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»Sie wollen also einen Roman über Bernhard Schmidt schreiben?«

Der Mann mit dem lebhaften Gesicht eines Siebzigjährigen, der in Wirklichkeit über achtzig ist, trommelt mit den Fingern neben seinem Wermutglas auf den Tisch.

Ich nicke.

Unser Gespräch findet zehn Kilometer südlich von Gernsheim statt, in den Weinbergen entlang des Rheins, im Garten, wo über der Rhododendronhecke das schmiedeeiserne Tor zu sehen ist. Die Klingel und das Bronzeschild sind nicht zu sehen. Auf dem Schild steht: »Friedrich Kelter, Dr. rer. nat.« Aber der schmiedeeiserne Bogen mit den schmiedeeisernen Buchstaben ist deutlich zu sehen. Vom Garten aus erscheinen die Buchstaben spiegelverkehrt: SOLNEKLOW ALLIV. Von außen liest man: VILLA WOLKENLOS.

»Warum auch nicht?« Mein Gastgeber lächelt sein sauber rasiertes, sehniges, gerötetes Lächeln, »Schmidt hat sich bei uns ja gewissermaßen – wie soll ich sagen – in eine mythologische Figur verwandelt.«

»Lassen wir den Mythos mal beiseite«, entgegne ich, »aber Sie sind dem echten, leibhaftigen Schmidt begegnet. Sie kannten ihn. Aus diesem Grund …«

»Ja, was heißt ›kannte‹? Oberflächlich gewiss. Und lediglich ihn, aber keinesfalls sein Leben. Das macht ja einen Unterschied. Besonders für einen Romanautor. Von seinem Leben bekam ich nur so viel mit, dass ich meine Zweifel habe, ob es überhaupt genug Stoff für einen Roman hergibt. Aber ich bin natürlich nur ein Geschäftsmann. Und auch ein wenig Physiker. Demnach weiß ich nicht viel über ihr Medium. Abgesehen von dem alten Klischee«, er rührt mit seinem Strohhalm die Eiswürfel um und nimmt einen Schluck Cinzano, »dass ein fähiger Mann aus dem Leben so ziemlich jedes Menschen wenigstens einen Roman herausholen könne.«

Ich entgegne, dass dazu im vorliegenden Fall überhaupt keine speziellen Fähigkeiten nötig seien. Besonders, wenn mir Herr Doktor gnädigerweise mit seinen Erinnerungen unter die Arme greifen würde. Was umso leichter sein dürfte, da seine Erinnerungen mit denen seines Vaters eine Einheit bildeten, und meines Wissens war sein Vater Schmidt gegenüber recht wohlgesonnen. Wenn er jetzt doch bitte …

»Jaja. Wohlgesonnen ist sogar noch vorsichtig formuliert. Sehen Sie, mein Vater war kein Gefühlsmensch. Er war Unternehmer. Und Professor, das auch. Aber nebenbei bemerkt hatte er den Titel nicht von irgendeiner Universität bekommen. Er war ihm von der Regierung Preußens für seine wissenschaftlichen und unternehmerischen Leistungen verliehen worden. In erster Linie für den Aufbau und die Leitung seines Unternehmens. Die Firma Kelter war vielen ein Begriff, wie man sagt. Woran denken wir etwa beim Namen Zeiss? Natürlich an eine herausragende Produktion. Das schon. Aber in Massen. Objekte, die individuelle Lösungen erforderten, ultrapräzise und gleichzeitig großformatige Gegenstände, wissenschaftliche Ausrüstung, aber nicht nur, sondern Geräte, die sowohl in der Astronomie als auch beim Militär Verwendung fanden, Sie verstehen, wurden bei ›Kelter‹ in Auftrag gegeben. Zahlenmäßig waren wir kein großes Unternehmen. Aber in der Branche trotzdem sehr angesehen. Einhundertfünfzig Angestellte. Einige davon herausragende Ingenieure. Die präzisesten Kärger-Drehbänke zum Schleifen und Polieren. Hinter den Maschinen die erfahrensten Meister. Und an der Spitze mein Vater. Mit allen per Du. Er war nach Amerika gereist und hatte seine preußische Steifheit abgelegt. Weshalb ihn sogar Arbeiter, gestandene Sozialdemokraten duzten. Das will was heißen. Ich kann Ihnen versichern: eine großartige patriarchale Stimmung, ganz im Geiste der alten Berliner Gesellschaft. Gebildete Techniker und fähige Arbeiter, Hand in Hand, eine Arbeiteraristokratie, würde ich sagen. In der Tat: Das wäre Stoff für einen Roman! Aber ich bitte um Verzeihung. Sie kommen ja von drüben. Es dürfte Sie nicht interessieren, welche Vorbilder es im Bereich der Industrieorganisation irgendwo auf der Welt vor Ihrem Lenin gab.«

Ich stimme zu: »Entschuldigen Sie, Doktor Kelter, aber Sie haben in der Tat vollkommen recht: In diesem Augenblick interessiert mich vor allem Bernhard Schmidt.«

»Jaja!«, ruft Herr Kelter amüsiert aufgebracht, »ich verstehe schon: Romanschreiber sind Sonderlinge – verzeihen Sie mir meine Direktheit – und interessieren sich für Sonderlinge. Denn sonderbar war Ihr Schmidt zweifellos.«

»Erzählen Sie mir, inwiefern.« Ich schalte den Recorder mit einer fragenden Geste ein. Er nickt, es scheint ihn überhaupt nicht zu stören.

»Nun, vielleicht insofern, als er dreißig Jahre in einem Loch wie Mittweida lebte. Das würde ich verstehen, wenn er Philosoph gewesen wäre. Dessen Welt sich in seinem Kopf befindet. Wenn es keine Rolle gespielt hätte. Wie Kants fünfzig Jahre in Königsberg, Husserls fünfundzwanzig Jahre in Freiburg. Oder wenn er selbst Schriftsteller gewesen wäre. Denen ist es offenbar auch egal, in welcher Umgebung sie fabulieren. Aber er war Techniker. Ich verstehe, dass solch ein blinder handwerklicher Individualismus vor zweihundert Jahren noch fruchtbar gewesen sein mochte. Aber im zwanzigsten Jahrhundert?! Wo die ganze technische Entwicklung von Kontakten und Informationen abhängt?! Wie kann ein vernünftiger Techniker – heute wird er bisweilen sogar als Genie bezeichnet – sich für dreißig Jahre in Mittweida vergraben? Mir kommen nur zwei Gründe in den Sinn, und keiner der beiden ist besonders ehrenwert. Erstens: Trägheit. Er blieb dort hängen, wo er zufällig gelandet war. Schlicht aufgrund eines provinziellen Minderwertigkeitskomplexes. Wer aus der einen Peripherie kommt, macht sich nicht die geringste Mühe, die andere zu verlassen. Die zweite Möglichkeit: Blinde Überheblichkeit. Ich bin Bernhard Schmidt von der Insel Nargen, ich brauche euer Berlin und euer München nicht. Egal wo ich sitze, ich arbeite, schwitze, schufte, poliere mich nach oben. Bis ihr alle zu mir kommt. Halt, halt, halt. Ich sehe Ihnen an, dass meine extremen Überlegungen Sie irritieren. Aber Sie wissen aus eigener Erfahrung, dass beide Elemente in der Natur des Menschen vorhanden sind. Natürlich nicht in ihrer chemischen Reinform, also entweder dieses oder jenes. Sondern stets in praktischen Kombinationen. Und überhaupt: Ich bin in keiner Weise mit Ihrer Mentalität da drüben vertraut. Das ist Sache der Sowjetologen. Aber ich habe den Eindruck, dass es Ihresgleichen an unserer objektiven, gleichzeitig messerscharfen und – wenn es Anlass dazu gibt – anerkennenden, unmittelbaren, etwas geschwätzigen Art, kritisch zu denken, fehlt. Bei Ihnen heißt kritisches Denken entweder, etwas zu vernichten oder es in den Himmel zu heben. Und Schmidt gehört bei Ihnen seltsamerweise zu denen, die man in den Himmel hob. Ist es nicht so?«

»Herr Kelter, meine Antwort hat für Sie keinerlei Bedeutung. Schließlich haben Sie weder vor, eine sowjetologische Abhandlung zu verfassen, noch einen Roman über Bernhard Schmidt. Erlauben Sie mir also die Frage: Könnten Sie nun ausführen, wann und unter welchen Umständen Sie seinerzeit nach Mittweida fuhren?«

»Also, es war, glaube ich, im Jahr 1925. Ja. Im Frühjahr 1925. Ich erinnere mich, dass die Inflation vorüber war, und Vater die Fabrik retten konnte. Folglich war nicht die gesamte deutsche Industrie in den Taschen von Stinnes und seinesgleichen gelandet. Wir hatten angefangen, ein neues Haupthaus zu errichten und erste Aufträge vom Staat erhalten. Und dann begann mein Vater, sich schlichtweg dafür zu interessieren, was für ein Mann dieser Schmidt war.«

»Schmidt war zu dieser Zeit also schon ein Begriff

»Nun, das nicht. Aber er hatte schon vor dem Krieg für das Potsdamer Observatorium einige überraschend ausgereifte Geräte angefertigt.«

»Und Ihr Vater fuhr im Frühjahr 1925 nach Mittweida, um sich selbst einen Eindruck von Schmidt zu machen?«

»Exakt.«

»Womöglich, um ihn für die Firma anzuheuern?«

»Nein, nein. Nicht doch. Oder vielleicht, hätte er sich als besonders tauglich herausgestellt, wenn Sie verstehen.«

»Und Sie begleiteten Ihren Vater?«

»Ja. Ich studierte Physik an der Technischen Hochschule Berlin. Im dritten Semester. Und half meinem Vater in der Firma. Planung. Korrespondenzen. Auf Dienstreisen trat ich als sein Sekretär auf. Günstiger und vertrauenswürdiger als irgendein bezahlter Fremder.«

»Und weiter?«

»Wissen Sie, ich habe keine Ahnung, wie dieses Mittweida heute unter Honecker ist. Aber damals, zu Eberts Zeiten war es ein bedrückendes provinzielles Nest. Wir bekamen im besten Hotel der Stadt ein Zimmer mit Kakerlaken und machten uns auf die Suche nach Schmidt. Seine Adresse kannten wir. Und je weiter wir gingen, desto überzeugter waren wir davon, dass es in dieser Stadt absolut nichts Interessantes gab.«

»Nun, immerhin gab es das berühmte Technikum. Wo auch Schmidt studiert hatte.«

»Wissen Sie, wenn es sich bei Mittweida um ein siebtklassiges Nest handelte, dann war dieses Technikum eine, sagen wir, fünftklassige Lehranstalt. Also nicht viel besser als die Stadt selbst. Wussten Sie das nicht? Nach heutigem Verständnis war es einfach eine Berufsschule. Inhaltlich. Nun, vielleicht ein wenig effektiver, wie alle Lehranstalten zu jener Zeit, aber im Grunde eine Berufsschule. Heute lernen diese sechsjährigen Rotzlöffel in der ersten Klasse die Grundlagen der Mengenlehre. Damals wurde noch das Einmaleins gelehrt. Damals hielt man Adam Riese noch in Ehren. Und die Ergebnisse waren im Verhältnis – ich sage, im Verhältnis, Sie verstehen – besser als heute. Aber was das Technikum Mittweida betrifft – es produzierte trotzdem nur Spezialisten mit mittelmäßigen Fähigkeiten, denen man Ingenieurdiplome gab. Aber deshalb waren sie noch keine Ingenieure mit einer akademischen Bildung. Und Schmidt hatte nicht einmal solch ein Diplom in der Tasche.«

»Sind Sie sich da sicher?«

»Absolut. Mein Vater hat die Unterlagen in der Kanzlei des Technikums später persönlich überprüft.«

»Mit welchem Ziel?«

»Hm, ganz einfach. Er wollte Schmidt kennenlernen. Und dabei ging er mit deutscher Gründlichkeit vor.«

»Und weiter?«

»Nun, ich sagte bereits, dass wir seine Adresse hatten. Vergleichsweise nah am Bahnhof. In der Wilhelmstraße, wenn ich mich nicht irre. Ein dreigeschossiges Mietshaus, dem man die Verwahrlosung aus der Kriegszeit ansah. Das Gartentor verbogen. Im Erdgeschoss ein genossenschaftlicher Kindergarten oder dergleichen. Lärm und Geschrei aus den geöffneten Fenstern. Eine schmale, von Zwiebeldunst erfüllte Treppe in den zweiten Stock. Im dunklen Eingang zur Wohnung kleinbürgerlicher Naphthalingeruch und eine ältere Frau mit toupiertem Haar. An ihrem Blick war zu erkennen, dass der Mieter nichts für Besuch übrighatte. Außerdem war der Mieter nicht zu Hause. Er musste in seiner Werkstatt sein. Aber vielleicht auch nicht. Wie die Frau schwammig formulierte. Wir ließen uns den Weg erklären und suchten die Werkstatt auf. Diese lag in drei- oder vierhundert Metern Entfernung. Nebenbei bemerkt: Dreißig Jahre lang spielte sich Schmidts gesamtes Leben innerhalb dieser dreihundert Meter ab. Das Mietzimmer. Das vegetarische Lokal ›Sanitas‹ in der Nachbarstraße. Weiter zur Werkstatt. Dahinter der Aussichtspunkt. Und unmittelbar neben der Werkstatt das Restaurant ›Lindengarten‹. Also wortwörtlich dreißig Jahre und dreihundert Meter!«

Ich verkneife mir, ihn zu korrigieren, dass es von Schmidts Bleibe bis zu seiner Beobachtungsstation immerhin sechshundert Meter quer durch Mittweida waren. Aber ich ergänze:

»Herr Kelter – zumindest vor dem Ersten Weltkrieg besaß er auch ein Auto, was es ihm in jeden Fall erlaubte …«

»Was erlaubte ihm das?!«, ruft Kelter und schenkt uns großzügig Wermut nach. »Gelegentliche Fahrten mithilfe von Freunden. Er selbst konnte ja nicht fahren. Und das war in der Tat davor. Dann kam der Krieg, und Schmidt wurde interniert. So auch seine Freunde. Als Bürger eines Feindesstaates, nicht wahr? Als er freikam, herrschte Krieg. Das war nicht die Zeit zum Herumfahren. Darauf folgten die Not der Nachkriegszeit und die Inflation. Er verkaufte sein Auto für fünfhundert Milliarden Mark und bekam dafür eine Woche später drei Laib Brot!«

»Hat er Ihnen das persönlich erzählt?«

»Nein, nicht er persönlich. Und auch nicht mir. Aber jemand hatte es meinem Vater erzählt. Nun, dann standen wir jedenfalls vor der Tür zu seiner berühmten Kegelbahn. Ich erinnere mich an die kalten Betonwände und die schmutzige Kellertreppe. Vater klopfte mehrmals und rüttelte an der Klinke. Keiner antwortete und die Tür war verschlossen. Ein Nachbar kam die Treppe herunter und äußerte die Vermutung, dass Schmidt bei Bretschneider sein könnte, das heißt im ›Lindengarten‹. Offenbar war das sein Stammlokal. Also gingen Vater und ich dorthin. Es war eine kleine Provinzkneipe. Aber makellos sauber. Die Wirtin wischte mit einem Lappen über den Tresen und musterte uns beiläufig. Nein, Herr Schmidt war an diesem Tag noch nicht bei ihr gewesen. Wenn er sich nicht in der Werkstatt aufhielt, dürfte er bei dem Aussichtspunkt sein. Die Wirtin begleitete uns zur Tür und lotste uns zu einem Garten auf der anderen Straßenseite.

›Da, links können Sie seine Röhren und Apparate sehen.‹

Hinter Himbeersträuchern erschienen zwei Holzbuden und dazwischen ein Teleskop, offenbar mit einer Öffnung von 30 Zentimetern und recht solide. Aber es stand nicht wie üblich auf einem normalen Stativ aus Metallröhren, sondern auf einem seltsamen selbstgefertigten Dreibein aus Holz. Die Hütten waren verschlossen und der Furnierstuhl hinter dem Teleskop leer. Wir gingen zurück zum Restaurant. Keine Spur von Schmidt. Wir fragten die Wirtin, ob er vielleicht in diesem vegetarischen Lokal aufzufinden sei. Die Wirtin sagte, dass er sich nachmittags ab fünf nie dort aufhielte. Seine Mittagspause dürfte zwischen eins und zwei sein – an den Tagen, an denen er zu Mittag aß, fügte die Wirtin hinzu. Mein Vater beschloss, noch einmal im Kegelkeller nachzusehen. Wir standen hinter der Kellertür. Vater klopfte lange und rief: ›Herr Schmidt! Hören Sie mich? Hier ist Professor Kelter aus Berlin. Ich würde gerne mit Ihnen sprechen.‹ Aber niemand antwortete. Ich sagte, dass er womöglich trotzdem da drinnen hockte, denn man hatte uns erzählt, dass dergleichen schon vorgekommen sein soll. Vater war sich jedoch sicher, dass er nicht in der Werkstatt sein konnte: ›Wenn er hier wäre, hätte er beim Namen Kelter aufgemacht.‹

Wir beschlossen, ins Hotel zu gehen – es lag in der Nähe des Bahnhofs, in derselben Straße, in der sich Schmidts Lebenspendel bewegte. Wir wollten also ins Hotel gehen und ein verspätetes Mittagessen zu uns nehmen. Doch auf halbem Weg erinnerte ich mich an die Kakerlaken und schlug vor, zurück in den ›Lindengarten‹ zu gehen und dort zu speisen. Vielleicht würde Schmidt währenddessen auftauchen. Wir kehrten um und gingen zu Frau Bretschneider – und stellen Sie sich vor – Schmidt saß bereits da! Somit bestand kein Zweifel mehr: Er hatte sich die ganze Zeit in der Werkstatt aufgehalten, während wir klopften und riefen, doch er machte uns nicht auf.

Wir erkannten ihn sofort an der fehlenden rechten Hand, und Vater ging zu seinem Tisch, um sich vorzustellen.«

»Herr Kelter – wie war Ihr erster Eindruck von Schmidt?«

»Nun, er wirkte jünger, als er war. Er war damals immerhin schon über fünfundvierzig Jahre alt, aber ich hätte ihn auf unter vierzig geschätzt. Weil er so dünn war und in gewisser Weise durchsichtig. Wie ein, sagen wir, Tuberkulosekranker. Obwohl er meines Wissens nicht an dieser Krankheit litt. Und sein Gesicht, würde ich sagen, war das Gesicht des Menschen, der er war – ein störrisches Landei, das sich als Intellektueller gerierte. Blass, ausgeprägte Wangenknochen. Ein skeptischer, vielleicht sogar einfühlsamer Mund. Ein kleiner rötlicher Schnauzer. Kurz geschorenes, kastanienfarbenes Haar. Eine spitze, dreieckige Nase. Graue, vergleichsweise tiefliegende und doch irgendwie hervorstechende Augen mit einem starren Blick. Dünne Brauen. Aber die Brauen eines Menschen, mit dem zu diskutieren nicht angenehm ist.«

»Herr Kelter – ich muss sagen, Sie sind ein wahrer Gedächtnisfotograf. All das auf Grundlage von ein, zwei Begegnungen …«

»Nun, wissen Sie, ich habe sein Foto oft genug sehen. Im Büro meines Vaters hingen all die Fraunhofers, Abbes, und wie sie heißen, in einer Reihe an der Wand. Und später auch Schmidt. Aber was ich noch sagen wollte: Dass er sich angeblich nicht um sein Äußeres scherte, ist nicht ganz korrekt. Zumindest meinem Eindruck nach. Und auch dem Foto nach. Obwohl man sich für ein Foto gewöhnlich herausputzt. Aber ich glaube nicht, dass Schmidt sich besonders herausgeputzt hätte. Denn ich spreche aus meinen Erinnerungen. Ich würde wetten, dass er direkt von der Arbeit zu Bretschneider gekommen ist. Sein Anzug war natürlich weder neu noch fein. Das stimmt. Ein billiger grauer Anzug von der Stange. Ein wenig verstaubt, offensichtlich vom Glasschleifen, und stark verknittert. In manchen Erinnerungen war von seiner Bügelfalte die Rede, soll heißen, von deren Nichtvorhandensein. Die Hosen schlackerten ihm stets um die Beine. Aber das war zumindest in Mittweida nicht so wild. Vielleicht deshalb, weil es da eine Frau in seiner Nähe gab. Aber was ich sagen wollte: Seine Kleidung hatte, wenn man so will, zwei Elemente proletarischer Eleganz, die einem unmittelbar ins Auge stachen. Er trug eine billige gestrickte Krawatte zu einem blütenweißen Hemd mit einem steifen Kragen. Und seine Schuhe waren trotz des scheußlichen Aprilwetters tipptopp poliert.«

Herr Kelter hebt mit der rechten Hand sein Glas und führt sich den Strohhalm in den Mund. Dann fällt ihm noch ein Detail ein, offenbar hat ihn der Titel des Gedächtnisfotografen angespornt. Er hebt den Zeigefinger seiner Linken und nimmt den Strohhalm aus dem Mund:

»Und nebenbei: Er hatte eine Kragenweite von neununddreißig, würde ich sagen, aber das weiße Hemd, von dem ich sprach, hatte einundvierzig oder sogar zweiundvierzig. Hahaha.«

»Herr Kelter – erinnern Sie sich an seine Hand? Sie gaben ihm doch die Hand?«

»Ja. Hören Sie, das war ziemlich hakelig. Wie jeder Handschlag zwischen links und rechts.«

»Und weiter? Sie haben sicher besonders auf den Handdruck geachtet. Schließlich hatte er ja eine außergewöhnliche Hand – für jemanden mit Ihrem Fachwissen?«

»Ach, hören Sie, ich sage Ihnen gleich, dass ich nichts davon halte, Schmidt zu mythologisieren. Auch jetzt nicht, wo andere dies tun. Und noch weniger habe ich davon gehalten zu der Zeit, als der Mythos noch gar nicht existierte. Und ich selbst ein junger Mann war im, wie soll ich sagen, denkbar unmythologischsten Alter. Weshalb mir nichts Besonderes auffiel. Eine gewöhnliche, eher zierliche und nervöse Hand. Soweit ich mich erinnere. Ja … Womöglich hatte ich den Eindruck, dass seine Hand sensibel und ausgesprochen dünnhäutig war. Aber das wäre nur mehr als verständlich gewesen.«

»Wie verlief Ihre Unterhaltung?«

»Wie gesagt, mein Vater stellte sich vor, und sprach davon, dass wir eigens nach Mittweida gekommen seien, um ihn zu treffen, und bat um Erlaubnis, an seinem Tisch Platz zu nehmen. Die Erlaubnis bekam er. Nicht mit übermäßigem Respekt, aber dennoch. Er hatte ein halb volles Schnapsglas und einen Aschenbecher mit einer halben Zigarre vor sich. Vater fragte, was er ihm bestellen dürfe. Er spreizte die Finger in der Luft und wies das Angebot zurück. Für ihn – nichts. Übrigens gestikulierte er mit seiner einzigen Hand deutlich mehr, als man in Anbetracht seiner Wortkargheit erwartet hätte. Vater fragte, ob er auch ein vegetarisches Hors-d’œuvre ablehnen würde. Das tat er. Vater fragte, was er trank, und bestellte zum Abendessen eine Flasche Korn. Obwohl er sonst nie Korn trank. Schmidt ließ sich von Vater aus unserer Flasche nachgießen. Und dann begann Vater sein Gespräch mit Schmidt.«

»Aber zuvor noch eines, Herr Kelter, sagen Sie: Was veranlasste Ihren Vater dazu, mit Schmidt Kontakt aufzunehmen?«

»Neugier. In erster Linie. Mein Vater konnte nicht glauben, was man sich über Schmidt erzählte. Dass die außerordentlich präzisen Geräte, die er für Potsdam und anderswo angefertigt hatte, mit den primitivsten Mitteln hergestellt worden waren. Dazu noch von einem einhändigen Mann. Als Werkzeug benutzte er Gerüchten zufolge irgendwelche Kuriositäten aus Holz und Blech, die er sich selbst zusammengebastelt hatte. Außerdem eine alte Drehbank mit Pedalantrieb. Sowie Glasstücke und Lappen aus Sämischleder. Aber die Präzision seiner Arbeit war, hm, fast die gleiche, wie bei unseren brandneuen Bänken von Kärger.«

»So gut? Oder vielleicht noch besser?«

»Hmmmm … Wissen Sie, mal so, mal so.«

»Und worüber haben Sie sich damals unterhalten?«

»Nun, mein Vater war aufgrund seiner Lebenserfahrung in den verschiedensten Annäherungsmethoden zu Hause. Und er verfügte auch über eine gewisse Menschenkenntnis. Aber bei Sonderlingen hatte all das keinen großen Nutzen. Und ich will meinen Vater auch nicht idealisieren. Es kam auch vor, dass er sich bei der Wahl seiner Annäherungsmethode mal vergriff. Sich auf nicht überprüfte Informationen stützte. In der Vorstellung, dass er sich ein gewisses Maß an Improvisation erlauben könnte, da ihm das psychologische Gespür des erfahrenen Redners zu Gebote stand. Im Fall von Schmidt nahm er offenbar an, dass man einen Provinziellen nicht bedrängen, nicht mit der Tür ins Haus fallen dürfe, wie es so schön heißt. Um Vertrauen zu gewinnen, muss man nach alter Manier einen Bogen schlagen, also fing er damit an, dass wir, die Familie Kelter, auch in gewisser Weise Deutschbalten seien. Haha. Hoffentlich konnte ich schon mit zwanzig eine unbewegte Miene aufsetzen. Damit Schmidt meine Überraschung nicht bemerkte. Denn alle Kelters stammten aus Brandenburg und mit den Balten hatten wir nicht mehr gemeinsam, als dass eine von Vaters Tanten mit einem kurländischen Forstmeister verheiratet war und ihr Leben in Mitau verbrachte. Vater konnte das Thema unserer baltischen Wurzeln nicht weiter ausführen, denn Schmidt blies ihm Zigarrenrauch ins Gesicht – ohne Absicht, versteht sich – und sagte:

›Die Deutschbalten sind bei uns in Estland ein recht unbeliebtes Völkchen.‹

Vater sagte: ›Äußerst bedauerlich. Ich kann mir vorstellen, dass sensiblere Menschen es inmitten dieser Intoleranz von Zeit zu Zeit schwer haben. Demnach würde ich es vollkommen verstehen, wenn Sie sagen, dass die Intoleranz vor Ort der Grund für Ihren Umzug nach Deutschland war.‹

Daraufhin nahm Schmidt die Zigarre aus dem Mund und sagte: ›Hören Sie, ich bin kein Deutschbalte! Ich bin stattdessen einer der … Intoleranten, wenn Sie wollen.‹ Somit konnte Vater nichts anderes sagen als Ach so – mit langem O, ganz nach seiner Art – und sich in Gelächter retten. Ich war nach unserem Malheur ein wenig beschämt und fuhr dazwischen: ›Herr Schmidt kommt meines Wissens von der Insel Nargen bei Reval, nicht wahr?‹

Vater nutzte den Moment – natürlich wusste er das selbst – und lenkte die Unterhaltung auf die Charakterfestigkeit von Menschen, die von der Küste, insbesondere von einer Insel, stammten. Und so weiter und so fort. Nicht übertrieben ausführlich, sondern überlegt, beinahe wortkarg, sodass sich die Zweckmäßigkeit nur eingeweihten Zuhörern erschloss. Nebenbei war diese Eigenart von Schmidt – seine Nargennarrheit – schon seinerzeit bekannt. Und wissen Sie, das sticht auch bei seinem Mythos ins Auge. Als Sie mich anriefen und erzählten, dass Sie mit mir über Schmidt sprechen wollen, sah ich in unserem Archiv nach (das wir beim Brand der alten Fabrik 1943 glücklicherweise retten konnten) und ging die Unterlagen zu Schmidt durch. Die Insel Nargen, seine Narreninsel, wie ich sagen würde, spukt bis heute in den ganzen Schmidtiana umher. Ja, ja. In dem einseitigen Nachruf, den Professor Schorr nach Schmidts Tod vor fünfzig Jahren für die Zeitschrift »Astronomische Nachrichten« verfasst hat, wird Nargen zweimal erwähnt. In der feierlichen Eröffnungsrede der wissenschaftlichen Konferenz, die anlässlich Schmidts 100. Geburtstages stattfand, erwähnte der Rektor der Universität Hamburg – ich kann mir den neumodischen Kram nicht merken, wie so einer jetzt heißt – Nargen zweimal. Und so weiter. Ganz zu schweigen davon, dass Nargen als Schmidts Geburtsort in den Grabstein aus Granit gemeißelt wurde, den ihm seine Kollegen aufstellen ließen. Ich frage: Weshalb erwähnen Menschen, die im Grunde überhaupt keine Ahnung davon haben, immer wieder diese Insel in Verbindung mit seinem Namen? Meine Antwort: Weil er selbst ununterbrochen davon sprach. Das ist natürlich relativ gemeint, nicht? Denn, verstehen Sie, in Anbetracht seiner Wortkargheit musste einem diese ständige Nargen-Leier ins Auge stechen. Oder besser gesagt ins Ohr. Dieses Steckenpferd – seine Steckeninsel, wenn Sie wollen – hatten mehrere aufmerksame Kollegen meinem Vater gegenüber erwähnt, und Vater nutzte diese Gelegenheit. Er erklärte, dass wir, die Familie Kelter, nämlich auch in gewisser Weise Inselmenschen seien. Woraufhin ich mir dachte: Woher zum Teufel hat er das nun wieder?! Wir haben mit Inseln nichts zu schaffen, außer dass wir ein altes und seit Urzeiten vermietetes Sommerhaus auf dem Kaninchenwerder im Schweriner See besaßen … Aber genau das war es, was Vater im Sinn hatte. Mehr brauchte er nicht! Und ich kann bestätigen: Er sprach vollkommen sachlich und überzeugend davon, wie ihm seine Besuche auf der kleinen Insel bei organisatorischen und wissenschaftlichen Problemen geholfen hatten, wie er dort zu Erquickung und Konzentration gefunden hatte. Er fügte vorsichtig hinzu: ›Unter unseren Fenstern gab es natürlich kein Meeresrauschen wie bei Ihnen, sondern nur das Plätschern des Sees. Dafür aber selbst im tiefen Herbst späte Sommergäste beim Spazieren. Ja, und doch kann ich Ihre Zuneigung für Nargen bestens nachvollziehen. Besonders, wenn ich daran denke, wie sehr das bisschen mehr an Individualismus, das die Insel bietet, meine eigene Fantasie angeregt hat. In der Tat. So muss ich meiner Insel für meine immer noch recht agile Vorstellungskraft danken …‹ Derlei unerwartete Assoziationen waren typisch für meinen Vater. Und umso typischer, je dringender er etwas erreichen wollte. In diesem Fall besonders, da Schmidt – ich befürchtete, er würde die Ausführungen meines Vaters jeden Moment belächeln – der Inselfantasie meines Vaters durch den Zigarrenqualm hindurch lauschte, und das nicht nur ohne zu lachen, sondern sogar recht gewogen.

Vater schob seinen leer gegessenen Teller Rinderbraten beiseite und goss Schmidt und sich selbst die Schnapsgläser voll. Frau Bretschneider brachte uns Kaffee, Vater erhob das Glas auf Schmidt, sie stießen an, und daraufhin legte Vater die Karten auf den Tisch:

›Aber Herr Schmidt, trotz dieser ausreichend agilen Vorstellungskraft, von der ich eben sprach, bleiben Sie mir ein Rätsel. Ja. Trotz der Tatsache, dass ich ein Spezialist bin, gut, verglichen mit Ihnen eher in theoretischer Hinsicht, oder gerade praktischer, ganz egal, aber ein ernstzunehmender Spezialist, nicht wahr. Trotzdem – oder auch gerade deswegen bleiben Sie mir ein Rätsel.‹

Schmidt zog an seiner Zigarre und schwieg. Vater sprach weiter:

›Sie fragen sich: Inwiefern? Ich werde es Ihnen erklären. Sehen Sie, bei Ihren verschiedenen Arbeiten, die es zu Bekanntheit gebracht haben – nehmen wir als Beispiel die trivialsten, also etwa Korrekturen, die Sie an astronomischen Spiegeln großer Firmen vorgenommen haben – kann ich nicht glauben, dass sie so gemacht wurden, wie man sich hier und da erzählt. Soll heißen, mit den primitivsten Mitteln, die man sich nur vorstellen kann. Mit einer uralten Drehbank und Glasstücken, nicht wahr? Andererseits kann ich auch nicht glauben, dass die entgegengesetzten Geschichten stimmen: Dass Sie sich bislang unbekannte Berechnungs- und Schleifmethoden angeeignet haben sollen. Also, Herr Schmidt, wollen Sie mir nicht verraten, worin Ihr Geheimnis besteht?!‹

Schmidts Mund wurde von den Fingern, die die Zigarre hielten, verdeckt, weswegen ich beim besten Willen nicht ausmachen konnte, ob unter seinem Schnauzer ein Schmunzeln aufblitzte oder nicht. Er überlegte einen Augenblick:

›Was für ein Geheimnis soll das sein? Die Werkzeuge sind alt. Aber die Methode natürlich neu.‹

›Ja?!‹, rief Vater aufrichtig begeistert, ›das klingt ja äußerst geheimnisvoll. Erklären Sie doch, was das heißt! Was für eine neue Methode ist das?‹

Wie gesagt, wir hatten gehört, dass Schmidt angeblich so gut wie niemanden in seine Werkstatt ließ. Fremde schon gar nicht. Aber der Name von Professor Kelter war ihm natürlich nicht fremd. Und Vaters Interesse für seine Methode erschien Schmidt verdammt echt – und das war Herrgottnochmal auch der Grund, weshalb Schmidt auftaute. Nun, das kam nicht ganz unerwartet. Man kann es sich vorstellen: Das aufrichtige Interesse eines namhaften Experten und der geheim gehaltene Sachverstand eines Eremiten treffen bei einem Glas Schnaps aufeinander. Schmidt winkte Frau Bretschneider herbei:

›Schreiben Sie drei Korn auf meine Rechnung.‹

›Aber Herr Schmidt, ich habe Ihnen doch nur einen gebracht‹, korrigierte ihn die Wirtin.

›Zwei habe ich aus der Flasche von Professor Kelter genommen. Streichen Sie die zwei von seiner Rechnung.‹

Vater versuchte zu protestieren, aber Schmidt war bereits aufgestanden: ›Kommen Sie und schauen Sie es sich an.‹

Schmidt ging voran. Vater beglich eilig die Rechnung und schnappte sich die Flasche Korn vom Tresen, als er an der Wirtin vorbeiging, und steckte sie ein. Schmidts Keller lag gleich nebenan. Eine Minute später schloss er in unserer Anwesenheit die Tür des einstigen Kegelkellers auf und machte das Licht an.

Ein langer flacher Raum. Wie zu erwarten war. Die Kegelbahn, gut eineinhalb Meter breit und ein Dutzend Meter lang, wie das so ist, nahm den Großteil des Raums ein. An den schmutzigen Putzwänden hingen Sternenkarten, Drahtrollen, Chronometer, obskure Instrumente, diverse Skizzen von Linsen, Spiegeln und Reflektoren, manche eher schief und schematisch, einige Holz- und Blechpropeller verschiedenster Größe, teils von Booten, teils von Windmaschinen, sowie zwei alte Strohhüte. Die Kegelbahn selbst war in der Mitte durchgesägt worden. Ein Stück von einem Meter Breite war entfernt worden, sodass eine Art Durchgang entstanden war. Das dem Eingang zugewandte Ende der Kegelbahn, Sie verstehen, war mit kleinen Beinen behelfsmäßig um vierzig Zentimeter erhöht worden. Daraus war ein langgezogener Arbeitstisch entstanden, übersät mit Apparaten, Büchern und Zeichnungen. Auf der tieferliegenden Seite der Kegelbahn standen offenbar selbstgebaute Geräte ohne eindeutige Funktion, jedenfalls keine Schleifgeräte, das war klar.

Vater fragte, aus welchen Gründen sich Schmidt für so einen ungewöhnlichen Raum als Werkstatt entschieden hatte. Schmidt erklärte, dass er viele Vorteile bot: eine günstige Miete, reichlich Quadratmeter, eine mehr oder weniger horizontale Fläche, dort wo die Kegelbahn verlief.

Vater sagte: ›Aber es ist unsagbar kalt.‹

›Aber konstant kalt. Wenn man die Heizkörper ausgestellt lässt. Das ist die wichtigste Voraussetzung für präzises Schleifen‹, sagte Schmidt.

Er marschierte vorneweg ins Innere des Raums und deutete auf das große Wandregal. Darauf lagen in Reihen, allerdings nicht besonders ordentlichen Reihen, Lappen aus Sämischleder und Glasstücke, unterschiedlich in ihrer Form und offenbar auch in ihrer Härte und Qualität.

›Bitte‹, sagte Schmidt, meinem Eindruck nach ein wenig naiv und triumphierend, ›mein Instrumentarium.‹

›Und das ist wirklich alles?!‹, fragte Vater.

›Natürlich noch eine Bank‹, Schmidt deutete auf die pedalbetriebene Drehbank vor dem Regal.

Vater rief: ›Aber das Ding ist ja sicher fünfzig Jahre alt – um nicht zu sagen aus Spinozas Zeiten?!‹

›In der Tat‹, sagte Schmidt, ›gute fünfzig Jahre. Nur habe ich sie selbst justiert.‹

Vater sah sich ungläubig um und blickte zu Schmidt, weil dessen Antwort seiner Meinung nach absurd war. Auch meiner Meinung nach. Weshalb Vater nochmals fragte:

›Und das ist wirklich Ihr ganzes Instrumentarium?‹

›Ja. Natürlich inklusive meines Hauptinstruments‹, sagte Schmidt – wissen Sie, und deutete dabei ein eigenartiges, leicht rüpelhaftes Grinsen an. ›Und das ist nicht viel neuer. Es ist sechsundvierzig Jahre alt …‹

›Um welches Instrument handelt es sich?‹, fragte Vater.

Schmidt sagte: ›Um dieses‹, und streckte seine eine Hand meinem Vater recht unhöflich unter die Nase.

Natürlich nahm mein Vater es ihm nicht übel. Dafür interessierte Schmidt ihn zu sehr, verstehen Sie? Also begann er zu lachen und sagte:

›Gut, gut. Dieses Instrument, selbstverständlich. Aber das hat doch jeder Handwerker, bei manchen ist es natürlich etwas genauer als bei anderen. Die zentrale Frage ist in solchen Fällen doch die nach der Methode. Sie sagten ja selbst, dass Sie eine neue Methode hätten. Erklären Sie, worin diese besteht!‹

Schmidt blickte Vater direkt in die Augen und spitzte die Lippen, und ich konnte nicht beurteilen, wie ernst oder unernst man seine Antwort nehmen konnte. Er formulierte es, wenn ich mich recht erinnere, etwa so:

›Die Methode ist selbstverständlich neu. Oder eben sehr alt. Die älteste. Nur wird sie selten praktiziert.‹

Er schwieg und Vater ließ nicht locker: ›Das ist verdammt interessant. Worum geht es also?‹

›Es geht darum, dass ich das Glas frage.‹

›Fragen? Wie das?‹

›Ich frage das Glas. Ob ich den richtigen Weg eingeschlagen habe oder mich verrenne.‹

›So? Und das Glas antwortet?‹

›Mhm.‹

›Und dann?‹

›Dann tue ich das, was es mir sagt.‹

Vater lachte schallend: ›Und welche Sprache benutzen Sie?‹

Schmidt lächelte, sicher, aber ich beobachtete ihn aufmerksam, und mir schien, dass er in gewisser Weise wirklich durcheinander war:

›Hm, darüber habe ich noch nie nachgedacht … Glassprache … Oder vielleicht Estnisch. Ja, gewiss Estnisch‹, sagte er mit fast schon kindlicher Heureka-Freude, wie mir schien.

Vater lachte: ›Das muss ja eine recht spiegelhafte Sprache sein!‹ Er setzte sich auf den Rand der langen Werkbank, als sei er zu Hause und begann damit, Schmidt konkrete Fragen zu stellen: Etwa, ob es der Wahrheit entspreche, dass er, Schmidt, wie man sich erzählte, in der Lage sei, mit seiner Hand zonale Abweichungen von Tausendstel Millimetern auf der Oberfläche eines Parabolspiegels zu fühlen. Schmidt bestätigte, dass dies der Wahrheit entsprach. Vater sagte, verzeihen Sie, Herr Schmidt, aber das glaube ich Ihnen nicht. Schmidt ging zur anderen Seite der Werkbank und zog zwei, drei große Schubladen heraus. Darin lagen konkave Spiegel mit verschiedenen Durchmessern, von fünfzehn bis dreißig Zentimetern:

›Suchen Sie sich einen aus, Professor. Das sind Arbeiten der Glashütte Goerz. Allesamt ungleichmäßig.‹

›Einverstanden‹, sagte Vater, ›ich nehme den in der Mitte. Und was nun?‹

›Nehmen Sie das Eichmaß hier. Sie prüfen mit dem Eichmaß die Abweichungen und schreiben sie auf. Wie bei einer Zielscheibe. Uhrzeit und Punkte. Und die Größe der Abweichung. Wenn wir sie gefunden haben. Ich prüfe sie mit der Hand. Und schreibe meine Ergebnisse selbst auf. Danach vergleichen wir unsere Notizen und kontrollieren die Ergebnisse.‹

Wissen Sie, die beiden haben sich eine Stunde lang mit diesem Spiegel abgemüht. Soll heißen, Vater mühte sich eine Stunde mit dem Eichmaß ab. Und fand natürlich fünf oder sechs kleine Abweichungen.«

Herr Kelter gibt mir und sich Eiswürfel ins Glas. Und ich frage mich: Sammelt er gerade Kraft für ein großes Geständnis oder für ein großes Dementi? Dann kann ich mich nicht mehr zurückhalten:

»Und Schmidt?!«

»Tja. Sehen Sie, es war tatsächlich so. Als Vater fertig war, ging Schmidt zum Tisch und schob mir ein weißes Blatt Papier zu: ›Junger Mann, schreiben Sie auf!‹ Verstehen Sie, er hatte keine freie Hand dafür. Er legte seine Hand auf den Spiegel. So leicht, dass es schien, als hätte er den Spiegel überhaupt nicht berührt. Wissen Sie, wie jemand, der Teller jongliert, ohne die Teller zu berühren. Natürlich berührte er den Spiegel. Aber ganz sachte. Und begann mit drei Fingern, vielleicht auch nur mit dem Mittelfinger, vom Zentrum aus eine Spirale zu zeichnen. Im Uhrzeigersinn. Dabei blickte er nach unten, auf den Spiegel, aber ich hatte den Eindruck, dass seine Augen in Wirklichkeit geschlossen waren. Und dabei murmelte er die Daten, die ich aufschrieb. ›Acht Punkte, elf Uhr bis zwei. Eine Unebenheit von bis zu zwei hundertstel Millimetern …‹ Und so weiter. Insgesamt fand er – so erinnere ich mich – elf Unebenheiten. Dann maßen er und mein Vater die Abweichungen mit dem exaktesten Mikrometer nach. Und verglichen die Tiefen und Höhen der Abweichungen, die sie jeweils gefunden hatten. Nun, es hat ja keinen Sinn, eine wissenschaftliche Tatsache zu leugnen. Sofern man dieses Kuriosum so bezeichnen kann. Schmidts Daten waren exakter als die meines Vaters.«

Ich stelle das Wermutglas auf den Tisch und sage – wobei der Satz mit mehr Begeisterung aus mir herauskommt, als ich vorhatte:

»Aber Herr Kelter, das ist genial!«

»Oh, kein Grund, so ein großes Wort zu benutzen. Von Genialität ist das weit entfernt. Aber auf seine Weise war es fast perfekt. Das schon. Wissen Sie, überträgt man diese Fähigkeiten, die er hatte, sagen wir, auf den Bereich der Musik, kann man sagen: Er hatte einfach ein absolutes Gehör, ein sehr absolutes Gehör. Nicht mehr, nicht weniger. Wissen Sie, ob Beethoven ein absolutes Gehör hatte? Sie wissen es nicht? Ich auch nicht. Denn es spielt keine Rolle. Zudem wissen wir beide, dass er später überhaupt nichts mehr hören konnte. Aber er war trotzdem noch Beethoven, nicht wahr? Also machen Sie aus den Fähigkeiten keine große Angelegenheit. Aber meinem Vater imponierte das natürlich sehr. Sehen Sie, er war ein Selfmademan, der sich seine Bildung erst im reifen Alter angeeignet hatte. Er war ein Praktiker alter Schule. Er hatte im Grunde dort angefangen, wo Schmidt seinerzeit steckte: in einem Einmannarbeitszimmer. Natürlich fing er wegen Schmidts Darbietung nicht an, von einem Bein auf das andere zu hopsen. Aber er sagte: ›Herr Schmidt, ich gebe zu, das ist ziemlich imposant …‹

Sehen Sie, ich sagte eingangs, dass mein Vater kein Gefühlsmensch gewesen sei. Sondern vor allem ein Geschäftsmann. Und im Allgemeinen traf das natürlich auch zu. Aber in seltenen Fällen machte er eine Ausnahme. Oder ein primitiver Gefühlsfunken in ihm machte eine Ausnahme, um genau zu sein. Nun, zum Beispiel schickte er jedes Jahr zu Weihnachten eine gewisse Summe an die Grundschule, die er als Junge besucht hatte. Und manchmal ließ er sich für wohltätige Zwecke erweichen, wenn ihn etwas an seine Kindheit als Waise oder an seine karge Jugend erinnerte. Und Schmidt schien eben solch ein Fall zu sein, der ihm seine eigenen Anfänge vor Augen führte. Schmidt war mit seiner souveränen Starrsinnigkeit natürlich anders als mein Vater – aber trotzdem gab es auch da gewisse Gemeinsamkeiten. Und verglichen mit meinem Vater war er ein relativ junger Mann, immerhin zwanzig Jahre jünger. Also war es möglich, dass Vater ihm gegenüber eine protektive Haltung entwickelt hatte. Außerdem waren Schmidts kümmerliche Lebensbedingungen augenscheinlich. Aber ebenso augenscheinlich war seine manuelle Begabung. Und zu allem Überfluss musste man seine Behinderung in die Gleichung miteinbeziehen. Für meinen Vater, mit seinem starken und etwas rücksichtslosen Charakter, gab sie Schmidt etwas, so stelle ich es mir vor, zugleich Abstoßendes und Faszinierendes wie ein verkrüppelter Vogel oder dergleichen. Jedenfalls hörte ich an der Stimme meines Vaters – als er Schmidts Darbietung als imposant bezeichnete –, dass er im Hinblick auf ihn ein wenig, nun, ich würde sagen, gerührt war.

Aber Schmidt selbst blickte sodann auf seine Taschenuhr aus Großvaters Tagen und sagte (ohne es für nötig zu halten, sich bei uns zu entschuldigen), dass er nun leider in Eile sei. Dass er aufgrund irgendeiner Verabredung um acht Uhr zu Hause sein müsse. Vater bedankte sich höflich bei ihm – für die außerordentlich interessante Gelegenheit, einen Blick auf seine Arbeit zu werfen, wie er sagte –, und wir traten gemeinsam auf die Straße. Wir gingen in die gleiche Richtung, er zu sich nach Hause und wir etwas weiter zu unserem Hotel in der gleichen Straße.

Vater ging vor Schmidt, und ich konnte ihr Gespräch wohl nicht richtig verstehen. Ich meine, dass Vater sich nach ein paar Details zu Schmidts Uranostat erkundigte. Schmidt erklärte etwas, Vater fragte nach, präzisierte seinerseits etwas, Schmidt rief: ›Nein, nein, nein …‹ und im selben Moment standen wir am Tor zu seinem Mietshaus. Schmidt sagte: ›Warten Sie, ich erkläre es Ihnen …‹, blickte sich ratlos um, und sprach:

›Nun kommen Sie schon mit hoch!‹

Wir stiegen die bekannte Treppe nach oben bis zur bekannten Tür. Als Schmidt die Tür aufschloss, und wir in dem nach Naphthalin riechenden Flur standen, ging eine Zimmertür auf, und die bekannte Frau mit den toupierten Haaren trat hervor. Zu Ihrer Freude, Herr Schriftsteller, fand ich in unserem Archiv ihren Namen. Mein Vater hatte vor unserer Visite in Mittweida von Schmidt irgendeinen Brief bekommen. Der zufälligerweise erhalten blieb. Zusammen mit dem Umschlag. Darauf steht c/o Knechtel. Schriftsteller denken ja bisweilen, dass neben all der Fantasterei derlei polizeiliche Details für sie von Bedeutung seien. Also bitte sehr: Frau Knechtel, Wilhelmstraße 6. Frau Knechtel trat hervor, soll heißen, in den Flur und teilte mit, dass Fräulein Johanna nach Herrn Schmidt gesucht habe und versprach, später zurückzukehren. Schmidt fragte:

›Sind die Kinder noch nicht gekommen?‹

Frau Knechtel sagte, nein, noch keine Kinder. Ja, ja, ausgerechnet Kinder. Bei dem eingefleischten Junggesellen Schmidt, bei dem Astro-Optiker Schmidt verkehrten Kinder! Da haben Sie eine fromme Szene, wie sie im Buche steht: Lasset die Kindlein zu mir kommen; denn solcher ist der Sternenhimmel – oder so ähnlich, nicht wahr? Ein wenig modifiziert – Sternenhimmel pro Himmelreich – das ist auch für Sie hinnehmbar, oder? Wie dem auch sei …« Herr Kelter verzeiht mir väterlich meine Kleinlichkeit in der Frage des Himmelreichs sowie meine übermäßige Sympathie für Schmidt, füllt unsere Gläser mit Wermut auf und fährt fort:

»Nun gut. Wir betraten Schmidts Zimmer. Es war erwartungsgemäß. Recht geräumig, aber natürlich spärlich möbliert. Und das muss ich sagen: Für einen Präzisionsarbeiter unglaublich unordentlich. Und wenn Sie vermuten, dass das Zuhause eines Mannes, dessen Arbeitszimmer nur fünf Minuten entfernt liegt, sich deutlich von selbigem unterscheidet, nicht unbedingt hinsichtlich seiner Ausstattung, sondern seiner Funktion, in dem Sinne, dass das Arbeitszimmer für die Arbeit, das Zuhause aber für Erholung und Gemütlichkeit gedacht ist, dann täuschen Sie sich gehörig. Was Schmidt betrifft jedenfalls. Sein Wohnzimmer war fast genauso sehr ein Arbeitszimmer wie sein Kegelkeller. Nur gab es dort keine Drehbank, keine Apparate und kein Regal mit Poliergläsern. Sondern bloß kahle, mit Entwürfen übersäte Wände, einen Zeichentisch und sogar eine Reihe auseinandergenommener Amateurteleskope und deren Teile, einen Tisch voller verstreuter Stapel aus Büchern, Skizzen, Zeichnungen und Berechnungen, und in der Mitte all dessen einen großen, recht abgewetzten Plüschsessel. Sowie ein von einem Paravent abgeschirmtes Bett.

Wenn ich mich recht erinnere, hat uns Schmidt zunächst keinen Platz angeboten. Er zog aus irgendeiner Schublade ein weißes Blatt Papier hervor, drückte es mit dem Stumpf seines rechten Arms gegen den Tisch und fertigte mit der linken Hand blitzschnell eine Skizze seines Uranostats an. Dann begann er, meinem Vater die Konstruktion von dessen Rotationsvorrichtung zu erklären. Ich folgte den Ausführungen zwischen den beiden stehend, denn ich wusste durch Vater über die kleinen Sensationen in diesem Bereich Bescheid – aber ein paar Spezialisten hatten geschrieben, dass es sich dabei um ein außergewöhnliches und unglaublich präzises Gerät handeln solle. Das Problem war in etwa folgendes: Ein Teleskop muss während des Beobachtens in Einklang mit dem Sternenhimmel rotieren. Der Himmel rotiert absolut gleichmäßig. Aber es ist verdammt schwer, ein Teleskop mit absolut gleichmäßiger Geschwindigkeit rotieren zu lassen. Das Objekt gerät früher oder später immer aus dem Fokus. Schmidts Uranostat löste das Problem auf lächerlich einfache Weise und erreichte eine praktisch absolute Gleichmäßigkeit hinsichtlich der Rotation des Teleskops.

›Und welches Prinzip haben Sie dafür gefunden?‹, fragte Vater.

›Ein Wasserreservoir mit Durchlauf‹, sagte Schmidt. ›Wenn der Wasserstand sich verändert, verändert sich die Geschwindigkeit. Wenn der Wasserstand gleich bleibt, bleibt auch die Drehung gleich. Das ist sehr einfach zu bauen.«

›Und diese Idee haben Sie tatsächlich‹, Vater hüstelte, ›wie man sich erzählt …‹

›Ja‹, sagte Schmidt, ›vom Spülkasten der Toilette.‹

Schmidt erklärte Vater, wie er mit seinem Apparat die Erdrotation und die daraus resultierende Eigenbewegung eines Objekts bestimmte, aber mir fiel auf, dass Vater ihm nicht mehr mit voller Aufmerksamkeit zuhörte. Dann verstummte Schmidt und Vater dankte ihm nochmals, wie er sagte, für den lehrreichen kleinen Vortrag, und dann fiel Schmidt auf, dass er seinen Gästen gar keinen Platz angeboten hatte. Er zeigte Vater den Sessel und holte hinter dem Paravent einen Hocker hervor, den er mir anbot, ehe ich einen anderen Hocker fand und ihm den ersten überließ. Wir saßen nun am mehr oder weniger leeren Ende des Tischs, und Vater stellte mit der selbstverständlichsten Miene die Flasche Korn auf den Tisch.

›Ich habe gesehen, dass das Ihre Marke ist. Könnten wir von Ihrer Wirtin vielleicht ein Tässchen Kaffee bekommen?‹

Ich erinnere mich: Schmidt war amüsanterweise einen Moment lang verlegen wie ein Kind. Er stammelte, dass die Dienstleistungen seiner Vermieterin nicht Bestandteil seines Mietvertrags seien und er diese bislang nicht beansprucht habe. Jedenfalls stand er widerwillig auf. Er wollte, oder vielmehr wollte er nicht zu ihr gehen, um sie nach Kaffee zu fragen. Aber Vater hielt ihn davon ab, das Zimmer zu verlassen, und sagte stattdessen:

›Herr Schmidt, wenn Sie erlauben, kümmere ich mich darum.‹

Vater ging in den Flur, und wir hörten durch den Türspalt, wie er mit der Wirtin sprach. Etwas, das in solchen Situationen wirkt. Dass er Professor Soundso aus Berlin sei. Dass er bereits am Nachmittag das Vergnügen gehabt habe, mit der Dame zu sprechen. Dass Herr Schmidt ein junger Kollege von ihm sei und ein sehr angesehener Mann. Und er, der Professor, wäre Frau Knechtel zutiefst dankbar, wenn sie Herrn Schmidt und seinen beiden Gästen ein Kännchen ordentlichen, starken Kaffee kochen würde. ›Nein-nein-nein, bitte nehmen Sie!‹ Offenbar hatte er der Dame ein wenig Geld in die Hand gedrückt. Und ob die Dame zusammen mit der Kanne vielleicht drei Tassen und drei Cognacgläser mit in Schmidts Zimmer bringen könne. ›Sie kennen doch Herrn Schmidt, Werteste. Er ist zu bescheiden. Er hat sich nicht getraut, selbst zu fragen.‹«

»Ich erinnere mich nicht«, fuhr Herr Kelter fort, »worüber die nächste Viertelstunde gesprochen wurde. Dann brachte Frau Knechtel jedenfalls auf einem Tablett die Kaffeekanne herein. Nebenbei bemerkt höchst erfreut und ergeben mit dem Hinterteil wackelnd.

Als sie gegangen war, öffnete Vater die Flasche und goss uns eigenhändig die Gläser voll. Nun, er ergänzte dies um ein paar angemessene Worte der Freude darüber, Schmidt kennengelernt zu haben, und beide tranken ihre Gläser leer. Aufgrund der Gegenwart meines Vaters befeuchtete ich mir nur die Lippen. Zu der Zeit war dies in guten Kreisen das Einzige, was ein Junge mit zwanzig Jahren tun konnte. Während Vater die Gläser wieder auffüllte, sagte Schmidt, dass er sich heute ausnahmsweise ein zweites Gläschen erlauben könne. Wie sich herausstellte, hatte er am Morgen desselben Tages dem Berliner Patentamt etwas geschickt, das rein gar nichts mit Astronomie zu tun gehabt habe – den Entwurf eines neuartigen Windmotors für Schiffe. Vater äußerte, dass Flettner bereits etwas Ähnliches gebaut habe, doch Schmidt verkündete äußerst selbstbewusst, dass sein Motor von Grund auf anders sei und deutlich besser als der von Flettner. Ich erinnere mich, wie er sagte, dass Prandtl persönlich der Konstruktion ein glänzendes Zeugnis ausgestellt habe. Aber er fügte beinahe grinsend hinzu:

›Das Patent werde ich natürlich nicht bekommen. Es ist bereits mein achter Versuch, bislang …‹«

Herr Kelter kehrt aus seinen Erinnerungen zurück ins Jetzt und erklärt: »Vielleicht haben Sie herausgefunden, wofür er diese Patente einholen wollte. Ich weiß es jedenfalls nicht genau. Über eines hatte er jedenfalls Verhandlungen mit Junkers geführt: ein Teleobjektiv für Kartierungsflüge. Ein anderes war offenbar ein Gastroskop, ein elastisches Instrument für Mediziner. Der Patient müsste es herunterschlucken, damit der Arzt ins Innere des Magens sehen könnte. Das dritte war eine Art Präzisionsschraube. Das vierte natürlich sein Uranostat. Das fünfte – nun, ich weiß gar nicht, ob er dafür überhaupt ein Patent beantragt hatte. Wohl kaum. Es war sein, wie soll ich sagen, Wohnungsperiskop. Aber nicht zum Durchs-Dach-Spähen, sondern um durch den Boden zu schauen. Nein, nein, nein, nicht für den Polizeigebrauch, haha. Sein Verhältnis zur Polizei war eher schlecht. Das Periskop hatte ein gewiefter Bauer aus Frankenau bei ihm bestellt, der vom Schwarzbrennen reich geworden war. Aus irgendeinem seltsamen Grund lebte er unter dem Dach seines Kuhstalls. Schmidts Apparat erhöhte ein Stück weit seinen Komfort. Er schaltete nachts in seinem Zimmer über dem Stall die Lichter ein und schaute durch den Apparat, der auf dem Nachttisch stand, richtete das Periskop links und rechts auf den Stall und sah alle zwanzig Kühe, wie sie kauten, schliefen, auf der Seite lagen und kalbten, ein vollständiger Überblick, ohne dass sich der Landwirt aus dem Bett hätte erheben müssen. Abgesehen von dem Uranostat handelte es sich dabei vermutlich um das einzige von Schmidt nach dem Krieg gefertigte Gerät, für das er Geld bekommen hatte. Und aus Verbitterung sagte er:

›Ich befürchte, selbst wenn ich für meinen Windmotor ein Patent bekomme, werden die Einnahmen ebenso mager sein wie bei den anderen sieben, für die ich keines bekommen habe. Denn dafür gibt es auch nicht mehr Käufer als für meinen astronomischen Kram.‹

Vater reminiszierte: ›Ja, Herr Schmidt, Ihre Erfahrung ist exakt die gleiche, die ich in jungen Jahren machen musste: ein Erfinder, der die Unabhängigkeit mehr braucht als alles andere, ist auf lächerlichste Weise abhängig von Zufällen. Das ist tragisch. Ich weiß.‹

Schmidt sah Vater lange und, wie mir schien, beinahe verdutzt in die Augen, steckte sich eine Zigarre an und sagte:

›Ich erwäge jedenfalls ernsthaft, ob ich nicht mein ganzes Gerümpel auf dem Flohmarkt verscherbeln und ein neues Leben beginnen soll.‹

Mich hätte interessiert, wie dieses neue Leben hätte aussehen können (und auch für den Autor wäre dies eine wertvolle Information gewesen), aber wenn ich mich recht erinnere, blieb das unausgesprochen. Denn Vater sagte plötzlich: ›Herr Schmidt, ich habe einen Vorschlag für Sie. Arbeiten Sie doch für die Firma Kelter.‹«

Herr Kelter junior nimmt eine Mandel aus der Kristallschale auf dem Tisch, die erste während unseres Gesprächs, und steckt sie sich in den Mund:

»Vaters Vorschlag kam für mich völlig unerwartet und deshalb kann ich mich sehr gut an den Moment erinnern. Ich war ja der zukünftige Chef der Firma. Und ich erinnere mich, dass mich der Gedanke an Schmidt im Dienste der Firma störte. Nicht etwa, weil er eine zu große Autorität gewesen wäre, wie Sie vielleicht annehmen. Sondern schlichtweg deshalb, weil ich seine Eigensinnigkeit spürte. Und natürlich hatte er im Bereich der Optik mehr erreicht als ich zu der Zeit. Also war mir eine gewisse Rivalität nicht ganz fremd. Ich erinnere mich, dass Schmidt auf Vaters Vorschlag hin den Arm in die Luft streckte, so wie zuvor, als er Vaters Einladung zum Abendessen ablehnte, oder als ob er mit seinen fünf Fingern die Aufmerksamkeit auf etwas richten wollte – und genau in diesem Moment klopfte Frau Knechtel an die Tür und gab Bescheid, dass die Kinder nun gekommen seien.

Hinter der Dame standen drei oder vier kleine Rotzlöffel, wissen Sie, ungestüme Grundschüler zwischen zehn und zwölf, zudem noch schlecht erzogen … Statt infolge der Mitteilung der Hausdame – Herr Schmidt hat Gäste aus Berlin! – still zu verschwinden, verlangten sie, mit Onkel Bernhard zu sprechen: Sie hätten eine Verabredung mit Onkel Bernhard. Und Onkel Bernhard ging ihnen beileibe nicht mit gutem Beispiel voran. Statt die Kinder nach Hause zu schicken, sich bei uns zu entschuldigen und Vaters äußerst ernstzunehmenden Vorschlag abzuwägen, rief er die Kinder hinein und entschuldigte sich fast schon bei ihnen, verstehen Sie: Seht her, Jungens, ich habe gerade Gäste, aber wir klären unsere Sache trotzdem.

Wie sich herausstellte, organisierte Schmidt für Schulkinder aus Mittweida und Umgebung ›Einführungen in die Sternkunde‹. Und nebenbei – nicht gegen Bezahlung, sondern ›um ihre Kenntnis der Astronomie‹ zu verbessern. Also genau wie ich sagte: Lasset die Kindlein zu mir zu kommen, zum astronomischen Christus unseres Jahrhunderts.

Er vereinbarte mit seinen Jüngern, dass sie sich um zehn Uhr versammeln würden – beachten Sie, es war schon nach halb neun, somit gab er meinem Vater und dessen Vorschlag (von mir ganz zu schweigen) etwas über eine Stunde Zeit. Die Jünger sollten um zehn Uhr zusammenkommen – nein, nicht im Garten von Gethsemane, sondern am Tor zu Hetzgers Garten. Er würde ihnen dort die Ringe des Saturn zeigen. Wenn ich mich richtig erinnere.

Und als diese kleine oder im Grunde recht große Unverschämtheit vorüber war, die Jungen gingen und Vater auf seinen Vorschlag zurückkam – denn er war beharrlich, und hatte er sich etwas in den Kopf gesetzt, kam er darauf zurück –, erhielt er immer noch keine Antwort. Denn genau in dem Moment marschierte Schmidts Fräulein klopfenderweise, aber ohne eine Reaktion abzuwarten, herein.«

»Oh!«, ich kann einen Aufschrei nicht unterdrücken, »Sie sind also Johanna begegnet! Was für ein Geschenk, dass ich jetzt hören darf, welchen Eindruck Sie von ihr hatten …«

»Ich weiß nicht recht«, sagt Herr Kelter, »welche Rolle diese Frau in Schmidts Leben gespielt hatte. Wir hörten – oder vielmehr wir hatten gehört –, dass Schmidt während seiner ersten Jahre in Mittweida trotz seiner Behinderung ein ziemlicher Schürzenjäger war. Ob trotz oder gerade wegen seiner Behinderung werden wir nie genau erfahren. Später und auch zu der Zeit, als Vater und ich Mittweida besuchten, war die junge Dame offenbar seine nichteheliche Frau. An ihren Familiennamen erinnere ich mich leider nicht«, Herr Kelter lächelt entschuldigend, »Herr Schmidt hat uns ihre Adresse nicht geschickt und im Firmenarchiv ist sie auch nicht. Welchen Eindruck ich von ihr hatte? Nun, eine kurvige Brünette mit rosigen Wangen. Damals war sie vielleicht fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Jahre alt. Und ein bisschen zu groß für Schmidt. Fast so groß wie er. Für damalige Verhältnisse ungewöhnlich groß. Heute würde sie damit in keiner Basketballmannschaft aufgenommen werden. Ein nettes, lebhaftes Mädchen, das ein billiges blaues Kostüm und etwas abgelaufene Straßenschuhe trug. Mit niedrigen Absätzen, sicher wegen Schmidt. Aber an sich würde ich sagen: eine ganz und gar gewöhnliche Frau. Eine Tippse aus der Kommunalverwaltung oder so was. Wissen Sie, viele außergewöhnliche Männer hatten ganz gewöhnliche Frauen.«

Herr Kelter sieht mir in die Augen. Er verfolgt meinen Gesichtsausdruck wie ein triumphierender alter Fuchs und reckt lehrerhaft einen Finger in die Luft. »Nein, nein, schließen Sie daraus nicht, dass ich mit Fräulein Johannas Gewöhnlichkeit Schmidts Außergewöhnlichkeit verstärken möchte. Viele außergewöhnliche Männer hatten gewöhnliche Frauen – aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Der andere Teil ist, dass wirklich auch nahezu alle gewöhnlichen Männer gewöhnliche Frauen haben. Wie dem auch sei. Ich erinnere mich nicht mehr, weshalb Johanna vorbeikam. Ich meine, dass sie Schmidt sein Abendessen brachte, irgendeine Kohlsuppe oder dergleichen. Wichtiger ist vielleicht mein Eindruck, wie sich Schmidt ihr gegenüber verhielt. Nein, nein, ganz normal natürlich. Er stellte uns sogar vor. Aber während Johannas halbstündiger Anwesenheit hatte Schmidts Verhalten etwas jungenhaft Ungehaltenes. Er schämte sich vor uns Fremden wie ein Dreikäsehoch über Johannas Erscheinen und gleichzeitig schien er über ihr Kommen eine, wie soll ich sagen, mit Unzufriedenheit vermischte Freude zu spüren. Wobei das Mädchen ihn, so schien mir, mit mütterlichem Stolz behandelte, einem besorgten mütterlichen Stolz. Wie ein schlaues Kind. Das die Mutter natürlich für außergewöhnlich schlau hält. Wie alle Mütter. Johanna trank mit uns eine Tasse Kaffee, doch Schnaps lehnte sie ab. Ja, mir kam es vor, als hätte Schmidt beim Erscheinen der Schulkinder ein wenig vor uns geprahlt, ohne Worte, selbstverständlich. Aber Johanna verunsicherte ihn irgendwie. Während die junge Frau selbst damit prahlte – recht dezent, muss ich sagen, aber dennoch –, wie zu Hause sie sich bei ihrem Schmidt fühlt und überhaupt wie wohl mit ihm. Trotz aller vermeintlicher Feinfühligkeit wirkte das, so erinnere ich mich, ein klein wenig sentimental. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen. Aber all das war nur ein flüchtiger Eindruck. Den ich im Gespräch mit Ihnen aufgewärmt habe. Dann ging die junge Frau ihres Weges und ich sah sie nie wieder. Und einige Jahre später verschwand sie auch aus Schmidts Leben, soviel ich weiß, als Schmidt zunächst vorübergehend und schließlich dauerhaft nach Hamburg zog. Nun ja. Dann waren wir wieder zu dritt in Schmidts Mittweida-Zimmer und Vater kam ein zweites Mal auf seinen Vorschlag zurück:

›Herr Schmidt, ich warte immer noch auf Ihre Antwort.‹

Die Verzögerungen hatten Schmidt Zeit gegeben, seine Antwort abzuwägen, sodass er augenblicklich die Karten auf den Tisch legte. Nebenbei hatte ich den Eindruck, dass er auch sonst ein wortkarger Mensch war, vielleicht nicht so wortkarg, wie der Mythos es will, aber seine Worte waren wohl formuliert und äußerst schnell ausgesprochen. Er sagte:

›Ich stimme unter einer Bedingung zu. Die Firma bezahlt mir zweihundert Mark im Monat …‹

Vater unterbrach ihn: ›Zweihundertfünfzig.‹ Woraus ich überrascht schlussfolgerte, wie sehr er daran interessiert war, Schmidt für sich zu gewinnen. Schmidt wiederholte:

›Zweihundert Mark, aber mit dem Status eines freiwilligen Mitarbeiters. Die Firma stellt keine konkreten Anforderungen an mich.‹

›Wie habe ich das zu verstehen?‹, wunderte mein Vater sich. ›Das wäre ja recht ungewöhnlich. Solche freiwilligen Mitarbeiter, wie Sie sagen, gibt es in meiner Firma nicht. Sie bekommen zweihundertfünfzig Mark im Monat und einen Posten als Junioringenieur. Und wenn Sie eingearbeitet sind, die Aussicht auf eine Stelle als Senioringenieur und dreihundert Mark im Monat. Ungeachtet dessen, dass Ihr Ingenieursdiplom lediglich vom Technikum in Mittweida ausgestellt wurde.‹

›Nein‹, sagte Schmidt, ›ich werde in keiner Weise Verantwortung für die Produkte von Kelter übernehmen.‹

›Warum?! Sind die Produkte von Kelter Ihnen nicht gut genug?!‹, fragte Vater schockiert.

›Wollen Sie das wirklich wissen?‹, fragte Schmidt zurück.

›Unbedingt will ich das wissen!‹, rief mein Vater, ohne sich provozieren zu lassen.

Schmidt sagte: ›Nun gut. Wenn es um mechanische Schliffe geht, gehört Kelter zu den besten Firmen. Aber alle Firmen mit ihren Michels und anderen Bänken sind in Hinblick auf Feinschliffe Graupenmühlen. Ich wäre bereit, mit Ihnen Folgendes zu vereinbaren: Ich arbeite weiterhin selbständig. Aber im Laufe eines Jahres würde ich mir von Ihren Aufträgen ein bis zwei angemessene Dinge aussuchen und erledigen. Unter dem Markennamen Bernhard Schmidt bei Kelter. Und dafür bezahlen Sie mir zweihundert Mark im Monat.‹

Vater schrie auf: ›Das heißt ohne jegliche Verpflichtungen Ihrerseits und ohne Kontrolle seitens der Firma?!‹

Schmidt sagte: ›Mit dem nötigen Vertrauen beider Seiten.‹

Mein Vater schwieg und verkniff sich, Schmidt zur Hölle zu schicken und lachte:

›Herr Schmidt – normale Verpflichtungen, Disziplin, ein Arbeitstag mit acht Stunden. Als Markenname Kelter. Aber der Titel Chefkonstrukteur und vierhundert Mark im Monat.‹

Ich sah, wie Vater mit der Zunge winzige Schweißtropfen vom Rand seiner Oberlippe leckte und Schmidt mit verengten Augen ansah.

Schmidt schüttelte den Kopf. Und wissen Sie, mir scheint, dass dieser Flegel die Situation genoss. Als ich vor unserer Fahrt auf Geheiß meines Vaters ein paar Informationen über Schmidt sammelte, erzählte man mir, dass er vor dem Krieg sonntags hin und wieder nach Dresden gefahren sei, um auf Pferde zu wetten. Vor dem Krieg hatte er manchmal Geld übrig. Kurz gesagt musste er tief in sich eine Spielernatur sein. Und da kam es mir augenblicklich vor, als zuckte in seinem kleinen roten Schnauzer eine Art wilde Spielfreude auf. Umso mehr stieg mein Vater auf das Spiel ein:

›Fünfhundert Mark im Monat!‹

Schmidt schüttelte den Kopf. Ich trat meinem Vater unter dem Tisch auf den Fuß. Er befreite seinen Fuß und schob meinen davon. Vielleicht hatte ich geahnt, dass in ihm die Möglichkeiten zu derartigen elementaren Impulsen, sich selbst zur Geltung zu verhelfen, stecken, aber nie zuvor hatte ich so etwas erlebt. Vater rief:

›Verdammt nochmal – was denken Sie eigentlich, wie viel Sie wert sind?‹ Und als ich versuchte, ihn am Ärmel zu zupfen, brüllte er mich an: ›Nein! Versuch nicht, mich zu belehren! Ich will ein für alle Mal wissen, was dieser junge Mann (beachten Sie, dass er Schmidt in seiner Wut als jungen Mann bezeichnete) von sich hält. Sechshundert!‹

Schmidt schüttelte den Kopf. Und Vater rief: ›Neunhundert!‹

Vielleicht kann der Herr Schriftsteller einen feinen psychologischen Grund finden, weshalb mein Vater zwei Hunderterschritte übersprang, aber nicht bis Tausend ging. Ich war mir sicher, dass Schmidt zum fünften Mal den Kopf schütteln würde. So sicher, dass ich nicht einmal zu ihm sah. Ich betrachtete nur peinlich berührt Vaters rot angelaufenes und verschwitztes Gesicht. Er litt schon damals unter starkem Bluthochdruck. Und dann, stellen Sie sich vor, sagte Schmidt plötzlich ganz ruhig, aber äußerst vorsichtig:

›Einverstanden.‹

Ich dachte mir: Setzt dieser verdammte Flegel in allem Ernst darauf, dass Vater ein preußischer Ehrenmann alter Schule ist, der sein Wort hält? Er konnte davon ausgegangen sein, dass Vater aus einem Anflug von Wahnsinn sein Wort halten würde. Und nicht einmal ich wusste es – vielleicht würde Vater sich daran halten –, und in diesem Fall wäre Schmidt wirklich ein Schurke gewesen. Aber nein. Zu meiner Freude erwies sich mein Vater als etwas flexibler, als ich befürchtet hatte. Wissen Sie, seine Erfahrungen in Amerika haben ihm sehr geholfen. Er blieb nur drei oder vier Sekunden stumm. Dann brach er in Gelächter aus und sagte, mit beinahe gefasster Stimme:

›Hören Sie, Schmidt.‹ Er sagte: Hören Sie, Schmidt. Er hatte das Herr vergessen. Daran wurde auf verblüffende Weise deutlich, wie sehr er sich darüber ärgerte, dass er im Namen der Vernunft zu diesem Selbstbetrug gezwungen war. ›Hören Sie, Schmidt. Sie haben doch nicht wirklich geglaubt, dass mein Angebot ernst gemeint war?! Hahaha!?‹

Und ich muss sagen, Schmidt war nicht blöd. Er erwiderte mit einem trockenen Lachen:

›Nein, Professor. Sie dachten doch nicht wirklich, dass ich Ihr Angebot ernsthaft annehmen würde?! Dass Sie meine Unabhängigkeit erkaufen könnten – für neunhundert Mark im Monat?!‹«

»Nebenbei«, ergänzt Doktor Kelter, »beachten Sie Folgendes: Er hielt es nicht für nötig hinzuzufügen, dass es natürlich eine Schweinerei ohnegleichen gewesen wäre, neunhundert Mark im Monat einzustecken – sofern mein Vater sich wirklich darauf eingelassen hätte. Aber Schmidt sagte offenbar die Wahrheit, als er bestätigte, dass er das Angebot meines Vaters nicht ernsthaft in Betracht gezogen hatte. Er hatte es womöglich gesagt, weil er wissen wollte, wie mein Vater reagieren würde. Aber mein Vater, dieser gutherzige alte Narr, flunkerte natürlich. Als er sagte, sein Angebot sei ein Scherz gewesen. Denn zumindest in dem Moment, in dem er neunhundert Mark herausbrüllte, war er bereit, Schmidt die Summe zu bezahlen.«

»Nun«, Doktor Kelter trinkt Wermut auf seine Mandel. »Wie ich mich erinnere, tranken wir danach keinen Schnaps mehr. Vater blickte auf die Uhr und erklärte das Gespräch für beendet, Herr Schmidt könne nun los zu seinen Jüngern. Schmidt war damit unhöflicherweise augenblicklich einverstanden, und wir verabschiedeten uns voneinander. Noch am selben Abend fuhren wir zurück nach Berlin, und ich sah Schmidt mehr als zehn Jahre nicht mehr.«

Ich sage: »Aber dann trafen Sie ihn noch einmal in Bergedorf?«

»Ja, einige Monate vor seinem Tod.«

»Und wann kann ich Ihre Eindrücke von dieser Begegnung hören?«

»Hmm. Rufen Sie mich nächste Woche an.«

»Vorab noch eines: Zu dieser Zeit hatte er ja schon längst sein komafreies Teleskop erfunden. Sagen Sie: Müssen Sie in Anbetracht dieser Erfindung nicht zugeben, dass er ein Genie war

»Großer Gott«, rief Doktor Kelter ein wenig eitel, »warum belästigen Sie mich schon wieder mit diesem Wort?! Nun gut. Ich gebe zu: Er war genial. Sagen wir in seinem Fall nicht in dem Sinn wie ein blindes Huhn, das ein Korn findet, sondern wie ein einäugiger Hahn, der pickt und pickt und pickt, bis er einen Diamanten findet. Hahahahaa …«

Gegenwindschiff

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