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Kapitel 2

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Das Gesetz von Knüppel und Fangzahn

Der erste Tag am Strand von Dyae war für Buck wie ein Alptraum. Jede Stunde brachte ihm neuen Schrecken, neue schlimme Überraschung. Jählings fand er sich aus dem Herzen der Zivilisation fortgerissen und in eine rohe Urwelt geschleudert. Das war nicht mehr das gemütliche, sonnenverwöhnte Leben, in dem man nichts zu tun hatte als faulenzen und sich langweilen. Hier gab es keinen Frieden, keine Ruhe, keinen Augenblick der Sicherheit. Hier gab es nur hektisches, konfuses Treiben und ohne Unterlass Gefahr für Leib und Leben. Und die unerbittliche Notwendigkeit, ständig auf der Hut zu sein. Diese Hunde waren keine Stadthunde und die Männer keine Stadtleute. Sie waren Barbaren, allesamt, die kein Gesetz kannten außer dem Gesetz von Knüppel und Fangzahn.

Noch nie hatte er Hunde so kämpfen sehen, wie diese wölfischen Kreaturen kämpften, und dieses erste Mal erteilte ihm eine unvergessliche Lehre. Die bittere Erfahrung machte hier allerdings jemand anderes für ihn; sonst wäre sein Leben zu Ende gewesen, und er hätte die Lektion nicht mehr nutzen können. Es traf Curly. Das Camp befand sich in der Nähe eines Holzlagers; dort ging Curly in ihrer freundlichen Art auf einen Husky zu, einen Eskimohund von der Größe eines ausgewachsenen Wolfs, freilich nur halb so hoch wie sie. Jäh, ohne Vorwarnung, gab es nur einen blitzschnellen Satz nach vorn, ein metallisches Klicken der Zähne, einen ebenso raschen Satz nach hinten, und Curlys Gesicht war aufgerissen von den Augen bis zum Kiefer.

So kämpfen Wölfe: zuschlagen und wegspringen, aber da war noch etwas anderes. Dreißig bis vierzig Huskys rannten herbei und bildeten um die Kombattanten eine stille, gaffende Runde. Buck begriff weder die stumme Neugierde noch die lauernde Vorfreude, mit der sie sich die Lefzen leckten. Curly stürzte sich auf ihren Gegner, der aber erneut zuschlug und beiseitesprang. Ihre nächste Attacke wehrte er mit der Brust ab, und zwar so, dass es Curly zu Fall brachte. Sie kam nicht wieder hoch. Genau darauf hatten die Huskys ringsum gewartet. Knurrend und jaulend fielen sie über die Neufundländerin her; sie schrie auf in ihrer Todespein und war bald begraben unter einer wogenden Menge von Leibern.

Alles geschah so plötzlich und unerwartet, dass es Buck tief erschütterte. Er sah, wie Spitz seine scharlachrote Zunge herausstreckte – das war seine Art zu lachen; er sah, wie François eine Axt ergriff und in die Meute sprang. Drei Männer mit Knüppeln halfen ihm, die Hunde auseinanderzutreiben. Es ging ganz schnell. Zwei Minuten, nachdem Curly zu Boden gegangen war, hatten sie den letzten ihrer Angreifer fortgeprügelt. Sie selbst aber blieb liegen im blutigen, zertrampelten Schnee, schlaff und leblos, fast buchstäblich in Stücke gerissen; das dunkle Halbblut stand über ihr und fluchte grässlich. Die Szene prägte sich Buck ein; sie verfolgte ihn sogar im Schlaf. So ging es hier also zu. Keine Fairness. Einmal am Boden, und du bist erledigt. Nun, er würde eben dafür sorgen, dass er nie zu Boden ging. Spitz streckte abermals die Zunge heraus, was hieß: Er lachte wieder. Von diesem Augenblick an hasste Buck ihn mit bitterem, unvergänglichem Hass.

Kaum hatte er sich von dem Schock, den Curlys tragisches Ende ihm bereitet hatte, halbwegs erholt, da ereilte ihn schon ein neuer. François befestigte an ihm eine Gerätschaft aus Riemen und Schnallen. Es handelte sich um ein Geschirr; er hatte daheim oft gesehen, wie die Knechte so etwas den Pferden anlegten. Die Pferde, die er da gesehen hatte, mussten arbeiten, und dies musste Buck nun auch. François spannte ihn vor einen Schlitten, und Buck zog ihn in den Wald, der das Tal säumte, und kehrte mit einer Ladung Brennholz zurück. Hatte man ihn also zum Zugtier degradiert! Dies verletzte ihn zwar empfindlich in seiner Würde, aber er war weise genug, nicht zu rebellieren. So neu und fremd sich das Ganze anfühlte: Alle Willenskraft aufbietend, legte er sich ins Zeug. François kannte kein Pardon; er verlangte prompten Gehorsam, und, falls erforderlich, erzwang er ihn mit der Peitsche. Dave, ein erfahrener Deichselhund, zwickte Buck jedes Mal mit den Vorderzähnen ins Hinterteil, wenn er einen Fehler beging. Spitz war der Leithund und als solcher ebenso erfahren; da er nicht immer nah genug an Buck herankam, knurrte er dann und wann grollend zu ihm hinüber, was eine scharfe Rüge bedeutete, oder er warf geschickt sein Gewicht in die Zugriemen, so dass Buck wieder in die richtige Spur gelangte. Dieser lernte rasch; seine beiden Kameraden und François lehrten ihn kundig, und so machte er bemerkenswerte Fortschritte. Noch ehe sie wieder ins Camp zurückkehrten, hatte er ein paar Grundregeln heraus: bei »Stop!« anhalten, bei »Los!« starten, in den Kurven weit ausschwenken und dem Deichselhund aus den Füßen bleiben, wenn der beladene Schlitten bergab schoss und ihnen dabei bedrohlich auf den Fersen war.

»’errlische ’unde, die drei«, meinte François zu Perrault. »Dieser Buck, der zieht ja ’öllenmäßisch. Dem bring isch alles bei im ’andumdrehn.«

Am Nachmittag brachte Perrault, der mit seinen Postsendungen eiligst auf den Trail wollte, weitere zwei Hunde ins Camp, die er Billee und Joe nannte; ein Brüderpaar, beide echte Huskys. Obwohl Söhne derselben Mutter, unterschieden sie sich wie Tag und Nacht. Billees entscheidender Fehler war eine übermäßige Gutmütigkeit, während Joe genau das Gegenteil war: verdrossen und in sich gekehrt, ständig knurrend und böse dreinschauend. Buck begrüßte die beiden kameradschaftlich; Dave ignorierte sie; Spitz jedoch wollte sie sich sogleich einen nach dem anderen vornehmen. Billee wedelte beschwichtigend mit dem Schwanz, wandte sich zur Flucht, als er merkte, dass bei Spitz Beschwichtigung nichts half, und jaulte laut (immer noch beschwichtigend), als er dessen scharfe Zähne in seiner Flanke spürte. Joe war kein so leichter Gegner. Zwar umkreiste Spitz ihn ausdauernd, doch Joe drehte sich auf seinen Pfoten mit und bot ihm stets die Stirn; sein Fell sträubte sich, er legte die Ohren an, verzog knurrend die Lefzen, ließ die Kiefer so schnell zusammenklappen, wie er zuschnappen konnte, und die Augen diabolisch glühen – die Inkarnation kampfbereiter Furcht. Seine Erscheinung wirkte derart abschreckend, dass Spitz sich gezwungen sah, den Disziplinierungsversuch einzustellen; aber die Niederlage musste er irgendwie überspielen, und so stürzte er sich auf den friedlichen, winselnden Billee und hetzte ihn bis an den Rand des Lagers.

Am Abend fand sich, dass Perrault einen weiteren Hund besorgt hatte, einen alten Husky, lang, hager und dürr, mit einem kampfzernarbten Gesicht und nur noch einem Auge, aus dem Kühnheit blitzte, ein Warnsignal, das Respekt gebot. Er hieß Sol Leks, das bedeutet ›der Zornige‹. Wie Dave verlangte er nichts, gab nichts und erwartete nichts; und als er nun langsam und bedächtig unter sie trat, ließ ihn sogar Spitz zufrieden. Eine seltsame Verhaltensweise war ihm eigen, und Buck hatte das Pech, sie als Erster zu entdecken. Sol Leks mochte es nicht, wenn man sich ihm von seiner blinden Seite näherte. Genau dies tat Buck, ohne sich einer Schuld bewusst zu sein; dass der Neue in dieser Handlung einen Übergriff sah, merkte er erst, als Sol Leks zu ihm herumwirbelte und ihm die Schulter aufschlitzte, einmal hoch, einmal hinab, eine Wunde von drei Zoll, die bis auf den Knochen ging. Seither mied Buck Sol Leks’ blinde Seite und hatte für die Dauer ihrer Kameradschaft keine Probleme mehr mit ihm. Sein einziger Ehrgeiz, so schien es zunächst, war, wie bei Dave, dass man ihn in Ruhe ließ; erst später sollte Buck feststellen, dass beide noch ein anderer, erheblich höher zielender Ehrgeiz umtrieb.

In der Nacht stand Buck vor der großen Schwierigkeit, einen Schlafplatz zu finden. Das Zelt, von einer Kerze erleuchtet, glomm behaglich inmitten der weiten Ebene; doch als er ganz selbstverständlich hineinging, bombardierten ihn François und Perrault gleichermaßen mit Flüchen und Küchengerät, bis er, nachdem er sich von seiner Bestürzung erholt hatte, einsah, dass ihm nur die schmähliche Flucht in die Kälte draußen blieb. Es blies ein eisiger Wind, der ihn schmerzhaft traf und besonders übel in die Wunde an seiner Schulter biss. Er legte sich in den Schnee und versuchte zu schlafen, aber der Frost trieb ihn bald wieder auf die Beine. Schlotternd, elend und verloren streifte er zwischen den vielen Zelten umher, nur um zu erfahren, dass eine Stelle so kalt war wie die andere. Hier und da wollten sich ruppige Hunde auf ihn stürzen, aber wenn sie herankamen, sträubte er nur sein Nackenfell und knurrte (ja, er lernte schnell), und sie ließen ihn unbehelligt weiterziehen.

Schließlich kam ihm eine Idee. Er würde zurückgehen und schauen, wie seine Schlittenkameraden sich behalfen. Zu seinem Erstaunen waren sie verschwunden. Erneut wanderte er kreuz und quer durch das große Camp, suchte sie wieder vergeblich und kehrte um. Waren sie im Zelt? Nein, unmöglich, sonst hätte man ihn ja nicht hinausgejagt. Wo aber konnten sie dann nur stecken? Mit hängender Rute und schlotterndem Leib, sich nun gar keinen Rat mehr wissend, umkreiste er ziellos das Zelt. Plötzlich gab der Schnee nach, wo seine Vorderpfoten standen, und er sank ein. Irgendetwas zappelte unter seinen Füßen. Knurrend und mit gesträubtem Fell sprang er zurück, voller Furcht vor dem, was er nicht sah und nicht kannte. Doch ein kurzes freundliches Kläffen beruhigte ihn, und er erforschte die Sache weiter. Ein Hauch warmer Luft stieg ihm in die Nase, und da, unter dem Schnee zu einer Kugel zusammengekuschelt, lag Billee. Er winselte besänftigend, krümmte und wand sich – das sollte guten Willen und beste Absichten bekunden; um sich Bucks Friedfertigkeit zu erkaufen, ging er sogar so weit, dass er dessen Gesicht mit seiner warmen, feuchten Zunge leckte.

Wieder eine Lektion. So machten die das also, aha! Zuversichtlich wählte nun auch er sich ein Plätzchen aus und ging daran, mit viel Aufwand und unnötiger Anstrengung ein Loch für sich zu graben. Im Nu füllte seine Körperwärme den engen Raum, und er schlief ein. Es war ein langer und mühsamer Tag gewesen, und so schlief er tief und behaglich, wenn er auch dann und wann grummelte und bellte, weil er mit schlechten Träumen zu kämpfen hatte.

Er schlug die Augen erst auf, als ihn der Lärm des erwachenden Lagers weckte. Zuerst wusste er nicht, wo er war. Es hatte die Nacht über geschneit, und nun er fand sich völlig begraben. Die Schneewände bedrängten ihn von allen Seiten, und eine gewaltige Woge der Angst durchströmte ihn – die Angst des wilden Tieres vor der Falle. Ein Zeichen dafür, dass er allmählich die Spur aufnahm, die sein eigenes Leben mit dem Leben seiner Ahnen verband; er selbst war ja ein zivilisierter Hund, ein allzu zivilisierter Hund sogar; aus eigener Erfahrung kannte er keine Fallen und hatte folglich bisher auch keine Angst vor diesen entwickeln können. Jetzt aber spannten sich instinktiv die Muskeln seines ganzen Körpers krampfartig, die Haare auf Nacken und Schultern standen zu Berge, und mit einem grimmigen Knurren sprang er pfeilgerade in den grellen Tag, von einer wirbelnden Schneewolke umstoben. Noch ehe er auf den Füßen landete, sah er das weiße Lager vor sich ausgebreitet und wusste, wo er sich befand. Nun erinnerte er sich wieder an alles, was in letzter Zeit geschehen war – von dem Spaziergang mit Manuel bis zu dem Loch, dass er sich letzte Nacht in den Schnee gegraben hatte.

Ein Willkommensschrei von François empfing ihn. »Was ’ab isch gesagt?«, rief der Schlittenführer Perrault zu. »Dieser Buck lernt schneller als kannst kucken, aber ’undertprozentisch!«

Perrault nickte bedächtig. Als Kurier im Dienste der kanadischen Regierung, der wichtige Sendungen transportierte, war er darauf bedacht, die besten Hunde zu haben; daher freute ihn außerordentlich, dass dieser Buck nun ihm gehörte.

Binnen einer Stunde wurden dem Gespann noch drei Huskys hinzugefügt; machte insgesamt neun; und keine Viertelstunde später waren sie angeschirrt und folgten mit Schwung dem Trail Richtung Dyea Cañon. Buck freute sich, dass es losging, und obwohl die Arbeit schwer war, entdeckte er, dass er sie gar nicht so schlimm fand. Ihn überraschte der Eifer, der das ganze Team beseelte und bald auch ihn ansteckte. Noch überraschender aber fand er die Veränderung, die sich in Dave und Sol Leks vollzog. Sie waren neue Hunde, gänzlich verwandelt durch den Dienst im Gespann. Zuvor so lethargisch und gleichgültig, zeigten sie sich nun hellwach und aktiv, immer bestrebt, ihre Arbeit gut zu verrichten, und ärgerlich auf alles, was diese Arbeit behinderte, sei es Verzögerung oder Durcheinander. Die Fron in den Strängen schien der erhabenste Ausdruck ihres Wesens zu sein, das Eine, wofür sie lebten, das Einzige, das ihnen Wonne bereitete.

Dave war der Deichselhund und lief direkt vor dem Schlitten; vor ihm zog Buck; dann kamen Sol Leks und der Rest des Gespanns, in Einerreihe hintereinandergeschirrt, bis zum Leithund; diese Position besetzte Spitz.

Buck hatte man bewusst zwischen Dave und Sol Leks platziert, damit diese ihm das Nötige beibrachten. Er war ein fähiger Schüler, die beiden waren aber auch fähige Lehrer, die nie zuließen, dass er gar zu lange im Irrtum verharrte, und ihrem Unterricht mit scharfen Zähnen Nachdruck verliehen. Dave war fair und sehr klug. Er kniff Buck nie ohne Grund, versäumte jedoch auch nie, ihn zu kneifen, wenn Anlass dazu bestand. Da François’ Peitsche ihn unterstützte, erschien es Buck einfacher, seine Leistung zu verbessern, als Vergeltung zu üben. Einmal, während eines kurzen Halts, verhedderte er sich in den Riemen und verzögerte so den Aufbruch; prompt fielen Dave und Sol Leks über ihn her und verpassten ihm heftige Prügel. Dadurch entstand noch mehr Gewirr, aber Buck achtete fortan sorgfältig darauf, nicht in die Stränge zu geraten. Noch ehe der Tag verstrichen war, meisterte Buck seine Aufgabe schon so gut, dass die Kameraden ihn praktisch nicht mehr zurechtweisen mussten. François’ Peitsche knallte seltener; und Perrault erwies ihm am Abend sogar eine besondere Ehre, indem er Bucks Pfoten hochhob und sorgfältig untersuchte.

Es war eine harte Tagesstrecke: den Cañon hoch, durch Sheep Camp, vorbei an den Scales, bis man die Baumgrenze hinter sich ließ, über Gletscher und Schneeverwehungen, Hunderte Fuß tief, dann über den großen Chilkoot-Pass, der Salz- und Süßwasser voneinander scheidet und drohend den traurigen, einsamen Norden bewacht. Während der Fahrt entlang der Seenkette, welche die Krater erloschener Vulkane füllt, kamen sie rasch voran und erreichten spätabends das riesige Lager am oberen Ende des Bennett-Sees, wo Tausende von Goldsuchern Boote bauten, um für die Eisschmelze im Frühjahr gewappnet zu sein. Erneut grub sich Buck ein Loch in den Schnee und schlief den Schlaf des erschöpften Gerechten, doch wurde er nur gar zu bald wieder hinausgetrieben in die kalte Dunkelheit und mit seinen Gefährten vor den Schlitten gespannt.

An diesem Tag schafften sie vierzig Meilen, weil sie eine ausgefahrene Spur nutzen konnten. Am nächsten Tag jedoch mussten sie sich ihren Weg selbst bahnen; die Arbeit wurde schwerer und ihr Tempo langsamer. Gewöhnlich schritt Perrault dem Gespann voraus und trat mit seinen breiten netzbespannten Schuhen den Schnee platt, um es den anderen leichter zu machen. François lenkte den Schlitten mit der Steuerstange; manchmal wechselten sich die beiden ab, jedoch nicht sehr oft. Perrault hatte es eilig. Er wisse genau Bescheid über das Eis, rühmte er sich – ein Wissen, das man hier tatsächlich dringend brauchte, denn das Herbsteis war sehr dünn, und auf schnell strömendem Wasser bildete sich gar kein Eis.

Tag für Tag, endlose Tage plagte sich Buck in den Riemen. Immer brachen sie das Camp noch in der Dunkelheit ab, und das erste Grau des Morgens sah sie den Trail erreichen, da hatten sie schon etliche Meilen zurückgelegt. Immer schlugen sie das Lager abends nach Einbruch der Dunkelheit auf; die Hunde fraßen ihre Fischportion und verkrochen sich zum Schlafen in den Schnee. Buck war stets heißhungrig. Seine Tagesration, anderthalb Pfund luftgetrockneter Lachs, schien nichts zu bewirken. Jedenfalls reichte sie nie; er litt unaufhörlich Hunger. Dabei erhielten die anderen Hunde, weil sie weniger wogen und dieses Leben von Geburt an gewohnt waren, nur ein Pfund Fisch und blieben dennoch in guter Verfassung.

Die vornehme Bedächtigkeit, die sein früheres Leben charakterisiert hatte, legte Buck nun sehr bald ab. Einst ein langsamer und genießerischer Esser, musste er nun erkennen, dass seine Gefährten, wenn sie eher fertig waren als er, ihm wegschnappten, was er noch nicht verzehrt hatte. Dagegen ließ sich nichts ausrichten. Verjagte er zwei oder drei der Konkurrenten, verschwand der Rest seiner Ration im Rachen der übrigen. Dem konnte er nur abhelfen, indem er so schnell fraß wie sie; ja, der Hunger trieb ihn noch weiter: Er hatte keine Skrupel, sich auch das zu nehmen, was gar nicht für ihn bestimmt war. Buck beobachtete und lernte. Als er sah, wie Pike, einer der neuen Hunde, ein gerissener Drückeberger und Dieb, hinter Perraults Rücken klammheimlich ein Stück Speck stahl, übertrumpfte er diesen Streich einen Tag später und stibitzte gleich die ganze Scheibe. Es entstand ein Riesenaufruhr, aber er blieb unverdächtigt; schließlich wurde Dub, ein hilfloser Tölpel, der sich immer erwischen ließ, für Bucks Missetat bestraft.

Dieser erste Diebstahl bewies, dass Buck das Zeug hatte, in den widrigen Gegebenheiten des Nordlandes zu bestehen. Er bewies sein Anpassungsvermögen, die Fähigkeit, sich auf veränderte Umstände einzustellen; diese nicht zu besitzen hätte ein rasches und schreckliches Ende bedeutet. Er bewies ferner den Verfall, nein, den Zusammenbruch dessen, was in ihm noch moralisch war; Moral erkannte er als sinnlos, ja hinderlich im unbarmherzigen Kampf ums Überleben. Im Südland, unter dem Gesetz von Liebe und Brüderlichkeit, mochte es gut und recht sein, privates Eigentum und persönliche Gefühle zu respektieren; aber im Nordland, unter dem Gesetz von Knüppel und Fangzahn, war jemand, der mit der Achtung solcher Werte rechnete, ein Narr, und wenn er sich selbst an sie hielt, brachte er es zu nichts.

Nicht, dass Buck durch Nachdenken darauf gekommen wäre. Er war eben lebenstauglich, fertig aus, und passte sich unbewusst der neuen Daseinsform an. Früher wäre ihm nie in den Sinn gekommen, einem Kampf auszuweichen, ganz gleich, wie die Chancen standen. Doch der Knüppel des Mannes im roten Pullover hatte ihm einen primitiveren, aber fundamentaleren Kodex eingebläut. In zivilisierten Tagen hätte er aus moralischen Beweggründen – etwa, um Richter Millers Reitpeitsche zu retten – sein Leben geopfert; dass er sich nun dem Einsatz für moralische Zwecke verweigern konnte, um seine Haut zu retten, bezeugte, wie vollständig er sich entzivilisiert hatte. Er stahl nicht, weil ihm das Freude machte, sondern weil sein Magen rumorte. Er raubte nicht offen, sondern mit List und Tücke – aus Respekt vor Knüppel und Fangzahn. Kurz, er tat all dies, weil weniger Ärger drohte, wenn er es tat, als wenn er es nicht tat.

Seine Entwicklung (oder Rückbildung) verlief rasant. Seine Muskeln wurden hart wie Stahl, und er stumpfte ab gegen jeden gewöhnlichen Schmerz. Er verstand mit seinen Kräften hauszuhalten, und zwar innerlich und äußerlich. Er konnte alles fressen, einerlei, wie ekelhaft oder unverdaulich es war; hatte er es sich erst einmal einverleibt, entnahmen seine Magensäfte auch noch das letzte und geringste Partikel Nährstoff; den trug dann sein Blut in die fernsten Bereiche seines Körpers und fertigte daraus die zähesten und festesten Gewebe. Gesichts- und Geruchssinn schärften sich enorm, und sein Gehör entwickelte eine solche Feinheit, dass er im Schlaf das leiseste Geräusch vernahm und gleich zu bestimmen vermochte, ob es Frieden oder Gefahr ankündigte. Er lernte, das Eis, welches sich zwischen seinen Zehen ansammelte, mit den Zähnen herauszubeißen; und wenn er durstig war, und dickes Eis bedeckte das Wasserloch, bäumte er sich empor und zerschlug die Schicht mit steifen Vorderbeinen. Seine bemerkenswerteste Errungenschaft jedoch war diese: Er konnte den Wind riechen und wusste bereits in der Nacht, woher er morgen wehen würde. Selbst wenn sich kein Lüftchen regte, während er zu Füßen eines Baumes oder eines Erdwalles sein Nest grub, fand ihn der später aufkommende Wind stets leewärts, wohlgeschützt und behaglich gebettet.

Und nicht nur durch Erfahrung lernte er; es wurden auch längst verschüttete Instinkte wieder lebendig. Die domestizierten Generationen fielen von ihm ab. Ohne dass er genau wusste, wie ihm geschah, erinnerte er sich zurück an die frühen Jahre seiner Rasse, als Wildhunde in Rudeln den Urwald durchstreiften und ihr Beutefleisch zu Tode hetzten. Spielend leicht lernte er nun nicht nur die Kampftechnik des Reißens und Aufschlitzens, sondern auch das rasche Zuschnappen nach Wolfes Art. So hatten schon seine vergessenen Ahnen gekämpft. Sie ließen das alte Leben in ihm neu erstehen, und die alten Finten, die sie dem Erbe der Rasse eingeprägt hatten, waren nun seine Finten. Die Fertigkeiten fielen ihm mühelos zu, ohne dass er sie bewusst entdeckte; es war, als hätte er sie schon immer gehabt. Und wenn er in den stillen, kalten Nächten die Nase zu einem Stern emporreckte und eine Weile heulte, wie dies Wölfe tun, so waren es seine Ahnen, längst gestorben und zu Staub zerfallen, die ihre Nasen zu dem Stern emporreckten und über die Jahrhunderte hinweg mit seiner Stimme heulten. Seine Melodie war ihre Melodie, jene Melodie, mit der sie zu Ton brachten, was sie litten und was für sie die Stille, die Kälte und das Dunkel bedeuteten.

Wie zum Zeichen, in welchem Maße doch das Leben an Marionettenfäden hängt, durchströmte ihn dergestalt das alte Lied, und er fand wieder zu sich selbst zurück. Und das, weil Menschen im Norden ein gelbes Metall gefunden hatten und weil Manuel nur ein Gärtnergehilfe war, dessen Lohn gerade einmal für sich, seine Frau und diverse kleine Kopien seiner selbst reichte.

Der Ruf der Wildnis

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