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Pierre Klossowski Nietzsche, Polytheismus und Parodie
ОглавлениеDie Parodie und der Polytheismus bei Nietzsche? Man wird die Beziehung zwischen diesen beiden Begriffen auf Anhieb schwerlich erkennen und kaum sehen, welcher Vorliebe die Tatsache, daß man davon redet, wohl entsprechen mag, und das Interesse verwunderlich finden, das eine derartige Frage aufwirft. Wenn für die allermeisten der Name Nietzsche untrennbar ist von dem Spruch: Gott ist tot, so wird es, wo die Rede von Nietzsche ist, erstaunlich scheinen, wenn man von der Religion mehrerer Götter zu sprechen beginnt, während heute die Köpfe ohne Zahl sind, für die der Name Nietzsche nicht bloß nichts anderes mehr bedeutet als eben jenen Spruch, sondern für die Nietzsche nicht einmal nötig war, um zu wissen, daß alle Götter tot sind. Und vielleicht werde ich den Eindruck erwecken, mich Nietzsches zu bedienen, um das Gegenteil, die Existenz mehrerer Götter, zu beweisen, und bei der Gelegenheit, schlecht genug, den Polytheismus zu legitimieren; und, da ich mit Wörtern spiele, dürfte ich kaum dem Vorwurf entgehen, unter dem Vorwand, den Sinn der Parodie bei Nietzsche darzustellen, selbst eine Parodie auf Nietzsche zu schreiben.
Wenn ich Anlaß zu derartiger Konfusion bieten muß, so habe ich immerhin dies bemerklich gemacht: daß nämlich, sofern man sich anschickt, das Denken eines Autors, den man zu verstehen und verständlich zu machen sucht, vor den Augen des Publikums zu interpretieren, keiner in dem Maße wie Nietzsche seinen Interpreten verleitet, ihn zu parodieren. Und nicht allein die in sein Denken verliebten Interpreten, sondern auch diejenigen, die angestrengt bemüht sind, ihn als einen gefährlichen Geist zu widerlegen; Nietzsche selber ermahnte einen seiner ersten Kommentatoren – niemand hatte bislang von ihm gesprochen –, von allem Pathos abzulassen, keinesfalls Partei für ihn zu ergreifen und bei seiner Charakterisierung eine Art von ironischem Widerstand aufzubieten.
Es läßt sich hier also weder vermeiden, zum Opfer einer Art List zu werden, noch, in die ins Denken und in die Erfahrung Nietzsches eingelassene Falle zu gehen; und sobald man versucht, seine Rede zu erläutern – zumindest, wenn man nicht einfach die Arbeit des Historikers tut wie Andler –, läßt man ihn mehr und läßt ihn zugleich weniger sagen als er sagt; und das nicht in der Weise, wie es allgemein und für jedes Denken unvermeidlich ist, durch eine simple optische Täuschung, oder auch weil man einen bestimmten Ausgangspunkt verfehlt hatte, sondern man läßt ihn mehr sagen als er selbst sagt, indem man ihn sich selbst gleichmacht, oder weniger als er sagt, indem man ihn verwirft oder verändert, aus dem einfachen Grund, daß es, genau genommen, kaum einen Ausgangspunkt gibt und keinen wohlbestimmten Zielpunkt. Die Zeitgenossen und Freunde Nietzsches konnten eine gewisse Entwicklung von der Geburt der Tragödie zum Wanderer und sein Schatten verfolgen, und von der Fröhlichen Wissenschaft und dem Zarathustra bis zur Götzen-Dämmerung. Doch wir anderen, die über die Jugendschriften und den ganzen Nachlaß mit dem Ecce homo verfügen, konnten nicht nur die Verzweigungen seiner Nachwirkung verfolgen und erleben, daß die jüngsten historischen Wirren auf Nietzsches Konto geschrieben wurden; wir können auch noch dies feststellen – und ich denke, daß gerade dies nicht unwichtig ist –: Nietzsche, der trotz allem Philologie-Professor in Basel war und also ein Universitätslehrer mit ganz bestimmten pädagogischen Ambitionen, Nietzsche hat nicht eine Philosophie entwickelt, sondern, außerhalb des Rahmens der Universität, Variationen über ein persönliches Thema, hat das Leben eines kränkelnden Sonderlings oder eines Rekonvaleszenten geführt, eines Sommerfrischlers auf Klimastationen, in der größten intellektuellen Isolation, aufs günstigste sich selbst als seinem einzigen Hörer überlassen.
Dieser Hochschullehrer, ausgebildet in wissenschaftlichen Disziplinen, um andere auszubilden und zu belehren, sieht sich gezwungen, das Unlehrbare zu lehren: dies Unlehrbare sind die Augenblicke, wo die Existenz den Einschränkungen durch die Begriffe von Geschichte und Moral, aus denen sich gewöhnlich ein praktisches Verhalten ergibt, entflieht und sich als auf sich selbst bezogen erweist, ohne anderes Ziel, als eben zu sich selbst zurückzukehren: so daß alle Dinge neu und zugleich uralt erscheinen; alles ist möglich und alles gleicherweise unmöglich; und für das Bewußtsein gibt es nur zwei Wege, entweder zu schweigen oder es auszusprechen; entweder nichts zu tun oder so zu handeln, daß der alltäglichen Atmosphäre der Charakter der zu sich selbst zurückgekehrten Existenz aufgeprägt wird; entweder in der Existenz sich zu verirren oder aber sie zu reproduzieren.
Dies Unlehrbare hat er sogleich in seiner Einsamkeit, in der Form seiner Idiosynkrasien erreicht – das heißt, indem er sich selbst beschrieb als einen Genesenden, der am ungelösten Nihilismus seiner Epoche litt, und als er diesen Nihilismus – bis zur Affirmation des Begriffs fatum – aufgelöst hatte, konnte er den Grund der als zufällig gelebten Existenz selbst ergreifen, das heißt als Existenz, die, in seinem Falle, zufällig Nietzsche hieß; und also auch die Wendigkeit, diese zufällige Situation (fortuite) als sein eigenes glückliches Geschick (fortune) – wie der Sinn dieses Wortes selber es will – anzuerkennen; was auf eine Entscheidung zugunsten der Existenz des Universums hinausläuft, das kein andres Ziel hat als dies, zu sein was es ist.
Diese Annahme der Existenz, die nichts andres ist als die Annahme der Ewigkeit, erkennt Nietzsche in den Gleichnisbildern der Kunst und der Religion wieder, und er sieht auch, daß diese selbe Weise ihrer Annahme von der wissenschaftlichen Tätigkeit unablässig negiert wird, die die Existenz in ihren greifbaren Formen erkundet, um eine praktische und erträgliche Welt zu konstruieren. Nietzsche fühlt sich mit beiden Haltungen gegenüber der Existenz solidarisch, der des Gleichnisbildes und der der Wissenschaft, die erklärt fiat veritas pereat vita.
Und so kommt er dazu, in die Wissenschaft das Gleichnisbild und ins Gleichnis die Wissenschaft zu setzen: so daß der Gelehrte sich sagen könnte: »Qualis artifex pereo!«
Nietzsche ist einer unerklärlichen Enthüllung der Existenz verfallen, die sich nicht anders als durch den Gesang und das Bild ausdrücken läßt. In ihm entspinnt sich ein Kampf zwischen Dichter und Wissenschaftler, zwischen Seher und Moralist, in dem der eine den andren, indem er seine Rolle übernimmt, zu disqualifizieren sucht. Entfacht wird dieser Kampf durch das Gefühl moralischer Verantwortung gegenüber den Zeitgenossen; die verschiedenen Tendenzen, die verschiedenen Haltungen, die sich Nietzsches Bewußtsein streitig machen, dauern an, bis sich ein kapitales Ereignis einstellt: Nietzsche entäußert sich in einer Figur, einer wahrhaften dramatis persona: Zarathustra, eine Figur, die nicht bloßes Produkt einer fiktiven Verdopplung ist, sondern gewissermaßen eine Herausforderung des Sehers Nietzsche an den Professor und Gelehrten Nietzsche. Die Funktion dieser Figur ist komplex: einerseits ist sie Christus, wie Nietzsche ihn insgeheim und eifersüchtig versteht, aber andrerseits, als Ankläger des traditionellen Christus, bereitet sie den Weg für die Ankunft des Dionysos philosophos.
Die Jahre der Entstehung des Zarathustra, doch vor allem die, die seiner Geburt folgten, waren für Nietzsche ein Notstand ohnegleichen. Man büßt es teuer, unsterblich zu sein: man stirbt dafür mehrere Male bei Lebzeiten. – Es gibt etwas, das ich die rancune des Großen nenne: alles Große, ein Werk, eine Tat, wendet sich, einmal vollbracht, unverzüglich gegen den, der sie tat. Eben damit, daß er sie tat, ist er nunmehr schwach – er hält seine Tat nicht mehr aus, er sieht ihr nicht mehr ins Gesicht. Etwas hinter sich zu haben, das man nie wollen durfte, etwas worin der Knoten im Schicksal der Menschheit eingeknüpft ist – und es nunmehr auf sich haben! … Es zerdrückt beinahe…
Zarathustra war, wohlgemerkt, in den früheren Werken bereits angelegt; doch es ist nicht nur die Schöpfung, die Präsenz der unaussprechlichen Gesänge der Dichtung, was für Nietzsches Leben wichtig ist; was fortan eine determinierende Kraft bekommt, ist die mehr oder weniger große Identifikation Nietzsches mit dieser Physiognomie, die für ihn eine Art Versprechen, eine Auferstehung, eine Himmelfahrt darstellt: Zarathustra ist gleichsam der Stern, zu dem Nietzsche bloß der Satellit ist; besser noch: Nietzsche bleibt, nachdem er den Triumphweg für Zarathustra gebahnt hat, hinter seiner auf dem Weg eines siegreichen Rückzugs aufgegebenen Position zurück. Wie er selbst sagt, er muß seine Schöpfung teuer büßen: Zarathustra stellt Nietzsches Unsterblichkeit dar, diese Unsterblichkeit, für die man mehrere Male bei Lebzeiten stirbt. Sobald Nietzsche von sich selbst Zarathustra zu unterscheiden vermag und ihm derart als einer höheren, aber noch unerreichbaren Realität begegnen kann, verschwindet am Ausgang der göttlichen Fabel mit der wahren Welt auch die scheinbare Welt, die in sechs Tagen geschaffen wurde: denn in sechs Tagen ist die wahre Welt wieder zur Fabel geworden. Nietzsche wirft einen Blick zurück auf die Refabularisierung der wahren Welt, wie sie in sechs Tagen oder Zeitabschnitten, die die Umkehr der sechs Schöpfungstage darstellen, verschwindet. Es ist dies Verschwinden, das er in der Götzen-Dämmerung nachzeichnet, in einem Aphorismus mit dem Titel: Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde.
Hier der Text, dessen Untertitel »Geschichte eines Irrtums« lautet:
»1. Die wahre Welt, erreichbar für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften, – er lebt in ihr, er ist sie.
(Älteste Form der Idee, relativ klug, simpel, überzeugend. Umschreibung des Satzes ›Ich, Plato, bin die Wahrheit‹.)
2. Die wahre Welt, unerreichbar für jetzt, aber versprochen für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften (›für den Sünder, der Buße tut‹).
(Fortschritt der Idee: sie wird feiner, verfänglicher, unfaßlicher – sie wird Weib, sie wird christlich…)
3. Die wahre Welt, unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar, aber schon als gedacht ein Trost, eine Verpflichtung, ein Imperativ.
(Die alte Sonne im Grunde, aber durch Nebel und Skepsis hindurch; die Idee sublim geworden, bleich, nordisch, königsbergisch).
4. Die wahre Welt – unerreichbar? Jedenfalls unerreicht. Und als unerreicht auch unbekannt. Folglich auch nicht tröstend, erlösend, verpflichtend: wozu könnte uns etwas Unbekanntes verpflichten?…
(Grauer Morgen. Erstes Gähnen der Vernunft. Hahnenschrei des Positivismus.)
5. Die ›wahre Welt‹ – eine Idee, die zu nichts mehr nütz ist, nicht einmal verpflichtend – eine unnütz, eine überflüssig gewordene Idee, folglich eine widerlegte Idee: schaffen wir sie ab!
(Heller Tag; Frühstück; Rückkehr des bon sens und der Heiterkeit; Schamröte Platos; Teufelslärm aller freien Geister.)
6. Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? Die scheinbare vielleicht?… Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!
(Mittag; Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten Irrtums; Höhepunkt der Menschheit; INCIPIT ZARATHUSTRA.)«
Mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft; wo die wahre Welt (die platonische, christliche, spiritualistische, idealistische, transzendente), die als Bezugspunkt der scheinbaren diente, verschwunden ist, verschwindet auch die scheinbare; es ist nicht so, daß die Welt aus der erscheinenden, die sie war, zur realen Welt des wissenschaftlichen Positivismus werden könnte; die Welt wird zur Fabel; die Welt, wie sie ist, ist nichts als Fabel: Fabel bedeutet etwas, das erzählt wird und das allein in der Erzählung existiert; die Welt ist etwas, das erzählt wird, ein erzähltes Ereignis und folglich eine Interpretation: die Religion, die Kunst, die Wissenschaft, die Geschichte – ebenso viele verschiedene Interpretationen der Welt, oder besser: ebenso viele Varianten der Fabel.
Soll das heißen, daß wir es hier mit einem universellen Illusionismus zu tun haben? Keinesfalls. Die Fabel, so hab’ ich gesagt, ist ein erzähltes Ereignis, es geschieht oder es muß etwas geschehen sein: und in der Tat, eine Handlung rollt ab und erzählt sich von selbst, doch wenn man sich nicht beschiede zu hören und zu folgen und wenn man sie noch einmal durchzugehen suchte, um zu erkennen, ob hinter der Erzählung nicht dies oder jenes Moment sei, das vom Erzählten abweicht, so wäre schon alles vorbei und von Neuem wäre eine wahre und eine erscheinende Welt. Wir haben gesehen, wie die wahre Welt und die erscheinende Welt zur Fabel geworden sind; nun, es ist nicht zum ersten Mal, daß sie es wurden. Es ist dies, was von der Bemerkung: Mittag, Augenblick des kürzesten Schattens, angezeigt wird. Vom Mittag an beginnt alles noch einmal und also auch die antike Welt, die vergangenen Interpretationen. In der Antike war der Mittag zugleich die Feierund die Schreckensstunde, die Stunde nicht nur des Aussetzens aller Arbeit unter dem blendenden Strahl der Sonne, sondern auch die Stunde der vom Delirium gefolgten verbotenen Visionen. Vom Mittag an neigt sich der Tag zur Dunkelheit; aber durch die Dunkelheit wird uns bis zur tiefen Mitternacht der Lehrer der Fabel, Zarathustra, leiten.
Fabel, fabula, stammt vom lateinischen Verb fari, was zugleich vorhersagen und faseln bedeutet, das Schicksal vorhersagen und faseln, denn fatum, das Schicksal, ist auch Partizip Perfekt von fari.
Wenn man also sagt, daß die Welt zur Fabel geworden ist, so sagt man auch, daß sie das fatum ist, man faselt, aber faselnd sagt man wahr, man sagt das Schicksal voraus; lauter Dinge, die wir hier wegen der bedeutenden Rolle des Schicksals bei Nietzsche hervorheben. Refabularisierung der Welt heißt auch, daß die Welt die historische Zeit verläßt, um in die Zeit des Mythos und das heißt der Ewigkeit zurückzukehren: derart, daß der Blick auf die Welt nun zur Anschauung der Ewigkeit wird. Die geistige Bedingung eines solchen »Verlassens« hat Nietzsche in einem »Vergessen« (der historischen Situation) gesehen, das dem Akt der Schöpfung vorausgeht: im Vergessen kann die Vergangenheit vom Menschen als seine Zukunft, die die Gestalt der Vergangenheit angenommen hat, in der Form erinnert werden, daß sie ihm unterkommt (sousvient). Die Vergangenheit kommt auf ihn zu aus dem, was er schöpft: denn was er zu schöpfen vermeint, kommt nicht aus der Gegenwart, sondern ist nur das Aussprechen eines möglichen Vorher im augenblicklichen Vergessen der (geschichtlich determinierten) Gegenwart.
Es gehört zu Zarathustras Sendung, den Menschen einen neuen Sinn und einen neuen Willen in der Welt zu geben, die er dazu notwendigerweise neu zu schaffen hat. Denn da jede geschaffene Welt immer wieder ihren Sinn zu verlieren droht, um wieder fabelhaft und göttlich zu werden, und da sie, alles in allem, gut auch ohne Sinn auskommt, die Menschen aber, nun eher bereit, nichts zu wollen, als etwas zu wollen, sie ohne einen Sinn nicht ertragen, enthüllt ihnen Zarathustra den wahren Weg: der kein grader Weg, sondern ein gewundener Pfad ist:
Das ist mein Dichten und Trachten, daß ich in eins dichte und zusammentrage, was Bruchstück ist, Rätsel und grauser Zufall. Mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare Welt abgeschafft – bei der Beschäftigung mit der Wahrheit haben wir die Erklärung der Erscheinungen aufgelöst. (»Erklärung« nennen wir’s: aber Beschreibung ist es, was uns vor älteren Stufen der Erkenntnis und Wissenschaft auszeichnet. Wir beschreiben besser – wir erklären ebensowenig wie alle Früheren.)
All das ist von Konsequenzen schwer, denn wenn der Gedanke, mit der wahren Welt auch die scheinbare abgeschafft zu haben, nicht einer bloßen Laune entspringt, so legt er Rechenschaft von dem ab, was sich in Nietzsche selbst getan hat: er hat der Welt, in der er gleichwohl den Namen Nietzsche trägt, den Abschied gegeben und wenn er fortfährt, unter diesem Namen zu schreiben, so um den Schein zu wahren: alles ist anders und nichts hat sich geändert; der Glaube, daß sie etwas ändern, ist denen zu überlassen, die handeln: sagt nicht Nietzsche, daß nicht die Menschen der Tat, sondern die der Kontemplation den Dingen ihren Wert verleihen, und daß die Menschen der Tat allein vermöge dieser Wertung durch die Denker handeln können?
Aber diese Abschaffung der scheinbaren Welt mit ihrem Bezug zur wahren Welt vollzieht sich im Lauf eines langen Prozesses, dem man bei Nietzsche kaum zu folgen vermag, wenn man nicht dem Zusammenwirken von Wissenschaftler und Moralisten, und mehr noch dem von Psychologen und Seher in ihm Rechnung trägt; aus dieser Doppelung ergeben sich zwei verschiedene Terminologien, deren dauernde Interferenz einen Faden spinnt, der sich nicht auflösen läßt: die Luzidität des Psychologen, der die Bilder zerstört, hat am Ende nur für den Dichter (und also für die Fabel) gearbeitet, wenn er, die Erfahrung des Dichters, dieses Schlafwandlers am hellichten Tage, durchforschend, die Regionen entdeckt, in denen er selbst, der Psychologe, mit erhobener Stimme träumte.
Diese Analyse des Psychologen, bevor er vom Traum und seinen Visionen überwältigt wird, gegen die er sich zu schützen sucht, erlaubt uns zu verstehen, wie Nietzsche im Namen der rationalen Prinzipien des Positivismus zur Destruktion zugleich des rationalistischen Konzepts von Wahrheit und des bewußten Denkens und seiner Verstandesoperationen kommen kann; wie er, andrerseits, von dieser Entwertung des bewußten Denkens zur Infragestellung der Sprache als eines Kommunikationsinstruments geführt wird; und man sieht jetzt vielleicht deutlicher, wie diese Analyse, die das rationale Denken auf Triebkräfte zurückführt und diesen Triebkräften authentische Existenz zuspricht –, wie diese Analyse in der Abschaffung der Grenzen zwischen Außen und Innen gipfelt; einer Abschaffung der Grenzen zwischen der hic et nunc vereinzelten Existenz und der in der Person des Philosophen selbst zu sich selbst zurückgekehrten Existenz. Was leitet – denn augenscheinlich muß etwas Bestand haben –, was diese Desintegration der Begriffe anleitet, ist jeweils die Kraft des bis zum äußersten Grad der Schlaflosigkeit exaltierten Geistes; eine durchgehaltene Wachsamkeit, welche die Forderung nach einer Redlichkeit zur Verzweiflung bringt, die bis zur Preisgabe der Denkfunktionen selber als einer letzten Knechtschaft, einer letzten Verbindung mit dem geht, was Nietzsche den Geist der Schwere genannt hat.
Die Analyse des Bewußtseins, die sich in den Aphorismen der Fröhlichen Wissenschaft verstreut findet, läßt sich zu folgenden Beobachtungen zusammenfassen:
1. Das Bewußtsein ist die späteste Funktion in der Entwicklung des organischen Lebens, das Unkräftigste auch und folglich das Gefährlichste: wäre die Menschheit, wie sie selber glaubt, mit einem Schlage zum Bewußtsein gelangt, so wäre sie schon seit langem ausgestorben; zum Beweis können die zahlreichen Fehlschlüsse dienen, die das Bewußtsein verursacht hat und die es zu verursachen im individuellen Leben solange nicht aufhört, als es ein Ungleichgewicht der Antriebe erzeugt.
2. Diese Funktion, gar nicht wünschenswert, weil sie einem unberechenbaren Streben, dem Streben nach Wahrheit entspricht, wird einer ersten Bearbeitung durch die anderen Antriebskräfte unterzogen; das Bewußtsein tut sich eine Zeitlang mit dem Selbsterhaltungstrieb zusammen; in der Folge bildet sich der trügerische Begriff eines dauernden, ewigen, unveränderlichen und folglich freien und verantwortlichen Bewußtseins. Dank dieser Überschätzung des Bewußtseins hat man seine allzu rasche Weiterentwicklung vermeiden können. Daher übrigens auch der Begriff der Substanz.
3. Die geistigen Operationen, die dies in seiner Entwicklung rückständige Bewußtsein erfindet, diese Operationen, die zur logischen Vernunft und zur wissenschaftlichen Erkenntnis führen, sind bloß Produkte des Kompromisses zwischen dem Triebleben und dem Bewußtsein. Woraus ist die Logik entstanden? Gewiß aus der Unvernunft, deren Reich zu Anfang unermeßlich war. Von diesem Stadium an wird die Logik, nach Nietzsches positivistischer Beschreibung, zur Waffe der stärksten Triebe und also derjenigen Lebewesen, bei denen sich Aggressivität in Affirmation oder Negation übersetzt, während die Schwächeren im Stadium der Unvernunft bleiben. So in geeigneter Weise gegenüber seiner eigenen Entwicklung im Rückstand, entwickelt sich aus dem falschen Bewußtsein das Denken und sein Bedürfnis, sich durch die Sprache verständlich zu machen; aus ihr entwickeln sich die feineren Operationen, die die logische Vernunft und die rationale Erkenntnis ausmachen.
»An und für sich ist schon jeder hohe Grad von Vorsicht im Schließen, jeder skeptische Hang eine große Gefahr für das Leben. Es würden keine lebenden Wesen erhalten sein, wenn nicht der entgegengesetzte Hang, lieber zu bejahen als das Urteil auszusetzen, lieber zu irren und zu dichten als abzuwarten, lieber zuzustimmen als zu verneinen, lieber zu urteilen als gerecht zu sein – außerordentlich stark angezüchtet worden wäre.«
4. Das Bewußtsein, durch seine antivitale Tendenz bedrohlich, befindet sich also unmittelbar auf dem Rückzug. Und in ihrer Beziehung auf die Erkenntnis zeigt sich diese gefährliche Funktion in ihrem wahren Licht. Die logische Vernunft, aus den Trieben in ihrem Kampf mit den antivitalen Tendenzen des Bewußtseins hervorgegangen, erzeugt Denkgewohnheiten, welche die noch nicht angepaßte Tendenz des Bewußtseins als Irrtümer zu enthüllen bestrebt ist. Diese Irrtümer sind das, was das Leben ermöglicht, und später wird Nietzsche in ihnen Formen des Begreifens der Existenz anerkennen –, diese Irrtümer folgen immer derselben Spielregel: der, daß es Dinge gibt, die dauern, daß es Gegenstände gibt, Stoffe, Körper; daß eine Sache das ist, was sie scheint; daß unser Wille frei; daß was gut für mich auch gut überhaupt ist; – alterslose Überzeugungen, zu Normen geworden, an denen die logische Vernunft ihre Unterscheidung von wahr und nicht-wahr orientiert. Erst »sehr spät«, sagt Nietzsche, »trat die Wahrheit auf, als die unkräftigste Form der Erkenntnis. Es schien, daß man mit ihr nicht zu leben vermöge, unser Organismus war auf ihren Gegensatz eingerichtet; […]«. Also, bemerkt Nietzsche, liegt die Stärke der Erkenntnisse nicht in dem Grad der Wahrheit, den sie beanspruchen, sondern in ihrem Alter, im Maße ihrer Einverleibung, in ihrem Charakter als Lebensbedingung. Und Nietzsche zitiert das Beispiel der Eleaten, die die sinnlichen Wahrnehmungen in Zweifel ziehen wollten. Die Eleaten, so sagt er, glaubten an die Möglichkeit, die Antinomien der natürlichen Irrtümer zu leben. Doch um die Widersprüche zu bejahen und zu leben, bedurfte es zugleich des unpersönlichen und leidenschaftslosen Wesens des Weisen, den sie erfunden, und folglich verfielen sie der Illusion (ich zitiere immer noch Nietzsche); die Eleaten mußten, da sie von ihrer menschlichen Verfassung nicht absehen konnten, die Natur des Erkenntnissubjekts verkennen, die Gewalt der Triebe in der Erkenntnis leugnen und die Vernunft als vollkommen freies Handeln zu begreifen vermeinen. Wenn Redlichkeit und Skeptizismus – diese gefährlichen Formen des Bewußtseins – sich zu feineren Formen entwickeln konnten, so erst, als zwei widersprüchliche Behauptungen auf das Leben anwendbar schienen, weil alle beide, da wo es möglich war, über den mehr oder weniger großen Nutzen für das Leben zu streiten, zu den grundlegenden Irrtümern paßten. Und auch da konnten sie entstehen, wo neue Behauptungen, die fürs Leben nicht nützlich, aber als Ausdruck eines Gedankenspiels auch nicht schädlich waren, sondern bloß den unschuldigen und glücklichen Charakter jeden Spiels bezeugten. Von hier aus sind Erkenntnisakt und Streben nach Wahrheit insofern eines, als sie beide Bedürfnisse unter anderen Bedürfnissen sind. Nicht allein der Glaube, die Überzeugung, auch die Untersuchung, die Verneinung, das Mißtrauen, der Widerspruch stellen eine Macht dar, so daß sogar die schädlichen Instinkte der Erkenntnis in ihren Dienst gestellt wurden, um das Prestige dessen zu gewinnen, was statthaft, verehrt, nützlich und schließlich das Gesicht und die Unschuld des Guten ist. Und Nietzsche kommt so zu diesem ersten Schluß für die Situation des Philosophen:
Der Denker: das ist jetzt das Wesen, in dem der Trieb zur Wahrheit und jene lebenerhaltenden Irrtümer ihren ersten Kampf kämpfen, nachdem auch der Trieb zur Wahrheit sich als eine lebenerhaltende Macht bewiesen hat.
Der Trieb zur Wahrheit – trotz allem eine lebenerhaltende Macht? Aber das ist bloß eine Hypothese, eine momentane Konzession und Nietzsche schließt mit der Frage: Inwieweit verträgt die Wahrheit die Einverleibung? – das ist die Frage, das ist das Experiment, das zu machen bleibt.
Und Nietzsche selbst macht es bis zum Letzten durch: wenn er das Beispiel der Eleaten als einen Versuch zitiert, die natürlichen Widersprüche auszutragen, diesen Versuch, der zu seinem Gelingen die unpersönliche Kälte des Philosophen erfordert, so war es seine eigene Erfahrung, die er in die Vergangenheit projizierte. Die Eleaten, sagt Nietzsche, erfanden die Gestalt des unpersönlichen und leidenschaftslosen Weisen als einen, der zugleich ein Einzelner und das Ganze war; darum erlagen sie der Illusion, denn, so erklärt Nietzsche, sie leugneten die Gewalt der Triebe im Erkenntnissubjekt. Doch wenn Nietzsche sein Urteil über die Eleaten als das Bewußtwerden ihrer illusorischen Erfahrung ausgibt, so ist es er selbst, der insgeheim Eins und das Ganze zu sein bestrebt ist, als würde er fortan das Geheimnis in einer Umkehrung des Bewußtseins ins Unbewußte und des Unbewußten ins Bewußtsein sehen; und zwar in dem Maße, daß es am Anfang wie am Ende scheinen müßte, als existierte die wahre Welt nirgend anders als im Weisen.
Hier nun wird es nötig, zwischen gewollter und erlittener Erfahrung, zwischen Wollen und Erleiden zu trennen.
In der Tat – wir wüßten gern, ob die von Nietzsche gemachte Erfahrung, die Ekstase der ewigen Wiederkehr, in der das Ich sich plötzlich als Eins und das Ganze, als das Eine und das Vielfältige findet, ob eine derartige Erfahrung Gegenstand eines Beweises und Ausgangspunkt für eine moralische Lehre sein könnte.
Aber wir müssen uns hier auf die zuvor gestellte Frage beschränken: Kann der Philosoph einen Zustand erreichen, in dem er Eines und das Ganze, das Eine und das Vielfältige dadurch würde, daß er seinem Pathos zunehmend mehr Bewußtsein verleiht?
Mit andren Worten: Wie kann er sein Pathos bewußt machen, wenn Pathos das Begreifen der zu sich selbst zurückkehrenden Existenz ist?
Nietzsches Kommentar zu einer Formulierung Spinozas wird uns ins Zentrum dieses Problems führen; diesen Kommentar formuliert der Aphorismus 333 der Fröhlichen Wissenschaft:
»Was heißt erkennen? – Non ridere, non lugere, neque detestari, sed intellegere! sagt Spinoza, so schlicht und erhaben, wie es seine Art ist. Indessen: was ist dies intellegere im letzten Grunde anderes als die Form, in der uns eben jene drei auf einmal fühlbar werden? Ein Resultat aus den verschiedenen und sich widerstrebenden Trieben des Verlachen-, Beklagen-, Verwünschenwollens? Bevor ein Erkennen möglich ist, muß jeder dieser Triebe erst eine einseitige Ansicht über das Ding oder Vorkommnis vorgebracht haben; hinterher entstand der Kampf dieser Einseitigkeiten und aus ihm bisweilen eine Mitte, eine Beruhigung, ein Rechtgeben nach allen drei Seiten, eine Art Gerechtigkeit und Vertrag: denn vermöge der Gerechtigkeit und des Vertrags können alle diese Triebe sich im Dasein behaupten und miteinander recht behalten. Wir, denen nur die letzten Versöhnungsszenen und Schluß-Abrechnungen dieses langen Prozesses zum Bewußtsein kommen, meinen demnach, intellegere sei etwas Versöhnliches, Gerechtes, Gutes, etwas wesentlich den Trieben Entgegengesetztes; während es nur ein gewisses Verhalten der Triebe zueinander ist. Die längsten Zeiten hindurch hat man bewußtes Denken als das Denken überhaupt betrachtet: jetzt erst dämmert uns die Wahrheit auf, daß der allergrößte Teil unseres geistigen Wirkens uns unbewußt, ungefühlt verläuft: ich meine aber, diese Triebe, die hier miteinander kämpfen, werden recht wohl verstehen, sich einander dabei fühlbar zu machen und wehe zu tun –: jene gewaltige plötzliche Erschöpfung, von der alle Denker heimgesucht werden, mag da ihren Ursprung haben (es ist die Erschöpfung auf dem Schlachtfelde). Ja vielleicht gibt es in unserm kämpfenden Innern manches verborgene Heroentum, aber gewiß nichts Göttliches, Ewig-in-sich-Ruhendes, wie Spinoza meinte. Das bewußte Denken, und namentlich das des Philosophen, ist die unkräftigste und deshalb auch die verhältnismäßig mildeste und ruhigste Art des Denkens: und so kann gerade der Philosoph am leichtesten über die Natur des Erkennens irre geführt werden.«
Ich habe den Verdacht, daß Nietzsche in dieser schönen Passage seine eigene Art, zu verstehen und zu erkennen, gleichsam im Negativ dargestellt hat; ridere, lugere, detestari – verlachen, beklagen, verwünschen –, drei Weisen, die Existenz zu begreifen. Aber was ist eine Wissenschaft, die lacht, klagt und verwünscht? Eine pathetische Erkenntnis? Unser Pathos erkennt, aber wir können an seiner Erkenntnisform nie teilhaben. Für Nietzsche entspricht jeder geistige Akt nur einer Änderung der Stimmungslage; dem Pathos aber einen absoluten Wert zuzusprechen, würde die Unparteilichkeit des Erkennens zerstören, während man doch vom erreichten Grad der Unparteilichkeit aus die Unparteilichkeit selber in Frage gestellt hat. Welche Undankbarkeit gegenüber dem Erkennen liegt nicht darin, es zu verleugnen, sobald es uns zu verstehen gegeben hat, daß wir nicht erkennen können. Undankbarkeit, aus der eine neue Unparteilichkeit entsteht; aber eine, die in der absoluten Parteilichkeit liegt. Denn wenn die logischen Schlüsse nichts anderes sind als der Kampf der Triebe gegeneinander, der nur im Unrecht endet, so müßte ein Streben nach mehr als Parteilichkeit sich auf die höchste Gerechtigkeit berufen können.
Wenn der Denker, wie Nietzsche schreibt, derjenige ist, in dem das Streben nach Wahrheit und die lebenerhaltenden Irrtümer beieinanderwohnen und sich bekämpfen, und wenn sich die Frage stellt, ob die Wahrheit ihre Einverleibung verträgt, wenn dies das Experiment ist, das uns fortan aufgegeben ist, so müssen wir nun zu sehen versuchen, in welcher Weise das Pathos als Begreifen der Existenz einer solchen Einverleibung fähig ist; und da der geistige Akt als einer, der sich allein dank der tiefsten Erschöpfung vollzieht, fortan entwertet ist –, warum nicht in der Heiterkeit ebenso wie im Ernst, in der Wut wie in der Ruhe ein Organ des Wissens anerkennen? Da der Ernst ein ebenso zweifelhafter Zustand ist wie der Haß oder die Liebe, warum sollte die Heiterkeit nicht eine ebenso entschiedene Fähigkeit zum Begreifen der Existenz haben wie der Ernst?
Der Akt des Erkennens, des Urteilens, des Schließens soll nur aus dem Verhalten der Triebe zueinander resultieren. Da darüber hinaus das bewußte Denken und besonders das des Philosophen zumeist nur einen Sturz, eine Depression darstellt, wie sie vom furchtbaren Kampf zwischen zwei oder drei widerstreitenden Trieben hervorgerufen wird, einem Kampf, dessen Ende etwas in sich Ungerechtes ist, – so heißt das, daß der Philosoph oder der Weise im Sinne Nietzsches sich selbst zum Kampfplatz gleicherweise widerstreitender Triebe hergeben muß und folglich seine Erklärungen nie als etwas andres denn als Ausdruck von zwei oder drei Trieben gleichzeitig aussprechen kann, die von der unter der Perspektive dieser zwei oder drei Triebe begriffenen Existenz Rechenschaft geben.
Wenn der Akt des Verstehens insofern fragwürdig ist, als er sich nur auf Grund der Tilgung des einen oder andren von drei Trieben aussprechen kann, die in unterschiedlichem Maße an seiner Formierung teilhaben; wenn Verstehen nur ein unsicherer Waffenstillstand von Kräften ist, die in jeder Gegenwart dunkel bleiben, so kann es der Sorge um Reinheit, die Nietzsches Untersuchungen anleitet, um unseren Triebkräften zu immer größerer Bewußtheit zu verhelfen, nur darum gehen, eine dauernde Komplizität mit unseren Neigungen, ob gut oder böse, zu unterhalten. Und scheint es nicht so, als gäbe es eine schlimmere Illusion als diejenige, die Nietzsche Spinoza zum Vorwurf macht, wenn Spinoza das Verstehen dem Lachen, dem Weinen, dem Hassen entgegensetzt? Denn wie kann eine dunkle Kraft als dunkle zum Bewußtsein gelangen, wenn sie nicht schon dem hellichten Tag des Bewußtseins angehört? Wie der Apostel sagt: Alles, was verdammt ist, wird vom Lichte offenbart werden, denn alles, was offenbart ist, ist Licht. Wie aber offenbaren, ohne zu verdammen; wie sich als dunkle Kraft offenbaren, ohne sich dazu zu verdammen, Licht zu sein? Kann es ein Licht geben, das nicht die Verdammung der Finsternis ist? Unzweifelhaft, daß das Pathos erkennt, aber wir können an seiner Erkenntnisform nur durch diese Verdammung teilhaben: Nehmt nicht teil an den unfruchtbaren Werken der Finsternis, sagt der Apostel. Es steht indessen geschrieben, daß das Licht leuchtet in der Finsternis, aber die Finsternis hat es nicht erkannt. Das Licht hat also von der Finsternis erkannt werden wollen; es gibt also einen Augenblick, in dem das Licht Verdammung ist, und es gibt einen Augenblick, in dem das Licht die Finsternis aufsucht, um von ihr erkannt zu werden.
Alles, was ans Licht des Bewußtseins steigt, steigt nie anders als mit dem Kopf nach unten auf; die Bilder der Nacht verkehren sich im Spiegel des bewußten Denkens; es gibt darin eine tief in das Gesetz des Seins eingeschriebene Notwendigkeit, die im universellen Rad, dem Bild der Ewigkeit deutlich wird – daß schließlich die Verkehrung der Nacht in Tag und des Schlafens in Wachen aus diesem Gesetz resultiert, werden wir später sehen. Es bleibt zu bemerken, daß das bewußte Denken sich nie anders denn in und durch die Unkenntnis dieses Gesetzes der Wiederkehr bildet; alles bewußte Denken sieht vorwärts, identifiziert sich an einem Ziel, das es vor sich als seine Definition aufstellt. Doch wenn das bewußte Denken die Bilder der Nacht in hellen Tag umzukehren strebt, so weil es das ihm Äußerliche zum Ausgangspunkt nimmt und einen Urtext zu sprechen vermeint, den es nicht kennt, während es ihn gegen seinen Sinn übersetzt. »Mein Gedanke ist, wie man sieht: daß das Bewußtsein nicht eigentlich zur Individual-Existenz des Menschen gehört, vielmehr zu dem, was an ihm Gemeinschafts- und Herden-Natur ist…; das bewußt werdende Denken ist nur der kleinste Teil davon, sagen wir: der oberflächlichste, der schlechteste Teil – denn allein dieses bewußte Denken geschieht in Worten, das heißt in Mitteilungszeichen und das Bewußtwerden unsrer Sinneseindrücke bei uns selbst, die Kraft, sie fixieren zu können und gleichsam außer uns zu stellen, ist nur in bezug auf Gemeinschafts- und Herden-Nützlichkeit fein entwickelt worden; und daß folglich jeder von uns, beim besten Willen, sich selbst so individuell wie möglich zu verstehen, ›sich selbst zu kennen‹, doch immer nur grade das Nicht-Individuelle an sich zum Bewußtsein bringen wird, sein ›Durchschnittliches‹ – … Unsre Handlungen sind im Grunde allesamt auf eine unvergleichliche Weise persönlich, einzig, unbegrenzt-individuell, es ist kein Zweifel; aber sobald wir sie ins Bewußtsein übersetzen, scheinen sie es nicht mehr…« Und, um zu schließen: »daß mit allem Bewußtwerden eine große gründliche Verderbnis, Fälschung, Veroberflächlichung und Generalisation verbunden ist.«
»… Es ist, wie man errät, nicht der Gegensatz von Subjekt und Objekt, der mich hier angeht: diese Unterscheidung überlasse ich den Erkenntnistheoretikern, welche in den Schlingen der Grammatik (der Volks-Metaphysik) hängengeblieben sind. Es ist erst recht nicht der Gegensatz von ›Ding an sich‹ und Erscheinung: denn wir erkennen bei weitem nicht genug, um auch nur so scheiden zu dürfen. Wir haben eben gar kein Organ für das Erkennen, für die ›Wahrheit‹: wir ›wissen‹ (oder glauben oder bilden uns ein) gerade so viel, als es im Interesse der Menschen-Herde, der Gattung, nützlich sein mag: und selbst, was hier ›Nützlichkeit‹ genannt wird, ist zuletzt auch nur ein Glaube, eine Einbildung und vielleicht gerade jene verhängnisvollste Dummheit, an der wir einst zugrunde gehn.«
Nach dieser Definition stellt das bewußte Denken nie mehr als den nützlichsten, weil den allein mitteilbaren Teil unserer selbst dar, und was wir an Wesentlichstem haben, bleibt folglich das nicht-mitteilbare, nutzlose Pathos.
Unter individuell, wesentlich und dem Wesentlichstem versteht Nietzsche keinesfalls das, was unter diesen Namen allgemein geläufig ist; man wird noch sehen, in welcher Weise das Individuelle und das Nicht-Individuelle sich in einer ununterscheidbaren Einheit zusammenfinden, die von der Sorge um Authentizität geboten wird; in diesem Zusammenhang werden wir bei Nietzsche auf eine Reihe von Schwierigkeiten stoßen.
Wenn das bewußte Denken unfehlbar an dem Verrat übt, was wir als unser Wesentlichstes besitzen, wie kann sich dann dies Wesentliche auch nur uns selbst mitteilen? Wie kann es sich vom Herdenhaften unterscheiden, das immer schon unter dem pejorativen Begriff der Nützlichkeit steht; wie kann unser Wesentliches unserem eigenen Nützlichkeitsdenken entrinnen? Ist das Authentische an uns etwas in seiner Reinheit ganz und gar Nutzloses und so erst in Nietzsches Sinn eigentlich Wertvolles, ein Begreifen der Existenz, das sich selber genügt, die Möglichkeit, eins und alles zugleich zu sein?
Für das bewußte Denken – das Herden-Denken, das nichts für uns Wesentliches offenbart, für dies von Nietzsche für wertlos erklärte Denken ist das größte Elend dies, ohne Ziel zu sein. Zum Beispiel das Fehlen einer Wahrheit, die das bewußte Denken als höchstes Ziel zu erreichen suchen könnte. Das Bewußtsein muß sich seiner Natur nach auf etwas vor ihm Liegendes zubewegen, immer auf der Suche nach einem Ziel, das seine eigene Definition ist.
Umgekehrt ist der größte Genuß für das Pathos, im unbewußten Leben der Triebe, in diesem für uns Wesentlichen ohne Ziel zu sein. Und wenn andrerseits der Glaube an ein Ziel das Bewußtsein glücklich und das Denken sicher macht, so wird die Ausrichtung an einem Ziel vom Pathos als größter Notstand erfahren und wenn Nietzsche Spinoza kritisiert, meint er nichts andres als dies. Denn auch wenn die Triebe als Bedürfnisse das, was das Bewußtsein sieht, nicht kennen, so stellten sie doch das vor, dessen Bedürfnisse sie sind. Und so müssen sie das Bild, das sie von sich selbst haben, augenblicklich verlieren, sobald das Bewußtsein ein Ziel aufrichtet. Bilder ihrer selbst, veräußern die Triebe ihr eigenes Bild zugunsten dessen, was ihnen von Natur her unbekannt ist, zugunsten des Ziels.
Unser Wesentliches, wenn es im unausdrückbaren und durch sich selbst nicht mitteilbaren Pathos liegt, stellt als Gesamtheit des Trieblebens eine Gruppe von Bedürfnissen dar; aber sucht es nicht in der Selbstvergeudung seine Befriedigung? Und wie kommt es zu dieser Vergeudung und wie bringt sie es zur Befriedigung? Unser tiefstes Bedürfnis spricht das Wesentliche unsrer selbst zum Beispiel im Lachen und im Weinen aus und vergeudet sich als Lachen und Weinen selber, die das Bild dieses Bedürfnisses sind – Lachen und Weinen, die unabhängig von jedem Motiv entstehen, welches das bewußte Denken in seiner Zweckmäßigkeit ihnen zu Recht oder Unrecht beilegen mag. Und so verschwendete sich unser tiefstes Bedürfnis und der Verlust jeden Ziels würde für einen Augenblick mit unserem tiefen Glück zusammenfallen.
Das Pathos versteht also sehr wohl uns, während wir an seiner Art, zu verstehen, nicht teilhaben können. Denn woher kommt uns plötzlich dies Fehlen eines vernünftigen Motivs und diese Befriedigung, die wir im Lachen oder Weinen vor dem offenbar grundlosesten Schauspiel finden, wie es uns die Ansicht einer plötzlich enthüllten Landschaft oder die Brandung am Meeresstrand bietet; etwas in uns lacht oder weint, das, um sich unsrer zu bedienen, uns verzückt und uns selbst uns entzieht; heißt das, daß dies Etwas nie anders als in den Tränen und im Lachen gegenwärtig ist? Denn wenn ich in dieser Weise lache und weine, verstehe ich nur, daß dies unbekannte Motiv, das in mir weder Gestalt noch Sinn gewonnen hat, sofort verschwindet, wenn es nicht das Bild dieses Waldes oder dieser eifersüchtigen Wellen über verschütteten Schätzen ist. In Beziehung auf dies unbekannte Motiv, das mir diese äußeren Bilder verbergen, bin ich nur Bruchstück, wie Nietzsche schreibt, mir selbst nur ein Rätsel und grauser Zufall. Und als Bruchstück, als Rätsel, als Zufall bleibe ich in Beziehung zu meinem Wesentlichsten, das sich, vielleicht, in diesem Lachen und diesem Weinen ohne vernünftigen Grund ausgesprochen hat; doch dies Wesentlichste, das sich in dieser Weise geäußert hätte, würde einem dem Licht des Bewußtseins verborgenen Bilde entsprechen, einem gegen mich selbst verkehrten Bilde, das ich, in der Perspektive des Ziels befangen und bei dem Versuch, diesem Lachen oder Weinen das größte Ausmaß an Bewußtsein zu schenken, zu begreifen versäumt habe; und es muß also eine Notwendigkeit geben, die mich lachen oder weinen machen will, als würde ich freiwillig lachen oder weinen; und ist diese Notwendigkeit nicht die selbe wie diejenige, die die Nacht in Tag verkehrt, den Schlaf in ein Wachen, darin das Bewußtsein seine Ziele aufrichtet? Sollte es nicht die selbe Notwendigkeit sein, die die Bilder des hellen Tages wieder in die der Nacht verkehrt? In der Perspektive auf ein Ziel leben und denken bedeutete also für mich, von meinem Wesentlichsten mich entfernen, von dieser Notwendigkeit, die sich in mir als mein tiefstes Bedürfnis ausspricht; mein Wesentlichstes wiederzuerlangen bedeutete folglich, gegen den Strich meines Bewußtseins zu leben, und in diese Notwendigkeit, die mich im Lachen und im Weinen überrascht hat, hätte ich all mein Wollen und mein Vertrauen zu setzen; denn dieselbe Bewegung, die das Bewußtsein aus der Nacht in die Morgenröte, wo sie ihr Ziel setzt, hinauswirft, entfernt mich von diesem Ziel, um mich zu dem zurückzuführen, was ich in der tiefen Mitternacht an Wesentlichem habe. Dieser Notwendigkeit unterworfen zu sein, ist eines; ein andres ist es, ihr wie einem Gesetz unterworfen zu sein; und wieder ein anderes, dieses Gesetz im Bild des Kreises zu formulieren.
Das Streben nach Wahrheit ist uns als Trieb gegeben und dieser Trieb mit der Funktion des Bewußtseins vermischt; zu fragen, inwieweit das Streben nach Wahrheit dem Pathos und seinen Irrtümern einverleibt werden kann, würde also heißen, daß das Pathos etwas erzeugt, was es sich noch einverleiben muß. Und tatsächlich – wenn das Bewußtsein nur diesem Streben als seinem eigenen Trieb folgt, so wirkt es, im Namen der Wahrheit, auf seinen eigenen Ruin hin: was ist es, das einem derartigen triebhaften Streben nachgeht, dies Ding oder dieser Zustand, den das Bewußtsein unter dem Namen der Wahrheit am hellichten Tage als sein Ziel aufstellt? Was ist dieser Name der Wahrheit andres als das verkehrte Bild dessen, wovon dieses Streben selber das Bedürfnis war? Und auf diese Weise diesen letzten Trieb, Streben nach Wahrheit genannt, seinerseits umzukehren – dieses Streben des in seiner Gesamtheit ergriffenen Pathos –, das Bild dieses Strebens umzukehren, heißt das zu formulieren, was Nietzsche im folgenden Satz ausspricht: Wahrheit ist die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Wert für das Leben entscheidet zuletzt. Das im Leben zuletzt aufgetretene Streben – das gefährliche Streben nach Wahrheit, wäre also bloß die Umkehrung des gesamten Pathos unter der Form des Ziels.
Doch hier entdecken wir bei Nietzsche etwas Beunruhigendes: in welcher Absicht stellt er die Frage, inwieweit die Wahrheit ihre Einverleibung in die Lebensbedingungen verträgt, in welchem Sinn sagte er, daß dies triebhafte Streben nach Wahrheit wie die natürlichen Irrtümer lebenserhaltend geworden sei? Hat er die Frage nicht in den Begriffen des bewußten, aber herdenhaften Denkens gestellt, in den Begriffen des Bewußtseins, das sich notwendig ein Ziel setzt, und erfüllen sich nicht die Begriffe von Irrtum und Wahrheit, ihres Gehalts durch die herdenhafte Bedeutung schon beraubt, sogleich mit deren Gehalt?
Welche Form müßte diese Erfahrung für den Philosophen oder den Denker oder den Weisen im Sinne Nietzsches annehmen, um gelehrt werden zu können? Wie wäre der Wille dazu zu bringen, gegen den Strich der bewußten Zweckmäßigkeit zu wollen, daß dies Wollen sich demjenigen zuwende, was es selbst als sein Wesentlichstes hat, als sein am wenigsten Mitteilbares, daß es sich selbst als sein Objekt nehme, sich selbst als zu sich selbst zurückgekehrtes Wollen der zu sich selbst zurückgekehrten Existenz begreift? Wäre es nicht nötig, das bewußte Denken wachzurufen und folglich die Sprache der Herde (in diesem Fall die des Positivismus) zu verwenden und den Begriff des Nutzens und des Ziels gegen allen Nutzen und gegen jedes Ziel gekehrt wiederaufzunehmen?
Im rückblickenden Vorwort zur Fröhlichen Wissenschaft, das von 1886 datiert ist, lesen wir:
»Incipit tragoedia – heißt es am Schlusse dieses bedenklichunbedenklichen Buches: man sei auf der Hut! Irgend etwas ausbündig Schlimmes und Boshaftes kündigt sich an: incipit parodia, es ist kein Zweifel…«
Was bedeutet, heißt es im ersten Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft, was bedeutet das immer neue Erscheinen jener Stifter der Moralen und Religionen, jener Urheber des Kampfes um sittliche Schätzungen, jener Lehrer der Gewissensbisse und Religionskriege? Was bedeuten diese Helden auf dieser Bühne? … Es versteht sich von selber, daß auch diese Tragöden im Interesse der Art arbeiten, wenn sie auch glauben mögen, im Interesse Gottes und als Sendlinge Gottes zu arbeiten. Auch sie fördern das Leben der Gattung, indem sie den Glauben an das Leben fördern. »Es ist wert zu leben – so ruft ein jeder von ihnen –, es hat etwas auf sich mit diesem Leben, das Leben hat etwas hinter sich, unter sich, nehmt euch in acht!« Jener Trieb, welcher in den höchsten und gemeinsten Menschen gleichmäßig waltet, der Trieb der Arterhaltung, bricht von Zeit zu Zeit als Vernunft und Leidenschaft des Geistes hervor; er hat dann ein glänzendes Gefolge von Gründen um sich und will mit aller Gewalt vergessen machen, daß er im Grunde Trieb, Instinkt, Torheit, Grundlosigkeit ist. Das Leben soll geliebt werden, denn! Der Mensch soll sich und seinen Nächsten fördern, denn! Und wie alle diese Solls und Denns heißen und in Zukunft noch heißen mögen! Damit das, was notwendig und immer, von sich aus und ohne allen Zweck geschieht, von jetzt an auf einen Zweck hin getan erscheine und dem Menschen als Vernunft und letztes Gebot einleuchte – dazu tritt der ethische Lehrer auf, als der Lehrer vom Zweck des Daseins, dazu erfindet er ein zweites und anderes Dasein und hebt mittels seiner neuen Mechanik dieses alte gemeine Dasein aus seinen alten gemeinen Angeln…. Und Nietzsche schließt: nicht nur das Lachen und die fröhliche Weisheit, sondern auch das Tragische mit all seiner erhabenen Unvernunft gehört unter die Mittel und Notwendigkeiten der Arterhaltung! – Und folglich! Folglich! Folglich! Oh versteht ihr mich, meine Brüder? Versteht ihr dieses neue Gesetz der Ebbe und Flut? Auch wir haben unsere Zeit!
Wird nun Nietzsche seinerseits als ein neuer Lehrer vom Zwecke des Daseins die Szene betreten? Als ein neuer Lehrer der Moral? Sollte es nötig sein, die Überlegungen des bewußten zwecksetzenden Denkens für das zur Hilfe zu rufen, was wir als Wesentlichstes besitzen, wenn es darum geht, die Existenz ohne Zweck zu begreifen? Nietzsche bringt immer wieder eine Formel ins Spiel, die einen Imperativ zu implizieren scheint: den Willen zur Macht.
Es gibt eine große Schwierigkeit: welche ist Nietzsches wahre Sprache? Ist es die seiner Erfahrung, die der Inspiration, die der Offenbarung oder diejenige der aufgegebenen Erfahrung, also die des Experiments? Und gibt es nicht eine Interferenz beider Sprachen immer dann, wenn sich die Begierde geltend macht, die nicht mitteilbare Erfahrung der ewigen Wiederkehr durch einen Beweis zu legitimieren, den sie sich selber entweder auf dem Niveau des wissenschaftlich verifizierbaren Kosmos gibt oder auf der moralischen Ebene durch die Herausarbeitung eines Imperativs, der geeignet ist, dem Wollen durch die Beziehung auf den Willen zur Macht zu gebieten? Kommt es so zu den zweifelhaften Hinweisen auf die Naturwissenschaft, die Biologie, nachdem sich seine fundamentale Erfahrung bereits auf völlig andere Weise in der Gestalt des Zarathustra ausgesprochen hat? Möglicherweise finden wir darin einen der Begriffe der Alternative, einen Aspekt des Widerspruchs in Nietzsche: die Erfahrung der Ewigkeit des Ich im ekstatischen Augenblick der ewigen Wiederkehr aller Dinge kann ebensowenig Gegenstand eines Experiments wie einer rational konstruierten Erklärung sein; ebensowenig wie diese unerklärliche und also nicht mitteilbare Erfahrung sich als ethischer Imperativ aufstellen läßt, der aus dem Erlebten ein Gewolltes und Wiedergewolltes macht, da die universelle Bewegung der ewigen Wiederkehr den Willen unfehlbar dazu leiten soll, im gewollten Augenblick zu wollen: als eine Erfahrung und also vollständig einer Kontemplation einverleibt, in der sich der Wille gänzlich in der auf sich selbst bezogenen Existenz absorbiert. Und zwar so sehr, daß der Wille zur Macht bloß Attribut der Existenz ist, die sich selbst so will, wie sie ist. Daher auch der oft zweifelhafte Charakter all derjenigen Sätze in den Fragmenten zur Umwertung der Werte, in denen der Wille zur Macht unabhängig vom Gesetz der ewigenWiederkehr behandelt wird, unabhängig von dieser Offenbarung, von der er unablösbar ist. Auf der Ebene der Erfahrung bleibt Nietzsche hinter Zarathustra also zurück, ist bloß noch der Lehrer einer Gegenmoral, die sich offenkundig deutlich ausspricht und deren ganzes Ansehen sich dem wagemutigen Versuch verdankt, das bewußte Denken zugunsten dessen zu gebrauchen, was keinen Zweck hat. Lehrer vom Zwecke des Daseins, damit beschäftigt, seinen Rückzug in ein Gebiet zu decken, in das er sich tatsächlich schon zurückgezogen hat – in diese Unsterblichkeit, an der er, wie er mehr als einmal sagt, gestorben ist und aus der er einzig im Taumel des Wahnsinns wiederkehrt, um zu bekunden, was er unter zwei verschiedenen Namen ist: Dionysos und der Gekreuzigte.
Nach dem Satz: Die Wahrheit ist ein notwendiger Irrtum, finden wir diesen anderen Satz: Die Kunst ist ein der Wahrheit übergeordneter Wert, der die Schlußfolgerung derjenigen enthält, in denen ausgesprochen ist, daß die Kunst uns davor bewahrt, uns in den Abgrund der Wahrheit zu stürzen oder die Kunst uns vor der Wahrheit schützt; all diese Sätze haben den selben pragmatischen Charakter wie der voraufgehende Satz, daß die Wahrheit ein notwendiger Irrtum ist; in ihnen wird alles unter der Perspektive der Zweckdienlichkeit betrachtet.
Sofern indessen der Irrtum formenschaffend ist, muß die Kunst selbstverständlich dasjenige Reich sein, in dem der gewollte Irrtum eine Spielregel begründet: ebenso wie es widersprüchlich wäre, eine praktische Anwendung der Wahrheit als Irrtum zu versuchen, ebenso klar ist es, daß im Reich des Spiels par excellence, das die Kunst bewohnt, die Verstellung eine legitime Aktivität darstellt. Doch der Begriff der Kunst hat einen sehr weitgespannten Sinn und bei Nietzsche umfaßt ihre Kategorie ebenso die Institutionen wie die Werke einer zweckfreien Schöpfung. Zum Beispiel – und daran sehen wir sogleich, worauf das hinausläuft – zum Beispiel – als was hat Nietzsche die Kirche angesehen? Die Kirche besteht für ihn grosso modo aus einer Kaste frommer Falschmünzer: den Priestern. Sie ist das Hauptwerk geistiger Herrschaft und es bedurfte dieses unmöglichen Plebejers von Mönch, der Luther in seinen Augen ist, um glauben zu können, daß dieses Hauptwerk, das letzte Gebäude römischer Zivilisation unter uns, zerstört werden könnte. Die ganze Bewunderung, die Nietzsche der Kirche und dem Papsttum zugewandt hat, ruht auf dieser Annahme, daß die Wahrheit ein Irrtum und die Kunst, dieser gewollte Irrtum, der Wahrheit überlegen sei: deshalb auch betont Zarathustra seine Verwandtschaft mit dem Priester und deshalb ist im vierten Teil bei dieser außerordentlichen Versammlung der verschiedenen Höheren Menschen in Zarathustras Höhle der Papst, der letzte Papst, unter den Ehrengästen des Propheten. Dies, meine ich, verrät noch einmal die Versuchung Nietzsches, eine herrschende Kaste der großen Metapsychologen vorzusehen, welche die Geschicke der künftigen Menschheit in die Hand nehmen könnten, weil sie die verschiedenen Strebungen und die verschiedenen Mittel, sie zu befriedigen, vollkommen durchschauten. Doch was uns interessiert, ist ein bestimmtes Problem, das nie aufgehört hat, Nietzsche zu beschäftigen, das des Schauspielers. Im Aphorismus 361 der Fröhlichen Wissenschaft lesen wir: Die Falschheit mit gutem Gewissen; die Lust an der Verstellung mit Macht herausbrechend, den so genannten »Charakter« beiseite schiebend, überflutend, mitunter auslöschend; das innere Verlangen in eine Rolle und Maske, in einen Schein hinein; ein Überschuß von Anpassungs-Fähigkeiten aller Art, welche sich nicht mehr im Dienste des nächsten engsten Nutzens zu befriedigen wissen: alles das ist vielleicht nicht nur der Schauspieler an sich? …
Halten wir fest, was Nietzsche hier hervorhebt: die Lust an der Verstellung mit Macht herausbrechend, den sogenannten »Charakter« beiseite schiebend, überflutend, mitunter auslöschend – in der Tat erkennen wir darin mit einem Schlag, was Nietzsche selber bedroht: zuerst die Verstellung, die mit Macht und als Macht herausbricht und den sogenannten »Charakter« überflutet, ihn mitunter auslöscht: was hier hervorsticht, ist der Gedanke, daß die Verstellung nicht nur Mittel, sondern selbst eine Macht ist, daß es also einen Einbruch von etwas mit dem Charakter Inkompatiblen gibt und deshalb eine Infragestellung dessen, was man ist, in einer Situation, die durch das Unbestimmbare selber bestimmt ist; gewiß schreibt Nietzsche ein Überschuß von Anpassungsfähigkeiten, doch ein Überschuß, so bemerkt er, welcher sich nicht mehr im Dienste des nächsten engsten Nutzens zu befriedigen weiß: insofern also ist das, was sich im Überschuß von Anpassungs-Fähigkeiten übersetzt, nichts andres als das Dasein selbst. Existenz ohne Zweck, Existenz, die sich selber genügt. Doch kehren wir noch einmal zur ersten Formulierung zurück: die Falschheit mit gutem Gewissen. Auch hierin der Begriff des gewollten Irrtums. Der gewollte Irrtum legt, nach Maßgabe des Scheins, Rechenschaft von der Existenz ab, deren Wesen die sich entziehende Wahrheit, die sich versagende Wahrheit ist.
Das Dasein sucht ein Gesicht, um sich zu offenbaren; der Schauspieler ist sein Dolmetscher. Was offenbart das Dasein? Die Möglichkeit eines Gesichts: vielleicht das eines Gottes.
In einer anderen seltsamen Passage der Fröhlichen Wissenschaft (Aphorismus 356) mit dem Titel Inwiefern es in Europa immer »künstlerischer« zugehn wird weist Nietzsche darauf hin, daß die Lebens-Fürsorge fast allen männlichen Europäern eine bestimmte Rolle, ihren sogenannten Beruf, aufzwingt; einigen bleibt dabei die Freiheit, diese Rolle selbst zu wählen, den meisten wird sie gewählt. Das Ergebnis ist seltsam genug: fast alle verwechseln sich mit ihrer Rolle – sie selbst haben vergessen, wie sehr Zufall, Laune, Willkür damals über sie verfügt haben, als sich ihr »Beruf« entschied – und wie viele andre Rollen sie vielleicht hätten spielen können: denn es ist nunmehr zu spät! Tiefer angesehn, ist aus der Rolle wirklich Charakter geworden, aus der Kunst Natur. Der Abschnitt behandelt weiterhin den Niedergang der Gesellschaft, aber was ich hier festhalten will, ist dies: was hier als gesellschaftliches Phänomen beschrieben wird, erscheint in der Tat als Bild des Schicksals selbst und insbesondere von Nietzsches Schicksal. Man glaubt das, was man ist, frei zu wählen, aber tatsächlich wird man gezwungen, eine Rolle zu spielen und ist der nicht, der man ist; man ist gezwungen, die Rolle dessen zu spielen, der man außer sich ist. Man ist nie da, wo man ist, sondern immer nur da, wo man der Schauspieler jenes Andren ist, der man ist. Die Rolle stellt dabei den Zufall in der Notwendigkeit des Schicksals dar. Man kann nicht anders, als sich selber zu wollen, aber man kann nie etwas andres als eine Rolle wollen. Dies wissend, spielt man mit gutem Gewissen. So gut wie möglich spielen, heißt sich verstellen. Und so ist Baseler Philologie-Professor oder aber Autor des Zarathustra zu sein, bloß eine Rolle. Was man dahinter verbirgt ist, daß man bloß Dasein ist, und was man sich selber verbirgt ist, daß die Rolle, die man spielt, sich auf diejenige bezieht, welche das Dasein selber ist.
Dies Problem des Schauspielers bei Nietzsche und des Einbruchs einer Macht in den sogenannten »Charakter«, den sie beiseite schiebt, überflutet und mitunter auslöscht –, dies Problem, sage ich, betrifft unmittelbar Nietzsches eigene Identität, bedeutet die Infragestellung dieser Identität als einer zufällig angenommenen und folglich vielleicht als Rolle gespielten – sofern nämlich, unter anderen möglichen ausgewählt, diese Rolle ebensogut zugunsten einer von den anderen tausend Masken der Geschichte hätte verworfen werden können. Diese Konzeption ist aus der Einschätzung des gewollten Irrtums, der Verstellung als Schein hervorgegangen und es bleibt nun zu bestimmen, in welchem Maße der Schein, wenn er denn ein Begreifen des Daseins ist, eine Offenbarung des Seins im Daseienden darstellt – eine Offenbarung des Seins im zufälligen Daseienden.
Ist das Dasein noch eines Gottes fähig, fragt Heidegger. Und diese Frage stellt sich ebenso im biographischen Kontext dessen, der zum ersten Mal den Satz: Gott ist tot als eine Botschaft verkündet hat, die sich im Kontext der Ereignisse und des Denkens der gegenwärtigen Epoche ergibt.
Am Vorabend seines Zusammenbruchs in Turin erwacht Nietzsche mit dem Gefühl, zugleich Dionysos und Christus zu sein, und er signiert mit dem einen oder dem anderen Namen verschiedene Briefe, die er an Strindberg, an Burckhardt und andere sendet.
Bis zu diesem Augenblick war nur von einem Gegensatz zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten die Rede: – Hat man mich verstanden? – Dionysos gegen den Gekreuzigten… Und nun, da Professor Nietzsche untergegangen ist, oder besser, da er endlich alle Grenzen zwischen Außen und Innen niedergerissen hat, wird von ihm erklärt, daß zwei Götter in ihm wohnen. Setzen wir alle pathologischen Erklärungsversuche beiseite und nehmen wir diese Signaturen als ein gültiges Urteil über das, was den ihm eigenen Begriff des Daseins ausmacht. Die Substitution von Nietzsches Namen durch die zweier Götter rührt unmittelbar an das Problem der Identität der Person in Beziehung auf einen einzigen Gott, der die Wahrheit ist, und auf mehrere Götter, sofern sie einerseits eine Auslegung des Seins, andrerseits ein Ausdruck der Pluralität in einem und dem selben Individuum sind.
Er hält also am Bild Christi fest – oder, wie er selbst schreibt, an dem des Gekreuzigten, dem erhabenen Symbol, das für ihn das unverzichtbare Gegenbild des Dionysos bleibt; die zwei Namen des Gekreuzigten und des Dionysos halten dabei durch ihren Widerstreit das Gleichgewicht.
Wir kommen hier, wie man sieht, auf das Problem des nicht mitteilbaren Authentischen zurück und auch Karl Löwith stellt in diesem Zusammenhang in seinem bedeutenden Werk über die ewige Wiederkehr die Frage nach der Glaubwürdigkeit von Nietzsches Lehre: im Falle er nicht Dionysos ist, bricht sein gesamtes Gebäude zusammen. Ich halte dagegen, daß Löwith nicht gesehen hat, in welchem Sinn das Gleichnisbild Rechenschaft vom Authentischen ablegen kann und in welchem nicht.
Wenn Nietzsche verkündet Gott ist tot, so bedeutet dies, daß mit Notwendigkeit Nietzsche seine eigene Identität verlieren muß. Denn was hier als ontologische Katastrophe dargestellt wird, entspricht exakt der Resorption der wahren und scheinbaren Welt durch die Fabel: in der Fabel gibt es nur noch eine Pluralität von Normen oder vielmehr überhaupt keine Norm im eigentlichen Sinn dieses Wortes, denn das Prinzip verantwortlicher Identität selbst ist darin völlig unbekannt, sofern das Dasein sich nicht in der Gestalt eines einzigen Gottes auslegt oder offenbart, der als Richter eines verantwortlichen Ich das Individuum einer mächtigen Pluralität entreißt.
Gott ist tot bedeutet nicht, daß die Gottheit aufhört, eine Auslegung des Daseins zu sein, vielmehr daß der absolute Garant der Identität des verantwortlichen Ich im Horizont von Nietzsches Bewußtsein verschwindet, von Nietzsche, der seinerseits sich mit diesem Verschwinden vermischt.
Wenn sich der Begriff der Identität verflüchtigt, bleibt vorerst, was auf das Bewußtsein zukommt, nur der Zufall. Bislang konnte es das Zufällige aufgrund seiner anscheinend notwendigen Identität anerkennen, nach deren Maß es alle Dinge in seinem Umkreis als notwendig oder zufällig beurteilen konnte.
Doch nachdem sich ihm das Zufällige als notwendige Wirkung eines universellen Gesetzes offenbart hat, des Glücksrads, kann es dazu kommen, daß es selbst sich als zufällig ansieht. Es bleibt ihm nur, zu erklären, daß seine Identität selbst ein Zufall sei, willkürlich für notwendig gehalten, frei, sich selbst als das universelle Glücksrad anzusehen, frei, die Totalität der Fälle, das Zufällige selbst in seiner notwendigen Totalität, wenn es kann, zu umfassen.
Was übrig bleibt, ist also das Sein und das Wort ›sein‹, das nie sich auf das Sein selbst, sondern auf das Zufällige bezieht. In Nietzsches Erklärung: Ich bin Chambige, ich bin Badinguet, ich bin Prado – jeder Name der Geschichte bin im Grunde ich –, wir sehen in dieser Erklärung das Bewußtsein verschiedene Möglichkeiten des Seins wie ebenso viele Lose aufzählen, die sämtlich das Sein wären, und sich dabei des augenblicklichen Gewinns bedienen, der Nietzsche heißt, der aber als Gewinn eben zugunsten einer generöseren Bezeugung des Seins abgedankt hat: zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus so weit zu treiben, um seinetwegen die Schaffung der Welt zu unterlassen…, man muß Opfer bringen, wie und wo man lebt.
Das Dasein als ewige Wiederkehr aller Dinge erzeugt sich in den Gestalten so vieler Götter wie es Auslegungsmöglichkeiten in der Seele der Menschen hat. Wenn der Wille dieser dauernden Bewegung der Welt angehört, so ist es zuerst der Kreis der Götter, den er betrachtet. So heißt es im Zarathustra:
Die Welt ist als ewiges Sich-Fliehn und -Wiedersuchen vieler Götter, als das selige Sich-Widersprechen, Sich-Wieder-Hören, Sich-Wieder-Zugehören vieler Götter…
Ohne Zweifel ist die nietzscheanische Version des Polytheismus notwendigerweise von der antiken Frömmigkeit ebensoweit entfernt wie deren Begriff des göttlichen Zeugungstriebs der vielen Götter vom christlichen Begriff der Gottheit. Wovon aber diese »Version« Zeugnis ablegt, ist die Weigerung, einer atheistischen Moral zu gehorchen, die für Nietzsche nicht weniger unerträglich war als die monotheistische Moral und er konnte in der atheistischen und humanistischen Moral nichts anderes sehen als die Fortsetzung dessen, was er als die Tyrannei der einen und einzigen Wahrheit denunziert hatte – welches auch immer ihr Name war und ob sie sich nun als kategorischer Imperativ oder in der Gestalt eines ausschließlichen persönlichen Gottes darstellte. Und in der Tat erweist sich der Unglaube gegen einen einzigen und gesetzgebenden Gott, einen Gott, der die Wahrheit ist, als wahrhaft göttlich inspirierte Gottlosigkeit und verbietet jeden Rückzug der Vernunft hinter bloß menschliche Grenzen. Nietzsches Gottlosigkeit diskreditiert nicht bloß den vernünftigen Menschen, sondern macht sich noch zum Komplizen all der Phantasmen, welche als Reflexe dessen die Seele bevölkern, was der Mensch hat ausstoßen müssen, um zu einer rationalen Definition seiner Natur zu gelangen; nicht daß diese Gottlosigkeit auf die simple Entfesselung blinder Mächte aus wäre, wie man in der Nietzsche-Interpretation zu behaupten allgemein übereingekommen ist, denn er hat nichts gemein mit einem Vitalismus, der mit allen von der Kultur erarbeiteten Formen tabula rasa macht; Nietzsche ist der Antipode eines jeden Naturismus; und Nietzsches Gottlosigkeit erklärt sich selber für diese Kultur tributpflichtig; deshalb kann man in der Beschwörung des Zarathustra einen Appell zum Aufstand der Bilder vernehmen, derjenigen Bilder, die die menschliche Seele in ihren Phantasmen, im Kontakt der dunklen Kräfte in ihr, zu formen fähig ist; Phantasmen, die die für die Seele als Fähigkeit unerschöpflichen Metamorphosen zeugen, als ein universell ungestilltes Bedürfnis nach Gestaltung, worin die verschiedenen außermenschlichen Formen des Daseins sich der Seele als ebenso viele Möglichkeiten des Seins darbieten: Stein, Pflanze, Tier, Stern, sofern sie jeweils Möglichkeiten des Lebens der Seele selbst sind; dieselbe Fähigkeit zur Metamorphose, die unter der Herrschaft des ausschließlich normativen Prinzips die große Versuchung darstellt, gegen die der Mensch jahrtausendelang hat kämpfen müssen, um sich selbst zu definieren; nicht daß in diesem Kampf um die Selbstdefinition die Fähigkeit zur Metamorphose nicht selber zum Ausscheidungsprozeß, der im Menschen als seinem letzten Produkt gipfeln mußte, beigetragen hätte: der beste Beweis dafür ist die Aufhebung der Schranke zwischen Göttlichem und Menschlichem und die wunderbare Kompensation, durch die in dem Maße, wie der Mensch seiner Animalität, Vegetabilität, Mineralität entsagte, in dem Maße auch, wie er seine Begierden und Passionen nach immer variablen Kriterien hierarchisierte, eine analoge Hierarchie sich ihm in den über- oder unterweltlichen Bereichen erschloß; das Universum bevölkerte sich mit Gottheiten, aber mit Gottheiten des einen und des andern Geschlechts, mit Gottheiten also, die fähig waren, einander zu folgen, sich zu fliehen, sich zu vereinigen; so sah für einen Augenblick das erstaunliche Gleichgewicht der im Mythos erblühten Welt aus, in der dank der nach Geschlecht1 und Gattung vielfältig unterschiedenen Götterbilder weder »Bewußtsein« noch »Unbewußtsein«, weder »Außen« noch »Innen«, weder »dunkle Mächte« noch »Phantasmen« den Geist beschäftigten, da die Seele sich ganz und gar darin genügte, Bilder in einen Raum zu setzen, der sich von der Seele nicht unterschied. Wenn in dieser Beziehung der moralische Monotheismus die Herrschaft des Menschen über sich selber vollendet und die Natur dem Menschen dienstbar gemacht hat, indem er das anthropologische Phänomen der Wissenschaft erlaubte, so hat er doch, Nietzsche zufolge, ein tiefes Ungleichgewicht verursacht, das am Ende von zwei Jahrtausenden in nihilistischer Zerrüttung endet; daher auch die Entfremdung des Universums durch den Menschen, die Nietzsche in seiner Erforschung durch die Wissenschaft begründet sieht und mithin der Verlust dessen, was das der Metamorphose fähige Heimweh der Seele ausdrückt: Eros, der, so sagt Nietzsche, aus dem Menschen ein Tier macht, das anbetet. Der »Tod Gottes« erreicht nun den Eros der Seele und trifft den Trieb zur Verehrung an seiner Wurzel, diesen Trieb, der die Götter erzeugt, der für Nietzsche zugleich schöpferischer Wille und Wille zur Ewigkeit ist. Der »Tod Gottes« bedeutet in dieser Beziehung einen Bruch im Eros, der ihn seither in zwei gegensätzliche Strebungen spaltet: den Willen, sich selbst zu erschaffen, der immer mit Zerstörung einhergeht, und den Willen zur Verehrung, der nie ohne den Willen zur Ewigkeit auskommt.
Und sofern der Wille zur Macht nur ein andrer Begriff für die Gesamtheit dieser Strebungen ist und die universelle Fähigkeit zur Metamorphose begründet, findet er etwas wie seine Kompensation, wie seine Genesung in der Identifizierung mit Dionysos, diesem alten Gott des Polytheismus, der, bei Nietzsche, alle toten und wiederauferstandenen Götter darstellt und in sich vereinigt.
Zarathustra trägt der Dissoziation dieses zweierlei Wollens, dem des Schaffens und dem des Verehrens, Rechnung, wenn er die Schöpfung neuer Werte fordert; neuer Wahrheiten also, an die der Mensch nie zu glauben, denen er nie zu gehorchen vermöchte, sofern sie vom Siegel des Notstands und der Destruktion gezeichnet sind. Was ausschließt, daß der Wille zur Schöpfung neuer Werte das Bedürfnis nach Verehrung je befriedigen könnte, ist dies, daß dieses Bedürfnis dem Willen zur Ewigkeit des Selbst innewohnt. Ist der Mensch ein Tier, das anbetet, so vermag er doch allein das anzubeten, was ihm aus der Notwendigkeit zu sein zukommt – ihretwegen kann er nicht nicht sein wollen. Und so vermöchte er den Werten, die er selber frei erzeugt, weder zu glauben, noch zu gehorchen, wenn es sich in ihnen nicht um die Bilder seines Bedürfnisses nach Ewigkeit handelte. Daher bei Zarathustra der Wechsel zwischen dem Schaffenwollen in der Abwesenheit der Götter und der Anschauung des Tanzes der Götter, der das Universum auslegt. Erst als er verkündet, daß alle Götter tot sind, fordert Zarathustra, daß von nun an der Übermensch lebe, das heißt die Menschheit, die sich selbst zu überwinden versteht. Wie nun überwindet sie sich? Indem sie von allen Dingen, die schon gewesen sind, noch einmal will, daß sie, und zwar durch ihr eigenes Tun, wiederkehren: dies Tun definiert sich als Wille zur Schöpfung und Zarathustra erklärt Wenn es Götter gäbe, was gäbe es dann noch zu schaffen? Doch was treibt den Menschen zur Schöpfung, wenn es nicht das Gesetz der ewigen Wiederkehr ist, dem anzuhängen er sich entschieden hat? Wem hängt er an, wenn nicht einem Leben, das er vergessen hat und das die Offenbarung der ewigen Wiederkehr als Gesetz ihn antreibt noch einmal zu wollen? Und was will er noch einmal, wenn nicht das, was zu wollen er eben jetzt nicht vermeinte: heißt das, daß die Abwesenheit der Götter ihn zur Schöpfung neuer Götter antreibt? Oder will er die Wiederkehr der Zeiten verhindern, in denen er die Götter verehrte? Indem er die Götter noch einmal will, will er den Übergang der Menschen zu einem höheren Leben? Doch wie könnte von nun an ein Leben anders höher sein als dadurch, daß es sich dem zuwendet, was schon einmal war? Wie anders als dadurch, daß es sich zu einem Zustand zurückwendet, in dem es die Götter nicht schaffen, sondern verehren wollte? Und so wird noch einmal deutlich, daß die Lehre von der ewigen Wiederkehr als der bloße Schein und das Bild einer Lehre zu verstehen ist, deren parodistischer Charakter von der Heiterkeit als einem Attribut des sich selbst genügenden Daseins zeugt; denn sei’s, daß die Wahrheit im Lachen der Götter explodiert, sei’s, daß die Götter selber in irrem Gelächter sterben – im Grund der Ganzen Wahrheit erschallt das Gelächter:
Sie haben sich selber einmal zu Tode – gelacht!
Das geschah, als das gottloseste Wort von einem Gotte selber ausging – das Wort: »Es ist ein Gott! Du sollst keinen andern Gott haben neben mir!«
Und alle Götter lachten damals und wackelten auf ihren Stühlen und riefen: »Ist das nicht eben Göttlichkeit, daß es Götter, aber keinen Gott gibt?«
Das Lachen ist hier wie das höchste Bild, die höchste Darstellung des Göttlichen, die die ausgesprochenen Götter wieder verzehrt und sie in einem neuen Gelächter wieder ausspricht; denn wenn sich die Götter totlachen, so werden doch aus diesem Gelächter, das vom Grunde der Wahrheit erschallt, die Götter auch wiedergeboren.
Man muß Zarathustras Abenteuer bis zu seinem Ende folgen, um den Widerruf des Bedürfnisses einer Neuschöpfung gegen die Notwendigkeit zu gewahren, die Denunziation der Solidarität zwischen den drei Kräften der Ewigkeit, der Verehrung und der Schöpfung, den drei Kardinaltugenden bei Nietzsche, und zu sehen, daß der Tod Gottes und der Notstand des gründenden Eros, der Notstand des Verehrungsbedürfnisses identisch sind; ein Notstand, den der Schöpfungswille als sein eigenes Scheitern der Lächerlichkeit preisgibt. Denn wenn es die Niederlage ein und desselben Triebs ist, so ist die Lächerlichkeit, die sie wettmacht, auch der Notwendigkeit der ewigen Wiederkehr einbeschrieben: wie er die ewige Wiederkehr aller Dinge gewollt, so hat Zarathustra sich vorab auch für die Lächerlichkeit seiner eigenen Lehre entschieden, als wäre das Lachen, dieser gründlichste Totschläger, nicht bloß der beste Anstifter, sondern der beste Verächter dieser Lehre; so will die ewige Wiederkehr aller Dinge auch die Wiederkehr der Götter. Welchen anderen Sinn könnte die außerordentliche Parodie des Abendmahls haben, bei dem der Mörder Gottes seinen Kelch dem Esel reicht – der Gestalt der Lästerung des christlichen Gottes zur Zeit der heidnischen Reaktion, aber mehr noch dem heiligen Tier der antiken Mysterien, dem goldenen Esel der Initiation in den Isis-Kult, dem durch sein unermüdliches I-A2 – sein unermüdliches JA zur Wiederkehr aller Dinge – der Darstellung göttlicher Langmut würdigen Tiers, würdig also auch, eine antike Gottheit, Dionysos, den Gott des Weins, zu inkarnieren, wiederauferstanden in allgemeiner Trunkenheit. Und in der Tat, wie der Wanderer und Schatten vor Zarathustra erklärt: Tod ist bei Göttern immer nur ein Vorurteil.