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Werte in Zeiten globalen Wandels
ОглавлениеSie wird uns als alleinseligmachend gepriesen und als unausweichlich verkauft: die Globalisierung. Und doch genießt sie inzwischen vielerorts einen ziemlich schlechten Ruf. Was ist sie überhaupt? Das Durchbrechen von Grenzen, das Ende des Anderen, meint Ulrich Beck. Tony Blair glaubt, sie sei zugleich ein Naturereignis und das Ergebnis der Wahl von Einzelpersonen, „the result of choices of individuals“. Nimmt man diese Vorstellung ernst, leiden Globalisierungsgegner an einem psychologischen Problem: Sie flüchten aus der Wirklichkeit.
Andere behaupten, diese Globalisierung sei der politische Staatsstreich einer reichen Minderheit. Der US-Ökonom und Alternative Nobelpreisträger Hermann Daly nennt sie den letzten Versuch, den natürlichen Grenzen des Wachstums zu entkommen, indem man in den ökologischen und ökonomischen Raum anderer Länder hineinwächst. Es gibt Studien, die belegen, dass eine kleine Gruppe von US-Milliardären in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren eine Milliarde Dollar investiert haben, um die entsprechenden Think Tanks aufzubauen, Karrieren, Politiker und Medien zu fördern, die gerade dieses ökonomische Modell der Globalisierung propagieren.
David Korten, langjähriger Chef der Ford Foundation in Asien, Lehrer an der Harvard Business School, offensichtlich also niemand, der dem politisch linken Lager zuzurechnen ist, schreibt, dass es nicht einfach war, eine Welt zu schaffen, in der eine kleine Zahl von Dollarmilliardären so viel besitzen wie die ärmere Hälfte der Menschheit.
Es hat sehr große Anstrengungen dieser Milliardäre und ihrer Helfershelfer in Politik, Justiz und Medien gebraucht, diese Ordnung zu etablieren. Und es wird genauso große Anstrengungen der globalen Zivilgesellschaft brauchen, eine Globalisierung aufzubauen, die fair und nachhaltig ist.
Es gibt keinen Freihandel in diesem Globalisierungsmodell, es gibt einen kontrollierten Handel im Interesse einer mächtigen Minderheit. Denn wenn es wirklich um Freihandel ginge, wären die entsprechenden Abkommen, die die Übergangsfristen regeln, sehr kurz. Die Tatsache, dass sie Tausende von Seiten Umfang haben, zeigt, dass hier vielmehr der Schutz von Privilegien betrieben wird. Der amerikanische Ökonomie-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz hat darauf hingewiesen, dass wir einem globalen Wandel unterworfen sind, in dem sich das Kapital immer freier bewegen kann, aber nicht die Arbeit. Natürlich würde ein Modell mit anderen Regeln einen ganz anderen globalen Wandel, mit anderen Werten, Vorteilen und Nachteilen fördern.
Aber profitieren denn nicht alle irgendwie? Nein, nicht einmal nach den eigenen Kriterien dieser Globalisierung. Denn das Wirtschaftswachstum war, sowohl regional wie global, in den sechziger und siebziger Jahren überall bedeutend höher als in den letzten Jahrzehnten. Wir sollten nicht glauben, dass die Globalisierung, wie wir sie nun haben, „natürlich“ ist oder dass sie unser Leben „dereguliert“. Im Gegenteil: Es wird alles global detailliert reglementiert.
Eine Trägerin des Alternativen Nobelpreises, Vandana Shiva, erzählt, wie in Indien in den letzten Jahren eine sehr merkwürdige Kette von Speiseölvergiftungen auftrat. Man hatte so etwas vorher nie erlebt, die Verantwortlichen sind nie gefasst worden. Aber plötzlich hatte die Regierung einen Vorwand, den Handel mit lokal produziertem Speiseöl zu verbieten. Hunderttausende von Arbeitsplätzen gingen verloren. Gleichzeitig öffnete man die Grenzen für genmanipulierte amerikanische Sojaölimporte. Hier geht es nicht um mehr „Effizienz“. Es geht um Macht. Eine amerikanische Unternehmerin erzählte kürzlich, wie eine große Supermarktkette, die ihr ihre Produkte abkaufte, plötzlich forderte, von ihren besten Produkten schon im Voraus die Zeichnungen zu bekommen. Sie stellte dann fest, dass diese Zeichnungen nach Asien geschickt wurden, um herauszubekommen, wie billig man dort diese Produkte herstellen könnte. Dann kam ihr Großabnehmer und verlangte denselben Preis von ihr. Als sie sagte: „Na, dann kaufen Sie es doch in Asien“, antwortete er: „Nein, nein, wir wollen ja Ihren Service, Sie sind ja hier vor Ort.“ Also asiatische Preise, aber Service vor Ort. Die Betreffende ist keine Unternehmerin mehr, denn sie ging natürlich danach sehr schnell bankrott.
Diese Methoden bezeichnet David Korten als Selbstmordwirtschaft, denn wer die lokale, die regionale Wirtschaft zerstört, zerstört die Basis jeder nachhaltigen Ökonomie. Korten fragt, warum es denn besser sei, von privaten als von staatlichen Planwirtschaften regiert zu werden. Die staatlichen Planwirtschaften kommen wenigstens formell dem ganzen Volk zugute, die Privaten sind aber gesetzlich dazu verpflichtet, nur ihren Aktionären zu dienen. Korten berichtet, heute seien die 52 größten Planwirtschaften der Erde private Großunternehmen. An 53. Stelle kommt dann Kuba. In seinem Buch The Post-Corporate World – Life after Capitalism beschreibt Korten eine Welt nach dem Kapitalismus. Sieht man auf die rückseitige Klappe, findet man unter den Zitaten, die das Buch loben unter anderem folgendes: „Ein erfrischendes Signal für die Zukunft“, Klaus Schwab, World Economic Forum. Der Mann, der jährlich in Davos das größte Treffen der globalen Kapitalisten organisiert, empfindet also ein Buch über „das Leben nach dem Kapitalismus“ als erfrischendes Signal für die Zukunft!
Die Regeln der derzeitigen Globalisierung sind nicht da, um etwa aus den Interessen aller Menschen ein gemeinsames Projekt zu destillieren. Im Gegenteil, es sind Gesetze, die die Interessen einer kleinen Minderheit allen anderen aufzwingt. Wer versuchte, sich zurückzuziehen, wie Freunde von mir in Skandinavien nach Tschernobyl, die im Wald lebten und dort Gemüse anbauten und Fische fingen, war der radioaktiven Verseuchung nur noch mehr ausgesetzt als die Leute in den Städten, die importierte, nicht radioaktive Lebensmittel kaufen konnten. Den Folgen etwa der CO2-Emissionen können wir uns noch weniger entziehen.
Es heißt, der Weltmarkt schafft Arbeitsplätze, aber weniger als ein Prozent der globalen Arbeitsplätze wurde von den Großunternehmen geschaffen, die diese enorme Macht haben. Warum? Weil solche Arbeitsplätze sehr teuer sind. Weil in Indien zum Beispiel die Kosten eines Arbeitsplatzes für die regionale Wirtschaft ungefähr ein Prozent der Kosten eines Arbeitsplatzes für die globale Wirtschaft ausmachen. In Industrieländern wie Großbritannien ist der Unterschied immer noch eins zu fünf. Gustavo Esteva, ein Mexikaner, der lange für die UNESCO arbeitete und sich dann in die Slums von Mexiko City zurückzog, stellte fest, dass es in den achtziger Jahren den Armen und den Ärmsten besser ging, als „die Wirtschaft“ zusammenbrach, weil sie außerhalb dieser Weltwirtschaft lebten. Plötzlich entstand eine Situation, in der die Mittelschicht es sich nicht mehr leisten konnte, zu McDonald’s zu gehen, und die Armen machten kleine Imbissbuden auf und hatten plötzlich genügend Kunden. Die Vertreter für elektrische Geräte US-amerikanischer Herkunft machten ihre Büros in Mexiko zu, und die Mittelschicht wusste gar nicht mehr, wo sie diese Geräte reparieren lassen konnte, bis die Armen dann Reparaturwerkstätten gründeten. Das geht natürlich immer weniger, wenn der Grad der Weltmarkt-Integration wächst. Dann können die Ärmsten sich am wenigsten schützen. Das erlebten wir in den neunziger Jahren bei der Krise in Fernost. Es war zwar so, dass es zum Beispiel in Thailand hauptsächlich die Mittelschicht war, die unter der Krise litt. In Indonesien aber waren es schon die Armen, die überhaupt nichts mehr für sich selbst produzierten. Ihr Land war ihnen inzwischen von den Großgrundbesitzern weggenommen worden, die Tabak für den Export anbauten. Alte Fähigkeiten werden schnell vergessen, werden zerstört durch Billigimporte und belegt mit dem Stigma des Primitiven. Man baut keine Häuser aus Lehm mehr, man geht lieber in die Stadt und wird Automechaniker oder Fernsehreparateur.
Es gibt zwei grundsätzliche Entwicklungsmodelle für die Armen. Es gibt das Weltbank-Modell, das, wie die Weltbank inzwischen selbst zugibt, großteils fehlgeschlagen ist. Wenn man heute in afrikanischen, lateinamerikanischen und vielen asiatischen Ländern fragt, wie es der Mehrheit der Bevölkerung gehe, wie denn ihre Lebensqualität sich verändert habe, kommt fast immer die Antwort, der großen Mehrheit gehe es schlechter als noch vor zwanzig Jahren.
Es gibt aber ein anderes Modell: das Modell von Kerala. Kerala ist ein indischer Bundesstaat, noch ärmer als der indische Durchschnitt, wo man aber nicht warten wollte auf das eventuelle „trickledown“, das Heruntertröpfeln des Geldes der Reichen. Die Menschen in Kerala haben sich in großen Volksorganisationen zusammengetan – mit dem Ziel, den Analphabetismus abzuschaffen (die Raten liegen heute bei denen der Industriestaaten), die Säuglingssterblichkeit zu reduzieren und die Lebenserwartung zu erhöhen. Auch diese liegen inzwischen auf dem Niveau der Industriestaaten. Aber jetzt sagen uns die Vertreter dieser großen Organisationen, es werde immer schwieriger, in der Zeit der Globalisierung dieses Modell aufrechtzuerhalten. Man könne die eigene Wirtschaft nicht mehr schützen. Der Druck der Individualisierung würde zunehmen, das Kerala-Modell sei altmodisch.
Wer wagt schon, wie Ex-Präsident Aristide in Haiti, zu erklären, sein Ziel sei es, das Volk von Haiti aus der Misere in eine Armut mit Würde zu führen? Heute sind die USA das globale Ziel. Unsere Regierungen dürfen uns vor diesem (illusionären) Ziel nicht mehr schützen. Das verstößt gegen irgendwelche Regelungen der Welthandelsorganisation, der Weltbank oder des Währungsfonds. Wir dürfen uns nicht schützen vor Importen von genmodifiziertem US-Getreide. Wir dürfen nicht mehr bestimmen, welche Risiken wir eingehen, welche Opfer wir dem Moloch Weltmarkt bringen.
Wenn die Abhängigkeit vom Weltmarkt total wird, gibt es kein Entkommen. Das ist bereits heute vielfach der Fall: Die Menschen hungern nicht, weil es in ihrem Land nichts zu essen gibt. Länder, in denen gehungert wird, sind oft Nettoexporteure von Lebensmitteln, auch in Zeiten des Hungers. Oder sie exportieren Futtermittel für unsere Tiere, weil unsere Tiere eine höhere Kaufkraft haben als die dortige Bevölkerung. Die großen Farmen gehören einheimischen Großgrundbesitzern, die in den Städten leben und keinen Kontakt mehr zur Landbevölkerung haben. Oder sie gehören ausländischen Unternehmen. Es gibt keine solidarische Reziprozität mehr. Es gibt nur noch die Geldwirtschaft. Alte Strukturen sind zerstört durch die Feier eines ungehemmten Individualismus, einer ungehemmten Habgier – ein menschlicher Charakterfehler, der plötzlich hoch gelobt wird als etwas Natürliches und Universelles.
Die wirtschaftliche Globalisierung bestimmt heute alle Aspekte des globalen Wandels. Alle Lebensbereiche werden zunehmend ökonomisch gesteuert. Die Demokratie regelt immer weniger, denn hinter den politischen Beschlüssen stehen Kosten-Nutzen-Analysen von Ökonomen. Bei drohenden Umweltschäden hat man zuerst den Menschen die logische Frage gestellt, wie viel Schadensersatz sie verlangen, um die Umweltschädigung, die durch den Bau zum Beispiel einer neuen Fabrik verursacht wird, zu akzeptieren. Allerdings wurden dann so hohe Schadensersatzforderungen gestellt, dass keines dieser Großprojekte einen wirtschaftlich Sinn hatte. Das war natürlich nicht das gewünschte Ergebnis. Die Ökonomen entschlossen sich daher, die Sache andersherum anzugehen. Jetzt fragen sie: Wie viel würden Sie bezahlen, damit diese Umweltschädigung nicht eintritt? Sie schauen sich dann den Verdienst der betroffenen Leute an und befinden, dass diese gar nicht so viel zahlen können und reduzieren die Beträge entsprechend, damit die Projekte ihren Auftraggebern noch „wirtschaftlich“ erscheinen.
Diese Strategie ist auf dem Gebiet des Klimachaos besonders verheerend. Denn die meisten, die darunter leiden werden, leben in armen Ländern und die meisten, die dafür zahlen müssten, in den reichsten Ländern. Die Ökonomen glauben, dass man den Wert eines Lebens danach berechnen muss, was sich jemand leisten kann. Der Wert eines aus Bangladesch stammenden Menschen wird daher mit einem Fünfzehntel dessen bewertet, was den Lebenswert eines Amerikaners ausmacht. Die Bangladeschis können es sich also gar nicht leisten, sich vor dem Ertrinken zu retten! Durch diese Berechnungen kann man ökonomisch belegen, dass es billiger ist, sich dem Klimachaos anzupassen, als es zu verhindern. Das sind die versteckten Berechnungen, die hinter Bewertungen stehen, die angeblich neutral sind.
Die meisten Menschen wollen das Gefühl haben, im Einklang mit den Werten ihrer Gesellschaft zu leben. Ein Minister der vorherigen indischen BJP-Regierung, die mit aller Macht versucht hatte, Indien zu globalisieren und deswegen die Wahl verlor, sagte in einem Zeitungsinterview: „Mit den Werten ist es jetzt vorbei. Wir ermuntern die Leute, egoistischer zu werden.“ Die Wertelücke wird durch Marktwerte gefüllt. Der globale Wandel ist also nicht der Wandel des Bürgers zum Weltbürger, sondern der Wandel des Verbrauchers zum globalen Konsumenten.
Früher wurden Greenpeace und Amnesty International noch von etwa fünfzig bis sechzig Prozent der Befragten als glaubwürdig gesehen. Inzwischen liegen sie bei dreißig Prozent, und eine absolute Mehrheit traut keiner Institution mehr. Der Alternative Nobelpreisträger Robert Jungk hat Zukunftswerkstätten entwickelt, in denen Menschen zusammenkamen und das Gefühl gewannen, dass sie selbst ihre Zukunft mitbestimmen können. Dazu müssen wir aber aus dem Gefängnis unseres postmodernen Werterelativismus heraus. Wir müssen Werte haben, an die wir tatsächlich glauben. Es kann nicht reichen, zu sagen: Dies ist halt mein Wert, und alle anderen haben andere, genauso gültige Werte. Der Glaube, es gebe europäische Werte, aber Asia-ten und Afrikaner hätten nun einmal ganz andere Werte, entspricht nicht meiner Erfahrung. Es heißt, in Europa würden individuelle Werte höher gesetzt, dort aber gemeinschaftliche Werte. Aber in vielen dieser Länder werden gemeinschaftliche Werte genauso unterdrückt wie individuelle.
Der erste, der grundlegende gemeinsame Wert – eine Art menschlicher Brutinstinkt – ist der Wunsch, vielmehr: die tief gefühlte Verantwortung, unseren Kindern eine bessere oder wenigstens keine schlechtere Welt zu übergeben. Hätten wir Menschen nicht diesen Brutinstinkt, wären wir gar nicht mehr hier. Wir müssen diesem noch vorhandenen Brutinstinkt wieder die Kraft geben, die er einmal hatte. Zur Zeit wird er von den Werten des globalen Konsums unterdrückt. Ein Problem ist, dass dieser Wert keine Institutionen mehr hat, die für die Interessen zukünftiger Generationen sprechen.
Merkwürdigerweise besaßen unsere Vorfahren solche Institutionen, obwohl ihre Entscheidungen viel weniger Einfluss auf die Zukunft hatten. Trotzdem fragten die Ureinwohner Nordamerikas bei ihren Beschlüssen immer, wie sie sich das auf die siebte Generation nach ihnen auswirken würden. In anderen Teilen der Welt gab es formelle Institutionen vergleichbarer Art. Im vorkolonialen Südindien existierten beispielsweise Räte der Seher in die Zukunft, die ein Vetorecht hatten.
Heute stehen wir vor einer historisch einmaligen Herausforderung. Die Folgen des Klimachaos sind kaum vorstellbar. Ohne ein stabiles Klima nützen die Menschenrechte wenig. Es funktioniert dann auch keine Wirtschaft und keine Zivilisation. Dass es so weit gekommen ist, ist Beweis für ein unglaubliches Marktversagen und gleichzeitig ein Demokratie- und Politikversagen. Wir haben durch unseren Werterelativismus den Sinn für Gefahrenhierarchien verloren. Alle reden vom nachhaltigen Haushalten, als ob die ökonomische Nachhaltigkeit das Wichtigste wäre. Natürlich sollten wir kein Geld verschwenden, aber man muss sich immer wieder vergegenwärtigen, dass es den finanzpolitischen GAU, den Staatsbankrott, schon häufiger in der Geschichte gab. Doch die Folgen waren immer innerhalb einer Generation überwunden. Ein ökologischer Bankrott hingegen wird auch nach Tausenden von Generationen nachwirken, wenn er überhaupt wieder rückgängig zu machen ist. Mit Schuldnern kann man verhandeln, man kann umschulden, man kann stunden, man kann sogar einfach die Rückzahlung verweigern. Man kann den Bankrott erklären. Aber mit schmelzenden Gletschern kann man nicht verhandeln.
Wir müssen unsere Politik, Sicherheit und Entwicklung wieder mit unserem Leben und unserem Konsum verbinden. Technischer Fortschritt allein reicht nicht aus, um unsere Probleme zu lösen. Auch die virtuelle Realität braucht Energie, auch Computer-Abfälle müssen entsorgt werden. Knappes Wasser kann virtuell weder ersetzt noch transportiert werden. Sir Winston Churchill sagte 1938: „Die Zeit des Auf-Morgen-Verschiebens, der Halbheiten, Ausflüchte und Tricks ist vorbei. Jetzt kommt die Zeit der Konsequenzen“ – oder, um Al Gore zu zitieren: die Zeit der unbequemen Wahrheiten.
Diese Konsequenzen sind historisch beispiellos. Wir müssen schnelle und tiefgreifende Veränderungen auf vielen Gebieten gleichzeitig durchsetzen: Energiewende, Transportwende, Agrarwende, Kreislaufproduktion, ökologische Steuerreform, sonst zerstören wir das Erbrecht aller zukünftigen Generationen auf einen gesunden Planeten.
Vandana Shiva schreibt: „Die durch Weltbank-Strukturanpassungs-Programme erzwungene Privatisierung der Gesundheitssysteme verbreitet ansteckende Krankheiten, weil kostengünstige, dezentralisierte staatliche Gesundheitssysteme abgebaut werden. Dies ist eine Art von Bio-Terror. Er unterscheidet sich von den Terror-Anschlägen nur insofern, als er von den Mächtigen, nicht von den Ohnmächtigen und Ausgeschlossenen verübt wird, und begründet ist im Fanatismus der Ideologien des freien Marktes, statt im religiösen Fundamentalismus. Aber die Folgen sind gleich: Unschuldige Menschen werden getötet.“
Aus Lateinamerika melden unsere Preisträger geschlossene Krankenhäuser, eingestellte bzw. stark reduzierte Impf- und Anti-Malariakampagnen als konkrete Ergebnisse solcher Weltbank-Programme. Aus Malawi, wo über fünfzig Prozent der Bevölkerung an Hunger und Unterernährung leiden, meldet Ann Pettifor, Vorsitzende der Kampagne „Jubilee 2000“ (Erlassjahr 2000), dass die Weltbank das Land kürzlich gezwungen habe, seine Mais-Reserven zu verkaufen um sogenannte Schulden an die Reichen zu bezahlen. Außerdem musste Malawi sämtliche landwirtschaftlichen und Lebensmittel-Subventionen abschaffen und die Preisbildung dem Markt überlassen. Millionen Menschen können die neuen Preise nicht bezahlen.
Tuberkulose und Malaria nehmen wieder zu, aber wir hören kaum etwas darüber. Einzig eine Krankheit beherrscht die Schlagzeilen, nämlich AIDS. Sie stammt angeblich aus Afrika und soll nur mit teuren westlichen Medikamenten zu bekämpfen sein. Wer es wagt, auf diesem Gebiet auch nur Zweifel anzumelden und auf die vielen Schwachpunkte, Widersprüche und offenen Fragen im HIV-AIDS-Modell hinzuweisen, wird in beispielloser Weise diffamiert und attackiert. Wer das AIDS-Modell aus wissenschaftlichen Gründen in Frage stellt – also nicht die Tatsache der Erkrankungen, sondern ihre Ursachen – wird als Massenmörder afrikanischer Kinder verleumdet oder mit Holocaust-Leugnern verglichen. Mit solchen Tabus können wir keine nachhaltige Gesundheit schaffen. „Wir reden nur noch von AIDS“, sagen mir afrikanische Freunde, „weil sich der Norden nur dafür interessiert und zahlt.“
Wir befinden uns heute in einem globalen Notstand. Es gibt kein lokales Entkommen vor den Folgen globaler Fehlgriffe. Aber selbstverständlich kann jeder vor Ort beginnen, zum Beispiel durch intelligentes Bauen: In Solar-Niedrigenergie-Häusern lebt man erwiesenermaßen gesünder.
Unser Hauptproblem heute ist, dass wir viel zu wenig zu verlangen wagen. Aber die Zeit der kleinen Schritte ist abgelaufen. Wir müssen unsere Identität erweitern und uns wieder verbinden mit unserer inneren und äußeren Umwelt und beide gleichzeitig heilen.
Die Alternative zu einer grundlegenden Wende ist weltweiter Terror, wenn die globale Mehrheit ihr Überleben durch den Widerstand des Nordens gegen nötige Veränderungen gefährdet sieht. Jeder von uns steht täglich an der Grenze, an der wir entscheiden müssen, ob wir bei der Heilung unserer Erde Teil der Lösung oder des Problems sein wollen. Diese Grenze ist eine immaterielle, dramatischere Grenze als die Eroberung fremder Kontinente und Planeten. Denn es geht zuerst um die Wiedereroberung unseres Selbst als mündige Bürger dieser Erde, um das Erwachen aus dem kindischen Traum der globalen Konsumkultur permanenter Unreife, Unzufriedenheit und Unverantwortlichkeit.
Der derzeitige Wertewandel vollzieht sich auch, weil viele Menschen das Gefühl haben, dass sie seit dreißig Jahren belogen werden. Die Wachstumsfantasien, die uns als Zukunft präsentiert wurden, sehen heute hohl aus, denn es ist ganz klar: Wenn wir noch ein, zwei Jahrzehnte so weitermachen, stehen wir vor einer globalen Katastrophe bisher unbekannten Ausmaßes. Zum ersten Mal werden sogar geologische Zeiträume von unseren Entscheidungen und Nichtentscheidungen, von unseren Handlungen und unseren Nichthandlungen beeinflusst. Hierin liegt unsere beispiellose Verantwortung.
Als Erstes müssen wir gegen den weitverbreiteten Zynismus vorgehen, der behauptet, es sei alles sowieso zu spät. Ja, die nachhaltige Lebensqualität, die Welt, die wir hätten bekommen können, wenn wir vor zwanzig oder dreißig oder auch noch vor zehn Jahren die Wende eingeleitet hätten, ist natürlich nicht die Welt, die wir heute bekommen können. Aber der Unterschied ist immer noch immens.
Es gibt projizierte Landkarten, die zeigen, wie die USA aussehen würden, wenn die Klimaoptimisten Recht bekommen und wir jetzt umsteuern. Die Küste von Florida sähe dann anders aus. Und wer ein Strandgrundstück in Miami Beach geerbt hat, sollte es schleunigst verkaufen! Wenn allerdings die Klimapessimisten Recht haben, und man sich die entsprechende Karte ansieht, gibt es dann überhaupt kein Florida mehr, es ist völlig überflutet.
Die alten Israeliten bezeichneten mit dem Begriff „hochma“ die Wissenschaft des Herzens, die Kapazität, zu fühlen und zu handeln, als ob die Zukunft von jedem Einzelnen abhinge. Solche Werte müssen wir wieder entwickeln. Wir müssen uns vermehrt politisch engagieren. Eine große Gefahr ist die Trennung von Zivilgesellschaft und Politik. Im alten Griechenland war, wer sich politisch engagierte, ein Polites. Wer sich weigerte, ein Idiotes.
Der globale Wandel hat herkömmliche Werte nicht zerstört, sondern lediglich unterdrückt. Das große Problem ist nicht der Wertewandel, sondern die wachsende Kluft zwischen den Werten, die die Allermeisten noch immer haben, und der heutigen Politik. Das Umsetzungsdefizit wird immer größer und führt ins Chaos. Die Gesellschaft bricht auseinander.
Al Gore hat in einem Spiegel-Interview gesagt: „Wir müssen das Klimaproblem von der politisch-ökonomischen auf die moralisch-ethische Ebene hieven.“ Er hat darauf hingewiesen, dass die Bürgerrechtsbewegung in den USA erst Erfolg hatte, als sie aus den fehlenden Bürgerrechten ein moralisch-ethisches Problem machte. Wenn man weiter zurückgeht, galt das ebenso für die Abschaffung der Sklaverei. Sie war damals ökonomisch höchst profitabel, sie war politisch akzeptiert. Aber eine kleine Gruppe von Menschen bezeichnete sie als moralisch-ethisch inakzeptabel und untragbar. Sie taten das ohne irgendein Mandat. Es waren einfach Menschen, die mit den existierenden Zuständen nicht weiterleben konnten. Sie fingen eine Kampagne in den USA und in Großbritannien an und hatten nach einigen Jahrzehnten Erfolg. Dasselbe müssen auch wir mit den großen Herausforderungen machen, vor denen wir heute stehen, denn auch dies sind nicht ökonomische oder politische Probleme, sondern ethisch-moralische.
Eine Studie der UNO nach dem Zweiten Golfkrieg 1990 / 91 stellte fest, dass es mit den Kosten, die dieser Krieg verursacht hat, möglich gewesen wäre, innerhalb von drei bis fünf Jahren für alle Menschen auf der Welt sauberes Trinkwasser zur Verfügung zu stellen. Vor diesem Krieg erklärte der britische Schatzkanzler im Unterhaus, Großbritannien werde daran teilnehmen, unabhängig davon, wie seine Finanzen aussähen und unabhängig davon, wie viel es kosten würde. Ich kenne keine vergleichbare Erklärung eines Finanzministers dort oder in irgendeinem anderen reichen Land im Hinblick auf die Bereitstellung sauberen Trinkwassers für alle Menschen oder die Bekämpfung des Hungers!
Neu ist allerdings, dass die Eliten beginnen, Zweifel zu haben an dem Weg, den sie gehen. Die Leiterin des Davos Young Global Leaders Project berichtete mir, dass sich auch dort die Diskussionen in den Meetings inzwischen hauptsächlich um Werte und Ethik drehen.