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Die Flutwelle

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Auf dem Gipfeltreffen 2002 im „Bella Center“ in Kopenhagen waren es die Worte des dänischen Regierungschefs Anders Fogh Rasmussen: „We have an agreement“, welche die neue Wirklichkeit symbolisierten.

Staatsoberhäupter von den 15 EU-Ländern hatten sich auf den EU-Beitritt von acht osteuropäischen Ländern vom 1. Mai 2004 an geeinigt: Polen, Lettland, Litauen, Estland, Slowakei, Ungarn, Slowenien und Tschechien. Rumänien und Bulgarien sollten später folgen.

Die neuen EU-Länder hatten einen viel niedrigeren Lebensstandard als die alten EU-Länder, und der Lohn im Osten entsprach bloß neun Prozent des Lohnes im Westen.1 In den Jahren nach der Erweiterung trieb die verbreitete Armut hunderttausende Ost-Europäer in den Westen, um dort zu arbeiten. Für Bauarbeiter, Reinigungsangestellte und LKW-Fahrer überall in Westeuropa fühlte es sich so an, als wäre ihre Branche von einer Flutwelle erfasst worden. Eine Flutwelle billiger Arbeitskräfte, die für immer die Branchen verändern sollte, die dänische Baubranche ist eine dieser Branchen.

Ich bin Betonarbeiter in Dänemark. 1999 fing ich in der Baubranche an und ich erlebte die „alten Zeiten“ vor der Osterweiterung, vor der Flutwelle. Meine erste Anstellung hatte ich als Schichtarbeiter in einer Zimmermannsgruppe in Kopenhagen. Am ersten Arbeitstag fragte mich der Schichtmeister, ob ich in der Gewerkschaft sei. Beschämt musste ich ihm mitteilen, dass ich noch nicht beigetreten sei, aber die Absicht hatte, mich demnächst bei der alten Gewerkschaft 3F anzumelden. Der Schichtmeister unterbrach mich und sagte in einem bestimmten Ton, dass wenn ich in dieser Gruppe arbeiten möchte, dann sollte ich mich bei der Schreinergewerkschaft TIB anmelden, und zwar heute noch. So war die „alte“ dänische Baubranche: traditionsgebunden, mit strickten fachlichen Grenzen und hohen Löhnen.2

Die Gewerkschaften organisierten beinahe 90% der Handwerker, und so gut wie alle Unternehmen hatten das Abkommen unterzeichnet. Typisch waren es kleine fachspezialisierte Firmen, in denen der Meister selbst mit anpackte. Für die wenigen großen Unternehmer war es Ehrensache, den größten Teil der Arbeit selbst zu erledigen, und ausländische kleine Unternehmer wurden in der Regel nur für Spezialaufgaben herbeigezogen.3 All das änderte sich in den Jahren nach 2004, zum Guten und zum Schlechten.

Für mich und meine Kollegen wurde die Osterweiterung hauptsächlich zur Bedrohung bezüglich unserer Lohn- und Arbeitsbedingungen. Zehntausend osteuropäische Bauarbeiter mit niedrigem Lohn kamen ins Land um eine Arbeit zu bekommen. Im Normalfall würde ich für eine Arbeitsstunde zwischen 170 und 220 dänische Kronen verlangen, aber die Osteuropäer arbeiteten für 70 bis 120 dänische Kronen die Stunde. Wenn der enorme Einsatz der dänischen Baugewerkschaften und der vielen fachlich aktiven Bauarbeiter nicht gewesen wäre, wären auch keine Gehaltstarifverhandlungen zustande gekommen. Die Mitte-links Regierung, die nach den Wahlen 2011 gebildet wurde, hat zwar auch großen Einsatz geleistet, aber es waren die Aktionen der Bauarbeiter, die das Thema auf die politische Tagesordnung brachten. Es waren ihre Demonstrationen, die die öffentlichen Bauherren so unter Druck setzten, dass Arbeitsklauseln eingeführt wurden. Es waren ihre Streiks, die an den Baustellen die Abkommen sicherten. Es war ihr Wille, sich dem Kampf zu stellen, der die Arbeitgeber dazu zwang, Verbesserungen in den Abkommen zu akzeptieren. Im Prozess mussten die Gewerkschaften sich selbst neu erfinden. Muskeln, die seit Jahren nicht mehr benutzt worden waren, wurden wieder ins Leben gerufen und zeigten ihre ganze Kraft. Aber auch die Probleme der nationalen Gewerkschaften kamen dabei in der neuen, globalisierten Wirklichkeit zum Vorschein.

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