Читать книгу Silex - Jade Tatnon - Страница 4
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Jemand rüttelt mich an der Schulter. Unsanft, hektisch und grob. Und als ich die Augen aufschlage, schaue ich in blaue Augen, die von schwarzen Haarsträhnen in mehrere Teile zerschnitten sind.
„Los. Komm.“
Seine Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern, geht mir aber trotzdem durch Mark und Bein. Die Hand, die er immer noch an meiner Schulter hat, greift kurz gröber zu und im nächsten Augenblick hat er mich aus dem Bett geholt. Meine nackten Füße knallen auf den Holzfußboden und ich versuche mich von ihm loszumachen, aber sein Griff ist zu fest. Ich atme ein, um zu fragen, was er von mir will und wer er eigentlich ist, muss aber sofort husten und genau in dem Moment schießt alles auf mich ein, als würde die Realität mich bombardieren wollen.
„Runter!“ schreit er, seine Hand auf meinem Kopf.
Ich kann kaum was sehen, weil meine Augen so tränen. Mir ist heiß und der Rauch und die Flammen überall machen die Sache auch nicht besser. Er scheint zu wissen, wo es langgeht, wo einigermaßen sichere Wege sind, und zieht mich am Handgelenk hinter sich her. Geduckt laufen wir die Hintertreppe runter, die die früher mal für die Bediensteten gewesen ist.
Ich kann nicht klar denken. Ich weiß: Eigentlich müsste ich Angst haben. Wegen des Feuers. Aber alles, was mir durch den Kopf geht, ist: Was, zum Teufel, machst du da? Der schwarzhaarige Fremde zerrt mich die Treppe runter und ich vertraue ihm. Blindlings. Und ich weiß noch nicht mal, wie er heißt. Geschweige denn, wer er ist. Ich taufe ihn Zeus. Der wusste auch immer, was los war. Der war Göttervater. Der hat sich auch immer genommen, was er wollte. Ja, Emily, der hat die Mädchen und Frauen auch immer einfach entführt. Mir wird ganz anders und ich muss mich am Treppengeländer festhalten.
„Was machst du denn da?“ herrscht Zeus mich an und reißt mich grob am Arm. „Weiter!“
Ich stolpere die Treppe weiter runter und der dunkelhaarige Fremde zerrt mich durch den nächsten Flur. Vorbei an brennenden Türen und Zimmern. Rings um uns herum zerfressen die Flammen alles, was ihnen im Weg steht. Sie machen einfach vor nichts Halt. Teils sind sie so hell, dass ich – trotz dunklem Rauch – nicht in sie reinschauen kann. Hier und da höre ich das Knarzen und Ächzen von Holz. Ab und an höre ich das Krachen, wenn etwas von oben runterkommt. Meine Augen brennen und der Rauch tut mir im Hals und in der Lunge weh. Ich hätte nie gedacht, dass man seine Lunge spüren kann! Hinter uns kommt jetzt was runter. Als ich zurückschaue, sehe ich durch den Tränenschleier, dass der Weg nach oben abgeschnitten ist. Ein brennender Holzbalken ist auf die obersten Treppenstufen gefallen und blockiert den Weg. Warum ist die verdammte Schule aus so viel Holz gebaut? Steine gibt es auch, ja, massig, aber überall ist Holz. Mindestens doppelt so viel wie Stein. Ich muss husten, aber der Zeus-Typ zieht mich einfach weiter.
Als wir etwa die Hälfte der Treppe hinunter uns gelassen haben – immer geduckt an der Wand entlang laufend – da höre ich sie das erste Mal. Ich bleibe stehen und sofort geht ein kräftiger Ruck durch meinen Arm.
„Komm!“
In seinen Augen, die wahrscheinlich wegen dem wenigen Licht jetzt fast schwarz aussehen, spiegeln sich die Flammen und er wirkt alles andere als froh darüber, dass ich stehengeblieben bin. Warum muss er eigentlich nicht husten?, schießt es mir durch den Kopf. Seine Augen tränen auch, sehe ich, aber der Qualm und die Flammen scheinen ihm (fast) nichts anhaben zu können.
„Aber die anderen!“
„Die sind egal“, sagt er, zieht sein Shirt über Mund und Nase und setzt seinen Weg fort, mich nicht gerade sanft hinter sich herziehend. „Und. Jetzt. Komm. Endlich.“
„Nein! Nein, halt!“ brülle ich und versuche ihn in die andere Richtung zu zerren. Zurück zu den Schreien hinter uns. Aber er schleift mich weiter. „Die anderen! Wir müssen zurück!“
Er schaut sich noch nicht mal mehr zu mir um, sondern zieht mich einfach weiter. Immer weiter. Ich versuche seine Hand von meinem Handgelenk zu lösen, aber sein Griff ist wie aus Eisen. Weil das nicht geht und ich seine Finger einfach nicht von meinem Handgelenk lösen kann, versuche ich mich am Treppengeländer festzuhalten – die Schreie gellen panisch hinter uns her und trotz der Hitze läuft es mir eiskalt den Rücken runter – aber er reißt mich einfach weiter. Er ist so viel stärker als ich, es ist zwecklos. Und so zerrt er mich Etage für Etage weiter nach unten.
„Bitte“, flehe ich. „Wir könnten die doch hier nicht bei lebendigem Leibe verbrennen lassen!“
Aber er wirft mir nur einen Blick über die Schulter zu und macht keinerlei Anstalten sein Tempo zu verringern, geschweige denn stehen zu bleiben. Die Treppe haben wir schon hinter uns gelassen und ich versuche mich am nächsten Türrahmen festzuhalten – bei dem ob der Hitze die Farbe Blasen geschlagen hat und meine Hände verbrennt – aber es ist aussichtslos. Er zerrt mich weiter. Immer weiter und weiter. Der großen Eingangstür entgegen. Die Tapete, die sich mittlerweile von den Wänden kräuselt und zu schmoren begonnen hat, hilft mir auch nicht weiter. Ich höre das Schreien nicht mehr. Jedenfalls nicht mehr so laut wie eben noch. Doch dann kreischt über uns plötzlich jemand auf und ich bleibe stocksteif stehen. Es klingt nach ungeheurer Pein und unglaublicher Panik. Ein Ruck an meinem Handgelenk und ich bin wieder in Bewegung.
„Aber wir müssen-“ setze ich erneut an, werde aber von einem herabstürzenden Balken unterbrochen.
Ehe ich überhaupt realisiert habe, dass das Ding unmittelbar auf uns zuhält, hat mein Begleiter mich auch schon aus der Schusslinie gezogen, zu Boden gedrückt und an sich herangerissen. Wir knien am Boden, er schützend über mir und das Ding schlägt keinen ganzen Meter neben uns ein und besprüht uns mit Funken und kleinen glühenden Holzsplittern. Ich schreie kurz auf als Teile davon meinen linken Arm verbrennen. Er allerdings sagt gar nichts, obwohl er den Großteil der Fuhre abbekommen haben muss. Doch dann… Ich habe nur meine 3/4–Pyjama-Hose und mein Tanktop an. Klar, dass die Funken bei mir da mehr Schaden anrichten als bei ihm. Er hat… Oh mein Gott, stelle ich fest, als ich ihn das erste Mal sehe. So richtig sehe, meine ich. Zeus ist Gardist! Realisiere, was er da eigentlich trägt. Dass sein Outfit dann auch noch komplett schwarz ist. Zeus ist Sentinel?, rattert es ehrfürchtig in meinem Kopf.
„Alles okay?“ höre ich seine besorgte Stimme an meinem Ohr und im nächsten Augenblick taucht sein Gesicht vor mir auf, als er mich bei den Oberarmen nimmt und mich ein wenig von sich wegschiebt.
Er ist glatt rasiert, sehe ich, und seine dunklen Haare reichen ihm bis unters Kinn. Er mag gut 10, 15 Jahre älter sein als ich. Seine Augen, die wegen der Dunkelheit immer noch grau-schwarz sind – vielleicht habe ich mich auch getäuscht und sie sind gar nicht blau? – fliegen über mein Gesicht, so als könnte er da Antworten finden. Ich bringe es nicht fertig, was zu sagen. Hätte er mich nicht weggezogen und sich über mich geworfen, würde ich jetzt unter dem brennenden Balken da drüben liegen!
„Na komm.“
Er weiß wohl, dass ich ihm eine Antwort schuldig bleiben werde und rappelt sich stattdessen wieder auf, mich immer noch am linken Oberarm haltend, so dass er mich mit sich hoch zieht. Das Kreischen von oben ist verhallt, dafür sind die Hilfeschreie jetzt aus einem anderen Teil des brennenden Gebäudes zu hören. Ich versuche noch ein letztes Mal mich von ihm loszumachen, stehen zu bleiben, umzukehren, meinen Freunden und Mitschülern zu Hilfe zu eilen, aber er lässt es nicht zu. Er prescht in die Empfangshalle und hält unmittelbar auf die große Flügeltür zu. Von draußen in der Ferne drängt das Plärren von Feuerwehrsirenen an mein Ohr. Aber die werden zu spät kommen. Viel zu spät. Die sind noch viel zu weit weg. Es ist keiner außer uns in den Gängen gewesen. Das Feuer hat uns alle im Schlaf überrascht. Und wenn der schwarzhaarige Fremde Zeus-Typ nicht aufgetaucht wär und mich aus dem Schlaf gerissen hätte, dann wäre ich jetzt auch noch da oben.
Er wirft sich mit der Schulter gegen das riesige Eingangstor, das nachts immer verschlossen ist, und im nächsten Augenblick sind wir auch schon draußen. Ich nehme einen tiefen Atemzug und die kalte, frische Luft brennt höllisch in meiner vom Qualm gereizten Lunge. Die umliegenden Bäume und Sträucher werfen verzerrte Schatten und das Feuer taucht ihre Äste in ein warmes, tanzendes Licht. Über das verzehrende Geräusch des Feuers und in das Geheul der Sirenen mischt sich jetzt auch das Rattern von Helikopter-Rotorblättern, aber weder die Löschfahrzeuge, noch die Hubschrauber sind zu sehen. Auf dem Boden verstreut liegen immer noch die ganzen zerbrochenen Ziegel von dem Sturm gestern. Die Bäume haben sie schon wieder hergerichtet, so dass keine mehr umgestürzt oder abgeknickt sind. Nur hier und da liegen noch ein paar abgerissene Äste. Doch um die Ziegelsteine hat sich wohl keiner gekümmert. Ich werfe einen Blick zurück auf das brennende Gebäude und als ich dieses Mal stehenbleibe, lässt mein Begleiter es kurz zu.
Oh mein Gott, denke ich noch, während meine Knie anfangen zu zittern. Es ist schlimmer als ich erwartet habe. Viel schlimmer! Das gesamte Internat brennt lichterloh. Selbst der kleine Anbau. Rauch und Flammen steigen in den dunklen Nachthimmel empor und hier und da hört man noch das Schreien der Brandopfer. In ihrer Panik springen manche aus den Fenstern. Aus dem fünften Stock! Unsere Schlafräume liegen allesamt im fünften Stock, so dass man sich nachts nicht aus den Fenstern davonschleichen kann. Sie können den Sturz nicht überleben. Unmöglich.
Zeus zieht mich weiter fort, während ich die vom Feuer hell erleuchtete Häuserfront absuche. Bald sind wir so weit weg, dass ich in die oberen Fenster gucken kann. Und meine Augen nehmen plötzlich eine Gestalt wahr, die-
Oh mein Gott!, durchfährt es mich. Isabel!
Der Gedanke ist noch nicht ganz zu Ende gedacht, da setzt sich mein Körper auch schon von allein in Bewegung. Und prompt schließt sich die Hand des Fremden schmerzhaft um mein Handgelenk. Er schleudert mich zu sich herum, so dass ich in ihn hinein pralle. Das Garde-Buch! Shit! Die denken, sie hat… Mir wird ganz übel bei dem Gedanken. Zeus Hand hat mein Handgelenk losgelassen, liegt jetzt stattdessen auf meinem Rücken und als ich meine Hände gegen seine Brust stemme und versuche, von ihm wegzukommen, da lässt er es nicht zu. Aber sie weiß doch gar nichts! Ich hab ihr nichts von uns erzählt! Sie denkt doch nur, das ist ein Märchen! Ich hab ihr das Buch nicht gegeben, ehrlich!
„Aber Isabel!“ Über mein eigenes Geschrei und den Höllenlärm des Feuers meine ich ihre Schreie zu hören. Aber vielleicht ist es auch nur Einbildung. „Wir müssen zurück! Wir müssen-“
„Bist du wahnsinnig?“ fährt Zeus mich leise an und dreht mich um, so dass meine Rückseite an seine Vorderseite gepresst ist und ich wieder das brennende Internat vor mir sehe. Meine Augen finden Isabels Zimmerfenster sofort wieder. Das Zimmer, in dem ich eben noch geschlafen habe. Warum, um Himmelswillen, haben Sie nur `mich´ geweckt?, fahre ich Zeus in Gedanken an, kann mich aber von dem Anblick vor mir nicht lösen. „Wir können da nicht wieder rein!“
Zu dem Rauch in dem Zimmer – wahrscheinlich ist er unter der geschlossenen Tür durchgekrochen – haben sich die ersten Flammen gesellt. Sie tritt zurück, unmittelbar auf das Fenster zu, mit dem Rücken zu uns. Sie weiß nichts! Ehrlich!, beteure ich in meinem Kopf. Bis jetzt habe ich immer angenommen, die Garde zitiert Profane, die verbotener Weise über unsere Existenz und unsere Fähigkeiten Bescheid wissen, zur Garde-Hochburg, dem St. Michaels. Dort entscheidet dann der Großmeister, was mit ihnen passiert. In welche Kolonie sie gesteckt werden. Dass sie nicht in die Profane Welt zurück dürfen, ist mir klar. Aber die können doch nicht gleich das ganze Internat abfackeln! Die können Isabel doch nicht-
„Da kommt jetzt keiner mehr lebend raus“, spricht Zeus weiter, mir unmittelbar ins Ohr, während seine Hände meine Arme festhalten und mich an seinen Körper drücken.
Die Flammen lecken nach meiner besten Freundin. Sie fährt herum. Ihre Hand am Fenstergriff. Doch es lässt sich nicht öffnen. Warum, zum Teufel, lässt sich das verdammte Ding nicht öffnen? Doch selbst wenn… Einen Sturz aus dem fünften Stock würde sie eh nicht überleben. Genauso wenig wie alle anderen, die es vor ihr versucht haben.
„Lass das!“ fährt Zeus mich an und seine Arme pressen mich noch fester an ihn. Ich habe nicht mal mitbekommen, dass ich versucht habe, mich von ihm loszumachen.
Meine komplette Aufmerksamkeit gilt nur Isabel. Die Flammen haben nach ihr gegriffen und sie schlägt mit der Hand auf ihrem Körper herum. Aber das hilft nicht.
„Emily, du kannst da nicht wieder rein!“ Sie fängt an zu husten. Ihre Hände schlagen vergebens. Sie ist am Keuchen. Taumelt zurück. Vergeblich. Ihr ganzer Körper geht plötzlich in Flammen auf. „Emily!“
Seine Stimme brüllt mir ins Ohr und seine Arme sind wie Schraubzwingen. Er hat sie um mich gelegt, um mich unter Kontrolle zu halten. Ich bekomme keine Luft mehr. Ich muss ihr doch helfen. Ich bin Gardist – wenn auch nur einer in Ausbildung. Sie ist eine Profane. Ich muss zu ihr. Wer sonst soll ihr denn helfen? Sie schreit wie am Spieß. Es ist grauenvoll – auch wenn mein Gehirn mir wahrscheinlich nur vorgaukelt, dass ich ihre Schreie höre. Es ist eigentlich unmöglich auch nur irgendetwas über das Getöse des Feuers hinweg zu hören. Aber ich sehe es. Sehe, wie sie kämpft. Wie sie sich vor Schmerzen krümmt und vergeblich gegen die Flammen ankämpft.
Du bist Gardist, um Himmelswillen!, schreit es in meinem Kopf. Es ist deine Aufgabe ihr das Leben zu retten! Also stemme ich mich mit aller Macht gegen die Hände, die mich festhalten. Gegen die Arme, die er um mich gelegt hat. Ich höre den keuchenden Atem des schwarzhaarigen Fremden hinter, beziehungsweise über mir. Schlage nach ihm, als ich meine Arme wieder frei habe. Versuche mich von ihm loszureißen. Aber es bringt alles nichts. Ich schaffe es keinen ganzen Meter vorwärts. Isabels Schreie sind verklungen und ich kann sie nicht mehr sehen. Adrenalin und die Angst um meine Freundin verleihen mir jedoch so viel Kraft, dass mein Aufbäumen seinen eisernen Griff etwas lockert. Damit hat er wohl nicht gerechnet. Ich nutze den Überraschungsmoment und mit einem weiteren Ruck durchbreche ich die Mauer, die seine Arme um mich gebaut haben. Doch anscheinend hat er seine Arme nur gelockert, um mich anderswo festzuhalten, denn sofort werde ich von hinten gegriffen, herumgewirbelt und stehe unmittelbar vor ihm. Er sagt was. Schreit es regelrecht. Sein Gesicht ist verzerrt, seine Augen sind zu Schlitzen geworden, aber ich höre ihn nicht. In meinen Ohren gellt nur immer und immer wieder Isabels Schreien.
Jetzt
Ich schreckte klatschnass und zitternd aus dem Schlaf auf und es dauerte einen Moment, bis ich mich orientiert hatte. Bis ich wieder wusste, wo ich war. Die Brückenpfeiler um mich herum waren wieder da. Der Schein der Straßenlampe in der Entfernung. Das Plätschern des Wassers vor mir. Der Wind, der unter der Brücke hindurch fegte. Mir fröstelte und ich zog meine Jacke und die Decke enger um meinen Körper. Aber der Schock, die Erinnerungen, saßen noch zu tief in meinen Knochen und mir war keinesfalls nur wegen des eisigen Windes kalt.
„Hey“, hauchte Chase mit schlaftrunkener Stimme und rieb sich über die Augen.
Er musste in der Nacht wohl von mir abgerückt sein – mir wurde ganz warm, als ich daran dachte, wie wir eingeschlafen waren. Wie nah er mir gewesen war. Sein Atem auf meinem Haar, als er mir „Gute Nacht“ gewünscht hatte.
„Sorry, “ wisperte ich und senkte den Kopf, so dass ich mein glühendes Gesicht hinter meinen Haaren verbergen konnte, „ich… ich wollte dich nicht wecken.“
Er presste nur die Lippen aufeinander und richtete sich auf, jetzt schon nicht mehr so schläfrig.
„Albtraum?“
Albtraum? Nein, so konnte man es nun wirklich nicht nennen. Es waren Erinnerungen, die mich plagten. So echt und in Farbe, wie nur der Silex sie hat. Ich fühlte mich wieder genauso übermannt wie damals, als es das erste Mal passiert war. Damals, nach Chases Autounfall. Und dabei war ich doch besser geworden. Also, darin, dass ich entschied, wann ich in meine Erinnerungen eintauchte, wann ich mich mit ihnen beschäftigte und nicht so von ihnen heimgesucht wurde, wie sie es gerade mal wieder getan hatten. Aber ich war wohl so fertig, dass sie doch einen Weg in meinen Kopf gefunden hatten.
Er atmete hörbar durch die Nase aus, nicht angepisst – Gott sei Dank! Es war noch nicht lange her, da hatte er mich zum Teufel gewünscht! – sondern mitfühlend und ich senkte meinen Kopf, um mir meine Haare erneut vors Gesicht fallen zu lassen.
„Hey“, machte er leise und ich hörte, wie er zu mir heran rutschte, „ist okay. Sh, ist okay.“
Wie Matt, dachte ich, während Chase von hinten seine Arme um mich legte und mich an sich heranzog. Manchmal, da erinnert er mich echt an Matt. Und wieder einmal fragte ich mich, wie oft Matt ihn wohl genauso im Arm gehalten und genau das zu ihm gesagt hatte, als er noch jünger gewesen war. Ich fühlte mich besser, so in seinen Armen. So, als sei ich nicht mehr ganz allein. So, als sei jemand an meiner Seite. Ich lehnte meinen Oberkörper gegen seinen und er küsste er mich auf die Schläfe.
Fang jetzt nicht an zu heulen, Em! Fang jetzt bloß nicht an zu heulen! Es kostete mich echt einiges an Überwindung nicht hier an Ort und Stelle in tausend Teile zu zerbrechen und den Tränen und der Hoffnungslosigkeit und meiner Angst freien Lauf zu lassen.
Damals
Er schüttelt mich, aber alles was ich will, ist von ihm wegzukommen. Isabel zur Hilfe zu eilen. Sie liegt am Boden. Wahrscheinlich ohnmächtig. Ich muss da wieder rein, verdammt! Ich muss sie da rausholen. Das ist alles meine Schuld! Die denken, ich hab ihr das Buch über uns gegeben! Ich muss-
Ein Schmerz schießt durch meine rechte Wange und es dauert einen Augenblick, bis ich verstehe, wo er hergekommen ist. Zeus hat mit dem Brüllen aufgehört, atmet aber noch in heftigen Schüben, so dass sich seine Nasenflügel blähen. Seine linke Hand hält immer noch krampfhaft meinen Oberarm fest, doch mit der rechten hält er mich nicht mehr.
„Du kannst ihr nicht mehr helfen“, sagt er bitter und es ist irgendwie sonderbar final.
Sämtliche Hoffnung, die ich eben noch gehabt habe, ist dahin. Ich fühle mich kalt und leer und am liebsten würde ich mich einfach hier an Ort und Stelle auf dem Boden niederlassen. Mich zusammenkauern und anfangen zu heulen.
„Komm.“
Sein Griff um meinen Arm wird fester, als er sich in Bewegung setzt. Innerlich taub folge ich ihm wie in Trance, als er sich von dem brennenden Internat wegbewegt. Sein Griff wird lockerer, als er merkt, dass ich mich nicht mehr wehre. Aus dem Augenwinkel sehe ich die Lichter der Feuerwehr die Allee hinaufeilen. Zu spät. Viel zu spät. Keiner mehr da, den ihr retten könnt.
„Emily?“ dringt Zeus Stimme fast sanft zu mir durch.
Er presst die Lippen aufeinander, so dass oberhalb seines rechten Mundwinkels ein Grübchen erscheint und nickt mit dem Kopf. Weg vom Internat. Aber ich sehe ihn kaum. Nicht wirklich. Ich sehe nur immer und immer wieder Isabel vor mir. Wie sie in Flammen steht. Ich höre ihre Schreie. Es geht einfach nicht mehr weg.
***
Es war hell draußen, stellte ich durch noch geschlossene Augenlider fest, und es roch anders. Waldig. Nach Tanne. Ich hörte auch keine Stadtgeräusche mehr. Und vor allem keine Schreie. Kein Feuer.
„Hey.“
Der Zeus-Typ klang besorgt und erleichtert zugleich. Ich hörte das Rascheln seiner Kleidung und dann den Klang seiner Schritte auf dem Boden, als er zu mir herüber kam. Ich schlug die Augen auf und wieder einmal schwebten seine blauen Augen über mir. Wieder zerschnitten von schwarzen Haarsträhnen, die ihm ins Gesicht gefallen waren. Er hatte einen leichten Bart, fiel mir auf. Über der Oberlippe und am Kinn. Ein Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln und oberhalb seines Mundes, in der Falte, die sich von seiner Nase zu seinem rechten Mundwinkel zog, bildete sich eine Art Grübchen. Dann, als sein Lächeln breiter wurde, bildeten sich auch noch welche in seinen Wangen. Ich wusste nicht, warum zum Teufel ihm nach Lächeln zu Mute war. Mir war es das jedenfalls nicht. Mein Haar, meine ganze Kleidung roch immer noch nach Rauch und prompt kamen die Erinnerungen zurück. Das Geschrei. Die Panik. Die Leute, die aus dem fünften Stock sprangen. Isabel! Das Buch mit den Garde-Geschichten! Mir wurde schlagartig übel und er konnte gerade noch zurückspringen, bevor mein Abendessen von gestern sich über seine Schuhe ergoss.
***
Meine Kehle war geschwollen. Mir war kalt. Mein Gesicht brannte – wahrscheinlich von dem Salz meiner Tränen. Das Licht von draußen war jetzt anders. Es musste später sein. Ich machte die Augen auf und versuchte die Übelkeit, die wieder aufkam, zu unterdrücken. Ich richtete mich vorsichtig auf, bis ich auf meinen Unterarmen lehnte und sah mich um. Das Zimmer war hell – Holz, das mit weißer Farbe gestrichen war – und das Sonnenlicht, das durch die Äste der nahestehenden Bäume fiel, tanzte auf der Kommode und den hellen Wänden. Und sofort musste ich an die Flammen denken, die ebenfalls ein Spiel aus Licht und Schatten auf die Bäume und Büsche vor der Schule gezeichnet hatten. Ich schloss die Augen, um die Bilder nicht mehr sehen zu müssen. Aber das half nicht, weil sie sich so sehr in mein Gehirn eingebrannt hatten, dass sie jetzt ganz deutlich auf meinen dunkelroten Augenlidern zu sehen waren. Wie mein eigener kleiner Kinofilm. Untermalt mit den dazugehörigen Geräuschen.
„Emily?“
Ich öffnete die Augen mit einem Ruck und drehte den Kopf. Zeus lehnte angespannt in der Tür und musterte mich, ich hatte ihn nicht mal kommen hören. Es sah fast so aus, als überlege er, ob es sicher war zu mir zu kommen. Ich schluckte noch einmal – was nicht sonderlich viel gegen die Übelkeit machte – und richtete mich zum vollständigen Sitzen auf. Er löste sich jetzt doch von der Tür und kam langsam auf mich zu. Seine hellen Augen musterten mich wie Röntgenstrahlen und ich wandte den Blick ab.
„Wie geht es dir?“ wollte er dann schließlich wissen, als er bei mir angekommen war.
Das Bett ruckelte etwas, als er sich neben meinen Beinen niederließ. Mir war schwindelig, innen drin fühlte ich mich immer noch taub an und mir war übel.
Aber anstatt ihm das zu sagen, fragte ich: „Woher kennen Sie meinen Namen?“
Wieder einmal spielte dieses Lächeln um seinen Mund herum. Das, das dieses Grübchen entstehen ließ.
„Wer weiß denn nicht“, meinte er schulterzuckend – doch es war ziemlich offensichtlich, dass er die Unbekümmertheit nur spielte. „Und nenn mich Matt. Bitte.“
Er lächelte mir aufmunternd zu und ich wusste nicht genau, was ich machen sollte. Ich presste kurz die Lippen aufeinander, nickte, so dass mir das Zimmer vor den Augen tanzte und wisperte ein „Danke“.
„Mh“, brummte er und das Lächeln verschwand, als er anfing mich zu begutachten. „Du siehst reichlich blass aus“, stellte er schließlich fest.
„Nein, alles okay.“
Doch das letzte Wort starb mir auf der Zunge, als er hinter sich griff und einen Teller mit geschnittenen Äpfeln und einem Brötchen darauf zum Vorschein brachte. Ich hatte keine Ahnung, wo er den jetzt so plötzlich hergezaubert hatte. Aber genau genommen war es auch egal, weil sich mir augenblicklich der Magen umdrehte und mir noch schlechter wurde als mir eh schon war. Ich wandte den Kopf ab und versuchte die Übelkeit runterzuschlucken. Was nicht sonderlich gut funktionierte.
„Hier komm, iss was“, forderte er mich freundlich auf und hielt mir den Teller direkt vor die Brust. Ich schüttelte nur den Kopf, was die Sache mit dem Schwindel nicht besser machte. „Hey, nun komm schon.“
Seine Stimme klang lächelnd, freundlich, doch unterschwellig konnte ich ganz genau hören, dass ihn mein Verhalten nervte. Er war es anscheinend nicht gewohnt, dass man nicht das tat, was er sagte. Was, genau genommen, kein Wunder war. Er musste seine Ausbildung vor mindestens 10 Jahren – eher noch mehr – abgeschlossen haben. Ich hatte zu meiner anfänglichen Altersschätzung Abstand genommen und schätzte ihn jetzt auf so 30. Also doppelt so alt wie ich. Nicht, dass er Falten hatte oder so was. Er wirkte nur so… Weiß nicht, erwachsen irgendwie. So, als hätte er eben die Lebenserfahrung, die man mit 25 noch nicht hat. Deswegen 15 Jahre mehr und nicht nur 10. Und wenn er die Ausbildung mit 18 abgeschlossen hatte, so wie es normal für unsereins war, dann gehörte er seit ca. 12 Jahren der Garde an. Und man widerspricht einem Gardisten nun einmal nicht. Egal, ob es ein Steward, ein Spotter oder aber gar ein Sentinel ist.
Jeder in unserer Gesellschaft will Sentinel werden. Das sind die Besten und es werden auch nur die Besten genommen. Spotter zu werden ist auch ganz okay. Man ist auch draußen und spottet eben, wo Gefahr besteht. Aber die, die dann dagegen angehen, das sind eben die Sentinel. Nicht die Spotter. Die unterste Kategorie sind die Stewards. Die sitzen den ganzen Tag lang nur auf ihren vier Buchstaben, sehen Akten durch und stellen sicher, dass alles seine Richtigkeit hat.
Ich wette, er ist Sentinel. Der Gedanke war aufregend und mir schoss das Blut ins Gesicht. Ein Sentinel, der gekommen war, um mich zu retten. Ein Sentinel springt ins lichterloh brennende Internat, um ausgerechnet mich da raus zu holen. Und es war wirklich ziemlich offensichtlich, dass er Sentinel war, da war ich mir ziemlich sicher. Das konnte man schon alleine daran erkennen, wie er sich gab. Von sich überzeugt, immer eine Art Befehlston auf den Lippen – jedenfalls, wenn es darum ging, dass etwas gemacht werden sollte. Und natürlich sein Körperbau. Auch ganz offensichtlich. Athletisch, aber auch mit einer Spur von Feingliedrigkeit. Und dann waren da noch seine Reaktionen. Die waren ebenfalls die eines Sentinels. Obwohl… Alle von uns hatten solche Reaktionen. Das war uns angeboren. Genauso wie die Möglichkeit, die Elemente zu befehligen.
Eigentlich sollen natürlich alle drei – Sentinel, Spotter und Stewards – gleichgestellt sein, aber das ist eben nur theoretisch so. Jeder weiß, dass die Sentinel inoffiziell ganz oben stehen. Fast gleichauf mit unserem Großmeister. Und ist der dann auch noch ein Sentinel, dann olala!
Doch selbst um Steward zu werden, musste man so einiges mitbringen. Man musste nicht nur alle vier Elemente befehligen können, sondern auch akademisch richtig was auf dem Kasten haben. Und wer keine vier Elemente hat, tja, für den heißt es Adieu, Garde. Als Unter-Niveau-Gardist hängt man irgendwie dazwischen. Die Garde will nichts mehr mit einem zu tun haben und in die Welt der Profanen passt man auch nicht, weil man ja über alles Bescheid weiß. Für solche Leute gibt es die Kolonien.
Und wenn man, was echt ganz, ganz selten vorkommt, aus irgendeinem Grund was extrem Bescheuertes anstellt und die Garde einem nicht mehr länger vertraut, dann wird man Deaktiviert. Das ist noch schlimmer als einfach nur so als Unter-Niveau-Gardist in eine der Kolonien verbannt zu werden. Wenn du Deaktiviert wirst, dann werden dir deine Fähigkeiten genommen. Danach wirst du dann trotzdem in die Kolonie gesteckt, weil a) die Garde nichts mehr mit dir zu tun haben will, aber natürlich immer noch ein Auge auf dich haben muss, weil du ja b) unsere Existenz nicht an die Profanen verraten darfst. In die Welt der Profanen hättest du dich eh nicht richtig einleben können. Du weißt eben zu viel. Du passt da nicht rein. Genauso wenig wie die Profanen, die verbotener Weise über uns Bescheid wissen. Die ereilt dasselbe Schicksal. So wie Isabel. Wie es hätte sein sollen. Die hätten sie doch nicht gleich umbringen müssen. Und alle anderen mit ihr! Die hätten sie doch einfach nur-
„Emily.“
Okay, jetzt war es dahin. Das letzte Bisschen Zweifel, dass der Fremde nicht doch vielleicht etwas anderes als ein Sentinel sein konnte. Nur ein Sentinel konnte in einem einzigen Wort eine solche Dringlichkeit, Schärfe und Befehlsgewalt unterbringen. Die waren es nicht anders gewohnt, als dass alles nach ihren Wünschen und Launen sprang. Okay, vielleicht doch nicht so gut, dass er Sentinel ist. Der macht Kleinholz aus dir, wenn du nicht spurst!
„Mh-mh“, versuchte ich es trotzdem und schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf. „Sie wusste nichts, echt nicht“, sprudelte es aus mir heraus, bevor ich mich zurückhalten konnte. „Und das mit dem Buch, das war ich nicht.“
„Welches Buch?“
„Nichts,“ murmelte ich, nur um keine schlafenden Hunde zu wecken.
Dann ist das alles vielleicht doch nicht `deswegen´ gewesen? Und Isabel ist doch gar nicht `deswegen´ gestorben? Ich verstand nur noch Bahnhof. Zeus/Matt holte mich dann aber wieder ins Hier und Jetzt zurück, als er den Teller direkt unter meine Nase hielt. Oh Gott, bitte, nehmen Sie das verdammte Ding da weg! Ich hörte ihn durch die Nase ausatmen und hörte mehr als dass ich es wirklich sah, wie er den Teller wirklich wieder wegstellte. Ich wagte einen Blick zu ihm, doch er starrte, nachdem er den Teller weggestellt hatte, aus dem Fenster, so als müsste er erst mal die in ihm aufkeimende Wut drosseln.
Ach komm Em, jetzt komm mal wieder runter. Sentinel hin oder her. Der hat gar keinen Grund sauer auf dich zu sein. Jedenfalls redete ich mir das ein und hoffte – inständig! – dass ich damit Recht behielt. Hoffentlich war das, was da gerade in ihm hochkochte, eher vergleichbar mit einer gewissen Anspannung. Vielleicht nur genervte Irritation, weil ich nicht parierte. Egal, auf jeden Fall war das, was mir ins Auge stach, eher die Tatsache, dass er ein überaus hübsches Profil hatte. Als er dann allerdings den Kopf wieder zu mir herumfahren ließ, starrte ich schnell auf meine Hände, die ich in der Bettdecke verkrampft hatte. Er schien mich non-verbal für mein bescheuertes Verhalten rügen zu wollen, denn ich spürte seinen missbilligenden Blick echt ganz deutlich auf mir. Ich hörte ihn genervt durch die Nase ausatmen, dann nahm er endlich den Blick von mir und langte wieder hinter sich.
„Dann trink wenigstens was.“
Er klang gereizt und weil ich Angst hatte ihn gänzlich wütend auf mich zu machen, nahm ich ihm – ohne ihn dabei anzuschauen – das Glas aus der Hand. Ich konnte ja nichts dazu. Ich hatte ihn noch nicht mal angelogen. Ich hätte wirklich keinen einzigen Bissen runter bekommen. Und die Aktion mit dem Abendessen brauchte ich garantiert nicht noch einmal. Das Glas zitterte in meiner Hand und das Wasser darin schwappte hin und her. Ich nahm auch noch meine andere Hand zur Hilfe, aber das machte es irgendwie auch nicht besser. Und die Tatsache, dass jetzt auch noch die Bettdecke von meinem Oberkörper rutschte, machte alles nur noch schlimmer. Der Geruch von Rauch stieg mir in die Nase. Umhüllte meinen Kopf ganz und gar. Er klebte in meinem Pyjama, in meinen Haaren. Und sofort waren die Schreie wieder da. Isabel, wie sie in Flammen aufging.
„Hey,“ rief Zeus/Matt und im nächsten Moment hatte sich seine Hand um meine beiden Hände und das Glas geschlossen, sonst wäre das Wasser garantiert auf der Bettdecke gelandet. „Man, pass doch auf! Was machst du denn da?“
Sein Mund war zu einem einzigen dünnen, hellen Strich geworden und seine Augen funkelten mich zornig an. Er nahm vermutlich an, dass ich es mit Absicht getan hatte. Seine Nasenlöcher blähten sich auf und ich wollte den Blick von seinem Gesicht nehmen, konnte es aber irgendwie nicht. Also starrte ich ihn nur an, während mir die Tränen über das Gesicht liefen und ich wieder Isabel vor mir sah, wie die Flammen sie auffraßen. Ich sah ihn zwar, sah aber irgendwie durch ihn hindurch und das Bild von seinem angespannten, wütenden Gesicht vermischte sich mit Isabel.
„Emily?“
Seine Augen flogen hin und her und er duckte sich etwas, so dass er mir direkt in die Augen sehen konnte. Aber alles was ich sah, war Isabel. Er war nur ein Transparent, auf dem das alles abgespielt wurde. Ich spürte undeutlich, wie er meine verkrampften Finger von dem Glas zu lösen versuchte, aber es war schon zu spät. Ich war so in Panik, dass das Ding zersprang und ein Regen aus Wasser und Glas auf die Bettdecke niederging.
Der Fremde schnalzte gereizt mit der Zunge und fluchte kurz etwas, was ich nicht verstand, während sich meine Hände immer noch um das nicht mehr vorhandene Glas klammerten. Ein Stechen fuhr mir plötzlich durch die rechte Hand und gleich darauf lief mir etwas Warmes über die Handfläche und durch die Finger hindurch und tropfte auf die Bettdecke runter, wo es sich zu dem Wasser und den restlichen Scherben gesellte.
„Scheiße“, hörte ich den Fremden murmeln und das Transparent ruckelte, als er sich erhob, um mich besser an den Handgelenken fassen zu können. „Emily“, hörte ich seine Stimme wie von ganz weit weg, während Isabel mittlerweile angefangen hatte sich auf die Hosenbeine zu schlagen.
„Wir müssen ihr helfen“, rief ich panisch und sprang auf, Scherben und Wasser und Blut im ganzen Raum verteilend. Ich spürte seine Hand um meinen Arm, als er versuchte mich zurückzuhalten. „Wir… Wir müssen zurück ins Haus!“ Er hatte mich bei den Schultern zu fassen bekommen, schüttelte mich und seine Lippen bewegten sich, aber ich hörte nicht, was er sagte. „Sie braucht unsere Hilfe! Wir müssen-“
Jetzt
„Em! Emily!“ Matts Rufe vermischten sich mit denen von Chase, als er mich an den Schultern rüttelte. „Em, wach auf!“
„Sorry, ich…“
Tränen liefen mir über das Gesicht und meine Kehle war wie zugeschnürt.
„Shhht, ist okay“, murmelte Chase und drückte mich an sich.
Ich musste in seinen Armen wieder eingeschlafen sein, nur so konnte ich mir erklären, wie meine Erinnerung ungefragt und alles andere als willkommen wieder mal zu mir durchgedrungen sein konnten. Eigentlich hätten diese hier es auch gar nicht gedurft. Matt hatte sie mir genommen. Also, die dazugehörigen Emotionen. Aber das war wohl hinfällig geworden. Keiner konnte mich zu irgendetwas zwingen. Keiner konnte mich oder meine Gedanken gefügig machen. Keiner außer er. Ich war der Silex. Und er war es ebenfalls.
„Na komm“, murmelte Chase, nachdem ich mich einigermaßen wieder gefangen hatte und erhob sich. „Die Sonne geht bald auf. Wir haben schon viel zu lange Pause gemacht.“
Er hielt mir die Hand hin und zog mich hoch, als ich die meine in seine legte. Dann widmete er sich seiner Decke und legte sie zusammen und übernahm anschließend auch noch das Zusammenlegen von meiner, weil ich nur wie Falschgeld in der Gegend herumstand. Er stopfte sie in unsere Rucksäcke, während ich meinen Blick verloren durch die Gegend schweifen ließ.
„Hey, aufwachen, Dornröschen, die hundert Jahre sind vorbei“, neckte er mich und hielt mir meinen Rucksack entgegen.
Ein schiefes Lächeln hatte sich auf sein Gesicht gelegt, sah ich, doch in seinen Augen spiegelte sich Sorge und ich konnte ihm seine Anspannung ganz deutlich ansehen.
„Danke“, murmelte ich. „Sorry.“
„Hör auf, dich andauernd zu entschuldigen. Du kannst ja nichts dafür.“ Dass ich der bescheuerte Silex bin? Nein, wahrscheinlich nicht. Aber eigentlich war das Sorry dafür, dass du unser Lager grad ganz allein aufgeräumt hast. Aber egal… „Na komm“, meinte er dann und kletterte den Abhang hoch, der wieder zurück zur Straße führte.
Ich folgte ihm und blickte mich dann doch noch mal um. Es war das erste Mal in meinem Leben gewesen, dass ich eine Nacht unter einer Brücke verbracht hatte. Wie so eine Obdachlose.
Ts, du `bist´ jetzt eine Obdachlose, stellte ich mit bitterem Beigeschmack fest und wandte der Brücke den Rücken zu. So, als könnte es das wieder besser machen. Chase hatte die Straße schon erreicht und wartete auf mich. Er stand da, Hände leger in den Jackentaschen, aber ich ließ mich nicht davon täuschen. Wir waren auf der Flucht und das wusste er genauso gut wie ich.
Er setzte sich wieder in Bewegung, als ich zu ihm aufgeschlossen hatte und wir stapften eine Weile schweigend durch die Dunkelheit, die alle paar Meter durch das Licht der Straßenlaternen unterbrochen wurde. Ab und an gesellten sich Autoscheinwerfer zu den Straßenlaternen, aber davon gab es zu dieser frühen Stunde nur sehr wenige. Und jedes Mal, wenn ich eines an uns herankommen hörte, verspannte sich mein ganzer Körper, weil ich befürchtete, dass Vincent oder aber seine Gardisten im nächsten Moment aus dem Wagen springen und uns packen würden. Und obwohl er es gewesen war, der mich vor sich selbst in Sicherheit hat bringen lassen, machte es die ganze Sache auch nicht besser. Er hatte mich angeschrien, dass ich abhauen sollte. Mich vor ihm in Sicherheit bringen musste. Beziehungsweise vor dem, was er mit mir machen würde. Machen musste. Er konnte ja nichts dazu. Er konnte nicht anders. Aber Fakt war: Er war jetzt hinter mir her. Hinter uns. Er und die gesamte Garde.
Die Erinnerung an sein Gesicht – an den geschockten, gepeinigten Ausdruck darauf... Er hatte es nicht kommen sehen. Keiner von uns hatte das. Und es tat ihm leid. So unendlich leid. Und er wollte es nicht. Deswegen hatte er mich verbannt. Hatte mich St. Michaels verwiesen. Hatte mich aus der Garde-Hochburg geworfen. Direkt hinaus auf die Straße.
Aber wohin sollte ich jetzt? Ich hatte niemanden mehr. Nur den Jungen an meiner Seite. Ich wagte einen Blick zu Chase, aber er schien in seinen eigenen Gedanken verloren zu sein. Sein Mund war ein einziger dünner Strich und ein paar seiner dunklen Haarsträhnen waren ihm ins Gesicht gefallen. Normalerweise nervt ihn das, wenn sie ihm vor den Augen hängen und er streicht sie wieder hinter seine Ohren zurück oder bindet seinen Zopf neu, aber er schien noch nicht einmal mitbekommen zu haben, dass sie ihm jetzt im Gesicht hingen. Dabei steht ihm das ganz gut. Also, wenn ihm ein paar Haarsträhnen im Gesicht hängen, meine ich.
Ein Seufzen ging durch meinen Körper und er hörte es, so dass er zu mir rüber sah, sich dabei unbewusst die Haarsträhnen wieder hinters Ohr streichend. Wir zwei gegen den Rest der Welt. Und auch sein gutgemeintes Lächeln konnte nichts daran ändern. Er warf mir ein halbes Lächeln zu, das seine Augen nicht erreichte und legte mir den Arm um die Schultern, jedenfalls so weit wie der Rucksack auf meinem Rücken es zuließ, und ich ließ mich von ihm an seinen Körper heranziehen. Irgendwie tat es gut. Sein Arm um meine Schultern. Seine Hand auf meinem Oberarm. Seine Körperwärme.
„Und was jetzt?“
Meine Stimme hörte sich trotzdem ganz hohl und verloren an. Wir hatten keine Chance. Egal, wohin oder wie weit wir liefen, sie würden uns finden. Sie würden nicht Halt machen, bevor sie mich wiederhatten und Vincent das durchführen konnte, weswegen er mich eigenhändigt verbannt hatte.
„Jetzt, “ grinste Chase, „suchen wir erst einmal was, wo wir Kaffee kriegen.“
Oh ja, Kaffee hört sich gut an. Kaffee gegen das Ende der Welt. Kaffee mit ganz viel Milch und ganz viel Zucker.
Damals
Isabels Schreie gellten mir noch in den Ohren, als schon wieder Schmerzen durch meine rechte Wange schossen.
„Ist gut jetzt!“ fuhr Zeus/Matt mich an. „Sie ist tot, Emily! Sie sind alle tot und du kannst nichts mehr für sie tun!“
Der Schmerz und seine Worte machten plötzlich, dass ich wieder ganz und gar bei ihm war. Die fürchterlichen Bilder von Isabel und dem lichterloh brennenden Internat waren weg und ich sah nur noch ihn vor mir. Und plötzlich gaben meine Beine unter mir nach und nur seine Hände hinderten mich daran, zu Boden zu gehen. Er fasste mich unter den Achseln und hob mich hoch, so als wäre ich ein kleines Kind. Dann schlang er kurz den einen Arm um meinen Rücken, so dass er den anderen frei hatte und setzte mich aufs Bett, nachdem er die Bettdecke zurückgeschlagen hatte, so dass er mich nicht mitten in die Glassplitter setzte. Er kniete sich vor mich hin, seine Stirn in Falten gelegt, und mich vorwurfsvoll anstarrend. Doch durch den Tränenschleier konnte ich ihn – zum Glück – eh kaum erkennen. Er griff zärtlicher als ich es von ihm jetzt gerade erwartet hätte nach meinem rechten Handgelenk, drehte meine Hand so, dass sie offen auf meinem Oberschenkel lag und seufzte kurz. Ich folgte seinem Blick und sah, dass ein etwa fünf Zentimeter großer Glassplitter in meiner Hand steckte. Ich stand allerding so sehr unter Schock, dass es noch nicht einmal wehtat. Ehrlich gesagt spürte ich das Ding in meiner Hand noch nicht einmal. Es war fast so, als würde ich das Ganze im Fernsehen sehen und das sei gar nicht meine Hand.
Ich spürte seinen Blick auf meinem Gesicht und sah von meiner Hand auf. Seine Augen fanden die meinen und er schien sichergehen zu wollen, dass ich okay damit war, dass er den Splitter gleich aus meiner Hand herausziehen würde. Doch ich konnte nichts sagen und starrte ihn nur unverwandt an. Er schluckte kurz und sein Mund zog sich zusammen, so dass dieses komische Grübchen auf der Linie zwischen seiner Nase und seinem rechten Mundwinkel wieder zu sehen war. Dann widmete er sich meiner Hand und weil ich nichts anderes zu tun hatte, sah ich ihm dabei zu, wie er den Glassplitter aus meinem Fleisch herauszog. Es tat noch nicht mal weh. Es blutete heftiger, jetzt, wo nichts mehr die Blutung stoppte. Der Fremde legte die Scherbe neben den Teller mit den Äpfeln und dem Brötchen und fuhr dann mit seiner Hand über meine kaputte Handfläche und als er seine wieder wegnahm, da stoppte die Blutung und die Wunde schloss sich.
Er ist Heiler?, stellte ich benommen fest. Aber davon gibt es nicht nur ganz wenige. Seine linke Hand ließ mein Handgelenk wieder los und er erhob sich und als er sich mit seinen Händen über das Gesicht rieb, hinterließen sie blutige Spuren auf seiner weißen Haut.
„Komm“, meinte er dann und legte mir den Arm um die Schultern, so dass seine Hand unter meinem anderen Arm wieder herauskam. Er zog mich praktisch zum Stehen empor und für ein paar Sekunden verließen meine Füße den Boden. Bis ihm dann auffiel, dass ich doch sehr viel kleiner war als er und sein Arm mich momentan komplett in der Luft hielt. „Du kannst in meinem Bett schlafen. Aber veranstalte nicht wieder so eine Sauerei, verstanden? Es ist das einzige, das wir jetzt noch haben.“
Sein Arm um meinen Rumpf hielt mich aufrecht, als wir uns in Bewegung setzten. Aber mir war jetzt noch schwindeliger als zuvor und ich fühlte mich noch elender als vor einer Minute noch, so dass ich nicht einen geraden Schritt vorwärts tun konnte. Die Welt legte sich schräg, als er sich bückte und seinen anderen Arm um meine Kniekehlen legte und mich vollends auf den Arm nahm. Und wieder einmal schien ich für ihn nichts weiter zu wiegen als ein kleines Kind. Ich bekam noch mit, wie er mich auf den Flur hinaustrug, dann wurde alles schwarz und ich war wieder weggedämmert.
***
Schweißgebadet und in Schüben atmend wachte ich schlagartig wieder auf. Ich hatte Seitenstiche, obwohl ich gar nicht gelaufen war. Allerdings hatte ich mich so abrupt aufgesetzt, dass das Zimmer, in dem ich jetzt lag, seine Runden um mich drehte und schwarze Punkte vor meinen Augen tanzten. Die hellen Vorhänge waren zugezogen und nur wenig Sonnenlicht fiel in das Zimmer ein. Eine Handvoll Vögel sangen vor dem Fenster und als ich mich im Zimmer umsah – alles reichlich verschwommen – da fiel mein Blick auf eine Uhr, die neben dem Bett stand, auf dem ich lag. Kurz vor sieben Uhr morgens. Ich schlug die Bettdecke zurück und erhob mich. Meine Beine zitterten und ich musste einen Moment lang stehenbleiben, bis das Zimmer sich wieder zurechtgerückt hatte. Es war kleiner als das, in dem ich vorhin gelegen hatte, aber aus genau demselben hellgestrichenen Holz.
Mein Mund war trocken, merkte ich, als ich mich in Bewegung setzte und ich versuchte zu schlucken. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Noch immer stieg von meinen Kleidern und meinem Haar dieser Gestank auf und ich sehnte mich nach einer Dusche. Außerdem gellte in meinem Hinterkopf schon wieder Isabels Geschrei. Ich tat einen tiefen Atemzug, was die ganze Sache auch nicht besser machte, weil ich den Rauch, der in meiner Kleidung steckte, nur noch deutlicher wahrnahm. Mein Magen zog sich krampfhaft zusammen und ich war froh, dass ich von den Äpfeln und dem Brötchen nichts gegessen hatte. Ich torkelte auf einen unbeleuchteten Flur hinaus und musste mich an der Wand abstützen, als die Bilder mich heimsuchten. Ohne überhaupt zu überlegen, schleppte ich mich weiter und fand eine Tür, die nach draußen führte. Sie war verschlossen und halb blind durchforstete ich die oberste Schublade des Schränkchens, das neben der Tür stand. Irgendwo musste doch dieser verdammte Schlüssel sein.
„Was machst du da?“
Ich fuhr zusammen. Normalerweise hörte ich, wenn jemand sich an mich heranschlich. Aber ihn hörte ich irgendwie nie. Das war schon das zweite Mal, dass er das geschafft hatte. Das Dritte, wenn man das Feuer mit dazu zählt. Ich schaute nur kurz auf in sein Gesicht. Oder aber zumindest dahin, wo ich es vermutete. Ich war so entkräftet, dass ich nur einen hellen Umriss sah.
„Ich… Wir… Isabel“, meinte ich dann und meine Zunge war so bleiern, dass mir das Sprechen schwer fiel.
„Emily, du kannst da jetzt nicht raus“, sagte er und ich hörte, wie er auf mich zukam.
Ich widmete mich nur wieder der Schublade und fischte weiter nach dem Schlüssel.
„Wir müssen Isabel helfen“, meinte ich. Meine Stimme klang in meinem Kopf fest und sicher und bestimmt, aber draußen, sobald sie meine Lippen verlassen hatte, da war sie abgehackt, leise und hohl. „Vielleicht finden wir-“
„Emily.“
Seine Stimme war ruhig, genauso wie seine Hand, als er sie um meine suchenden Finger schloss.
„Nein!“ rief ich und zog meine Hand aus seiner und stolperte ein paar Schritte zurück, wobei ich fast zu Boden ging, weil meine Beine sich einfach nicht von mir koordinieren lassen wollten. „Nein, Sie verstehen nicht! Wir müssen zurück! Wir-“
„Du kannst ja noch nicht mal aufrecht stehen, Kind“, meinte er und klang irgendwie belustigt.
Es machte mich wahnsinnig, dass er mich Kind genannt hatte. Meine Ausbildung war schon fast beendet. Drei Jahre nur noch. Ich war kein Kind mehr.
„Gut, dann gehe ich eben allein.“
Ich hatte keine Ahnung, wie genau ich eigentlich aus der verschlossenen Haustür kommen wollte, aber ich hielt wieder darauf zu und das verdammte Ding wankte vor mir wie so ein Schiff auf stürmischer See.
„Hey! Hey, Emily, “ lachte er und fasste mich von hinten um die Hüfte, „du kannst da nicht raus. Das ist viel zu gefährlich.“
„Brennt es noch?“ fuhr ich wankend zu ihm herum.
Ich spürte Panik in mir aufsteigen. Wenn es noch brannte, hatte Isabel keine Chance da heraus zu kommen.
„Was? Nein. Das Internat ist doch schon lange gelöscht.“
Ich spürte seinen warmen Atem auf meinem Gesicht, doch sehen tat ich ihn nicht mehr. Alles war verschwommen. Selbst das Adrenalin, das durch mein Körper schoss, veränderte nichts daran.
„Wir müssen… müssen helfen.“
So langsam glich meine Stimme der einer Betrunkenen. Ich war erledigt und meine Beine wollten nicht mehr so wie ich. Er nahm mich wieder auf den Arm – „Was… was machen Sie denn da? Lassen Sie mich runter!“ – und trug mich von der Tür weg. Ich wehrte mich und versuchte wieder auf den Boden zu kommen, aber darüber lachte er nur. Ich muss wirklich ein klägliches Bild abgegeben haben. Er trug mich zielstrebig in einen mir unbekannten Raum und setzte mich dort auf einem Stuhl ab. Ich wollte sofort wieder aufstehen, aber seine Hand auf meiner Schulter machte, dass ich mich wieder setzte. Ich sah mich um und reimte mir aus den Schemen zusammen, dass wir uns in einer Küche befanden.
„So“, meinte er von irgendwo rechts von mir und ich hörte, wie er wieder zu mir kam, „und jetzt iss endlich was.“
Mein Magen machte Flip-Flops und schon der bloße Gedanke an Essen machte, dass mir wieder übel wurde. Ich kreuzte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf, was keine gute Idee gewesen war, weil die wenigen Schemen, die ich sah, zu tanzen anfingen.
„Emily“, ermahnte er mich.
Und gleich darauf hörte ich das Scharren von Stuhlbeinen auf dem Boden, als er sich mir gegenüber niederließ. Über den Geruch von Rauch hinweg vernahm ich den von Milch und irgendwelchen Zerealien. Cornflakes wahrscheinlich. Ich wandte den Kopf ab.
„Du kannst mir nicht erzählen, dass du keinen Hunger hast. Du hast seit über fünf Tagen nichts mehr gegessen.“ Seit über fünf…? Mein Gott, wie lange sind wir schon hier? „Und getrunken hast du auch nichts.“ Ja, das erklärt so einiges… Aber immer noch spukten mir diese Bilder durch den Kopf und mein Hals schnürte sich wieder zu. „Muss ich dich erst dazu zwingen, oder was?“
So langsam hatte seine Stimme wieder den Tonfall von vorhin – Gestern. Vorgestern? – angenommen. Mir war klar, dass es keine gute Idee war, ihn sauer zu machen. Aber das war ja gar nicht meine Absicht. Ich würde nur einfach nichts runter bekommen. Ich machte den Mund auf, um ihm das zu sagen. Aber es kam einfach kein Ton heraus. Stattdessen hörte ich ihn laut ausatmen, dann wieder das Scharren seines Stuhls und dann – unmissverständlich – seine Schritte, als er auf mich zukam.
„Gut, wie du willst“, murmelte er und im nächsten Moment hatte ich seine Hand im Nacken. „Mund auf, “ verlangte er.
Aber ich weigerte mich. Versuchte es zumindest, aber seine Hand hielt meinen Kopf fest. Er ließ mich kurz los, fasste stattdessen nach meinem Kinn, drückte mir die Finger auf die Zähne und machte so, dass ich seinem Befehl Folge leistete. Keinen Augenblick später hatte er mir den ersten Löffel in den Mund geschoben und überstreckte meine Kehle, so dass ich schlucken musste. Ich hatte richtig geraten. Es waren Cornflakes, schon reichlich aufgeweicht. Ich musste noch nicht mal kauen. Der zweite Löffel schmeckte salzig, der dritte ebenso und beim vierten rebellierte dann mein Magen und bevor ich wieder auf seine Schuhe spucken konnte, ließ er mich los und ich sprintete dahin, wo ich die Spüle vermutete. Ich erreichte sie dann auch gerade noch so.
Eigentlich hatte ich erwartet, dass er mich sofort und hier an Ort und Stelle einen Kopf kürzer machen würde. Oder aber mir zumindest gewaltig die Leviten lesen würde. Aber er tat gar nichts. Er schrie mich noch nicht mal an. Er stand einfach nur da und schäumte vor Wut. Ich machte, dass ich aus der Küche kam. Dank des Adrenalins, das jetzt wieder heftiger durch meine Adern schoss, sah ich sogar schon wieder ein Bisschen was. Alles war nur noch leicht verschwommen und es schwankte nicht mehr ganz so arg. Ich rannte, wohin mich meine Füße trugen und landete so bei einer offenen Terrassentür, die auf eine hölzerne Sitzfläche und anschließend in einen Tannenwald führte. Ich rannte und rannte und bekam am Anfang gar nicht mit, dass es regnete.
Die Tannenbäume wurden bald abgelöst von Laubbäumen, die aber auch nicht wirklich mehr Schutz vor dem Regen boten. Ich verringerte mein Tempo und sah mich um. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Eigentlich hatte ich angenommen, dass er hinter mir herkommen würde, aber ich hörte ihn nicht. Kein Rufen, kein gar nichts. Ich drehte mich noch mal im Kreis und schlug mich dann, weil ich keine Ahnung hatte, was in sämtlichen Richtungen vor mir lag, einfach geradeaus weiter durch. Ich lief noch ein paar Minuten, aber es kam einfach kein Weg und so langsam ließ das Adrenalin nach und mir war eiskalt und die schwarzen Punkte tanzten mir schon wieder vor den Augen. Ich glaubte, dass wenn ich hier draußen blieb, ich kein gutes Ende nehmen würde. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass der dunkelhaarige, fremde Sentinel – oder sonst irgendjemand – mich hier draußen mitten im Nirgendwo finden würde? Und so wie es aussah, war weit und breit kein anderes Haus als das, aus dem ich gerade geflohen war. Ich hatte keinerlei Erinnerung daran, wie genau ich überhaupt hier gelandet war. Also hatte ich auch keinen Plan, in welche Richtung das Internat lag. Ich hatte auch keinen blassen Schimmer, in welche Richtung die nächste Stadt der Profanen lag. Und mir wurde immer kälter. Meine nassen Haare klebten mir am Kopf und für einen regnerischen Morgen Ende Oktober war mein Pyjama einfach nicht die richtige Wahl. Jedenfalls nicht für einen Spaziergang draußen im Freien. Naja, eine gute Sache hatte es: Der Gestank nach Rauch wurde aus meinen Klamotten und meinem Haar gespült. Etwas zumindest. Allerdings konnte ich meine Hände und meine Füße bald nicht mehr spüren und ich ging ungefähr jeden dritten Schritt zu Boden und meine Handballen und Knie sahen bald dementsprechend aus und taten auch dementsprechend weh. Meine Umgebung war schon wieder komplett verschwommen und wieder mal wog ich ab, ob ich nicht besser umkehren sollte. Aber der Sentinel würde garantiert außer sich sein. Ja, und da bleibst du lieber hier draußen und erfrierst, oder was?
Und dann stand ich plötzlich wieder vor dem Haus. Schemenhaft tauchte es vor mir auf – ich musste im Kreis gelaufen sein. In einigen Fenstern brannte Licht, aber ich konnte wegen meiner schlechten Sicht nicht erkennen, ob er drinnen war, oder aber draußen und nach mir suchte. Ich schlang die Arme um meinen Körper und stand dann erst mal draußen und traute mich nicht weiter. Er würde sauer sein. Richtig sauer. Vielleicht sollte ich warten? So lange, bis noch mehr Zeit verstrichen war, dann würde er vielleicht erleichtert sein, dass ich wieder da war und nicht mehr ganz so sauer darüber, dass ich weggelaufen war. Vielleicht würden sich Sorge und Zorn dann ausgleichen. Oder so. Aber mir war so bitter kalt und ich konnte mich kaum mehr auf den Beinen halten. Also wankte ich vorwärts.