Читать книгу Silex - Jade Tatnon - Страница 5
ОглавлениеKapitel 2
Jetzt
„Hallo? Erde an Emily?“
„Hm?“ machte ich und fokussierte Chase, der mir gegenübersaß und machte, dass die Erinnerung an die Zeit da draußen im Wald verblasste. Ein Schauer lief mir über den Rücken als mein Körper die Kälte und die Erschöpfung von damals nachspürte. „Sorry.“
Chase langte über den Tisch und schloss seine Hände um die meinen, so dass wir meinen unberührten Kaffee jetzt mit vier Händen hielten. Er hatte sich leicht vorgelehnt, so dass er auf einer Augenhöhe mit mir war und schien irgendetwas in meinem Blick zu suchen. Aber ich senkte nur den Kopf und starrte stattdessen auf den Milchschaum in meiner Tasse, der schon zu schmelzen begonnen hatte. Chase begann mit dem Daumen über meinen Handrücken zu streichen und mir wurde plötzlich ganz warm.
„Wir schaffen das schon.“
Es war nicht mehr als ein Flüstern, aber es lag so viel Hoffnung und Zuversicht darin.
„Wie denn?“ sprach ich gen Tasse. „Die ganze Garde ist hinter uns her.“
„Wir tauchen unter. Wir verschwinden einfach von der Bildfläche.“
„Ts, wo denn?“ wisperte ich und meine Stimme brach, als die ersten Tränen sich in meinen Augen sammelten.
„Mir fällt schon was ein“, meinte er, erhob sich ein wenig und lehnte sich so weit zu mir herüber, dass er mich auf den Haaransatz küssen konnte. Und wieder schoss mir eine Fuhre Hitze durch den Körper. „Und jetzt trink was, eh es komplett kalt wird.“
Sein Tonfall war genauso wie der von seinem Onkel damals. Er hatte echt viel von ihm und ich fragte mich, was Matt jetzt wohl gerade machte. Ob er auch zu denen gehörte, die uns suchten. Einer derjenigen, vor denen ich Angst haben musste. Nicht, dass sie mich umbringen würden. Nein, das würde er machen. Später. Er hatte es ja gesagt. Damals. Es kann nur einen von uns geben. Und eigentlich hätten seine Fähigkeiten in mich übergehen müssen, sobald ich vollkommen ausgebildet war, aber das waren sie nicht.
Also nicht, dass ich schon komplett ausgebildet war – mit 15 war man ja noch nicht komplett ausgebildet – aber wegen der Silex-Sache waren meine Fähigkeiten jetzt schon doppelt so heftig ausgeprägt wie die von anderen, komplett ausgebildeten Gardisten. Wahrscheinlich hatte der Transfer deswegen angefangen. Weil meine Fähigkeiten eben schon weiter ausgebildet waren als es normal für eine 15-Jährige Gardistin war. Aber, wie gesagt, es war nicht so gewesen, wie es eigentlich hätte sein sollen. Stattdessen hatte der Transfer andersherum stattgefunden. Also, angefangen meine ich. Sonst wär ich ja jetzt nicht mehr hier. Wenn er es zugelassen hätte. Hatte er aber nicht. Stattdessen hatte er-
„Em“, durchschnitt Chases Stimme die aufkeimende Erinnerung und er wirkte erleichtert, als ich ihn ansah. „Ich werd sie nicht an dich rankommen lassen. Weder die einen, noch die anderen.“
Und erst da ging mir auf, dass wir vor beiden Parteien flohen. Nicht nur vor ihm und seinen Gardisten, sondern auch vor den Seleiki. Und mir wurde ganz übel und ich zitterte schon wieder.
„Wir werden das nicht schaffen, Chase. Niemals. Nicht, wenn beide hinter uns her sind.“
„Meinst du, es ist besser, sich einfach so zu stellen, oder was?“ giftete er mich an und ich konnte seinem plötzlichen Gefühlswandel nicht nachvollziehen und starrte erschrocken zu ihm rüber. „Sorry, ich…“ Er nahm seine Hände von den meinen und fuhr sich über das Gesicht. „Lass mich einfach nur nachdenken, okay?“ meinte er dann und hörte sich reichlich müde und erledigt an. „Mir wird schon was einfallen.“
Und erst jetzt wurde mir klar, dass ich nicht allein da drin saß. Chase hatte auch nichts mehr. Das St. Michaels war sein Zuhause gewesen. Und auf Vincents Geheiß hin mir zur Flucht zu verhelfen, hatte er alles verloren, was ihm jemals lieb gewesen war.
„Chase“, meinte ich vorsichtig und wartete, bis er mich ansah. „Wenn du doch lieber gehen willst, dann-“
„Ich lass dich nicht allein“, unterbrach er mich barsch. „Ich hab Vincent versprochen, dich zu beschützen. Er wusste, was er mir damit abverlangt. Was es bedeutet.“
Und ich wusste es auch. Ganz genau. Einer von beiden würde sterben. Entweder Chase oder aber Vincent. Und je nachdem wer es war, würde ich es anschließend ebenfalls tun.
„Chase, du musst nicht-“
„Ich habe es versprochen“, fiel er mir abermals ins Wort. „Und ich… Ich breche meine Versprechen nicht, “ meinte er und es klang, als hätte er eigentlich etwas ganz anderes sagen wollen. Er wandte sich dann auch von mir ab, wühlte sein Portemonnaie hervor und murmelte: „Ich geh bezahlen.“
Und damit war er dann verschwunden und ich fühlte mich irgendwie reichlich mies. Einerseits jedenfalls. Andererseits war ich aber auch echt heilfroh, weil ich wenigstens nicht komplett auf mich allein gestellt war. Und mir wurde ganz warm ums Herz, wenn ich daran dachte, dass ausgerechnet Chase mein Begleiter war. Es hätte jeden treffen können. Einen von meinen beiden Kletten vielleicht: Clemens oder Anna. Aber nein, Chase war da gewesen, als es passiert war und Vincent hatte gemacht, dass Chase nun an meiner Seite war und kein anderer. Und irgendwie war ich ihm dafür sogar dankbar. Trotz allem, was er getan hatte. Beziehungsweise noch tun würde, sobald er mich wieder in die Hände bekam.
Damals
Und als ich so vor der Tür stand, fiel mir auf, dass ich gar keinen Schlüssel hatte. Ich wollte klingeln. Aber es gab keine Klingel. Also klopfte ich an die Scheibe und sah einen dunklen Schatten auf mich zukommen. Die Tür wurde ruckartig geöffnet und ich hörte, wie er ansetzte etwas zu sagen, doch dann stockte er.
„Gott, du bist durch bis auf die Knochen“, stellte er trocken fest und griff nach mir, um mich ins Haus zu ziehen.
Er schien wirklich nicht mehr sauer zu sein. Oder aber, er zügelte seine Wut erst mal nur, so dass er sie nachher in vollem Maße auf mich einstürzen lassen konnte. Also dann, wenn ich wieder komplett aufgetaut war und es auch so richtig zu würdigen wusste. Er führte mich ins Wohnzimmer und ließ mich unmittelbar vor der Couch stehen.
„Zieh die nassen Sachen aus“, wies er mich ruhig an.
Schemenhaft sah ich, wie er sich von mir abwandte und irgendwas mit der Hand machte. Und im nächsten Moment leuchtete im Kamin ein Feuer auf. Ich wurde stocksteif, als die Bilder, die Gerüche und die Schreie wieder auf mich einprasselten.
„Hey“, hörte ich seine leise, beruhigende Stimme plötzlich unmittelbar über mir und seine eine Hand fuhr mir sachte über den Arm. „Das ist nur ein Kaminfeuer. Nichts, was außer Kontrolle geraten kann.“
Ich versuchte die Bilder zu verdrängen, aus den Erinnerungen aufzutauchen, aber es wollte mir nicht gelingen. Isabel ging schon wieder in Flammen auf wie so eine lebendige Fackel.
„Dir kann hier nichts passieren“, sickerte seine beruhigende, feste Stimme zu mir hindurch und vermischte sich mit den Schreien meiner Freunde und Mitschüler. „Emily, du bist hier sicher.“
Seine Finger glitten über meine nackten, nassen Arme, aber für mich fühlten sie sich an wie Flammen, die gierig nach mir griffen und ich verfiel komplett in Panik. Das Rascheln seiner Kleidung klang wie das Rascheln der Flammen, als sie sich durch das Anwesen fraßen. Ich spürte seine eine Hand auf meiner Schulter und seine andere unter meinem Kinn. Ich wusste, was er vorhatte. Es war eigentlich gegen unseren Codex. Aber ihm schien die Situation wohl ausweglos.
„Emily“, seine Stimme hatte dieses gewisse Etwas angenommen und mein Körper reagierte genauso, wie er darauf zu reagieren hatte.
Es war, als sei er ein riesiger Magnet und ich würde von ihm angezogen werden. Er war dabei, mich gefügig zu machen. Er war dabei, mir meine Erinnerungen zu nehmen. Oder zumindest gerade so viel, dass ich nicht mehr so reagierte, wie ich es im Moment und in den letzten paar Tagen getan hatte. An den genauen Wortlaut, an das, was genau er zu mir gesagt hat, kann ich mich nicht erinnern, aber ich tauchte aus den Bildern auf, als sei ich kurz vorm Ertrinken gewesen. Ich japste nach Luft und wurde schon wieder panisch, weil ich meine verschwommene Sicht nicht zuordnen konnte.
„Shhht“, sagte er beruhigend und ich spürte seine Hände auf meinen Armen. „Ist okay, Kleine. Es ist alles okay.“
Ich öffnete den Mund, um ihm zu sagen, dass nichts okay war! Nichts! Ich konnte kaum was erkennen! Ich bekam keine Luft! Aber es kam einfach nichts aus meinem Mund raus. Stattdessen schnappte ich nur wieder nach Luft, weil ich einfach nicht einatmen konnte. Er gab wieder irgendetwas von sich und der Knoten in meinem Inneren löste sich. Ich konnte plötzlich wieder atmen und hatte auch nicht das Gefühl, mir wegen meiner beschissenen Sicht Sorgen machen zu müssen.
„Und jetzt zieh die nassen Klamotten aus, du holst dir sonst noch was weg.“ Wie? Jetzt? Ich starrte ihn nur mit großen Augen an. Jedenfalls den Teil, den ich schemenhaft vor mir sehen konnte. Hier? Vor dir? „Ist okay“, meinte er und ich hörte das belustigte Schmunzeln in seiner Stimme, auch wenn ich es nicht sehen konnte. „Da ist nichts, was ich nicht schon mal gesehen habe.“ Aber ich stand nur da wie angewurzelt. „Brauchst du Hilfe?“ Nein!, schrie ich innerlich. Nein! Geh weg! Aber da war er auch schon bei mir. „Hier, lass mich.“ Nein, lass mich! Aber da hatte er auch schon nach dem unteren Saum meines Tanktops gegriffen. „Arme hoch.“ Ich schüttelte nur den Kopf und sofort drehte sich wieder alles. „Arme hoch“, meinte er mit gekünsteltem Nachdruck und legte den Kopf ein wenig schief. „Du brauchst dich nicht vor mir zu schämen, Kleine. Da ist rein gar nichts, wofür du dich schämen müsstest.“
Ja, danke! Dass mein Körper allen anderen meines Alters weit hinterher ist, weiß ich auch so! Und dann rippelte seine Stimme schon wieder über mich hinweg wie Wind, der eine Wasseroberfläche in Bewegung setzt. Sie hüllte mich ein und ich hob die Arme, weil er das so wollte. Ich wehrte mich auch nicht, als seine Finger zwischen den Bund meiner Pyjama-Hose und meinem Höschen glitten. Und als ich dann nur in Unterwäsche bekleidet vor ihm stand, warf er mir eine Decke über und machte, dass ich mich auf das Sofa legte. Er breitete noch eine zweite Decke über mir aus, die er sachte an meinen Körper drückte und verschwand dann mit den Worten „Bin gleich wieder da“. Er kam dann auch wieder und ich roch es schon von weitem und drehte den Kopf weg. Mein Magen zog sich krampfhaft zusammen. Ob vor Angst oder einfach nur, weil es etwas zu Essen war, wusste ich nicht.
„Es ist nur Suppe.“ Ich hörte das Lächeln in seiner Stimme. „Die wird nicht wieder hochkommen.“ Aber ich war mir da nicht so sicher. Ich hatte zwar ein Loch im Magen und etwas Warmes im Körper hätte garantiert echt gut getan, aber ich musste an mein Abendessen denken. Und dann an die Aktion mit den Cornflakes. „Emily“, ermahnte er mich leise.
Wenn ich nicht von alleine spurte, würde er mich einfach gefügig machen. Er würde seinen Willen also so oder so durchsetzen. Also wandte ich, wenn auch nur zögerlich und mit einem echt flauen Gefühl in meinem Bauch, den Kopf zu ihm zurück. Er hatte sich auf dem Couchtisch niedergelassen und fing ohne Umschweife an, mich zu füttern. Die Suppe blieb dann auch wirklich drinnen und ich fühlte mich nicht mehr ganz so elend. Sogar meine Sicht wurde wieder besser.
„Na siehst du“, meinte er mit aufgesetzt ernster Miene, als er die kleine Schüssel neben sich auf dem Tisch absetzte. „Das war nicht allzu schwer, mh?“
Ich schaute nicht auf, schüttelte aber den Kopf und dann herrschte erst einmal Stille zwischen uns und ich zog es vor, die Flammen im Kamin zu beobachten. Sie triggerten rein gar nichts. Es kamen keine qualvollen Gefühle in mir auf. Ich wusste nicht, was genau er mit mir gemacht hatte. Die Erinnerungen an sich waren noch da. Aber die Emotionen, die mit ihnen einhergegangen waren, die fehlten. Ich sah Isabel in Flammen stehen. Schreiend. Kreischend. Aber es löste rein gar nichts in mir aus. Ich wusste, dass ich es eigentlich nicht sollte, er hatte immerhin etwas Verbotenes getan hatte, aber ich konnte einfach nicht anders.
„Danke.“
Er starrte mich nur an. Er wusste ganz genau, wofür ich mich bedankte und hakte nicht weiter nach. Doch als er nun sah, dass etwas Farbe in mein Gesicht zurückgekehrt war und dass es mir etwas besser ging, da schien ihm etwas ganz anderes einzufallen und seine Miene wurde hart und kalt.
„Ich müsste dir jetzt eigentlich kräftig die Meinung geigen für all das, was du getan hast.“
Ich schluckte schwer und schaute gen Boden. Ich hätte es verdient, ganz egal, was er mit mir anstellen würde. Aber sonderbar erpicht darauf von ihm die Leviten gelesen zu bekommen, war ich, weiß Gott, nicht.
„Fünf Tage lang das Essen und Trinken zu verweigern und dann auch noch Reißaus zu nehmen, obwohl ich dir gesagt hab, dass es da Draußen gefährlich ist, das ist…“
Er ließ das so hängen. Gar nicht wahr. Ich hab gar nicht fünf Tage lang das Essen und Trinken verweigert. Die meiste Zeit davon hab ich nämlich geschlafen. Aber das laut auszusprechen, das traute ich mich nicht.
„Wenn du jetzt auch noch krank wirst, meine Liebe, dann…“
Ich hasste es, wenn Leute mir mit halbfertigen Sätzen drohten. Ich wusste lieber, woran ich war.
„Sorry“, wisperte ich.
Ich hoffte, ihn mit ein wenig Einsicht besänftigen und seinen langsam aber sicher aufsteigenden Zorn wenigstens etwas lindern zu können. Wenn er schon ohne große Überlegungen den Codex gebrochen und mich gefügig gemacht hatte, was würde er dann sonst noch alles mit mir anstellen?
„Ja, ich wette, das bist du.“
Seine blauen Augen schienen plötzlich nicht mehr so nett und freundlich wie vorhin noch und er sah mich durchdringend an. Es war für mich unverständlich, wie er so schnell so sehr in Rage geraten konnte. Auch wenn es nur kalter, unterdrückter Zorn war. Er war bis jetzt noch nicht mal laut geworden, aber seine leise, aggressive Stimme und die vernichtenden Blicke, die er mir zuwarf, die reichten auch so aus. Vollkommen.
„Wie geht es dir?“
„Besser.“
Ein trockenes Lachen entrann seiner Kehle.
„Geht es vielleicht noch ungenauer?“
Ich öffnete den Mund, musste dann aber doch erst mal schlucken, bevor ich ihm antworten konnte. Ich konnte ihm dabei noch nicht mal ins Gesicht sehen, so viel Schiss hatte ich plötzlich vor ihm. Es war nicht gut, dass ich ihn so überhaupt gar nicht kannte. Wenn ich bis jetzt Mist gebaut hatte, dann hatte ich immer Leuten gegenüber gestanden, die ich gekannt hatte. Bei denen hatte ich gewusst, wie ich sie besänftigen konnte. Manchmal reichte es, wenn ich ein einfaches „Sorry, kommt nicht wieder vor“ murmelte. Manchmal musste noch betroffen zu Boden geschaut und mit den Händen gerungen werden. Aber irgendwie hatte ich den Verdacht, dass selbst das bei dem dunkelhaarigen Sentinel vor mir nicht ziehen würde.
„Ich… ähm… also, es…“
Ich wusste nicht, warum ich jetzt auf einmal so herumstocherte und nur noch in Satzfetzen sprechen konnte. So etwas machte man vor einem Sentinel nicht. Aber wahrscheinlich lag es gerade genau daran. Von Kindesbeinen an hatte man mir eingetrichtert, dass ich einen Gardisten nun einmal eben nicht sauer zu machen hatte. Vor allem keinen Sentinel! Und dann eben noch die Tatsache, dass ich absolut keinen Plan hatte, was genau ich machen musste, um ihn wieder zu besänftigen, das war…
„Ja?“
Er saß nach wie vor auf dem Couchtisch, hatte sich jetzt aber mit dem rechten Unterarm auf seinen Oberschenkel gestützt und sich zu mir vorgelehnt, so als könne er mir die Worte so besser oder schneller aus der Nase ziehen.
„Mir ist nicht mehr ganz so… ganz so schwindelig. Und ich… ich sehe auch keine schwarzen Punkte mehr.“
„Na, das ist doch schön“, meinte er und erhob sich in einer flüssigen Bewegung und ich wusste nicht, ob er das jetzt ironisch gemeint hatte oder nicht. „Und jetzt schlaf ein Bisschen. Du musst ziemlich fertig sein.“
Ich nickte nur und traute mich erst wieder aufzuschauen, als ich mir sicher war, dass er mir den Rücken zugekehrt hatte. Ein schöner Rücken, aber egal… Ich sah ihm dabei zu, wie er den Raum verließ und ließ die Luft, die ich unbewusst angehalten hatte, wieder aus meiner Lunge strömen. Ich wusste nicht, was ihn plötzlich derart auf die Palme gebracht hatte. Dass ich Mist gebaut hatte, das war mir klar, aber warum war er eben so komisch gewesen? So unnahbar? So kalt? Ja, er war Sentinel, aber hieß das auch, dass er gleich so reagieren musste? Ich hatte echt schon befürchtet, er würde mir körperlich was antun oder so was.
Ich atmete noch mal tief durch, um mich zu beruhigen, aber es half nicht wirklich. Meine Augen wanderten zum Fenster und ich stellte fest, dass der Regen aufgehört hatte. Und das, obwohl es eben noch so wolkenverhangen gewesen war, dass ich angenommen hatte, es würde den kompletten Tag durchregnen. Wahrscheinlich war `er´ das, dachte ich missmutig. Damit du zurückkommst. Naja, wie es aussah, hatte er seinen Willen durchgesetzt. Ich war ja wieder hier. Wo auch immer hier war.
Das morgendliche Sonnenlicht brach sich in den Regentropfen, die noch in den Ästen der Tannen hingen und es entstanden Mini-Regenbögen. Es war echt ganz schön anzusehen und ich fragte mich, was, bitte schön, mir da draußen schon groß hätte passieren sollen. Er hatte gesagt, es wäre gefährlich, aber mir war rein gar nichts begegnet, vor dem ich hätte Angst haben müssen. Das einzige, vor dem ich Angst hatte, das war er! Vielleicht hatte er es aber auch nur gesagt, um mich im Haus zu behalten. Damit ich nicht abhaute.
Ich riss meinen Blick von den Mini-Regenbögen weg, hin zum Feuer. Ich sah zwar die Flammen, aber wie eben auch triggerten sie rein gar nichts und ich konnte ihrem Spiel zusehen, ohne, dass die Bilder kamen. Nein, das war genau genommen falsch. Die Bilder kamen schon. Genauso wie Isabels Schreie. Aber ich fühlte einfach nichts. Und ich brach auch nicht schon wieder in Tränen aus.
***
Ich weiß nicht, wie lange ich so da saß, in die Flammen starrend und vor meinem inneren Auge die Bilder sehend, Isabel beim Verbrennen zusehend, aber irgendwann drang seine Stimme an mein Ohr und ich zuckte zusammen und fuhr zu ihm herum.
„Ich dachte, ich hatte gesagt, du sollst ein Bisschen schlafen.“
Ein seichtes Lächeln zupfte aber, Gott sei Dank, an seinen Mundwinkeln und seine Augen funkelten schalkhaft. Er schien die Zurechtweisung nicht wirklich ernst zu meinen und die plötzliche Anspannung fiel wieder von mir ab. Mit seinen Händen in den Hosentaschen vergraben und jetzt wirklich mit einem winzigen Lächeln auf dem Gesicht, kam er auf mich zu. Sogar das kleine Grübchen war wieder da. Er schien wirklich nicht mehr sauer zu sein. Okay, mal sehen, wie er das hier nimmt?
„Ich bin gar nicht müde“, informierte ich ihn keck. „Ich bin… besser“, grinste ich.
Ein kurzes, gutturales Lachen entrann seiner Kehle und er fuhr sich mit der einen Hand übers Kinn. Dann ließ er sich wieder auf dem Couchtisch nieder und sein Röntgenblick flog innerhalb weniger Sekunden über mich. Aber nicht so kalt wie vorhin, eher belustigt und besorgt.
„Besser, mh?“
„Jap.“
„Mh“, brummte er nur wieder und nickte abweisend mit dem Kopf. „Warte hier“, kam es dann plötzlich von ihm, „ich bin gleich wieder da.“
Und damit war er dann auch schon verschwunden und ich dachte nur: Okay… Doch keine Minute später kam er dann mit der kleinen Schüssel – ich hatte nicht mitbekommen, wie er sie mitgenommen hatte – wieder zu mir. Er nahm wieder seinen Platz auf dem Tisch ein und wollte mir schon den ersten Löffel in den Mund schieben.
„Nein, lassen Sie mich. Ich kann das alleine.“
Seine eine Augenbraue flog in die Höhe, so als wollte er sagen Sicher?, aber da hatte ich ihm den Löffel und die Schale auch schon aus der Hand genommen. Anfangs war er noch reichlich angespannt, so als würde er jeden Augenblick damit rechnen, dass wieder so etwas wie mit dem Glas passierte, oder aber ich aus Schwäche das Ding einfach fallen lassen könnte. Aber als dann auch der zweite Löffel Suppe ohne Zwischenfall in meinem Mund gelandet war, da relaxte er wieder. Allerdings hatte ich schon nach dem dritten Löffel genug und wagte es irgendwie nicht, ihm die Schale wieder zurückzugeben. Seine Laune war zwar gerade gut, jedenfalls nicht so, dass ich Angst vor ihm hatte. Keine richtige. Ich meine, er hatte sogar nichts gesagt, als ich eben so unverschämt und angriffslustig gewesen war. Im Gegenteil: es hatte ihn amüsiert. Aber was würde passieren, wenn ich jetzt schon mit dem Essen wieder aufhören würde? Aber ich bekam einfach nichts mehr runter. Ehrlich nicht. Ich wagte nicht, ihn anzusehen, während ich in der Schale herumrührte und so tat, als würde ich die verschiedenen Zutaten begutachten. Ich sah Möhren, Kartoffeln und irgendwas Grünes, von dem ich annahm, dass es Paprika war.
„Genug?“
Überrascht schaute ich zu ihm auf. Es hatte freundlich geklungen und ein leichtes Lächeln spielte um seine Mundwinkel, nicht so sehr, dass das Grübchen erschien, aber immerhin. Irgendwie hatte ich nicht damit gerechnet, dass er mich abbrechen ließ. Ich hatte eigentlich erwartet, dass er mich dazu zwingen würde, die Schale komplett zu leeren. Ob jetzt aus eigenem Willen oder nicht.
„Ja“, nickte ich erleichtert und war trotzdem immer noch ein wenig perplex, als er mir ohne jeglichen Kommentar die Schale und den Löffel einfach so aus der Hand nahm.
„Alles okay?“ versicherte er sich, als er die Suppe auf den Tisch neben sich gestellt und sich wieder zu mir gewandt hatte. „Du sagst Bescheid, wenn du-“
„Nein“, meinte ich schnell und hob beschwichtigend die Hände, „alles okay.“
„Sicher?“
Ich presste die Lippen aufeinander und nickte einmal. Dann zog ich es vor, wieder in die Flammen des Kamins zu starren und mich zu fragen, ob noch jemand anderer lebend da raus gekommen war. Ich spürte seinen Blick zwar auf mir, versuchte es aber zu ignorieren. Doch irgendwann wurde die Stille dann doch echt unerträglich und auch das Knistern des Feuers half irgendwie nicht mehr.
„Wissen Sie, ob da…“
„Du. Und Matt.“
Ich nickte und riss meinen Blick vom Feuer los, so dass ich ihn anschauen konnte. Er wirkte entspannt. Offen.
„Ist noch jemand anders da rausgekommen? Da… aus dem…“
Er seufzte und seine Schultern verspannten sich etwas. Er hatte verstanden, auch ohne, dass ich es ausgesprochen hatte. Und ich würde es wahrscheinlich auch nie ganz aussprechen können. Also wartete ich. Irgendwann würde er mir schon antworten. Es dauerte dann auch nur noch einen Moment, bis er langsam den Kopf schüttelte.
„Waren Sie- Warst du noch mal da?“ Er konnte mit der Frage nichts anfangen, schüttelte aber den Kopf. „Dann kannst du es doch gar nicht so genau wissen“, warf ich ihm vor – mein letzter Strohhalm, an dem ich mich festklammerte.
„Emily, es gab keine Überlebenden“, redete er auf mich ein und plötzlich war er wieder ganz der Sentinel und dieser Knoten in meinem Bauch war auch wieder da und ich wagte es nicht ihn anzusehen. „Nicht bei den Seleiki. Da ist keiner mehr rausgekommen. Es war in allen Nachrichten. Zeitungen, Fernsehen, überall. Die wissen noch nicht einmal, dass du überlebt hast.“
Die wissen noch nicht mal, dass ich… Ja, und dass ich überlebt hatte, hatte ich nur ihm zu verdanken. Ich wagte nun doch wieder einen Blick in sein Gesicht hoch und es kostete mich einiges an Überwindung seinem Blick standzuhalten.
„Wieso hast du mich da raus geholt? Wieso hast du mich gerettet?“
Er unterbrach augenblicklich den Blickkontakt, räusperte sich und setzte sich umständlich um. Er wirkte fast nervös. So gar nicht wie sonst. Das sah ihm gar nicht ähnlich.
„Matt?“
„Das kann ich dir nicht sagen“, meinte er dann ausweichend und mit einem falschen Lächeln auf dem Gesicht.
„Aber-“
„Order von ganz oben“, unterbrach er mich und erhob sich.
„Aber Matt-“
„Es ist schon spät“, gab er von sich, drückte mich an der Schulter in eine liegende Position runter und zog mir die Decke bis unters Kinn, „du solltest echt ein Bisschen schlafen.“
„Es ist schon spät?“ echote ich und setzte mich augenblicklich wieder auf. „Matt, es ist noch nicht mal zwölf Uhr mittags!“
Aber er hatte sich schon von mir abgewandt und winkte mir hinter seinem Rücken nur noch halbherzig zu. Na, wenn das mal nicht ausweichend war, dann weiß ich auch nicht. Mir war nicht nach schlafen. Ganz und gar nicht. Ich hatte fast fünf Tage lang durchgeschlafen. Ich starrte wieder in die Flammen und fragte mich, warum er ausgerechnet mich da rausgeholt hatte. Warum nicht irgendjemand anderen? Warum nicht Isabel?
Es kamen immer noch keine Tränen. Und so dankbar ich ihm dafür auch war, dass er die Emotionen zu den Bildern gekappt hatte, so gefrustet war ich darüber, dass er mir auswich. Dass er mir meine Fragen einfach nicht beantwortete. Es musste ja wohl einen triftigen Grund dafür gegeben haben, weshalb er ausgerechnet mich da raus geholt und alle anderen bei lebendigem Leibe verbrennen lassen hatte! Woher hatte er überhaupt gewusst, dass er mich retten musste? Woher hatte er gewusst, dass das Internat in Flammen gestanden hatte? Woher hatte er überhaupt gewusst, wo er nach mir suchen musste? Woher hatte er gewusst, dass ich diejenige war, die er retten sollte? Ich hatte Matt noch nie zuvor gesehen. Er mich also auch nicht. Und wieso war ein Gardist allein unterwegs gewesen? Die gab es sonst nur im Rudel. Wo waren die anderen gewesen?
Ehe ich mich versah, hatte ich mich erhoben, um ihn zur Rede zu stellen, aber sobald ich stand, überkamen mich Zweifel. Er hatte eben schon so komisch reagiert. Warum sollte er mir jetzt Rede und Antwort stehen? Er würde garantiert wieder sauer werden, wenn ich versuchte ihn dazu zu zwingen. Ts, `ihn´ dazu zwingen? Er ist ein verdammter Sentinel, Em! Sentinel kann man zu nichts zwingen! Und außerdem, gestand ich mir ein, hat er noch nichts gemacht wegen all dem Scheiß, den du angestellt hast. Und dass ihn das echt ziemlich angekotzt hatte, das hatte er mehr als offensichtlich gemacht. Ich konnte von Glück reden, dass er nichts gemacht hatte. Er hatte mich bis jetzt nur verbal zurechtgewiesen, sonst nichts. Ich beschloss, dass es das Beste war, ihn so schnell nicht wieder sauer zu machen. Er war über die ganze Sache garantiert noch nicht hinweg.
Ich atmete einmal frustriert durch und weil ich jetzt schon einmal stand, konnte ich mich auch gleich um das Feuer kümmern. Der Holzscheit, den er vorhin nur mithilfe seiner Gedanken dazu gebracht hatte, in den Kamin zu springen und in Flammen aufzugehen, war jetzt schon fast komplett runtergebrannt. Er glühte nur noch. Ich zog die Decke enger um meinen Körper und hockte mich vor die gestapelten Holzscheite. Ich konzentrierte mich auf den obersten, aber das Ding wackelte nur ganz leicht und machte keinerlei Anstalten von allein ins Feuer zu springen. Nach wenigen Augenblicken perlte mir schon Schweiß auf der Stirn und ich hatte zu zittern angefangen. Ich musste wirklich noch ziemlich erledigt sein. Mehr, als ich es mir hatte eingestehen wollen. Es war Jahre her, dass ich nicht dazu in der Lage gewesen bin, meine Kräfte richtig einzusetzen. Ich war 15, um Himmelswillen! Da hätte mir so was nicht mehr passieren dürfen! Eigentlich hätte der Holzklotz sich ohne große Anstrengungen einfach so in die Luft erheben und dann zum Kamin hinüber schweben müssen. Aber nein. Den hier bekam ich einfach nicht dazu. Es war echt schon peinlich! Ich fühlte mich wie damals, als ich sieben Jahre alt gewesen war und alle den Baum aus dem Samenkorn hatten wachsen lassen können, nur ich nicht. Damals hatte ich sogar für ganze drei Tage lang befürchtet, dass ich nicht ausreichen würde. Also, meine Fähigkeiten. Wer nicht alle vier Elemente aufweist, ist in den Augen der Garde minderwertig. Was sollen die mit einem Unter-Niveau-Gardisten? So einer kann gleich seine Sachen packen! Weil, dann ist man es nicht wert, dass die Garde sich einem zuwendet, für die Ausbildung aufkommt, für ein Dach über dem Kopf. Also, doch. Schon. Letzteres hat man schon. Aber man wird abgeschoben. Man lebt dann in einer von diesen Kolonien und wir wissen ja alle, was das heißt. Man hört ja die Gerüchte. Offiziell heißt es natürlich, dass alles super wäre und-
Egal, lassen wir das. Einmal, ich kann mich noch genau daran erinnern, vor noch nicht allzu langer Zeit – lass es vor ein, zwei Jahren gewesen sein – da war ein Junge im Internat gewesen. So ein süßer, kleiner, unschuldiger Junge mit massig viel schwarzem, unbändigem Haar und riesigen blauen Augen. Er muss so acht gewesen sein. Und nur, weil er nicht auf Anhieb das zweite Element hatte hervorrufen können, hatte man ihn verbannt. Man hatte ihm noch eine Galgenfrist von einer Woche gegeben und als dann aber immer noch nichts passiert war, da hat man ihn abgeschoben. Danach hat ihn niemand mehr gesehen. Ich weiß noch nicht einmal, wie er hieß.
Ich fluchte kurz leise, schloss die Augen und versuchte das Bild des kleinen, unschuldigen, schwarzhaarigen Jungen aus dem Kopf zu kriegen. Um etwas zu tun zu haben, widmete ich mich wieder dem Holzklotz vor mir und machte es so wie die Profanen: Ich nahm den Holzscheit in die Hand und legte ihn in die Glut. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich jemals so schämen würde! Ich konnte nur von Glück reden, dass Matt das nicht gesehen hatte. Der Gedanke daran wie er mich angesehen hätte, was er gesagt hätte, ließ mein Gesicht nur noch mehr glühen. Obwohl… Wenn er gerade mal gut drauf war, dann hätte er vielleicht gesagt, dass es nicht so schlimm gewesen wäre, immerhin sei ich doch noch arg entkräftet.
Ich seufzte und ließ mich im Schneidersitz vor dem Kamin nieder. Die Hitze tat gut und bald war mir wieder warm und mein Gesicht fühlte sich an, als wäre es am Schmelzen. Ich erhob mich und stellte mich ans Fenster. Ich starrte in die Bäume hinaus und versuchte etwas zu sehen. Irgendetwas. Aber es war nach wie vor nur ein ganz normaler Wald.
„Hey.“
Ich hatte ihn schon wieder nicht kommen gehört. Der Kerl musste echt auf leisen Sohlen unterwegs sein.
„Du hast gesagt“, fuhr ich zu ihm herum, „es sei gefährlich da draußen. Warum?“
„Ich hab hier ein paar Sachen für dich“, kam es von ihm, noch ehe ich komplett ausgesprochen hatte. „Ich dachte, du würdest vielleicht duschen gehen wollen.“
Oh, yeah, duschen!
„Cool, danke“, sagte ich freudig und vergessen war meine Frage von eben.
Der Raum wankte nur noch ein ganz klein wenig, als ich mich schnell in Bewegung setzte, um ihm die Sachen abzunehmen und er guckte mich noch nicht mal komisch an. Es musste echt so minimal gewesen sein, dass es ihm noch nicht mal aufgefallen war.
„Den Flur entlang und dann links.“
„Okay. Danke“, meinte ich und dann war ich auch schon verschwunden.
***
Ich hätte nie gedacht, dass sich eine Dusche so himmlisch anfühlen konnte, aber ich fühlte mich wirklich wie neu geboren danach. Die Sachen waren mir ein Bisschen groß – es waren Trainings-Sachen und deswegen mit Gummiband und zum Schnüren – aber immerhin besser als nichts. Vor allem rochen sie nicht nach Rauch. Mit einem Handtuch bewaffnet, mit dem ich versuchte mein Haar einigermaßen trocken zu rubbeln, kam ich aus dem Bad wieder heraus.
„Alles okay?“
Ich schaute ungläubig zu ihm auf, den Knauf der Badezimmertür in der einen, das Handtuch in der anderen Hand.
Ich: Hat der da etwa die ganze Zeit gestanden?
Anderes Ich: Nein, natürlich nicht! Der steht garantiert keine 20 Minuten lang neben der Tür und hört dir beim Duschen zu, Em.
„Mh-mh“, machte ich und wollte an ihm vorbei ins Wohnzimmer gehen.
Aber kurz bevor ich bei ihm ankam, nahm er seine Hände aus den Hosentaschen und stellte sich mitten in den Türrahmen. Seine blauen Augen sahen mich durchdringend an, während er die Arme vor der Brust kreuzte. Ich hörte auf mir die Haare trocken zu rubbeln und fror ein. Super… Und was hab ich jetzt schon wieder falsch gemacht?
„Wie geht es dir?“
Jetzt echt? Ich rollte mit den Augen und fing wieder an meine Haare zu frottieren. Schon wieder? Ich versuchte nun doch an ihm vorbei zu kommen, aber er griff mit einem mahnenden „Emily“ nach meinem Arm und ließ mich zwei, drei Schritte zurückgehen, so dass ich wieder direkt vor ihm stand. Ich hatte keinen Plan, ob es war, weil ich die Augen gerollt hatte, weil ich ihm nicht geantwortet hatte, oder aber, weil ich versucht hatte seiner Frage sprichwörtlich aus dem Weg zu gehen.
„Alles super“, gab ich trotzig von mir, „wunderbar, in bester Verfassung. Was genau willst du denn hören?“
Er nahm zwar seine Hand von meinem Arm und seufzte, nahm seinen missbilligenden Blick aber nicht von mir.
„Man hat dich in meine Obhut gegeben und-“
Ich schnaubte. In seine Obhut gegeben? Wohl eher: Er hat mich in seine Obhut gebracht. Eigenhändig. Doch das verächtliche Schnauben meinerseits war wohl mal wieder zu viel. Etwas, das man einem Sentinel gegenüber eben nicht machte. Seine Gesichtszüge verhärteten sich und ich dachte nur: Klasse, Em, ganz super! Ich hatte den Mund geöffnet, um ihm zu sagen, dass man mich eben nicht in seine Obhut gegeben hatte, aber ein Blick in sein Gesicht genügte und ich presste die Arme um meinen Körper – das Handtuch achtlos an meiner Seite – und starrte gen Boden. Meine Lippen presste ich vorsichtshalber fest aufeinander, damit ich nicht doch noch etwas sagte, das ich später bereuen würde.
„Man hat dich in meine Obhut gegeben“, wiederholte er mit Nachdruck, „und deshalb ist es meine Pflicht sicherzustellen, dass es dir gut geht.“
„Mir geht es gut“, murmelte ich gen Boden und versuchte meine Stimme nicht gereizt klingen zu lassen.
Was nicht so hundertprozentig funktionierte. Ich mochte es nicht, wie er mich behandelte. Ich war kein kleines Kind mehr, das man babysitten musste! Ja, ich war ihm dankbar, dass er mich da raus geholt hatte. Natürlich. Aber warum musste er sich jetzt so aufspielen? Ich stand aufrecht und war auch nicht am Zittern und die Suppe von vorhin war auch nicht wieder hochgekommen. War doch alles bestens! Das konnte er doch wohl bitte mit eigenen Augen sehen!
Außerdem machte es mich wahnsinnig, dass er andauernd nachbohrte und mir Fragen stellte, ich ihm aber keine stellen durfte. Warum hatte er das Recht dazu, ausweichend zu werden und wenn ich das machte, dann wurde er sofort sauer?
„Definiere gut.“
Seine Stimme klang kalt und ich konnte nicht nachvollziehen, warum er immer noch so sauer war. Ich meine, immerhin hatte ich ihm geantwortet. Ich fand, er hatte nicht das Recht dazu, jetzt noch so zu reagieren. Okay… dachte ich und versuchte mich mit einem tiefen Atemzug zur Ruhe zu zwingen. Vielleicht kann ich alles wieder gut machen, wenn ich einfach mal ein Bisschen angriffslustig werde. Vorhin hat das ja immerhin auch gut funktioniert.
„Naja, also gut ist, wenn es einem an nichts mangelt. Es ist das Gegenteil von-“
„Emily, verdammt!“ brüllte er plötzlich und schlug mit der Hand gegen den Türrahmen, so dass ich zusammenzuckte.
Okay, keine gute Idee! Ich zog es dann doch vor, wieder gen Boden zu blicken, direkt auf seine dunklen Schnürschuhe, konnte seinen zornigen Blick aber trotzdem ziemlich deutlich auf mir spüren. Überdeutlich, um genau zu sein, und mein Magen zog sich krampfhaft zusammen.
„Sorry“, wisperte ich und es klang wie eine Frage.
Ich hörte ihn laut durchatmen, so wie ich eben. So, als müsste er sich zur Ruhe zwingen. Wieso machst du das eigentlich? Man soll einen Sentinel niemals zornig machen. Man, Emily, das hat man dir schon eingetrichtert, da konntest du noch nicht mal richtig stehen! Und jetzt das hier!
„Ehrlich, es… es tut mir leid.“
Jetzt war es an ihm verächtlich und wütend zu schnauben und ehe ich mich versah, hatte er sich auch schon abgewandt und war davon gegangen. Okay… Ich sah auf, als er gerade im Wohnzimmer verschwand. Ich hob das Handtuch auf, das mir bei seiner kleinen gegen-den-Türrahmen-Schlag-Aktion aus der Hand gefallen war und blieb dann doch unschlüssig stehen. Sollte ich hinter ihm her gehen? Sollte ich mich bei ihm entschuldigen? Du hast dich gerade bei ihm entschuldigt, schaltete sich mein Kopf ein. Zwei Mal. Aber nicht hinter ihm herzugehen, das fühlte sich irgendwie auch nicht richtig an. Allerdings wusste ich auch nicht, wie ich ihn sonst noch besänftigen sollte, wenn es Entschuldigungen an sich schon nicht brachten. Genauso gut hätte ich auch wieder zurück in mein – sein! – Zimmer gehen können. Ich hatte keinen Plan, ob wir jetzt die Zimmer getauscht hatten. Ich meine, nach der Aktion mit dem Glas und der Scherbe in meiner Hand, da hatte er mich in sein Zimmer gebracht. Aber hieß das jetzt, dass das mein Zimmer war? Oder aber nur, dass es vorübergehend mein Zimmer war? Eben nur für so lange, bis das Wasser auf dem Bett wieder getrocknet war. Und das war es mittlerweile garantiert.
Andererseits sah es auch nicht so aus, als wäre er momentan sonderlich gut auf mich zu sprechen. Also zog ich es dann doch vor, mich auf mein/sein Zimmer zurückzuziehen. Dort tigerte ich dann erst einmal ein paar Minuten wie so ein Panther im Käfig auf und ab, bis ich mir dann eingestehen musste, dass das auch irgendwie nichts brachte. Weder der Knoten in meinem Inneren, noch das eigentliche Problem ließen sich dadurch lösen. Außerdem fingen meine Beine bald wieder an zu zittern, als die Erschöpfung abermals von meinem Körper Besitz ergreifen wollte.
Ich ließ mich auf dem Bett nieder und fuhr mir mit zittrigen Händen über das Gesicht und wusste nicht so recht, was ich jetzt machen sollte. Unterschwellig hatte ich irgendwie erwartet und gehofft, dass einfach gleich die Tür aufgehen und er hereinkommen würde. Mit einem dieser leichten, schiefen Grinsen auf dem Gesicht, das sein Grübchen erscheinen ließ. Dass alles wieder gut wäre und er mir verziehen hätte. Aber Pustekuchen! Aber was, bitte schön, sollte ich denn noch machen? Ich hatte mich entschuldigt! Zwei Mal!
Energisch erhob ich mich – das Zimmer drehte mal wieder seine Runden um mich herum, kam aber schnell wieder zum Stehen – und begab mich an den Schreibtisch, der vor dem Fenster stand. Ich suchte nach einem Stift und einem Blatt Papier und hatte dann auch schnell Schreibunterlagen gefunden. Ich starrte aus dem Fenster, mich wieder mal fragend, was, um Himmelswillen, da draußen eigentlich gefährlich für mich sein sollte, und riss dann meinen Blick von den Bäumen los. Ich starrte auf das Blatt Papier vor mir und kaute an dem Stift herum, doch irgendwie und mit irgendetwas musste ich ja anfangen.
Matt,
Du wolltest wissen, wie es mir geht – ich will es Dir sagen. Ich bin etwas erledigt und wenn ich schnell aufstehe, dann dreht sich alles. Das legt sich aber schnell wieder. Doch am Meisten bin ich verwirrt und verärgert.
Verwirrt, weil ich Deine Reaktion nicht verstehe: Ich weiß nicht, was genau ich gemacht habe, um Dich derart zu verstimmen. Verärgert bin ich, weil ich alles gemacht habe, was Du von mir verlangt hast. (Ich bin freiwillig zurückgekommen, nur so ganz nebenbei! Ich habe mich entschuldigt – zwei Mal!) Und dennoch bist Du immer noch so wütend auf mich... Das verstehe ich nicht und ich finde, Du reagierst über.
Ich weiß, dass ich mich hier jetzt gerade ziemlich weit aus dem Fenster lehne, indem ich Dir das hier schreibe. Ich weiß auch, dass es mir nicht zusteht, `so´ mit Dir zu reden, aber ich finde, Du hast auch kein Recht, mich `so´ zu behandeln. Ich bin kein kleines Kind mehr und kann die Wahrheit ertragen (und alles, das mit ihr kommt).
Du kannst mir nicht einfach sagen, es sei gefährlich da draußen. Ich will wissen warum! Außerdem will ich wissen, warum Du ausgerechnet `mich´ da raus geholt hast. Warum `mich´ und keinen anderen?
Woher wusstest Du überhaupt, dass du `mich´ retten musstest? (Wir haben uns vorher noch nie gesehen – vielleicht hast Du auch die Falsche gerettet…) Was meintest Du mit `Order von ganz oben´? Und woher wusstest Du überhaupt, dass das Internat in Flammen stand – noch vor der Feuerwehr und der Polizei? (So ganz ohne Antworten Deinerseits muss ich davon ausgehen, dass Du damit etwas zu tun hattest…)
Fass mich bitte nicht mit Samthandschuhen an! Ich kann die Wahrheit ertragen und ich finde, die bist Du mir schuldig. Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich Dir Rede und Antwort stehe, wenn Du im Gegenzug es nicht auch tust.
Emily
Ich überflog den Brief noch einmal, faltete ihn dann zusammen, atmete einmal tief durch und machte mich dann auf den Weg ins Wohnzimmer. Ich hörte schon von weitem, dass er dabei war das Feuer zu schüren – eine Tätigkeit, die er eigentlich gar nicht hätte machen müssen. Er hätte einfach, so wie vorhin, einfach nur dran denken müssen und das Feuer hätte ihm gehorcht. Aber wahrscheinlich brauchte er irgendeine Aktivität, um wieder runter zu kommen. Irgendetwas, an dem er seinen Frust abreagieren konnte.
Er hockte dann auch wirklich vor dem Kamin, den Rücken zu mir, und machte keinerlei Anstalten sich zu mir umzudrehen. Er ignorierte mich einfach komplett. Innerlich konnte ich mich nicht entscheiden, ob mich das noch fuchsiger machen oder aber ich lieber doch auf dem Absatz kehrtmachen sollte, weil ich so langsam aber sicher wieder Angst vor ihm bekam. Wenn er sich mir nicht widmen wollte, dann musste ich ihn echt ziemlich auf die Palme gebracht haben.
Aber er hatte es im Gegenzug auch getan und sein jetziges Verhalten spiegelte sein vorheriges nur all zu gut. Die Wut gewann die Oberhand, weil ich fand, dass er kein Recht dazu hatte, mich einfach so links liegen zu lassen. Also räusperte ich mich. Er drehte sich zwar nicht um, doch ich sah wie seine Schultern sich anspannten. Es schien fast so, als würden sie noch breiter werden als sie ohnehin schon waren. Ich hatte nicht das Bedürfnis mit seinem Rücken zu sprechen, also wartete ich. Irgendwann würde er sich schon zu mir umdrehen. Er konnte ja wohl nicht bis ans Ende aller Tage vor dem Kamin hocken bleiben.
Ich starrte ihn an, so als könnte ich Löcher in seinen Rücken brennen – hätte ich meine vollen Kräfte gehabt und wäre nicht so erledigt gewesen, dann hätte das sogar funktioniert. Nach einer gefühlten Ewigkeit sah ich, wie sein Brustkorb sich aufblähte, als er tief einatmete. Dann legte er den Schürhaken langsam beiseite und fuhr sich mit der rechten Hand durch sein dunkles Haar und erhob sich.
„Was willst du?“ fragte er.
Jetzt
„Kommst du?“ durchbrach Chases Stimme die Erinnerung.
Sie waren jetzt anders als das erste Mal. Nicht mehr so transparent. Sie waren lebendig und richtig farbig und mein Magen befand sich wieder in meinen Kniekehlen. Genauso wie damals.
„Was? Ja, “ sagte ich zerstreut und erhob mich.
Chase lehnte sich nur ein wenig vor, um einen Blick in meine Tasse zu werfen und sein Mund wurde zu einer einzigen weißen Linie, als er sah, dass ich meinen Kaffee gar nicht angerührt hatte. Aber ich bekam gerade nichts runter. Ich zog mir nur schnell meine Jacke über und schnappte mir meinen Rucksack.
„Das nächste Mal zahle ich.“
„Ts“, machte er nur, während er sich seiner Jacke widmete, „womit denn bitte schön? Du hast kein Geld dabei.“ Ich deutete nur mit meinem Zeige- und Mittelfinger auf meine Augen und er verstand auch so. „Was, wenn dich jemand sieht?“ meinte er und fasste mich am Arm, als ich an ihm vorbeiging. Sein Griff war fest und er lehnte sich etwas zu mir herunter und senkte seine Stimme, so dass die restlichen Gäste des Cafés es nicht hörten: „Untertauchen heißt unsichtbar werden. Wir dürfen nicht auffallen, Emily. Besonders nicht als das, was wir eigentlich sind.“
Und damit führte er mich dann auf die Straße hinaus, die mittlerweile schon grau-blau war. Es würde nicht mehr lange dauern und die ersten Sonnenstrahlen würden am Himmel erscheinen. Also, nicht, dass man sie sehen würde. Es war wolkenverhangen und grau und während wir in dem Café gesessen hatten, hatte es zu nieseln angefangen und die Scheinwerfer der Autos – die jetzt zahlreich auf der Straße fuhren – spiegelten sich blendend auf der nassen Fahrbahn wieder. Am liebsten hätte ich kehrt gemacht und wäre schnurstracks ins Café zurückmarschiert. Aber Chase hatte Recht. Wir mussten weg. Mussten Distanz zwischen uns und das St. Michaels bringen. Je näher wir waren, desto eher würden die Gardisten uns finden. Außerdem war es nur eine Frage der Zeit, bis die Seleiki herausfanden, dass ich mich dort aufhalten sollte – deswegen ja meine zwei Kletten, Clemens und Anna. Je mehr Abstand wir also zwischen uns und Chases Zuhause brachten, desto sicherer waren wir vor den Gardisten und den Seleiki. Andererseits: Rannten wir nicht gerade schnurstracks in die Arme der Seleiki? Wer wusste schon, aus welcher Richtung sie kommen würden?
Gott, wie einfach doch meine Probleme noch vor ein paar Tagen waren, dachte ich und schnaufte lachend durch die Nase.
„Was?“ hakte Chase irritiert nach und hielt in der Bewegung inne.
Er war gerade dabei, seine Kapuze gegen die Nässe und die Kälte hochzuziehen.
„Nichts“, winkte ich ab und er schüttelte nur den Kopf.
Es schien fast Jahre her zu sein, dass ich so simple Probleme wie das mit dem Brief und mit Matt und dem Internat gehabt hatte. Und nur, um mich nicht der jetzigen Situation und all ihren Gefahren zu stellen, hing ich der Erinnerung an den Brief und Matt nach.
Damals
„Was willst du?“ fragte Matt wütend.
Ich hätte seinen Zorn echt mit bloßen Händen anfassen können und das ließ mir einen Schauer über den Rücken laufen. Es kostete mich einiges an Überwindung standhaft zu bleiben, als er sich umdrehte und seine blauen Augen mich förmlich erdolchten. Ich war irgendwie froh, das alles aufgeschrieben zu haben – ich hätte jetzt gerade garantiert kein einziges Wort über die Lippen bringen können. Und so streckte ich ihm einfach nur wortlos meine Hand entgegen. Der Brief zitterte leicht in meinen Fingern, aber daran konnte ich jetzt auch nichts ändern. Er ignorierte ihn einfach, komplett, und starrte mich nur weiterhin an. Jetzt nimm endlich den bescheuerten Brief, flehte ich ihn an.
Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis er endlich einmal die Augen von meinem Gesicht nahm und einen Blick auf das Papier in meiner zitternden Hand warf. Sein Blick flog wieder zu meinem Gesicht zurück, so als würde er fragen wollen Was soll ich damit?. Ich hielt nur weiter den Arm ausgestreckt, der so langsam aber sicher schwer wurde. Doch ich blieb standhaft und dann setzte er sich endlich in Bewegung und ich biss mir auf die Unterlippe, um nicht vor ihm zurückzuweichen. Er blieb etwa einen Meter vor mir stehen und blickte auf mich herab – momentan schien ich ihn nicht im Mindesten zu amüsieren. Eher genau das Gegenteil. Und als er dann endlich nach meinem Brief griff, da war es zackig und schnell, so als würde es ihn ärgern, dass er es tat.