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Der Bankrott Griechenlands ist, was seinen aktuellen Grund und seine imperialistische Bedeutung angeht, die Quittung des Finanzgewerbes an die Euro-Staaten für den Aufwand zu seiner Rettung und ein Offenbarungseid über den unauflöslichen Widerspruch der Währungsunion und ihres Geldes.

Den Kodex für Haushaltsdisziplin, den die Euro-Staaten sich zur Wahrung der Güte ihres Geldes in einem eigenen Stabilitätspakt verordnet hatten, setzen die europäischen Führungsnationen im Gefolge der Finanzkrise für sich außer Kraft. Natürlich nicht förmlich und offiziell, auch nicht durch Tricks bei der Buchhaltung, wie man sie den Griechen zur Last legt, sondern schlicht und ergreifend praktisch. Derart „systemnotwendig“ ist für sie ihr Banken- und Finanzwesen und derart unbedingt scheint ihnen dessen Rettung geboten, dass sie bei den Finanzmitteln, die sie den Banken zur Fortführung von deren Geschäften in den Rachen werfen, alle fein austarierten Relationen, die die Solidität ihrer alten wie neu aufgelegten Schulden verbürgen sollen, für sich einfach nicht gelten lassen. Auch wenn es manchmal nur Bürgschaften sind, für die die Staaten einstehen, und der Verkauf mancher billig erworbener Aktienpakete wieder „Geld in die Staatskasse“ bringt: Unsummen von Euro-Beträgen sind bereits in die Rettung der notleidenden Branche geflossen. Wie viel demnächst für denselben Zweck noch nötig sein wird, ist unbekannt, folglich das nächste Objekt der allergrößten stabilitätspolitischen Sorgen, zu denen noch hinzukommt, dass auch die kostspieligen Konjunkturprogramme für die zusammen mit der Finanzabteilung in der Krise steckende „Realwirtschaft“ ihre erwünschte Wirkung schuldig bleiben. Da werden dann nicht nur in der Europäischen Zentralbank und den diversen nationalen Dependancen ernste Befürchtungen wach, „die Zukunft des Euro“ betreffend, und nicht bloß in den Wirtschaftsredaktionen der Zeitungen wird darüber spekuliert, wann mit dem ersten Inflationsschub zu rechnen ist und wie hoch der ausfallen mag: An allererster Stelle sind die finanzkapitalistischen Akteure selbst, die mit so großem Aufwand gerettet werden, auf dem Sprung, auf Grundlage dieser Daten die Risiken der Geschäfte neu zu kalkulieren, mit denen sie verdienen wollen und zur Beförderung des marktwirtschaftlichen Gemeinwohls auch unbedingt sollen. Und auf deren Kalkulationen kommt es entscheidend an: Wie sie ihre Anlagen in Euro im Vergleich zu anderen spekulativ bewerteten Risiken hochrechnen und denen hochgerechnete Erträge gegenüberstellen und wie sie sich auf Basis ihrer spekulativen Berechnungen dann entscheiden, ob sie und in welchem Maß – das sie mit „Risikoprämien“ sogar zu beziffern vermögen – weiter auf die Stabilität dieses supranationalen Geldes vertrauen wollen: Von all dem hängt die Antwort auf die besorgte Frage nach dessen Zukunft praktisch ab.2) Und eine kleine Teilantwort ist aktuell unterwegs: Die kritische Begutachtung der Staatsschulden Griechenlands, die das Land zum Offenbarungseid zwingt, ist die erste Manifestation der spekulativen Prüfung der immensen Kreditmassen, die die großen Euro-Staaten zwecks Rettung des Kreditsektors und ihres Geldes geschaffen haben, durch eben diesen Kreditsektor.

Der testet sein Vertrauen in die Haltbarkeit des von den Staaten aufgeblähten Euro-Kredits, und er geht dabei sachgerecht differenzierend vor. Nämlich so, wie die Konstruktion der Gemeinschaftswährung es vorgibt: Bewertet werden die Staatsschulden, die allesamt auf gleichermaßen harte Euro lauten und in diesem Sinne auch Anerkennung durch die EZB genießen, nach der Fähigkeit der staatlichen Emittenten, allein mit den Mitteln ihrer eigenen Nationalökonomie, ohne Finanzausgleich mit den konkurrierenden Partnern, für sie einzustehen. Die Bewertung dieser Fähigkeit der Euro-Staaten, ihren finanziellen Verpflichtungen nachzukommen, und der Risiken, die der eventuell entgegenstehen oder ihr in Zukunft erwachsen könnten, erledigen Rating-Agenturen. Die professionellen Methodologen des spekulativen Gewerbes verstehen sich darauf, die maßgeblichen Daten und Kennziffern nach allen Regeln jener Kunst zu gewichten, die aus dem Handel mit Risiken einen Ertrag erwirtschaftet; das Ergebnis ihrer Meta-Spekulation veröffentlichen sie in Gestalt vielsagender Buchstabenfolgen, und augenblicklich wissen die Praktiker der Finanzgeschäfte Bescheid, wie es um die Bonität des Schuldners bestellt ist, dessen Papiere sie in Händen haben: Ist die schlechter als neulich, sind die Risiken höher und die Schuldtitel weniger wert, umgekehrt umgekehrt.

Im Falle Griechenlands entschließen sich nun zwei der dafür einschlägigen Institute dazu, alles, was sie bislang als Ausweis einer hohen Güteklasse des Schuldners bewertet haben – die Kapitalisierung zukünftiger, regelmäßiger Einnahmen aus Lotto, Autobahnmaut, Flughafengebühren und dergl. eingeschlossen –, neu zu bewerten, und zwar nach unten. Überhaupt nicht deswegen, weil das Land seinen Staatskredit zur Rettung seiner Banken übermäßig aufgebläht hätte: Nach Auskunft der Fachleute sind Griechenlands Banken ausgesprochen gesund, was immer das in dieser Geschäftswelt auch heißen mag, jedenfalls nicht so von der Finanzkrise betroffen wie die großen Konkurrenten im Rest Europas. Zum Verhängnis wird dem Land die Kennziffer, die das Verhältnis zwischen schon aufgelaufenen und neu zu emittierenden Schulden einerseits, dem kapitalistischen Wachstum, das den Schuldenberg letztlich rechtfertigen muss, andererseits betrifft: Das Missverhältnis ist in Griechenland signifikant höher als im Rest der Euro-Zone; entsprechend höher ist bei der Schuldenbedienung das „Restrisiko bei schlechter Konjunkturlage“ (Standard & Poors) – und augenblicklich hat dieser Staat seine Finanzkrise.

Die betrifft ihn als Schöpfer fiktiven Kapitals, d.h. als Emittenten von Staatsanleihen, die als Vermögenstitel des Finanzsektors fungieren, der seinen Gläubigern ihr geschmälertes Vertrauen in seine Potenz zur garantiert renditeträchtigen Rückzahlung seiner Schuldverschreibungen nicht bloß teurer als bisher bezahlen muss: Es ist fraglich, ob dem Finanzminister die demnächst fälligen Umschuldungen – die Begleichung fälliger Kredite mit neuen Staatsanleihen – überhaupt gelingen. Denn dafür müssen die Gläubiger mittun, die gerade sehr daran zweifeln, ob sie mit griechischen Euro-Papieren noch gut bedient sind.

Finanzunternehmen vor allem aus den kapitalkräftigen EU-Partnerländern, die bis neulich noch bemerkenswerte Milliardensummen in den griechischen Staatshaushalt investiert haben, und die Kapitalmärkte überhaupt, die demnächst Griechenlands neue Schuldpapiere aufnehmen sollen, stehen vor einer schwierigen Entscheidung: Entweder sie setzen trotz aller wohl begründeten Zweifel an der Zahlungsfähigkeit des Emittenten erneut Milliardensummen darauf und ermöglichen so die Ablösung der alten durch neue, größere Kredite; oder sie führen mit der Verweigerung dieses sonst üblichen Umgangs mit staatlichen Schulden die Zahlungsunfähigkeit des griechischen Staates herbei und damit den Offenbarungseid über die Nichtigkeit aller entsprechenden Papiere, die immerhin in ihren Portfolios einen gewichtigen Posten ausmachen. Diese Alternative ist nicht bloß für manche Gläubiger existenzentscheidend; die Summen, um deren Fortschreibung oder Streichung es geht, machen allein wegen ihrer Größe die Sache schon wieder ziemlich „systemrelevant“. So richtig „relevant“ ist die griechische Finanzkrise allerdings erst recht deswegen, weil sie den Euro-Club insgesamt und dessen Geld überhaupt betrifft.

Quelle dieses Geldes sind nämlich die Kreditgeschäfte in der gesamten Euro-Zone; nicht zuletzt diejenigen mit Staatsschulden: Deren Stichhaltigkeit, die Haltbarkeit des von den Höchsten Gewalten verantworteten fiktiven Kapitals, begründet maßgeblich die Wertschätzung des als Geldkapital in Verkehr gebrachten Kreditgelds durch die Finanzmärkte und damit dessen Rang in der Konkurrenz der Währungen. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die zuständige Notenbank: Mit der Einlösungsgarantie für Staatspapiere beglaubigt und verbürgt die EZB die Qualität der staatlichen Schulden, nämlich ihren Rang als sichere Liquiditätsquelle, und zugleich die Qualität des von ihr emittierten und vom Kreditgewerbe bewirtschafteten Geldes, nämlich dessen Rechtfertigung durch seine Rolle als Materie und Resultat erfolgreichen finanzkapitalistischen Geschäftswachstums.

Die Spekulation gegen die griechischen Papiere, offiziell ins Recht gesetzt durch ein niedrigeres Rating seitens der dazu ermächtigten Agenturen und dadurch erst recht angeheizt, stellt nun die EZB vor eine wahrhaft „systemrelevante“ Entscheidung: Entweder sie hält ungerührt an der Anerkennung der fragwürdig gewordenen griechischen Wertpapiere als Euro-Quelle fest – was praktisch so aussehen würde: Sie verlängert über den vorgesehenen Termin Ende 2010 hinaus die Absenkung ihrer Qualitätsanforderungen an jederzeit einzulösende Staatsanleihen auf ein niedrigeres Rating; eine Maßnahme, die sie eingeführt hat, um den mit der Rettung ihres Kreditsektors befassten EU-Mächten den Absatz ihrer „explosionsartig“ vermehrten Schulden zu erleichtern, und von der jetzt vor allem Griechenland mit seinen herabgewerteten Schulden profitiert. Oder sie entzieht diesen Staatspapieren die Anerkennung als Liquiditätsquelle der Banken und damit der Spekulation ebenso wie dem griechischen Staatshaushalt praktisch die Geschäftsgrundlage. Im ersten Fall geht sie das Risiko ein, dass sich das kritische Urteil der Finanzwelt über Griechenlands Schulden gegen ihren guten Euro wendet, mit dem sie so fragwürdige Kreditpapiere refinanziert; dies umso mehr, weil ja ohnehin und überhaupt in Frage steht, wie gut das Geld noch ist, mit dem die großen Euro-Mächte in so enormem Umfang bloß die Abwendung einer Finanzkrise und keineswegs einen entsprechenden Wachstumsschub finanzieren: Bestenfalls hat Griechenland weiter Kredit, im schlechtesten Fall hat die europäische Notenbank selber keinen mehr bei den Finanzmärkten, die sich ihrer Ware bedienen sollen. Entscheidet sie sich stattdessen gegen die weitere Anerkennung der griechischen Schuldpapiere, dann riskiert die Notenbank die Zahlungsunfähigkeit des Staates, mit allen Folgen für das darauf gegründete Geldkapitalvermögen; sie hätte zwar bewiesen, wie ernst sie es mit der Bonität der Staatsgewalten meint, deren Kreditpapieren sie Einlösung garantiert, damit aber diese Garantie selber relativiert, nämlich vom Urteil der Finanzwelt in Gestalt der anerkannten Rating-Agenturen abhängig gemacht und insofern ziemlich grundsätzlich entwertet.

Für den Club der Euro-Staaten stellt sich diese Problemlage endgültig als extrem missliche Alternative dar: Entweder man gibt Griechenland den Kredit, den es bei der Geschäftswelt verliert, rettet so den Staat vor dem Bankrott – und verstößt nicht bloß weiterhin und verschärft gegen die restriktiven Regelungen des Stabilitätspakts von Maastricht, der dem Euro seine Stabilität sichern soll, sondern außerdem gegen die Grundregel der Währungsunion, nämlich die Wahrung der finanzpolitischen Souveränität der Mitglieder einschließlich der Konsequenz, dass kein Land für die Schulden eines anderen haftbar gemacht werden darf, jedes für seine Kreditschöpfung geradesteht, also alles ausgeschlossen ist, was an einen Finanzausgleich zwischen Teilhabern erinnert. Oder man übt und demonstriert unerbittliche Treue zu den Prinzipien, die die Festigkeit der gemeinsamen Währung und die Autonomie der nationalen Haushaltspolitik, des Kernstücks nationaler Souveränität, festlegen; die Partner überlassen Griechenland seiner Finanzkrise – und riskieren damit nicht bloß eine Vernichtung fiktiven Kapitals, die schon wieder ihr ganzes Kreditsystem gefährden würde, sondern den Bankrott und damit die Aktionsunfähigkeit der Herrschaft über ein Stück Unionsgebiet.

Dass die zweite Option ausscheidet, ist im Grunde klar; wie die erste zu verwirklichen ist, ohne die Geschäftsgrundlage des Währungsclubs aufzulösen, ist genauso unklar; und daran wird der unheilbare Widerspruch ganz akut praktisch wirksam, der die EU im Allgemeinen und ihre Gemeinschaftswährung im Besonderen kennzeichnet.

– Da bewirtschaften souveräne Staaten einen gemeinsamen Binnenmarkt, also eine Konkurrenz kapitalistischer Unternehmen über alle Grenzen hinweg, in der sich die nach rein marktwirtschaftlichen Kriterien potentesten durchsetzen sollen, ungestört durch nationale Sonderkonditionen. Die siegreichen Firmen gestalten mit ihren Erfolgen und mit den Niederlagen, die sie ihren schwächeren Konkurrenten beibringen, die wirtschaftliche Landkarte der Union. Dieses gesamteuropäische Hauen und Stechen bewirtschaftet zugleich jeder Staat mit seinen autonomen Mitteln zum Nutzen seines nationalen Standorts und der Erträge, die er daraus zieht. Dass einige Teile des EU-Haushalts dem Ziel gewidmet sind, nationale und regionale Standortnachteile auszugleichen, hebt diesen Widerspruch zwischen transnationaler Konkurrenz und nationaler Bilanz nicht auf; im Endeffekt unterstützt die Union damit vielmehr die brutale Sortierung des Kontinents in erfolgreiche und erfolglose Kapitalstandorte, die das freigesetzte Konkurrenzgeschehen herbeiführt.

– Nach demselben Muster bewirtschaften die Euro-Partner nicht bloß die länderübergreifende Konkurrenz der Kapitale, sondern ein gemeinschaftliches Kreditgeld. Für das haften sie alle, und zwar formell alle gleichermaßen, mit ihren Schulden und dem Wachstum, das sie damit in ihrem Zuständigkeitsbereich zustande bringen. In Sachen Wachstum tut nun jeder Euro-Staat, was er kann, um seinen Standort kapitalistisch ertragreich zu machen – und genau so machen alle einander die Erträge aus der Kapitalakkumulation in ihrem großen Gesamt-Euro-Land streitig, mit denen sie für ihre Schulden und das Gemeinschaftsgeld einstehen. Mit ihrer Konkurrenz gegeneinander führen sie die Prämisse ad absurdum, auf der ihr gemeinsames Kreditgeld beruht, dass nämlich jede Nation gleichrangig mit allen anderen und mit einem gleichwertigen Verhältnis zwischen Schulden und Wachstum die Stabilität dieses Geldes verbürgt.

Die gemeinsame Finanzkrise stellt diese Fiktion auf eine harte Probe; dadurch nämlich, dass das Finanzgewerbe den unproduktiv vermehrten Euro-Kredit insgesamt einer verschärften spekulativen Überprüfung unterzieht und seine nationalen Quellen auf ihre Zuverlässigkeit testet. An Griechenland beißen sich die Spekulanten fest. Und dass sie damit die Widersprüchlichkeit der ganzen Konstruktion aufdecken, gestehen die hauptverantwortlichen Euro-Politiker faktisch ein mit ihrer offen geäußerten Befürchtung, die Zulassung des Bankrotts eines Mitglieds würde unweigerlich den einiger nächster Kandidaten nach sich ziehen. Denn das heißt ja nichts anderes, als dass etlichen Mitgliedern im Ergebnis ihrer langjährigen Konkurrenzbemühungen die Fähigkeit abhanden gekommen ist, mit ihrem Kredit das gemeinsam genutzte Kreditgeld zu untermauern.

Der Fall Griechenland

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