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2 STAPELLAUF EINES LUXUSLINERS

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Als die Deutschen dann schliesslich kapitulierten, trat auf der Werft endlich Ruhe ein und konnte man sich um die Versorgung der Stadt kümmern. Und da es ja auch keinen Strom mehr gab, wurde von den Notaggregaten im Maschinenraum der Willem Ruys als erstes ein Stromkabel zur Bäckerei Speckens auf der Ecke von Walstraat und Betje Wolffplein gelegt und konnte ich von oben beobachten dass es wieder Brötchen gab für die in langen Reihen anstehenden Vlissinger.

Doch die Willem Ruys konnte sich noch weiter verdienstlich machen und zwar mit ihren Rettungsbooten, „sloepen“ genannt, die immerhin bis zu 90 Personen aufnehmen konnten. Diese wurden jetzt eingesetzt auf der inundierten Insel Walcheren, um - zusammen mit den „Ducks“ genannten Amphibienfahrzeugen der Alliierten - ab Middelburg einen Fahrdienst einzurichten zwischen den Dörfern und den abgelegenen Bauernhöfen samt ihrer tapfer auf der Insel ausharrenden, bäuerlichen Bevölkerung.

Und natürlich stand jetzt auch wieder die Fertigstellung von Baunummer 214 im Vordergrund, der mittels provisorisch aufgehängter Schilder schon den Namen Willem Ruys trug. Dieser Name stammt vom Enkel des Gründers der „Koninklijke Rotterdamsche Lloyd“, der 1940 Direktor der Reederei geworden war und als Auftraggeber des Schiffes fungierte. Willem Ruys wurde am 15. August 1942 in den Wäldern von Goirle als Geisel erschossen, zusammen mit noch 4 anderen, willkürlich ausgesuchten hochstehenden Persönlichkeiten Rotterdams - und dies als Represaille für den Untergrundanschlag auf ein Bahnviadukt in Rotterdam.

Ja, das hat mich immer wieder sehr berührt, wenn ich mitbekam, wie das deutsche Militär und die niederländische Bevölkerung sich damals regelrecht bekämpft haben und ganz normale Menschen dafür büssen mussten, wenn militärisch wichtige Ziele von Untergrundkämpfern angegriffen wurden. Und so war ich sehr stolz darauf, als kleine Schiffsniete künftig in direkter Nähe des inzwischen berühmten Namens Willem Ruys auf beiden Schiffsflanken „wohnen“ zu dürfen.

Im Jahre 1945 besuchte gar der britische Kriegsminister und Stellvertreter Winston Churchills Clement Attlee die Scheldewerft. Dieser sollte übrigens Mitte Juli 1945, mitten in der Potsdamer Konferenz, Winston Churchill als Premierminister abglösen und hatte offensichtlich die Vlissinger Geschehnisse als recht bemerkenswert eingestuft. Ob ich ihn damals gesehen habe, weiss ich jedoch nicht mehr so genau.


CLEMENT ATTLEE 1945 AUF DER WERFT MIT HINTEN BLICK AUF BAUNUMMER 214.

Der Weiterbau der künftigen Willem Ruys nahm jetzt immer mehr Fahrt auf, indem die nach Dordrecht in Sicherheit gebrachte 4 restlichen Sulzer-Dieselmotoren zurückgeholt und die auf der Werft in geheimen Vorratslagern deponierten Materialien wieder ans Tageslicht geholt wurden. Das Schiff bekam über die rostbraune Mennigfarbe jetzt eine graublaue Deckfarbe aufgetragen - mit unten auf der Wasserlinie ein weisses Band. Und das traf natürlich auch auf mich zu: Ich war jetzt graublau und fühlte mich in diesem neuen Farbton erst mal pudelwohl. Obwohl es später oben um die Willem Ruys herum noch ein weiteres weisses Band geben sollte. Und da war ich dann wieder weiss.

In der Folge wurden die beiden stromlinienförmigen Schornsteine des Schiffes erst mal auf dem Werksgelände fertiggebaut und auch der restlich Innenausbau des Luxusliners in Angriff genommen - inklusive Einbau der jetzt vollzähligen 8 Sulzer-Dieselmotoren und der beiden Schrauben samt ihren gewaltigen Antriebsachsen.

Am 1. Juli 1946 war es dann soweit und konnte das Schiff nach fast 7 Jahren auf der Helling endlich zu Wasser gelassen werden. Es verursachte beim Hineingleiten in das Scheldebecken eine unerwartet hohe Heckwelle und viele Menschen auf den Kais inklusive Musikkorps gerieten mehr oder weniger in Gefahr, als das Wasser mit voller Kraft über die Kaimauern schwappte. Aber es ist dann doch gutgegangen und auch das Musikkorps konnte später wieder weiterspielen. Von der im Becken als Bremse gedachten, riesigen Matte aus Weidenzweigen blieb nur wenig übrig.

Das nachfolgende Übersichtsfoto aus einem Scheldekran zeigt, wie das riesige Schiff ganz nahe am Kai von der Helling gleitet: Eigentlich viel zu nahe, denn dadurch konnte die entstandene, an sich schon massive Heckwelle sich gerade auf dieser Seites des Beckens nochmals besonders aufbauen. Mit nicht einkalkulierten Folgen.


DIE WILLEM RUYS GLEITET BEIM STAPELLAUF AM 1. JULI 1946 INS WASSER MIT BUGDEKORATION UND NAMENSSCHILDERN AN BEIDEN SCHIFFSFLANKEN.

DEUTLICH SICHTBAR IST DIE BEENGTE LAGE DER WERFT MITTEN IN DER INNENSTADT.

Auf der anderen Werftseite war direkt unter mir ein Ehrenpodest aufgebaut worden, wo die Witwe von Willem Ruys um 4 Uhr nachmittags das Schiff auf seinen Namen taufte mittels einer Flasche Champagner gegen den Vordersteven - wie das eben so üblich ist bei Schiffstaufen. Und so bekam ich nichts mit von der grossen Aufregung auf der Rückseite des Schiffes - dafür aber von den zahlreichen Würdenträgern auf dem Podest, allerdings, ohne königlichen Besuch. Und natürlich auch vom wunderschönen, langanhaltenden Ton der Schiffssirene, der mich rundum glücklich machte. Denn jetzt wurde mir klar: „Es geht endlich los!“

So ganz stimmte das jedoch immer noch nicht, denn zuerst mussten bei der jetzt am Kai angemeerten Willem Ruys die beiden an Land gebauten, stromlinienförmigen Schornsteine eingezogen und die massiven Deckaufbauten fertig gebaut werden. Und natürlich musste auch die für die damalige Zeit recht luxuriöse Inneneinrichtung des Schiffes mit seinen 4 Klassen für insgesamt rund 800 Passagiere noch ergänzt werden. Wobei die neuesten technischen Erfindungen zur Anwendung kamen wie elektrische Rolltreppen. sich automatisch öffnenden Türe und Geschirrwaschmaschinen in der Küche - heute ganz normal aber damals sehr revolutionär. Auch die Rettungsboote aus Aluminium waren eine absolute Neuigkeit.

Auch gab es für die Passagiere ein extra Deck zum Ausführen ihrer Hunde, ein grosses Aussenschwimmbad sowie typisch - holländisch auf jedem Kajütendeck eigene Bügelzimmer für die Passagiere. Die Gesamtbaukosten für die Willem Ruys betrugen damals immerhin 20 Millionen Gulden - zum Vergleich sei bemerkt, dass zu jener Zeit der Stundenlohn der eingesetzten Scheldearbeiter im Mittel etwas weniger als 1 Gulden betrug.

Insgesamt hatte die Willem Ruys zu diesem Zeitpunkt eine Tonnage von rund 21‘000 Bruttoregistertonnen, eine Länge von rund 193 m, eine Breite von rund 25 m sowie einen Tiefgang von rund 9 m. Wobei ich lernte, dass damit die Distanz von der Wasserlinie bis zum tiefsten Punkt eines Schiffes gemeint ist. Von der Wasserlinie bis zum höchsten Punkt des Vorderschiffs waren es dann noch mal etwas mehr als 15 m, sodass die Willem Ruys vorne am Bug etwa die Höhe eines siebenstöckiges Hauses erreichte. Und das bei einer Maximalgeschwindigkeit von 22 Knoten gleich rund 40 Stundenkilometer.

Wegen der Höhe und der Geschwindigkeit realisierte ich mich allerdings immer mehr, dass ich als kleine Schiffsniete. ganz vorne bei hohem Wellengang sicherlich viel Gischt und Wasser zu ertragen haben würde - da würde ich dann sicherlich nichts zu lachen haben. Aber das gehörte nun mal zu meiner herausragenden Postition und ich war stolz darauf an dieser wahrlich allervordersten Stelle des Schiffes „dabei zu sein“ und die sich unentwegt aufbäumenden Wellen zu trotzen.

Als dann die Willem Ruys endlich fertiggebaut war, musste das Schiff noch das vom offenen Meer abgeschlossene Scheldehafenbecken durch eine grosse Seeschleuse. “keersluis“ genannt, verlassen - und passte es bis auf wenige Zentimeter auch genau hindurch. Das alles geschah am 28 September 1947 und auch dieses maritime Ereignis zog wieder viele Zuschauer an, darunter auch Jacob Winter. Er ist auf einem vom Schiff gemachten Pressefoto rechts unten als kleiner Junge an der Hand seines Vaters im hellem Regenmantel zu finden Vom Bug hoch oben muss ich beim Vorbeigleiten der Willem Ruys Jacob Winter dann ein letztes Mal gesehen haben. Unser Bordlotse war übrigens sein direkter Nachbar Louis Aspeslagh, mit wem Jacobs Familie eng befreundet war.

Von vier starken Schleppern wurde die Willem Ruys dann aus dem Hafenbecken, „buitenhaven“ genannt, bis auf die Reede von Vlissingen manövriert, wo das Schiff und ich schliesslich am 1. Oktober für Testfahrten im Golf von Biskaya ausliefen: Es waren hierbei auch noch 150 Scheldewerftarbeiter an Bord geblieben. Und so konnte ich bei dieser Gelegenheit auch endlich die Skyline von Vlissingen mit der Scheldewerft samt ihren hohen Turmkränen und den schönen Boulevards geniessen, von der ich schon so oft gehört hatte.

Das Schiff und ich kehrten allerdings nicht mehr nach Vlissingen zurück sondern fuhren nach der Beendigung des Probelaufprogramms direkt weiter nach Rotterdam, wo es an der Lloyd-Kade der „Koninklijke Rotterdamsche Lloyd“ den letzten Schliff erhielt. Und hier wurde die Willem Ruys dann am 21. November 1947 offiziell an die KRL - Reederei übergeben um anschliessend auf grosse Fahrt über die Weltmeere zu gehen.


VLISSINGEN ADIEU Jacob Winter unten rechts an der Hand seines Vaters im hellen Regenmantel.

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