag lässt Yari in der Tür nachdenklich innehalten. »Ja, das können wir machen. Aber nur eine Partie.«

Als Ren ihn daraufhin glücklich anblickt, weiß Yari, dass er das Richtige gesagt hat. Und so eine kleine Ablenkung wird ihm selbst sicher auch guttun.

Während sich Yari im Stall um die Pferde kümmert, hat sich Kai bei Aja ausweinen und wenigstens einen Teil seiner Gefühle von der Seele reden können. Dafür hilft er ihr nun beim Aufräumen.

»Willst du nachher noch mit uns essen?« Fragend blickt er von dem Leinentuch auf, das er gerade zusammenfaltet.

Doch seine Freundin schüttelt den Kopf. »Ich würde ja gern, aber ich habe noch das Kleid der Aino zu nähen. Übrigens mit dem scheußlichen Stoff, den du ihr verkauft hast. Diese Frau hat wirklich einen Geschmack, der einzigartig ist.« Lachend schüttelt Aja den Kopf, während sie die Scheren und das Messer sorgfältig in dem Lederetui verstaut, das sie sich vor Jahren extra genäht hat.

Ganz Gentleman trägt ihr Kai die Tasche die Treppe runter und hält ihr die Tür auf. »Danke, Aja. Für alles. Und besonders, dass du immer so viel Geduld mit uns hast.« Wirklich dankbar umarmt er sie fest.

»Ach, Kai.« Aja sieht ihren Freund mit all der freundschaftlichen Zuneigung, die sie für ihn empfindet an. »Das mache ich doch gern. Ich sage dir eins: Mir ist es lieber, wenn Yari so offen seine Gefühle zeigt, als wenn er so ruhig und verkrampft ist, wie damals beim Maßnehmen. Da warte ich gern und trinke mit Ren einen Tee.« Noch einmal drückt sie mit ihrer freien Hand Kais Schulter, da sie inzwischen die Tasche in der anderen Hand hält. »Also, Kai, wir sehen uns. Halt die Ohren steif.«

»Das musst du aber auch, meine Liebe«, grinst Kai zwinkernd. »Wir sehen uns spätestens, wenn ich von Edo zurück bin, damit wir die restliche Planung für Wladiwostok erledigen können.«

Lachend geht Aja die paar Stufen nach unten. »Ja, spätestens dann.« Mit einem letzten Winken zwinkert sie ihm noch einmal zu, ehe sie sich auf den Weg nach Hause macht, um das wohl scheußlichste Kleid, das sie bis jetzt machen musste, zu schneidern.

Noch eine Weile bleibt Kai in der offenen Tür stehen, bis er sie mit einem tiefen Seufzen wieder schließt. Jetzt muss er sich wirklich langsam an die wöchentliche Buchhaltung setzen, sonst wird er heute ganz sicher nicht mehr fertig werden.

Zu seiner eigenen Überraschung ist Kai dann schon beinahe fertig, als Rashid ins Lager kommt, um ihm zu sagen, dass das Mittagessen fertig ist. Erleichtert, dass er nach dem Essen nur noch die Einnahmen vom Samstag eintragen und dann die Wochenabrechnung machen muss, steht Kai auf.

In der Küche warten wirklich schon alle auf ihn. Kurz zögert Kai. Auch wenn ihm Yari vor dem Bad einen kleinen Kuss gegeben hat, weiß er nicht, ob sein Freund nun den üblichen Begrüßungskuss zulassen würde. Da Yari ihm auch mit keiner Geste zu verstehen gibt, was er machen soll, geht Kai zu seinem Stuhl und setzt sich hin.

Verwirrt, weil Kai sich anders verhält, als in den letzten Tagen, sieht Yari ihn über den Tisch hinweg an. Dabei vergisst er beinahe, sich auch etwas von der Reispfanne zu nehmen, so sehr ist er in seine Gedanken vertieft. Wenn Rashid nicht mit ihnen am Tisch sitzen würde, könnte er Kai ja einfach darauf ansprechen, aber das will Yari nicht und einfach so über den Tisch nach der Hand seines Shariks greifen will er auch nicht. Also streckt er vorsichtig sein linkes Bein aus, bis er mit dem Fuß den von Kai anstupsen kann.

Sofort schnellt Kais Kopf nach oben und er sieht ihn erstaunt an.

Da Kai sonst nichts macht und auch sein Bein nicht zurückzieht, erwachen in Yari Spieltrieb und Neugier. Mit einem unschuldigen Blick lässt er seinen Fuß ein wenig an Kais Wade nach oben und unten gleiten, während er sich in aller Ruhe eine Gabel voll Reis in den Mund schiebt.

Innerlich lachend beobachtet Ren, wie Kais Wangen rot anlaufen. Er kann sich denken, was Yari da unter dem Tisch gerade macht. Schmunzelnd blickt er zu Yari und dann zu Rashid, der gerade mit gerunzelter Stirn Kai ansieht und wohl etwas sagen will.

»Rashid, hast du wieder diesen Brotauflauf gemacht?«, kommt Ren ihm zuvor.

Das Ablenkungsmanöver gelingt. Rashid wendet sich Ren zu und sagt: »Ja, Meister Ren.«

Yari wendet sich sofort Rashid zu: »Du hast Um Ali gemacht?« Mit glänzenden Augen sieht er den großen Ägypter an.

Der nickt amüsiert. »Ja, das habe ich. Mich erstaunt es aber, dass du noch nicht gefragt hast, was da auf der Ablage steht.« Er deutet auf die große Auflaufform, die Yari von seinem Platz aus noch gerade so hinter Kai erkennen kann.

Am liebsten würde Yari jetzt sofort aufstehen. Weil er aber weiß, dass es Ren überhaupt nicht leiden kann, wenn er das Dessert noch während des Essens auf den Tisch stellt, bleibt er sitzen. Er isst in Rekordzeit auf, muss dann aber auf die anderen warten und hibbelt schon beinahe auf seinem Stuhl herum, bis auch sie endlich mit dem Essen fertig sind.

Kai muss sich erst wieder ein wenig beruhigen, weshalb er etwas länger als die anderen braucht, bis er seinen Teller leer gegessen hat. Dafür übernimmt auch er es, die Teller zusammenzustellen und in die Spüle zu stellen, während Rashid die Auflaufform mit dem Um Ali auf den Tisch stellt.

Kaum hat Yari endlich seine extragroße Portion Um Ali vor sich stehen, kann es sich auch schon nicht mehr beherrschen und schiebt sich gierig den ersten Löffel in den Mund. »Mhhhhh, das ist einfach zu lecker.«

Kurz sieht Kai verwirrt zu Yari, hat er doch außer dem »Mhhhh« nichts verstanden, da Yari wieder Ägyptisch gesprochen hat. Als er dann aber das verlegene Strahlen in Rashids Gesicht bemerkt, schmunzelt er wissend vor sich hin.

Obwohl Rashid diesmal die große Auflaufform genommen hat und die Reispfanne sehr sättigend war, bleibt wieder nichts von dem Um Ali übrig. Dafür lehnt sich Yari stöhnend auf seinem Stuhl zurück. »Puh, ich habe wohl ein bisschen zu viel gegessen.«

Die anderen kichern.

»Du hast fast die Hälfte allein gegessen«, schmunzelt Ren und beschließt, dass es erst mal nichts Süßes mehr geben wird. Nicht dass Yaris Körper doch noch überfordert wird, da dieser sich sicher nicht so schnell von fünf Hungerjahren auf normales Essverhalten und dazu noch so viel Süßes umstellen kann.

Kai steht auf. »So, ich geh dann mal die Buchhaltung fertigmachen. Heute Abend übernehme ich es, die Küche aufzuräumen. Ist das für euch in Ordnung?«

»Ist gut, dann räumen wir drei auf und danach spielen Yari und ich Schach«, stimmt Ren zu.

Das lässt Kai erstaunt zu Yari blicken, hat dieser doch schon seit Rashid hier ist, nicht mehr mit seinem Großvater Schach gespielt. Doch Yari zuckt nur mit den Schultern, während er zusammen mit Rashid den Tisch abräumt.

Da die beiden jungen Männer gut zusammenarbeiten, holt Ren das Schachbrett aus dem Wohnzimmer nach unten und stellt es auf den Küchentisch. Kurz sieht er zu den beiden jungen Männern, die sich auf Ägyptisch unterhalten, während Rashid abwäscht und Yari das saubere Geschirr zum Abtrocknen reicht. Bis auf den ziemlich großen Abstand, der zwischen den beiden herrscht, sodass sowohl Rashid als auch Yari ihre Arme ganz ausstrecken müssen, damit das Geschirr übergeben werden kann, sieht das Bild ziemlich normal aus.

Als dann auch die Auflaufform an ihrem Platz verstaut ist, hängt Yari das Geschirrtuch an den Haken und wendet sich dem Schachbrett zu. »Wer fängt an?« Fragend sieht er Ren an, der grinsend eine schwarze und eine weiße Schachfigur in die Hände nimmt und diese hinter seinem Rücken versteckt.

»Weiß beginnt.«

»Dann will ich deine rechte Hand sehen.« Dass sie jedes Mal dieses kleine Spielchen vor einer Schachpartie veranstalten müssen, findet er irgendwie lustig, nur würde er das dem alten Mann niemals zeigen. Vor allem da er weiß, dass er immer die schwarze Figur erwischt, wenn sie das machen. So auch diesmal, denn als Ren die Hand öffnet, liegt da der schwarze Bauer.

»Was für ein Zufall, dass ich schon wieder Schwarz habe«, spottet Yari mit einem leichten Schmunzeln und setzt sich auf seinen üblichen Platz.

Kaum haben sie das Brett so gedreht, dass er die schwarzen Figuren vor sich stehen hat, geht es auch schon los.

Wie fast immer eröffnet Ren die Partie mit dem zweiten Bauern von rechts, den er um zwei Felder nach vorn rückt.

Eigentlich kontert Yari ja immer damit, dass er den Bauern gegenüber auch zwei Felder vor zieht, aber diesmal nimmt er den Bauern auf der anderen Seite. Mal sehen, wie Ren darauf reagieren wird, ist das doch keiner seiner üblichen ersten Züge.

Tatsächlich runzelt Ren nachdenklich die Stirn und entscheidet sich dann für den Springer, den er nun direkt vor den Bauern stellt.

Davon lässt sich Yari jedoch nicht beeindrucken, sondern lässt nun seinen Läufer vorrücken.

Neugierig beobachtet Rashid, wie die beiden die Figuren auf dem Feld hin und her bewegen. Zwar kennt er vom Zusehen die Grundregeln, aber selbst gespielt hat er noch nie. Außerdem würde er es auch nie wagen, das Spiel der Könige so zu entweihen, indem er es selbst spielt, denn es ist eigentlich den freien Bürgern vorbehalten, Schach zu spielen.

Yari und Ren sind so in ihre Partie vertieft, dass sie gar nichts mehr um sich herum mitbekommen, bis Yari plötzlich von hinten umarmt wird.

Erschrocken zuckt er zusammen. »Kai! Erschreck mich doch nicht so!« Erschrocken sieht er zur Seite und in Kais Gesicht.

»Entschuldige.« Dieses Wort sagt Kai laut und deutlich und dann deutlich leiser, sodass ihn nur sein Freund verstehen kann. »Das war die Rache für heute Mittag.« Am liebsten würde er ihm ja nun einen Kuss auf die Wange oder noch lieber auf die Lippen drücken, aber weil er weiß, dass dies für Yari zu viel wäre, legt er seinen Kopf einfach nur auf dessen Schulter ab. »Wenn es dich nicht stört, bleibe ich so stehen. Wer gewinnt?« Aufmerksam mustert er das Schachbrett, auf dem nur noch gut die Hälfte der Figuren stehen.

Da Yari jetzt mit seinem Zug dran ist, lässt er die Dame zwei Felder vorrücken, um seinen Angriff auf den König vorzubereiten. »Solange du mich nicht behinderst, kannst du ruhig so bleiben. Wenn es so weitergeht, ist Großvater in drei Zügen schachmatt.«

Diese Aussage lässt Kai leise kichern und Rashid geschockt dreinschauen.

Ren lässt sich nichts anmerken, sondern macht nun die Rochade, um den König aus der offensichtlichen Gefahrenzone zu bringen. »Das werden wir ja sehen, mein Junge. So schnell gebe ich mich nicht geschlagen.« Mit verschränkten Armen lehnt er sich zurück und wartet auf den Konter von Yari.

Der verschiebt den Turm um vier Felder nach rechts. »Danke, auf die Rochade habe ich schon gewartet. Noch zwei Züge.«

Entsetzt, wie selbstsicher Yari mit Meister Ren spricht, blickt Rashid zu ihm und würde am liebsten sagen, dass der andere es sich doch nicht erlauben darf, den Meister zu besiegen und das dann auch noch so anzukündigen!

In aller Ruhe wartet Yari auf den nächsten Zug seines Gegners, während er nun unbewusst mit den Fingern über Kais Handrücken streichelt, da er die Hand gerade so praktisch auf seiner Brust liegen hat.

Wie er es erwartet hat, platziert Ren seinen letzten Läufer beim König. »Nur noch ein Zug«, sagt er. In aller Ruhe lässt er seine Dame den Läufer schlagen. »Schach.«

Nun ist es an Ren leise vor sich hin zu fluchen, ist er doch auf den wohl ältesten Trick der Schachwelt reingefallen und hat Yaris Dame vergessen, die dieser bis jetzt nur minimal bewegt hatte. Da er weiß, dass er wirklich mit dem nächsten Zug schachmatt sein wird, kippt er seinen König um. »Du hast gewonnen. Noch eine Partie? Und diesmal mache ich es dir nicht so leicht.«

»Ich habe doch gesagt, nur eine Partie«, seufzt Yari mit einem Blick an die Decke. Dann sieht er zu Rashid. »Übernimmst du den Stall?« Dies sagt er für alle verständlich, wechselt dann aber die Sprache. »Großvater wird jetzt sowieso keine Ruhe mehr geben, bis ich Ja sage.«

Überrascht von der Bitte nickt Rashid. »Na’am. Die übliche Nachmittagsversorgung?« Er freut sich, dass er noch einmal die Pferde versorgen kann.

»Na’am. Die Netze sind auch schon fertig gestopft und müssten den beiden jetzt gegeben werden.« Auch wenn es Rashid nicht zeigt, weiß Yari, dass sich dieser über die Bitte freut.

Nun wendet er sich wieder Ren zu. »Dreh das Brett um, jetzt bin ich mit Weiß dran.«

Dass Kai ihn immer noch umarmt, stört Yari kein bisschen. Im Gegenteil, es ist sehr angenehm und vielleicht lernt Kai ja noch etwas, wenn er ihm zusieht. Denn leider ist sein Sharik ein hundsmiserabler Taktiker, wenn es nicht um Preisverhandlungen geht.

Mit einem fiesen Grinsen eröffnet Yari das Spiel diesmal nicht mit einem seiner Bauern, sondern holt als Erstes den rechten Springer nach vorn, was Ren erstaunt die Augenbrauen hochziehen lässt.

Nicht nur dieser ist überrascht, sondern auch Kai. »Yari, was machst du da?«

»Ich dachte, ich probiere mal etwas Neues. Sieh einfach nur zu.« In Gedanken plant er schon seine nächsten Züge.

Es dauert ziemlich lange, bis sich Ren für einen seiner mittleren Bauern entscheidet und diesen um zwei Felder vorrücken lässt, hat er doch noch nie so eine Eröffnung gesehen, wie sie Yari gerade gemacht hatte.

Als Yari diesen Zug sieht, weiß er, dass er schon so gut wie gewonnen hat. Nur noch so zehn Züge, wenn er sich Zeit lässt, dann ist das Spiel vorbei. Anmerken lässt er sich seine Gedanken aber nicht, sondern setzt einfach nur einen seiner Bauern ein Feld weiter vor.

So geht es noch ein paar Züge, wobei Ren jedes Mal länger braucht, bis er sich für eine Figur entscheiden kann und sich dabei immer mehr fragt, was sein Gegner wohl vorhat, kann er doch kein System in der jetzigen Aufstellung der Figuren erkennen.

Nach neun Zügen hat Yari Rens König genau da, wo er ihn haben wollte. Mit einem breiten Grinsen setzt er seinen Springer in die perfekte Angriffsposition und hat so den gegnerischen König eingekesselt. »Schachmatt!«

Verblüfft blickt Ren auf das Schachbrett. »Wie hast du das gemacht? Das ist doch unmöglich.«

Weil das Spiel ruck-zuck vorbei war, konnte Rashid es verfolgen. Er kann wie Meister Ren nicht glauben, wie schnell es diesmal vorbei gewesen ist und auch, dass Yari Meister Ren schon wieder geschlagen hat. »Ich … bin dann mal im Stall.« Jetzt braucht er erst mal Zeit, um in Ruhe nachzudenken. Wieso kann Yari nur so gut Schach spielen und den Meister nicht nur einmal, sondern sogar zweimal hintereinander besiegen?

Von Rashids Verschwinden bekommt Ren gar nichts mit. »Ich verlange eine Revanche und diesmal wirst du es nicht so leicht haben.« Bestimmt dreht er das Brett wieder um und platziert die Figuren erneut auf ihren Plätzen.

Unbeeindruckt zuckt Yari mit den Schultern und blickt mit hochgezogener Augenbraue zu Kai, der inzwischen mehr oder weniger neben ihm auf dem Tisch sitzt. »Ich habe zugestimmt mit Großvater eine Partie zu spielen. Ich bin ja im Rechnen nicht so gut, aber drei Partien sind doch mehr als eine, oder?«

Nachdenklich reibt sich Kai das Kinn. »Gute Frage, aber ich denke, dass drei Partien das Dreifache von einer sind.« Breit grinsend beugt er sich zu Yari vor und haucht ihm einen Kuss auf die Lippen. »Aber ich befürchte, wenn du wieder gewinnst, wird es noch eine vierte Partie geben und vielleicht sogar eine fünfte, wenn es dann nicht schon Zeit fürs Abendessen ist … Was aber nicht heißt, dass du ihn gewinnen lassen sollst. Er hat jahrelang jedes Spiel gegen mich gewonnen, da tut es ihm ganz gut, wenn er mal zurechtgestutzt wird.«

»He, ich kann dich hören, junger Mann!« Ren funkelt seinen Enkel an, der ihn unschuldig ansieht.

»Was denn? Du genießt es doch, dass du dich mit einem stärkeren Gegner messen kannst.«

Daraufhin schüttelt Ren nur den Kopf und macht seinen ersten Zug mit einem der Bauern. »Ich kann doch auch nichts dafür, dass du immer noch auf Anfängerniveau bist, obwohl wir seit zehn Jahren beinahe jeden Sonntag spielen.«

Es kommt dann so, wie es Kai prophezeit hat: Weil Yari wieder gewinnt, gibt es noch eine vierte und fünfte Partie, die er allerdings massiv verkürzt, indem er sehr aggressiv spielt und so Ren schon nach je sechs Zügen so in die Enge drängt, dass dieser sich ergibt und den König umkippt.

»Ich geb’s für heute auf. Doch der nächste Sonntag wird kommen oder der nächste freie Nachmittag und ich sage dir, irgendwann werde ich dich besiegen.«

Diese Ansage lässt Yari nur die Schultern zucken. »Bestimmt … in zwanzig Jahren oder so. Auch wenn ich zugeben muss, dass du schon besser geworden bist.« Frech grinst er Ren an, der ihm mit ausgestrecktem Finger ebenso grinsend droht.

»Das werden wir ja noch sehen. Und wenn ich dich um Mitternacht für eine Partie aus dem Bett werfen muss: Irgendwann wirst du verlieren.«

Überhaupt nicht beeindruckt mustert Yari seine Fingernägel. »Das kannst du ruhig versuchen, aber das wird nicht klappen. Schließlich bin ich nicht so ein Morgenmuffel wie Kai.«

Das lässt Kai beinahe vom Tisch fallen. »He, lasst mich aus dem Spiel!« Empört springt er vom Tisch. »Ich decke mal den Tisch fürs Abendessen, ich habe nämlich langsam Hunger.«

Erstaunt blicken ihm Yari und Ren nach. Ist es denn wirklich schon so spät, dass Kai nach dem reichlichen Mittagessen schon wieder Hunger hat? Yari fühlt sich nämlich immer noch so voll, dass er locker auf das Abendessen verzichten könnte. Trotzdem steht er auf und hilft Kai beim Tischdecken, während Ren das Schachspiel wieder nach oben ins Wohnzimmer bringt und dann Rashid rein ruft.

Tatsächlich schafft es Yari nur ein kleines Stück Brot mit etwas Wurst zu essen, bevor er sich zurücklehnt und darauf wartet, dass auch die anderen mit dem Essen fertig sind.

Der Wüstensklave

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