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Viertes Kapitel

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Eine weite Ebene, Wiesen und Felder, in spinnwebgrauem Nebel. Die Landstraße mit den hohen Pappeln kriecht weiß und leer in den Nebel hinaus, und so absonderlich wie der blühenden Frühlingslandschaft in dem herbstlichen Dunst ist es Engelhart zumut. Eine trügerisch-schwermütige Stille liegt über der Welt, der Bauer steht auf dem Acker und faltet bedenklich die Stirn. Ein liebliches Kindergesichtchen taucht aus dem Nebel, es ist Benjamin auf Kettis Arm. Man schickt ihn zu den Großeltern nach Altenberg, im Haus darf er nicht mehr bleiben, Frau Agathe muß Ruhe haben. Das kleine Bübchen jauchzt, da Engelhart possenhaft vor ihm hertanzt, es weiß nicht, daß es bald sterben wird. Drüben im Dorf wartet der Tod auf Benjamin, der Tod hat die Nebelschwaden aufs grüne Land gebreitet.

Auch Engelhart, Gerda und Abel mußten das elterliche Haus verlassen und wurden bei der Familie Dessauer in einem vornehmen Haus an der Bahnhofstraße untergebracht. Frau Dessauer war eine entfernte Verwandte der Mutter und lebte mit ihrem Sohn und seiner Frau in der Abgeschlossenheit reicher Leute. Dort mußte man leise gehen und leise sprechen, man mußte die Klinke in der Hand halten, bis die Türe geschlossen war, man mußte artig sein. Artig, artig! hallte es aus jedem Winkel.

Die Kinder wagten schließlich vor lauter Artigkeit nicht zu gestehen, wann sie Hunger hatten, Engelhart schlich bedrückt durch die langen Korridore und betrachtete stumm die hohen Türen. Er vernahm die Klänge eines Klaviers und lauschte. Eine Singstimme fiel ein. Das Lied zog ihn unwiderstehlich an, und er betrat das Zimmer. Die alte Frau saß am Instrument, die junge stand daneben und sang. Als sie den Knaben gewahrten, unterbrachen sie Spiel und Gesang, zwei Augenpaare blickten ihn dürr und strafend an. Man tritt nie in ein Zimmer, ohne anzuklopfen, hieß es, er solle wieder hinaus und sich melden. Er schaute starr zu Boden, dann lief er davon und auf die Straße. Die beiden Frauen kamen überein, daß der Knabe von einem bösartigen Geist erfüllt sei und daß man vor ihm auf der Hut sein müsse. Indessen lief Engelhart zum Bahndamm hinüber und spazierte an den schimmernden Geleisen entlang, die gleichsam eigenbeweglich in die Ferne liefen. Sehnsucht packte ihn, er spürte unter den Sohlen ein Zittern, als er sich auf das blanke Eisen stellte, dann warf er sich platt zur Erde und legte das Ohr auf die Schiene. Das Unglück brachte gerade in dieser Minute den jungen Dessauer des Wegs, er befahl Engelhart aufzustehen und führte ihn wortlos in das stille Haus zurück. Dort wurde ein Verhör angestellt, und der Beschluß war, daß Engelhart fortgeschafft wurde, da man für einen Knaben von so verbrecherischen Anlagen nicht die Verantwortung übernehmen wollte.

Er kam zu Frau Iduna Hopf. Wieder eine neue Welt; ein uraltes Haus am Helmplatz, im finstern Flur der Backofen eines Bäckers, morsche Treppen, die bei jedem Schritt jämmerlich ächzten, und oben die winzigen Stübchen. Im Wohnzimmer war ein Bücherschrank mit einer Glastüre, davor stand Engelhart, betrachtete die enggepreßten Reihen der Bücher und las die Titel auf den Rücken der Einbände. Iduna Hopf behauptete, es seien die tiefsinnigsten Werke der Welt, außer ihrem Immanuel würden alle Leute wahnsinnig, die darin läsen. Später einmal, wenn Engelhart zu Jahren und Verstand gekommen, werde sie trachten, ihm das Heiligtum zu erschließen.

Er vertraute diesem »Später« ohne weiteres. Er ahnte, was ihm im dunkeln Spiel der Zufälle und Schicksale für ein Los fallen könne, und daß er, an ödem Strande kauernd, sich begnügen würde, wenn ihm die Woge aus einem Schiffbruch ein armseliges Buch vor die Füße spülte. Nach Wissen und Belehrung stand ihm der Sinn nicht vor dem Bücherkasten, er verlangte nach anderm, nach Seelenspeise, Wärme des Herzens.

Tag um Tag verging, denn sie lassen sich nicht halten, die Sonne steigt und sinkt, die Sterne scheinen und verschwinden, der Tag des Schicksals ist seiner Sache sicher und kann warten. Auf einmal berührte Engelhart aus dem Ungefähr heraus ein Gedanke: es geschieht etwas zu Hause; da hielt es ihn nicht länger. Als er vor der elterlichen Wohnung läutete, gab die Glocke, die sonst schrill und frech gegellt, nur einen dünnen, gedämpften Ton. Der Klöppel war mit Leinwand umwickelt. Er war verwundert, als er im Wohnzimmer den Onkel Michael aus Wien, den einzigen Bruder der Mutter, und dessen Frau traf. Auch ein paar andre Leute waren zugegen. Kein Lächeln begrüßte ihn, alle schienen wie in die Betrachtung eines Loches vertieft. Herr Ratgeber lehnte regungslos im Sessel, der sonst so glänzende und martialische Schnurrbart hing kraftlos über die Lippen. Eine fremde Person kam aus dem Krankenzimmer und lispelte: »Ach, du bist da, Engelhart – deine Mutter hat heute nach dir verlangt.«

Er ging in das dunkle Zimmer, und allmählich lösten seine Blicke die weiße Gestalt mit der weißen Binde um die Stirn aus der Dämmerung. An das Lager tretend, hatte er ein zerflossenes, böses Gefühl, wie wenn der Sturmwind Sand in die Augen treibt. Er fand die Mutter so verändert, daß er furchtsam den Kopf senkte und mit seinen Fingern spielte. Frau Ratgeber streckte den Arm aus dem Bette und suchte seine Hand, und er, rätselhafte Verstocktheit, machte es ihr nicht leichter, sondern stellte sich, als sähe er es nicht.

Frau Agathe war den Tag vorher operiert worden. Der Professor hatte schon wenige Stunden später gesehen, daß die Sache eine schlimme Wendung nahm. Der Tod, winzig wie ein Elf, wühlte in den geheimnisvollen Gängen des Ohres.

In der Nacht wurde Engelhart plötzlich vom Schlaf verlassen. Es umschauerte ihn; sein Herz wußte, was es verlieren sollte, es sträubte sich und fing an zu brennen wie eine Schnittwunde am Finger. Es spürte, was für Wetter nun heranziehen würde, und daß die Paradieseszeiten, paradiesisch Schmerz und Lust, vorüber seien. So kam ihm das Gefühl des Versäumnisses, zum erstenmal das Gefühl der Unwiederbringlichkeit, das wie ein schwarzer Schatten aus der Finsternis trat und ihm das Wort und den Begriff Verlust hinschleuderte. Das war kein Träumen mehr, sondern ein doppeltes Erwachen des Leibes und der Seele, kein Spiel mehr, sondern der wilde, unbewegliche Ernst.

Er nächtigte in dem Bretterverschlag, den sonst die Magd innehatte, verließ das Bett und schlich barfüßig in den Flur. Aber Nachtkälte und Nachtfurcht hauchten ihn an, er kehrte um und blieb, ohne zu schlafen, bis der Morgen graute. Dann kleidete er sich an und ging hinüber. Auf der Schwelle ihrer Wohnung stand kreidebleich das Fräulein Frühwald, den Kopf an den Türpfosten gelehnt. Es wurde dem Knaben kühl um die Brust, unsicheren Fußes betrat er das kleine Zimmer neben dem Wohnzimmer. Dort lag Herr Ratgeber auf dem Sofa, das Gesicht gegen die Wand gekehrt, den Kopf zwischen den Armen, und gab Töne von sich, die wie Gelächter klangen. Engelhart ging weiter, endlich hatte er ein abgelegenes Plätzchen gefunden. Er lehnte die Stirn gegen den Rand eines eisernen Öfchens und sah seine Tränen vor sich auf den Boden fallen.

Später erschienen viele Leute, gegen Abend wurde der Sarg gebracht. Als es am dritten Tag zum Begräbnis ging, standen die Hausbewohner und die Nachbarn vorm Tor. Die Goldschläger hörten auf zu hämmern und traten in respektvoller Haltung auf die Straße. Der Major Friedlein schaute wie immer aus seinem Fenster, doch hatte er diesmal keine Pfeife. Bis der Zug zum Gottesacker kam, hatten sich unzählig viele Menschen angeschlossen, aus manchem Fenster hing ein schwarzes Tuch oder blickte eine weinende Frau.

Engelhart mußte die Schaufel nehmen und Erde ins Grab werfen. Als alles aus war, kam der Vetter Zederholz, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: »Lieber Sohn, so etwas kommt nicht zum zweitenmal.« Er blickte freundlich und traurig zugleich auf den Knaben, und zwischen den Fettfalten seiner Wangen glänzte es feucht.

So war die schöne Seele hinunter. Es war, als ob sie nie gelebt, als ob ihr Lächeln nie gelebt hätte, ihr volles, wahres Auge, ihr karges und wohlgemeintes Wort. Nur die toten Dinge blieben: die Straße und das Haus; das Bett, in dem sie geruht; der Teller, von dem sie gegessen.

Schlimm, daß Engelhart durch einen äußerlichen Trauerdienst der Trauer seines Gemüts entführt wurde. Jeden Morgen, sobald der Tag graute, mußte er aufstehen und zum Gebetshaus eilen, um das Totengebet dort laut zu beten. Jeden Morgen allzu früh riß ihn eine rauhe Hand zum Wachsein auf, und noch halb schlafend wankte er durch die Gassen. Gott wolle es und das Seelenheil der Mutter, sagte man ihm. Er glaubte nicht an einen Gott, der dieses wollte, er verhielt sich feindselig gegen einen Gott, der es darauf abgesehen hatte, seinen Schlaf zu zerreißen. Das war schlimm, denn dadurch wurde sein Himmel plötzlich leer. Innerliche Güter statt in Kämpfen in verstimmter Selbstsucht verlieren, heißt ohne Würde und Gewinn verlieren. Freilich war Engelhart darin von je ungeleitet geblieben, der Vater stand diesen Dingen scheu gegenüber, es war ihm unbequem, daran zu rühren, und er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken; die Mutter, einfach in ihrem Glauben wie in ihrem Wesen, hatte gemeint, das wüchse von selber in der Brust wie der Baum in guter Erde. Aber es kam kein Baum heraus, nur ein schmächtiges Reis, das vor dem ersten Windhauch zerbrach. Zudem lebte das werdende Geschlecht damals in einer Luft nüchterner Praktiken, und der höhere Sinn fand in kränklicher Sehnsucht sein Heil.

Kurze Zeit nach Frau Agathes Tod sagte Ketti den Dienst auf. Es blieb unbekannt, was sie vertrieb. Zu einigen Leuten äußerte sie, sie wolle nicht bei mutterlosen Kindern bleiben. Man wandte ein, daß sie nun erst recht nötig und am Platze wäre, aber sie sagte, es täte ihr zu weh; sie möge auch keinen andern Dienst mehr annehmen und gehe in ihre Heimat. Sie war zehn Jahre im Haus gewesen, und Herr Ratgeber ließ sie ungern ziehen. Er war den ganzen Tag im Geschäft, zu Mittag schlang er hastig seine Mahlzeit hinunter, warf kaum einen Blick auf die Kinder, zündete die Zigarre an und ging wieder. Die Verwandten sagten ihm, daß die Kinder auf diese Weise verwildern müßten, auch kostete der kleine Haushalt mehr als je zu den Zeiten der Frau. Da entschloß er sich, eine Wirtschafterin zu nehmen, und er hielt Nachfrage nach einer entsprechenden Person, die zugleich eine gewisse Geistesbildung besitzen sollte. Es dauerte nicht lange, da erschien ein großes blasses, blondes Frauenzimmer im Haus, und Herr Ratgeber glaubte gut gewählt zu haben. Wenige Tage, nachdem das Fräulein, dessen Name Adele Spanheim war, seine Stellung angetreten hatte, übergab er ihr das Wirtschaftsgeld für drei Monate und reiste fort. Mehr als je träumte er jetzt von Reichtum oder doch von behaglicher Wohlhabenheit; er spannte alle Kräfte an, um sich auf jene Höhe des Lebens zu schwingen, auf der man von den Menschen geachtet werden muß; es war, als ob das nun erstarrte Herz ihm keinerlei Rücksichten des Gefühls auferlegte, er mußte nicht und nirgends mehr verweilen, konnte sich völlig seinen Projekten hingeben, und wenn ihm auch nicht vergönnt war, ins Weite hinaus zu wirken, das wußte er, so wollte er doch in seinem Kreis etwas gelten. Er war nie ein Jammerer, er beklagte nie sein Geschick; diese Kraft, sich zu verschließen, entfremdete ihn aber auch der Teilnahme der denk- und gemütfaulen Leute, die rings um ihn gemächlich ihre Existenz bauten.

Adele Spanheim verlangte blinden Gehorsam von den Kindern. Die beiden Kleinen bequemten sich dazu, sie konnten ja noch nicht sehend wollen. Engelhart widerstrebte trotzig. Das Blut schoß ihm in die Stirn, wenn sie lachend einen Befehl gab, nicht aus Einsicht, sondern aus bloßer Lust am Kommandieren. In einem ihrer wöchentlichen Berichte über die Ausgaben und die Vorfälle im Haus, die sie Herrn Ratgeber zu senden hatte, klagte sie, daß Engelhart ihr ohne den gebührenden Respekt begegne und daß es ihr schwer falle, gegen seine freche Selbstherrlichkeit aufzukommen. Darauf schrieb Herr Ratgeber zurück, wenn sich der Knabe nicht bessern wolle, erlaube er ihr jede Form der Züchtigung. Diese Briefstelle las ihm das Fräulein vor. Engelhart vernahm mit Unglauben und Schmerz des Vaters Worte, die so fremdartig aus der Ferne klangen, so kaltherzig auf dem Papier standen. Er forderte Fräulein Spanheim auf, ihm den Brief zu zeigen, sie willfahrte, und es wurde ihm leicht, die schönen klaren Schriftzüge zu lesen. Niedergedrückt schlich der Knabe im Haus umher und stellte sich, des schlechten Wetters nicht achtend, unter das Haustor. Die anbrechende Nacht verscheuchte ihn, und als er hinaufging, hatte er Kopfschmerz und jagende Hitze. Adele Spanheim sah ihn bleich hereinschwanken und wurde besorgt. Sie entkleidete ihn und strich ihm kosend über das Haar, aber ihr verändertes ängstliches Benehmen beleidigte seinen Stolz.

Er bekam den Scharlach in der gefährlichsten Form, lag vier Tage bewußtlos, bäumte sich aus der pflegenden Hand und schrie vor sich hin. Danach, als er genas, füllte sich seine Brust mit Süßigkeit, es wurde ihm offenbar, daß er durch ein dunkles Tor neuerdings ins Leben trat, etwas von Lebensschönheit wurde ihm bewußt, über einem langhinlaufenden Weg strahlte die Sonne mit herrlicher Gewalt, an beiden Seiten hingen Rosengirlanden und über smaragdenen Wiesen flogen Vögel, wie er sie nie zuvor erblickt, sie hatten etwas menschlich Sanftes im Ausdruck ihrer Augen und es wirkte beruhigend, wenn sie langsam sichere Kreise um denselben Mittelpunkt zogen. Gleichzeitig hörte er die vertrauten Geräusche von der Straße, das Hämmern der Goldschläger, dies meisterhafte Schlagen im kurzen Wechseltakt, das Geschrei der spielenden Kinder, den Gesang vom Wirtshaus und vieles andre. Der Tod hörte auf, ein Wort für ihn zu sein. Er wurde Bild und glich dem Bild des Lebens, nur daß alles umschattet und erstarrt war. Die Frage entstand: Wären die Stadt und ihre Häuser noch vorhanden, wenn ich tot wäre? Würden die Bälle der Kinder draußen noch ebenso in die Luft fliegen, die Leute im Wirtshaus noch ebenso singen? Er begriff oder fühlte dunkel das Einzige des Lebens, die wunderbare unermeßliche unbegreifliche Macht, die den Menschen atmen läßt und die ihn zugleich die Finsternis ahnen läßt – dort, jenseits des Rosenwegs, über welchen die sanftäugigen Vögel fliegen, die er im Halbtraum gewahrt.

Täglich kam Doktor Federlein, flüsterte eine Weile mit Fräulein Adele, dann trat er ans Lager, von Karbolgeruch umwallt wie ein Priester von Weihrauch, nickte dem Knaben zu, schrieb ein neues Rezept, befühlte seinen Puls, kitzelte ihn am Kinn, schüttelte vor dem Spiegel seine dunkeln, bereits angegrauten Locken und ging wieder. Herr Ratgeber war von der Reise zurückgekehrt, Engelhart sah ihn aber nur des Abends. Neues Unglück hatte ihn getroffen, der kleine Benjamin war draußen in Altenberg gestorben. Wie ein Schatten war er seiner Mutter nachgefolgt, als ob sie, schon unter der Erde, das winzige Seelchen noch verlangt hätte, das in unergründlicher Trauer sein Leben kränkelnd hinschleppte.

Als Engelhart zum erstenmal wieder ausgehen durfte, fuhr Adele Spanheim mit ihm und den beiden Geschwistern nach Nürnberg zu ihren Eltern. Es war prächtiges Wetter, kristallen wölbte sich der Himmel, die Blätter begannen schon gelb zu werden und hingen glühend an den Bäumen des Stadtgrabens, vieleckig, vieltürmig, mit strahlend roten Dächern erhob sich die Burg und zur Rechten die säulenschlanken Türme von Sankt Sebald. Zwischen dem Henkersteg und dem Weinmarkt traten sie in das düstre Tor eines altertümlichen Hauses, stiegen eine riesenbreite Treppe mit flachen Stufen hinan und schritten oben über eine Holzgalerie mit schön geschnitztem Geländer. Unten war der Hof, es plätscherte Wasser aus dem Brunnen in ein steinernes Becken. In der Wohnstube befanden sich zwei alte Leute und fünf erwachsene junge Männer, Adeles Brüder. Die Kinder wurden in die Ecke des Zimmers an einen kleinen Tisch gesetzt und erhielten Kaffee und Kuchen. Die acht Leute redeten leise miteinander, bisweilen flog ein musternder Blick zu den Kindern herüber. An den Wänden des großen Raums standen hochbeinige Stühle und zwischen den Fenstern hing ein Bild, ein Mädchenkopf mit schwarzen, zur Schulter fallenden Haaren. Der Ausdruck des Gesichts erinnerte Engelhart an Sophie Hellmut, der Blick hatte etwas Zärtliches und Fragendes, und er konnte sein Auge nicht davon wenden. Er stand auf, um das schöne Gesicht näher zu haben, da ertönte vom Kaffeetisch aus, das Wispern durchbrechend, Adele Spanheims Stimme: »Engelhart, sitzen bleiben!« Die Tasse an den Lippen, betrachtete sie ihn erwartungsvoll, auch die fünf Brüder sahen ihn an. Mit verzerrtem Gesicht starrte der Knabe zu Boden, und es wäre vielleicht zu einem Auftritt gekommen, wenn nicht die Ankunft eines neuen Gastes die Aufmerksamkeit des Fräuleins abgelenkt hätte. Diesen Umstand benutzte Engelhart und stahl sich aus dem Zimmer. Draußen lehnte er sich einige Minuten lang über die Galerie und blickte entzückt in das blaue Himmelsviereck; auf der andern Seite konnte er durch eine geöffnete Türe in ein halbdunkles Zimmer sehen, in dessen Mitte ein Aquarium stand; Goldfische blitzten an der Glaswand vorbei, und ein schmaler Sonnenstreifen lag wie ein goldener Stab quer im grünen Wasser.

Die Furcht, entdeckt und geholt zu werden, trieb ihn weiter, auf die Straße, über den Platz zur Sebalderkirche. Zaudernd stand er dort vor einer offenen Seitentüre. Es zog ihn hinein, und doch lähmte ein Unbekanntes seinen Fuß. Frömmigkeit, der Genuß des Wunderglaubens, die Seligkeit des Gebets, alles das war ihm fremd geblieben, aber die Furcht, Gottesfurcht, nicht im biblischen Sinn, behauchte ihn bisweilen wie die Kälte der Winternacht, die durch die Fensterfugen in das erwärmte Zimmer streicht. Und nun der gewaltige Bau, die schwere Dämmerung drinnen, und das Fremde und Steinerne, das den Christen und das Christentum in seinen Augen umgab.

Er ging hinein. Die gewaltigen Pfeiler, die erhabenen Bogen und Gewölbe, wie schräg gefaltete ungeheure Hände nach oben geneigt, das Halblicht, verstärkt und bemalt durch die bunten Glasfenster, die Stille des Ortes und seine ungeheure Raumfülle, dies Emporstrebende, Emporweisende, es machte ihn schaudern bis ins Mark. Als dann die Glocke im Turm zu läuten anfing und ihn die Klänge umschwirrten wie das Flügelschlagen mystischer Wesen, trugen ihn die Beine kaum mehr, er suchte einen Winkel, um sich zu verkriechen, und taumelte vorwärts, bis ein schwarzes Gitter ihn aufhielt. Es war das Sebaldusgrab. Langsam wich die Blindheit von seinen Augen, er gewahrte zahllose kleine Figürchen, lieblich gestaltet, in stiller, vorgesetzter Bewegung, und sein Erstaunen war groß. Das Zittern, das Grauen wich, auf einmal fand er sich heimisch, als hätte er Spiel und Spielgenossen entdeckt, und lange konnte er sich nicht trennen.

Zu spät erinnerte er sich der verflossenen Zeit. Alle Spanheims waren auf der Suche nach ihm. Adele stand im Flur und empfing ihn wortlos, mit eisig kalter Miene. Auch Gerda und Abel behandelten ihn hochmütig, denn sie waren durch seinen Fehltritt in Gnade gekommen. Nach und nach kamen die Brüder Adelens zurück, lachten spöttisch, und einer zwickte den Knaben ins Ohr. Auf der Heimfahrt bewahrte Adele ihre bedeutungsvolle Zurückhaltung, und als er sich zum Schlafengehen anschickte, nahm sie einen Stock, stellte sich an das Bett und genoß seine stumme Angst, seinen flehenden Blick. »Wo warst du, während wir dich gesucht haben?« fragte sie durch die geschlossenen Zähne. Da er nichts antwortete, geriet sie vor Zorn außer sich, packte ihn beim Hemd, und wie er zurückwich, riß das Hemd entzwei. Der Knabe lief nackt gegen das Fenster und, den Leib gegen die Mauer gepreßt, den Arm abwehrend zurückgestreckt, rief er wild: »Schlagen Sie mich nicht!«

In Adele Spanheims Gesicht ging eine wunderliche Veränderung vor. Sie errötete, nahm die Kerze vom Tisch und sagte mit dunklerer, rauherer Stimme, ohne die Augen von der Gestalt des Knaben abzuwenden: »Geh nur schlafen, du … Bub.« Bei diesem zögernd ausgesprochenen Wort lächelte sie. Im Bette liegend, dachte Engelhart an ihr sonderbares Lächeln und schlief in Scham und Traurigkeit ein.

Engelhart Ratgeber

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