Читать книгу Freunde auf vier Pfoten - J J Cullen - Страница 7
Hinkebein
ОглавлениеIch saß vor dem Office der Reiseagentur, die ab sofort mein Büro, mein neues Leben sein sollte. Jeden Tag, wenn ich die Tür aufschloss, kamen mir schon die Straßenhunde entgegen. Sie lagen vor der Tür, so dass ich sie nie übersehen konnte. Ich musste aufpassen, dass ich sie nicht trat. Sie bewachten das Büro. Keiner würde an ihnen vorbeikommen, der nicht in diesem Büro sein durfte.
Eines Tages lag da eine schwarze Hündin. Als ich mich näherte, sprang sie auf. Rannte scheu weg. Jetzt erst sah ich, dass ihre beiden Vorderpfoten nach innen gekippt waren und sie hinkte. Sie tat mir leid. Ich lief schnell in den Market, der im Inneren des Basars war, und holte Wasser für das verängstigte Tier. Ich stellte die abgeschnittene Wasserflasche mit dem sauberen und erfrischenden Nass etwas abseits. Durch die Scheibe beobachtete ich, wie sie sich zögernd näherte. Sah sich immer um, immer darauf gefasst, dass irgendetwas sie von ihrem Weg abhalten würde. Ein Lächeln spielte um mein Gesicht. Zum Glück waren die benachbarten Geschäfte noch geschlossen. So konnte sie in aller Ruhe schlabbern. Beinahe hatte sie ihren provisorischen Wassernapf geleert, als sie sich auf die andere Straßenseite begab und sich in den Schatten legte. Ich nutzte die Gelegenheit und ging wieder in den Market, um Wurst für sie zu holen. Zurück im Reisebüro suchte ich nach einem Messer. Und dann stand da noch vom Vorabend eine Polystyrol-Verpackung. Die nahm ich, schnitt die Wurst hinein. Wie sollte ich jetzt Hinkebein, so nannte ich sie im Geheimen, dazu bringen, die Wurst zu fressen? Ich überlegte, wie ich an sie herankommen könnte, um ihr das Fressen zu servieren. Langsam bewegte ich mich in Richtung andere Straßenseite. Noch hatte sie mich nicht bemerkt. Ich wollte keinen Fehler machen. Und so war ich mehr als vorsichtig. Schlich mich Stück für Stück an sie heran. Schon fast hatte ich sie erreicht, als sie den Kopf hob. Sie blickte mich mit unheimlich warmen, braunen Augen an, die aber auch Angst ausstrahlten. Wie angewurzelt blieb ich stehen. Hinkebeins Ohren stellten sich auf. Ich bewegte mich keinen Zentimeter, verharrte. Sie schien sich sicher zu fühlen und legte ihren Kopf wieder ab, schnaufte beseelt aus. Ich pirschte mich weiter behutsam voran. Bei jedem Schritt von mir stellten sich Hinkebeins Ohren auf. Wenn ich das sah, verharrte ich. Endlich stand ich mit meinem Designernapf vor ihr. Nun musste ich mich nur noch herabbeugen, um ihr das Futter hinzustellen. Doch ich wusste nicht, wie ich es so anstellen sollte, dass sie nicht wieder wegrannte. Ich musste es wagen. Vielleicht hatte ich ja Glück. Ich will dir doch nur etwas Futter geben, sprach ich ihr in Gedanken zu.
In Zeitlupe beugte ich mich zu ihr herab. Sie hob die Brauen und ließ mich nicht aus den Augen. Jedoch schien sie mir zu vertrauen, denn sie bewegte sich nicht. Sicher war ich mir jedoch nicht. Es konnte auch sein, dass sie von der unerträglichen Hitze, die bereits in den frühen Morgenstunden herrschte, zu schwach war, um wegzulaufen. Ich wollte das Risiko nicht eingehen, dass sie doch noch floh. Also war ich bei meinen Bewegungen so feinfühlig, wie es nur möglich war. Die Futterschüssel sollte ganz nah an sie gestellt werden. So nahe, wie es nur ging. Sie beobachtete mich, rührte sich aber nicht. Endlich stand das Futter an der Stelle, die ich mir ausgesucht hatte. Ich blieb vor ihr hocken, denn ich hatte Angst, mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Mit ihren lieben Knopfaugen beäugte sie das Futter vor sich. Ihr Kopf jedoch lag auf ihren Pfoten. Abwechselnd blickten die Augen auf die Wurst, dann wieder zu mir. Soll ich das nehmen oder nicht, schien sie mich zu fragen.
Hat sie vielleicht keinen Hunger, schoss es mir durch den Kopf. Und während ich noch darüber grübelte, wagte sich eine kleine schwarze Pfote nach vorn und angelte sich ein Stückchen Wurst, zog es zu sich heran. Die schwarze Nase von Hinkebein beschnüffelte die Wurst und dann gab es kein Halten mehr. Ruck-Zuck landete das Stückchen da, wo es hin gehörte – in dem hungrigen Bauch.
Was dann geschah, konnte ich kaum fassen. Sie erhob sich, tat so, als sei ich gar nicht da und verschlang ihr Frühstück. Ich hockte noch immer da. Meine Beine begannen langsam zu schmerzen. Mich zu erheben, wagte ich dennoch nicht. Gern hätte ich sie auch gestreichelt, aber auch das getraute ich mich nicht. Als der weiße Polystyrol-Napf leer war, zog sie sich wieder zurück. Ich sah sie glücklich lächelnd an und auch sie war anscheinend zufrieden und satt. Ich beobachtete sie noch eine Weile, bevor ich mich wieder ebenso langsam erhob, wie ich mich hingehockt hatte. Ich wandte mich der anderen Straßenseite zu, um mein Büro für die Kunden vorzubereiten.
Als ich fertig war, wollte ich noch den Sonnenschutz herunterkurbeln. Ich trat aus dem Büro und machte sofort einen Satz zurück. Direkt vor der Tür lag ein schwarzes Knäuel. Es war Hinkebein. Das konnte ich jetzt nicht glauben. Wie sollte ich jetzt herauskommen. Schließlich wollte ich sie nicht verjagen. Ich beugte mich zu Hinkebein herab. Mit zitternder Hand suchte ich ihren Kopf. Ich wagte es kaum, sie zu berühren. Dann endlich, meine Hand berührte ihr Fell. Das konnte doch nicht wahr sein. Ihr Kopf blieb auf dem Boden liegen. Sie ließ sich von mir streicheln. Ich hatte es geschafft. Es war so leicht gewesen, das Herz von Hinkebein zu erobern. In ihrem Fell spürte ich den Staub und den Sand. Meine Hände fühlten sich rau und unangenehm an. Sie hatte dringend ein Bad nötig. Im Moment aber unwichtig.
Die Touristen, die in mein Büro kamen, hatten alle viel Mitleid mit meinem Hinkebein. Leider sahen die Besitzer der benachbarten Geschäfte das nicht so. Immer wieder versuchten sie, Hinkebein zu vertreiben. Es gab sehr heftige Auseinandersetzungen mit den Männern. Ohne mich einschüchtern zu lassen, setzte ich mich durch. Wenn es Hinkebein zu viel wurde, ging sie in mein Büro und legte sich unter den Schreibtisch.
Zum Abendessen bestellte ich mir ein Paket mit Reis, Nudeln und Gulasch. An diesem Tag war das Paket nicht nur für mich. Ich riss den Deckel des Pakets ab und teilte mein Essen mit meiner neuen Freundin. Die Besitzerin des Silberladens kam zu mir, schaute auf uns beide und schüttelte nur lachend den Kopf und ging wieder. Es war Hinkebein anzusehen, dass sie sich wohlfühlte. Ich wusste, dass sie ein Straßenhund war. Sie wollte auf der Straße leben. So dachte ich. Hatte schon mehrfach die Erfahrung gemacht. Als der Nachtwächter kam und ich schon langsam mein Geschäft schloss, fragte er mich: „Soll ich mich um Hinkebein heute Nacht kümmern?“
„Das würdest du machen?“, fragte ich ungläubig.
„Na klar doch. Für dich mache ich das.“
Er grinste mich an.
„Was willst du?“, fragte ich schon etwas gereizt.
„Ich habe eine Idee. Morgen werde ich früher kommen und Holz mitbringen. Du kümmerst dich jeden Tag um die Hunde. Was ist, wenn es Winter wird? Dann sind sie alle dem Regen ausgesetzt. Ich werde für sie alle eine große Hundehütte bauen. Was hälst du davon? Schließlich kannst du nicht alle Tiere mit nach Hause nehmen.“ Er sah mich mit verschmitzten Augen an.
Ich blickte ihn ungläubig an. Verzog meinen Mund.
„Das würdest du machen?“ Er war einer der wenigen Menschen hier, der die Tiere nicht schlug oder nach ihnen trat.
„Ja“, war die knappe Antwort.
Mit einem breiten Grinsen nickte ich ihm zu. Ich war mir sicher, dass er am nächsten Tag damit anfangen würde. Auf ihn konnte ich mich verlassen.
Ich war mir sicher, dass sich Hinkebein wie jede Nacht am Strand zur Ruhe legen würde. Ich strich ihr liebevoll über den Kopf, wünschte ihr eine gute Nacht, schloss meinen Laden ab und ging nach Hause. Der Wachmann der Wohnanlage grüßte mich und wünschte mir einen schönen Abend. Ich drehte gerade den Schlüssel in der Wohnungstür um, als ich mein Telefon drinnen klingeln hörte.
Ich sprang aus meinen Schlappen und nahm den Hörer ab. Es war der Wachmann.
„Was ist los?“, fragte ich schon leicht panisch. War etwas mit dem Reisebüro nicht in Ordnung? Hatte ich vergessen, das Licht auszuschalten? Hatte man ihn angerufen, dass ich wieder zurückgehen musste?
„Du …“, begann er stammelnd. „Kurz nach dir ist hier ein Hund angekommen. Er hat zwei verkrüppelte Beine. Ich habe sie schon zwei Mal weg gejagt. Doch sie kommt immer wieder. Du bist doch so ein Tierliebhaber. Könntest du mal nach dem Tier sehen?“
Ich konnte förmlich durch das Telefon hören, wie er grinste. Schon mehrfach hatte ich Straßenhunde mitgebracht, sie gebadet und dann wieder in die Freiheit entlassen. Jedes Mal erntete ich nur Kopfschütteln. Das war mir aber egal. Die Tiere dankten es mir.
„Warte. Ich komme gleich noch mal runter“, antwortete ich, wusste ich doch, wer da um Einlass bat.
Ohne Schuhe rannte ich zum Lift. Er war noch in meiner Etage. Im Hinausrennen griff ich den Schlüssel. Ich rannte bis zum Eingangstor. Was ich da sah, glaubte ich nicht. Da stand mein Hinkebein. Also doch. Sie sprang am Tor hoch, als sie mich sah. Sie war mir gefolgt und ich hatte es nicht gemerkt. Ich schloss das Gartentor auf und verbeugte mich.
„Hab ich’s mir doch gedacht. Ihr kennt euch“, lachte der Wachmann. Ich nickte und grinste dabei breit.
„Willkommen, meine Schöne. Darf ich dir ein schönes Nachtlager anbieten?“
Der Wachmann lachte ebenfalls. „So eine verrückte Deutsche habe ich noch nicht kennen gelernt“, sagte er. „Aber du musst ein unendlich großes und gutes Herz haben.“
Ich nickte ihm zu: „Alles Okay. Danke, dass du mir Bescheid gegeben hast. Übrigens, weißt du überhaupt, dass die Tiere die besseren Menschen sind?“
Er sah mich fragend an. Diesen Satz hatte er nicht richtig verstanden.
„Wie meinst du das?“
„Ganz einfach. Tiere belügen und betrügen dich nie. Wenn du ihnen Gutes tust, danken sie es dir ein Leben ein. Denk mal darüber nach.“ Mit diesen Worten nahm ich meine Hundedame und sie folgte mir bereitwillig bis zur Haustür. Seine verwunderten Blicke spürte ich noch im Rücken.
Hier angekommen, schien sie es sich jedoch anders überlegt zu haben. Ich schloss die Tür auf und sie setzte sich. Sie wollte einfach nicht mit ins Haus gehen. Ich fasste mir ein Herz und schnappte sie, klemmte sie mir unter den Arm. Mit zappelnden Beinen trug ich sie in den Hausflur und dann in den Lift. Hier fing sie an zu fiepen, weinte regelrecht. Sie hatte unsägliche Angst. Die Fahrt in den achten Stock schien eine Ewigkeit zu dauern. Ich redet ihr gut zu, versuchte das gewonnene Vertrauen zu nutzen. Immer noch hielt ich sie fest unter meinem Arm. Ich nestelte meinen Schlüssel heraus und öffnete die Tür. Nun setzte ich die verängstigte Hündin ab. Schnell ließ ich die Tür hinter mir ins Schloss fallen.
Nun standen wir beide im Flur. Keiner wagte den ersten Schritt. Doch die Neugier von Hinkebein war größer. Sie ging auf Entdeckertour. Erkundete die ganze Wohnung. Ich ließ sie gewähren und gönnte mir nach dem anstrengenden Tag erst einmal eine heiße und erfrischende Dusche. Als ich fertig war, ging ich ins Schlafzimmer, denn wie jeden Abend war ich hundemüde. Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, im Dunkeln ins Bett zu fallen. Mit einem Satz saß ich wieder. Da war bereits jemand, der mir meinen Platz streitig machte. Ich tastete nach dem Schalter der Tischlampe und was ich da sah, ließ mich so lachen, dass ich mir den Bauch halten musste.
Einer Prinzessin gleich hatte es sich Hinkebein gemütlich gemacht. Den Kopf genüsslich auf das Kopfkissen gelegt. Normalerweise hätte ich nichts dagegen einzuwenden gehabt, doch sie war noch nicht gebadet, hatte noch den ganzen Dreck in ihrem Fell. Da musste ich wohl oder übel einschreiten.
„So haben wir aber nicht gewettet. Ich teile gern mein Bett mit dir. Aber ich werde mich nicht vertreiben lassen“, sagte ich. Ich schob sie etwas zur Seite und sie ließ es bereitwillig geschehen. Nun hatte meine WG einen neuen Mitbewohner. „Außerdem gelten bei mir Körperpflegerituale“, ergänzte ich noch, bevor ich einschlief.
Am nächsten Morgen frühstückten wir gemeinsam. Anschließend schnappte ich mir meine neue Mitbewohnerin und duschte sie. Erst jetzt sah ich, dass sie ein wunderschönes Fell hatte. Unbegreiflich, wie diese Hunde immer wieder den Glanz in ihrem Fell hatten. Dabei wurden sie kaum gepflegt. So sauber und gestylt gingen wir zusammen ins Reisebüro. Ihr Fell glänzte schwarz und braun in der Sommersonne.
Von nun an war Hinkebein meine ständige Begleiterin. Wenn ich mittags zum Strand ging, war sie bei mir und viel schneller als ich im Meer. Wenn ich nach Geschäftsschluss noch einkaufen musste, dann wartete sie in sicherer Entfernung. Ich konnte nur erahnen, welche Erfahrungen sie mit den Menschen gemacht hatte.
In den Wintermonaten leisteten wir uns den Luxus und gingen morgens über die Straße und dann in den angrenzenden Wald. Sie jagte davon und kam irgendwann wieder zurück. Auch wenn es regnete und ich das Büro nicht zu öffnen brauchte, unser Waldspaziergang war Pflicht. Ich konnte es kaum glauben, wie schnell sie war, obwohl ihre beiden Vorderpfoten so schräg zusammengewachsen waren. Einige Tage später erzählte mir ein Ladeninhaber, dass sie schon vor einem Jahr hier gewesen war. Ein Auto hatte sie überfahren. Er hätte sie damals zu einem befreundeten Tierarzt gebracht, der versucht hatte, ihre Beine wieder zu richten. Doch das war schwieriger als gedacht. Keiner hatte geglaubt, dass sie das alles überlebt hatte, denn schon kurze Zeit später war sie wieder verschwunden.
Abends dann heizten wir den Blechofen richtig ein. Denn der Winter in Antalya war ungemütlich, nass. Durch die Fenster zog es. Wir brauchten unbedingt unseren glühenden Ofen. Ich strickte und Hinkebein lag neben mir und schaute fern.
Sie teilte die Tage und Nächte mit mir. Die Hundehütte entstand am nächsten Tag, doch nicht mehr für Hinkebein, sondern für die anderen Straßenhunde. Der Wachmann war stolz auf sich und ich rang mir ein anerkennendes Lächeln ab.
Im März des darauffolgenden Jahres jedoch war mein Hinkebein paarungsbereit. Sie wollte nicht mehr jeden Abend mit mir nach Hause gehen. Ich ließ ihr die Freiheit. War sie doch ein Straßenhund. Ich freute mich schon auf Nachwuchs. Hoffte, dass mein Schatz einen hübschen Hundemann finden würde und sie gemeinsam eine Familie gründen könnten. Ich war so glücklich, denn da war auch ein recht hübscher Hundemann ständig in ihrer Nähe. Doch eines Morgens waren sie und ihr Mann nicht vor dem Büro. Stattdessen war der Wachmann noch da. Als er sah, dass ich kam, rannte er sofort zu seinem kleinen Häuschen und brachte Tee.
„Setz dich.“ Sein Ton ließ nichts Gutes erahnen.
„Was ist los? Wo sind Hinkebein und ihr Mann?“, fragte ich. Die eigenartige Stimmung konnte ich spüren.
„Bitte. Ich kann nichts dafür“, sagte er kaum hörbar.
„Bitte, setz dich“, wiederholte er.
Sanft drückte er mich auf eine Bank. Doch ich sprang hoch.
„Verdammt, was ist los? Sag‘ es mir!“ Ich wurde zunehmend ungehaltener.
„Wo sind die beiden Hunde?“ Mit wütenden Augen sah ich ihn an. Mir schwante etwas Furchtbares.
Ich fasste ihn an seinem T-Shirt.
Er griff nach meinen Handgelenken.
„Sie haben die beiden heute im Morgengrauen geholt.“
„Wer hat wen geholt?“
„Es ist Frühjahr. Da fahren sie rum und sammeln die Hunde ein.“
Langsam, ganz langsam stieg in mir eine Ahnung auf. Nein! Das konnte und durfte nicht sein. Mein Hinkebein war mit ihrem Mann von den Hundefängern geholt worden und zur Vergiftungsaktion an den Düden-Wasserfall gebracht worden. Ich musste mich beeilen. Die Zeit war knapp.
Ich riss mich los.
„Kannst du mir einen Gefallen tun?“, fragte ich den Wachmann.
„Du weißt, dass ich alles für dich tue, weil ich dich achte.“
„Wirklich alles?“
„Ja.“
„Gut. Dann wirst du heute mein Reisebüro leiten. Ich nehme das Auto und fahre zum Wasserfall. Ich muss versuchen, dass ich Hinkebein und ihren Mann retten kann.“
Er nickte und sprach: „Tue, was du tun musst. Ich bleibe hier. Aber bitte fahr langsam. Ein toter Engel nutzt niemandem.“ Was hatte er da gerade gesagt? Ich sah ihn verständnislos an.
„Ja, weißt du denn nicht, wie man dich hier hinter vorgehaltener Hand nennt?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Deutscher Hundeengel.“ Er grinste breit. Auch ich musste grinsen.
Ich war schon auf dem Weg zum Auto. Als ich diese letzten Worte vernahm. Ruckartig drehte ich mich um und warf ihm einen Handkuss zurück.
Scheinbar ohne Sinn und Verstand raste ich zum Düden-Wasserfall. Ich kannte die Stelle, wo die Säuberungsaktion, wie man die Vergiftung der Straßenhunde in der Türkei bezeichnet, durchgeführt wurde. Ich erreichte den Platz, sprang aus dem Auto. Der Schweiß lief wie ein Wasserfall von meiner Stirn. Doch ich rannte, als würde mein Leben davon abhängen. Da sah ich ein Auto stehen. Sie luden gerade Hunde aus. Eine unbändige Wut stieg in mir auf. Niemand konnte diese Schweinerei unterbinden.
Jedes Jahr die gleiche Prozedur. Mit Beginn der Hauptsaison kommen die staatlichen Veterinäre und sammeln die Hunde ein. Sie werden dann geimpft, gechipt und kastriert. Die Stadt bezahlt dafür eine Menge Geld. So will man der Hundeplage Herr werden. Und auch wenn ich diese Tiere über alles liebe, muss ich dennoch zugeben, dass sie an manchen Stellen schon zur Plage geworden sind. Doch die Vorgehensweise der Stadt soll der unkontrollierten Vermehrung Einhalt gebieten, was ich gut und richtig finde.
Aber dann kommen die jährlichen Säuberungsaktionen, wie man das Vergiften der Hunde netterweise bezeichnet. Im Frühjahr werden von der Stadt Hundefänger angeheuert, die die Tiere einfangen und sie dann zum Wasserfall bringen. Hier wurde schon vergiftetes Fleisch ausgelegt und die Tiere sterben einen qualvollen Tod. Was für eine sinnlose Aktion.
Und es war wieder so weit. Ich war wie von Sinnen.
„Halt. Stopp“, schrie ich.
Zwei Männer drehten sich zu mir um.
Als ich in ihre Gesichter sah, stieg in mir Hass auf, Hass auf diese Gesichter, die den Spaß an ihren Handlungen offen zugaben.
„Wo sind meine Hunde?“, schrie ich die beiden Galgenvögel an.
„Woher sollen wir das wissen?“ Ein hämisches Grinsen schickten sie hinterher.
Mit diesen Worten wandten sie sich wieder ihrer Arbeit zu.
„Hey, wo kommt ihr her?“ Diese Frage klang schon aggressiver.
„Von Kemer. Und jetzt nerv nicht so. Lass uns unsere Arbeit machen“, gaben sie gelangweilt zurück. Mein Ton und mein Schreien beeindruckten sie keineswegs.
Aber wo waren Hinkebein und ihr Mann?
Ich lief wie in Trance Richtung Wasserfall. Gleich zu Beginn der Wiese lagen schon die ersten Tiere, die sich in den letzten Atemzügen wanden. Mir drehte sich der Magen um. Mein Herz spürte ich in meinem Kopf hämmern. Grausam mussten sie den Weg über den Regenbogen beschreiten. Mir traten die Tränen in die Augen. Ich rannte kreuz und quer. Überall stieß ich an Kadaver oder an Hunde, die gegen den unbesiegbaren Tod ankämpften. Besinnungslos, ohne Plan hastete ich umher. Ich hatte schon fast die gesamte Wiese durchkämmt, als ich wie angewurzelt stehen blieb. Da lag Hinkebeins Mann. Er war schon über den Regenbogen gegangen. Tränen quollen aus meinen Augen. Gleich neben ihm lag Hinkebein. Sie war noch nicht tot. Doch ich sah, dass ich sie nicht mehr retten konnte. Sie zuckte, kämpfte gegen den Tod an. Ich kniete neben ihr nieder, hielt ihr linkes Vorderpfötchen. Die rechte Vorderpfote lag in der Pfote ihres Mannes. Als hätten sie sich geschworen, einander nie zu verlassen. Der Tränenschleier verhinderte eine klare Sicht.
Ich strich ihr über den Bauch und merkte, dass sich da etwas bewegte. Nein, schrie eine Stimme in mir. Sie war trächtig. Ihre Babys sollten mit ihr sterben. Der Schmerz ließ mich zusammensacken. Mit geballten Fäusten schlug ich auf den Boden. Wie können Menschen nur so grausam sein? Nur mit allerletzter Kraft blickte sie mich an und es schien mir, als wollte sie mir sagen: „Danke, dass du mir so schöne Lebenstage geschenkt hast.“
Ich nahm beide Hunde in meine Arme, legte mich zwischen sie und weinte. Erinnerte mich daran, wie ich sie das erste Mal vor meinem Büro sah, wie sie mir mein Bett streitig gemacht hatte. Ich ließ all die wunderbaren Erlebnisse mit ihr an meinem geistigen Auge Revue passieren.
Ich weiß nicht, wie lange ich da lag, als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte.
„Es tut uns leid. Aber wir hatten den Auftrag jeden Hund aus Kundu einzusammeln und hierher zu bringen. Die beiden hatten kein Halsband um. Sonst hätten wir sie nicht mitgenommen.“
Ganz langsam erhob ich meinen Kopf. Mit den Händen stützte ich mich ab, um meinen Körper zu heben.
„Ihr habt trotzdem den Anspruch, Mensch genannt zu werden, verwirkt.“ Meine Wut konnte ich kaum unter Kontrolle halten. Verachtung sprühte aus meinem Blick.
Mit diesen Worten nahm ich Hinkebein, trug sie zum Auto. Danach holte ich noch ihren Mann und fuhr davon. Ich begrub sie im Wald, wo Hinkebein immer auf mich gewartet hatte. Der Wachmann vom Basar war mit dabei. Er half mir, das Grab auszuschaufeln. Bei jedem Spatenstich gab ich meiner Wut Ausdruck, verwünschte die Menschen, die sich an diesen hilflosen Kreaturen vergingen. Ohnmächtig, etwas gegen dieses Vorgehen zu unternehmen.
Ich hatte gemeinsam mit ihm ein Kreuz gebaut mit der Aufschrift:
„Ich vergesse dich nie, mein Hinkebein. Lebe glücklich hinterm Regenbogen.“
Mit einer alten Stricknadel hatte ich die Worte eingebrannt. Ich wusste nicht, was mehr brannte, die Nadel auf dem Holz oder der Schmerz in meinem Körper.