Читать книгу "Ich glaub, ich bin jetzt warm genug angezogen" - Jan Abele - Страница 5
1. Ist das noch Liebe, oder helikoptere ich schon? Oder: Warum dieses Buch geschrieben werden musste
ОглавлениеIch stehe in der Nähe eines typischen Klettergerüstes aus der Spielplatz-Bootcamp-Ära der Siebzigerjahre (scharfes Metallgestrüpp, darunter scharfkantiger, steinharter Waschbeton) und beobachte angestrengt, wie mein Sohn immer wieder das Gleichgewicht zu verlieren droht. Ich spüre, wie mein Körper zuckt, weil er hineilen möchte, um da zu sein, wenn mein Sohn fällt. Damit ich ihn auffangen kann und er sich nichts Schlimmeres zuzieht als einen ordentlichen Schreck. Der Fuß meines Sohnes rutscht ab, mein Herz bleibt einen Augenblick lang stehen, mein Sohn fängt sich. Wieder zuckt mein Körper, doch erneut unterdrücke ich den Impuls und bleibe betont gelassen gut fünf Meter entfernt stehen. In diesem Moment verschätzt sich mein Sohn, greift daneben und stürzt ab. Sein Kopf prallt auf den Boden, er schreit. Während ich zu ihm hinhechte, ihn in den Arm nehme und tröste, weil ihm ein übles Horn auf der Stirn wächst, schäme ich mich und fühle mich wie der schlechteste Papa der Welt.
Was ist passiert?
Gehen wir einen Schritt zurück.
Seit einiger Zeit kann man in Deutschland ein Phänomen beobachten, für das es keinen adäquaten Begriff gibt (dazu ist es zu neu) und das ich mal etwas polemisch als »Eltern-Bashing« bezeichnen möchte. Nicht nur auf Spiegel Online oder den Wissensseiten der Süddeutschen Zeitung, sondern auch in den vielen gleichlautenden Erziehungsratgebern, die die Regale deutscher Buchhandlungen füllen und die Bestsellerlisten anführen, liest man seitenlang über die Fehler, die heutige Eltern in der Erziehung angeblich machen. Regelmäßig ist von einer Überfütterung an elterlicher Fürsorge die Rede, die als die größte Gefahr für den Fortbestand der deutschen Gesellschaft ausgemacht wird, von einem als Liebe getarnten Würgegriff. Laut der gängigen Meinung setzen heutige Eltern keine Grenzen mehr, nehmen ihren Kindern dadurch die Orientierungsmöglichkeiten und schaffen es gleichzeitig, den Nachwuchs durch ihre angstgeleitete Überfürsorge so einzuengen, dass er am Ende zum kleinen Egomonster wird, komplett verzogen und lebensunfähig. Der gleichlautende Vorwurf: Die Eltern des 21. Jahrhunderts rauben ihren Kindern die Chance, eigene Erfahrungen zu sammeln und halten sie davon ab, sich artgerecht zu entwickeln.
Irgendwann tauchte der Begriff der »Helikopter-Eltern« auf, der Mütter und Väter bezeichnet, die in einer Mischung aus übertriebener Zuwendung und Angst um ihre Kinder in besonders absurden Bahnen um sie herumschwirren. Es gibt mittlerweile gefühlt zigtausend Bücher, in denen solche Fälle von beinahe hysterischen Eltern geschildert werden, die ihren Kindern Peilsender in die Unterhosen nähen, nicht mehr schlafen können, wenn in der Grundschule die Eins in Chinesisch wackelt, oder die ohnmächtig zusammenbrechen, weil Melitta oder Kaspar oder Cassian (klar, so heißen Helikopter-Kinder) versehentlich in die Nähe einer Tasse Milch geraten sind, die nicht nachweislich nachts bei Mondschein auf einem Demeterhof aus dem Euter kam. Diese Eltern nerven ihr Umfeld mit übergriffigen Forderungen (der Lehrer soll bitte dafür sorgen, dass das Kind je nach Außentemperatur den entsprechenden Pullover trägt; auf dem Kindergeburtstag der Freundin darf bitte nix Süßes verteilt werden) und schaden ihren Kindern nachhaltig.
Ich kenne wirklich viele Eltern, und alle sind auf ihre Art verschieden; es gibt lässige, es gibt ängstliche, es gibt laute, es gibt arrogante, es gibt viel zu nette (denn natürlich: Wenn ein Kind einem anderen Kind die Metallschaufel über den Kopf zieht, sollte der Erziehungsberechtigte eingreifen und die aus welcher Motivation heraus auch immer ausgeführte Attacke nicht mit »Ach, das hat er/sie doch nicht böse gemeint« abtun, obwohl Blut aus der Platzwunde schießt. Wobei ich bezweifle, dass so was tatsächlich so gehäuft vorkommt, wie im gängigen Vorwurf behauptet wird. – Dazu gleich mehr.), und es gibt auch ein paar doofe Eltern. Aber nie habe ich Eltern erlebt, die wirklich so bekloppt sind, wie sie in »Wir-lachen-über-Helikopter-Eltern«-Büchern und -Blogs vorkommen.
Das Problem an diesen Karikaturen ist, dass sie a) letztlich nur befeuern, was der gesellschaftliche Mainstream über Eltern zu denken hat, und b) dass sich eben dieser Mainstream davon provoziert fühlt (was wiederum gut belegt, dass besonders fürsorgliche Eltern anderen ein schlechtes Gewissen zu bereiten scheinen, ähnlich wie Vegetarier sich regelmäßig rechtfertigen müssen, als wäre ihre Ernährungsweise nur dem Ziel entsprungen, Fleischesser als schlechtere Menschen dastehen zu lassen). Helikopter-Eltern sind ein Mythos, ein gern genommenes Totschlagargument, wenn es darum geht zu zeigen, was Eltern heute angeblich alles falsch machen, so wie man die Uhr danach stellen kann, dass bald die nächste »Generation XYZ« gebrandmarkt wird als wie auch immer orientiert und konditioniert. Das Gefährliche daran ist, dass die Helikopter-Debatte das Verhältnis von Eltern zu Kindern beeinflusst, ohne dass es den Vätern und Müttern bewusst ist. Ich jedenfalls frage mich aufgrund der absurden Debatten oft: Ist das noch Liebe oder helikoptere ich schon? Und sicher bin ich nicht der Einzige.
Kommen wir noch mal zurück auf die Spielplatzszene zu Beginn.
Mein Sohn hängt an einem in die Jahre gekommenen Klettergerüst, an dem es viele Verletzungsmöglichkeiten gibt, falls er runterfällt. Mein Körper signalisiert mir sehr deutlich, dass ich eigentlich am liebsten neben und unter meinem Sohn stehen würde, um ihn im Falle des Falles vor Knochenbrüchen, Platzwunden und einer Gehirnerschütterung zu bewahren. Trotzdem bleibe ich in deutlicher Entfernung stehen. Warum?
Damit es keinesfalls so aussieht, als würde ich helikoptermäßig über meinen Sohn wachen, weil ich kein Vertrauen in seine Fähigkeiten besitze. Dadurch würde ich ihn – nach Anti-Helikopter-Meinung – verunsichern und den von mir befürchteten Unfall selbst erst provozieren. Äußerlich bleibe ich also ein vorbildlicher moderner Papa voller Zutrauen in das Klettergeschick meines Sohnes, während ich im Inneren mit der kaum auszuhaltenden Panik kämpfe, er werde gleich kopfüber zu Boden segeln. Aber: Bloß nicht in seine Nähe kommen! Er könnte sich plötzlich einer Gefahr bewusst werden, die er vorher nicht gesehen hat, Angst bekommen und augenblicklich panisch das Gerüst loslassen. Dass mein Sohn sich eher sicherer fühlt, wenn ich dicht bei ihm stehe, und sich sogar Sachen traut, die er sonst nie probieren würde, übersieht die Helikopter-Debatte. Und auch ich zweifele plötzlich daran. Kann doch sein, dass ich mich irre, oder? Was weiß denn schon ein Vater?
Ich war verunsichert, und als mein Sohn Augenblicke später weinend in meinem Arm lag, schämte ich mich, weil ich mich tatsächlich mehr um mein öffentliches Bild gesorgt hatte als um mein fünfjähriges Kind.
An dieser Stelle möchte ich dem Helikopter-Vorwurf folgende Behauptung entgegenstellen: Nie gab es eine Eltern-generation, die fürsorglicher und achtsamer mit ihren Kindern umging, als wir das heute praktizieren. Unsere Kinder stehen im Mittelpunkt unseres Lebens, und ich behaupte, dass es an diesem Punkt nichts gibt, das ihnen schadet. Im Gegenteil: Die Art und Weise, wie wir unseren Kindern begegnen, wird dafür sorgen, dass sie zu achtsamen und verantwortungsbewussten Menschen heranwachsen. Und viel schädlicher als unsere vermeintliche Überbehütung ist die Diskussion darüber.
Eine Auswahl: Im Juni 2018 war im Deutschlandfunk ein Gespräch mit dem Pädagogen Herbert Renz-Polster mit »Zuviel Fürsorge schadet Kindern« überschrieben. Und Josef Kraus, immerhin Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, warnt auf vielen Kanälen regelmäßig vor gluckenden Eltern und gibt in seinem Buch Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung zu, dass zwar nur ein Sechstel aller Elternpaare überfürsorglich sei (wo werden eigentlich solche Zahlen ermittelt?), die Mehrheit sich also »vernünftig« verhalte – der Schaden an der Allgemeinheit durch verhelikopterte Heranwachsende jedoch immens sei. Eine steile These, die einem verantwortungsbewussten, extrem fürsorglichen, aber eben auch sehr selbstkritischen Vater wie mir allerdings nicht die Frage beantwortet, ab wann aus vernünftiger Vorsicht unvernünftige Überbehütung wird und man in das verschriene Sechstel abdriftet. Im Gegenteil – solche Behauptungen säen Zweifel und führen zu unnötigen Beulen wie im Fall meines Sohnes.
Heute herrscht der weitverbreitete Konsens, dass man Kinder nicht schlägt. Die Grenze ist klar gezogen, da gibt es keine Missverständnisse; aber wo aus einer liebevollen Erziehung eine zu liebevolle wird, darüber gibt es keine Klarheit. Wie auch? Es kann gar keine geben, denn jedes Eltern-Kind-Verhältnis ist so individuell, dass Aussagen darüber totaler Quatsch sind. Sie beeinflussen einen jedoch, und da beginnt das Problem. Manche Kinder brauchen ganz viel Nähe, Zärtlichkeit, Unterstützung, andere eben nicht. Wie viel Zuwendung ein Kind braucht, entscheiden wir Eltern, und wir haben eine natürliche Befähigung dazu. Wer heute aber eines der monströs großen Regale mit Pädagogikliteratur in einer durchschnittlichen Systembuchhandlung betrachtet, könnte zu einer anderen Überzeugung gelangen; zum Beispiel, dass heutige Eltern nach der Geburt zwar mindestens um ein Kind reicher sind, jedoch auch um zwei Gehirne ärmer.
Wer in Biologie gut aufgepasst hat, der weiß, dass die Natur Menschen, die gerade Eltern geworden sind, mit einigen temporären Zusatzskills ausstattet. So wie das in Videospielen funktioniert, wenn der Held per Zaubertrank ein paar Punkte extra auf Stärke, Konstitution und Ausdauer bekommt. Und sollte das in den seltensten Fällen mal nicht greifen, dann gibt es noch den Airbag Kindchenschema. Die immer gültige Gleichung, dass rund und süß in unserem Gehirn den Bitte-sofort-kümmern-Reflex auslöst. Eltern sind von Natur aus kompetent; diese vielleicht banalste Information seit »Der Ball ist rund« muss hier einmal ausgesprochen werden, denn die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts hat sie längst verdrängt – und das gilt leider nicht nur für die Experten, sondern auch für viele junge Eltern selbst. Deshalb lesen sie einen aktuellen Ratgeber nach dem anderen, der ihnen jeweils etwas anderes erzählt, dabei aber konsequent signalisiert, dass Eltern ohne Ratgeberliteratur heutzutage unfähig seien, ein Kind großzuziehen.
Es gibt also eine Menge Vorwürfe, die wir uns anhören müssen; wir tanzen um unser Kind herum, wir gängeln es durch zu viel Aufmerksamkeit, wir rollen ihm jede Glasmarmel aus dem Weg. Der ärgerlichste Vorwurf bei alldem lautet, dass wir unseren Kindern gegenüber als Partner auftreten, nicht als Autoritätspersonen. Das sei gefährlich für die spätere Entwicklung des Nachwuchses, weil die wichtige Phase der Abgrenzung praktisch nicht stattfinde.
»Warum Eltern nicht die besten Freunde ihrer Kinder sein sollten«, erklärt eine Erziehungsexpertin auf elternwissen.de und spricht, wie so häufig in solchen Fällen, von einer »schmalen Gratwanderung«, wenn es darum geht, Kindern Autorität entgegenzubringen, aber bitte schön dabei Liebe und Zuneigung nicht zu unterdrücken.
Genau da beginnt der Punkt der Verunsicherung, die in die Intimsphäre meines Kindes und mir hineinwirkt. Denn woran bitte soll ich erkennen, dass ich noch auf dem Grat wandere und nicht schon längst in das ein oder andere Extrem abgerutscht bin? Der Vorwurf steht wie ein rosa Elefant im Raum. Mein Sohn sitzt heulend auf meinem Schoß, er hat blöden Mist gebaut, aber er ist auch hilflos und klammert sich an mir fest. Sollte jetzt nicht der fällige Moment der Abgrenzung beginnen, müsste man jetzt nicht bestrafen, damit er den blöden Mist kein zweites Mal baut? Innerlich aber will ich mich gar nicht abgrenzen, sondern viel lieber nach Verbindung suchen. Was tun?
Ein Ratgeber hätte nun die »richtige« Lösung parat, doch die Entscheidung, wie ich mit dem Fehlverhalten meines Sohnes umgehe, ist eine ganz individuelle und persönliche Entscheidung, die nur aus dem Moment heraus getroffen werden kann. Und manchmal gibt es eben nur falsche und weniger falsche Lösungen. Trotzdem habe ich mich selbst dabei erlebt, wie ich in diesem Moment überlegte, nicht meinem Herzen zu folgen, sondern Jesper Juul, der in einem Zeitungsinterview klare Grenzen fordert, weil sonst – etwas zugespitzt – chronische Weinerlichkeit bis hin zur Lebensunfähigkeit drohe. Ich zog also plötzlich eine Grenze, indem ich energische Worte sprach und meinen Sohn durch eine finstere Miene wissen ließ, was ich von seinem Verhalten hielt. Er weinte umso heftiger und begriff gar nichts mehr – weil ich sonst anders reagiere.
Ich bin der Meinung: Wenn mein Sohn schon selbst weint, weil er Mist gebaut hat, muss ich ihn nicht noch zusätzlich bestrafen. Dennoch hatte ich zugelassen, dass jemand in einer entscheidenden Situation zwischen uns trat und mich auch weiterhin begleitet, weil ich tatsächlich nicht frei bin von der Sorge, zu lieb und zu nachsichtig mit meinem Kind zu sein. Und in meinem Kopf schwirren permanent Fragen herum wie: Mache ich etwas falsch, wenn ich meinen Sohn nach seiner Meinung frage und ihn in Entscheidungen einbeziehe? Mache ich etwas falsch, wenn mein Sohn sehr oft Ja und eher selten Nein zu hören bekommt, wenn er etwas haben möchte? Mache ich etwas falsch, wenn ich, so oft es möglich ist, bei ihm bin, ihn an die Hand nehme oder ihn stundenlang huckepack durch die Straßen trage?
In einer Analyse über das heutige Eltern-Kind-Verhältnis zitierte die Konrad-Adenauer-Stiftung spürbar beunruhigt die Shell-Jugendstudie 2017, in der neunzig Prozent der befragten Jugendlichen angaben, ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern zu haben.1 Gibt es wirklich keine größere Gefahr für unser Land als generationsübergreifende Harmonie? Die Konrad-Adenauer-Stiftung kommentiert das Ergebnis der Erhebung mit Erstaunen und vermutet, dass die Befragung vor fünfzig Jahren wohl zu einem umgekehrten Ergebnis gekommen wäre.
Frage: Wäre das damals ein Grund zur Freude gewesen?
Ich kenne eine Menge Menschen, die in den Fünfziger- und Sechzigerjahren groß geworden sind, und ich erinnere mich nicht daran, dass auch nur einer mir mal erzählt hat, wie dufte und ungemein charakterfestigend es für ihn gewesen sei, vom Vater angebrüllt und vor die Tür gesetzt worden zu sein, weil er etwas nach Hause brachte, das so oder so falsch war, ob das nun Musik, Frisur oder die Freunde waren, um mal die typischen Konfliktfelder aus der Empathiesteinzeit zu benennen.
Heutige Eltern, die keine existenziellen Konflikte mit ihren eigenen Eltern durchmachen mussten, werden durch den ganzen Blödsinn, der einen in Form von Büchern, Jugendstudien oder Talkshowgästen bevormundet, auf ihren prekären Reifeprozess hingewiesen, verunsichert und manchmal sogar aufeinander gehetzt – siehe Helikopter-Vorwurf. Dabei wird vergessen, dass es eine Gesellschaft doch erst einmal beruhigen sollte, wenn es eine immer größere Zahl von Menschen gibt, die eine tiefe Verbundenheit zu ihren Kindern verspürt. Denn in erster Linie sehe ich in Helikopter-Eltern Menschen, die eine wahnsinnige Liebe für und eine damit verbundene Angst um ihren Nachwuchs empfinden. Die Rezeption über diesen Eltern-Typus ist jedoch eine rein verächtliche.
Es mag immer einige Eltern geben, deren Verhalten krankhaft ängstlich ist und die ihr Kind wirklich beeinträchtigen. So wie es auch immer einige sehr nachlässige Eltern gibt, deren Verhalten ihre Kinder genauso beeinträchtigt (erst seit 2012 erfassen die Sozialbehörden die Zahl der Kinder in Deutschland, die unter Vernachlässigung und Verwahrlosung leiden. Und auch wenn jeder Einzelfall einer zu viel ist, liegt der Anteil an der Gesamtkinderzahl bei gerade mal einem halben Prozent).2 Alles andere ist typische Projektion auf Eltern, die genauso leidenschaftlich wie unfair bewertet werden, wie das sonst nur Politiker und Fußballstars täglich erleben. Das gab es früher nicht; da hatten Eltern einfach recht, egal ob es eine schallerte oder zehn Pfennig für den rostigen Kaugummiautomaten gab. Hat niemanden interessiert. Heute rücken plötzlich jede Geste und jedes an das Kind gerichtete Wort in den Fokus der Allgemeinheit und jeder weiß besser, wie man Kinder erzieht.
Heutige Eltern müssen in der Öffentlichkeit immer wieder aufs Neue beweisen, dass sie gute Eltern sind – unabhängig von der Frage, was es eigentlich ausmacht, »gute« Eltern zu sein. Mit jedem Tag fangen wir wieder bei null an. Was gestern gut lief, zählt heute gar nichts. Ich weiß schon nicht mehr, welche Gesichtsausdrücke ich einstudiert hatte, um so souverän wie möglich zu gucken, wenn sich mein Sohn in der Trotzphase einmal mehr an irgendwelche Sachen krallte, von denen er nicht wegwollte (im Wind klimpernde Fahnenmasten, blinkende Schuhputzautomaten und in schlimmsten Fällen die Korbsammeltürme in Supermärkten). In solchen Momenten hat man als Elternteil a) das Gefühl, dass sämtliche Flutlichter auf einen gerichtet sind, und b) dass nur zehn Prozent der Anwesenden pietätvoll wegschaut (das sind oft die, die selbst kleine Kinder haben oder vor Kurzem noch hatten), während bei den anderen die Wetten losgehen, ob sich die Szene zu einer hübschen Katastrophe entwickelt oder der Papa beweisen kann, dass er das Kind im Griff hat – sprich: ein guter Papa ist. Ein Kind in der Trotzphase im Griff zu haben ist jedoch ein Paradoxon, was die Gaffer entweder nicht zu wissen scheinen oder ihnen egal ist. Stattdessen ist die Manege frei und man hat nicht mal die Möglichkeit, vorher zu proben. Der verzweifelte Dreischritt »Wenn du nicht sofort aufhörst – Wir fliegen hier gleich raus – Ich zähle jetzt bis drei« führt unweigerlich ins Verderben.
Ich habe in solchen Momenten stets versucht, meinen kreischenden Sohn, der auf dem Höhepunkt des Trotzanfalls auch mit einer Motorsäge nicht vom Regal mit dem bunten Sandspielzeug zu trennen gewesen wäre, mit Liebe und Verständnis so abzulenken, dass er das Brüllen vergisst. Allerdings ist das, als würde man probieren, einen ausgehungerten Löwen mit sachten Handzeichen von einer frisch gerissenen Antilope wegzulocken. Also habe ich, entgegen allen Beschwörungen der breitgefächerten Ratgeber-Literatur, in diesen Situationen der öffentlichen Bloßstellung meinem Sohn die Sandschaufel in die Hand gedrückt, obwohl es sich anfühlte, als reichte ich gerade dem Satan persönlich die Hand, damit er mich aus dem Treibsand zieht, in den er mich vorher selbst geschubst hatte. In den Blicken des enttäuschten Publikums konnte ich nach erfolgter Schaufelübergabe in Richtung meines Sohnes ein mahnendes: »Oh, oh, du wirst deinen Eltern in ein paar Jahren aber noch schön auf der Nase herum tanzen« lesen.
Wie aber hätte ich sonst reagieren sollen? Meinen Sohn anbrüllen, bis er vor Schreck verstummt wäre? Mal abgesehen davon, dass ich den Erfolg einer solchen Maßnahme bezweifle, hätte mir das ebenfalls böse Blicke beschert. »Wie kann man nur so mit seinem eigenen Kind umgehen?« Unter Protest wegziehen? Kind stehen lassen und sich unbeteiligt stellen?? Was tut man, wenn das Kind trotzt? Vielleicht hätte ich mich neben meinen Sohn setzen und geduldig abwarten sollen, bis sein Anfall vorüber gewesen wäre, und eventuell hätte das sogar funktioniert. Nur: Auch dann hätte sich jemand gefunden, der sich das Maul darüber zerrissen hätte, dass ich nicht in Lage sei, den Trotzanfall meines Sohnes mit einer klaren Ansage zu beenden. Und am Ende hätte eine nette alte Dame vorwurfsvoll gepampt: »Na, nun kaufen Sie Ihrem Sohn schon die Schaufel.« Alles schon gesehen, alles schon gehört, alles schon erlebt. Fazit: Egal was du tust, es ist falsch. Also tue das, womit es dir und deinem Kind am besten geht. Denn das ist das einzig Richtige.
Der Fußballnationalspieler Per Mertesacker hat in einem Interview mit dem Spiegel gesagt, dass der Druck, vor einem Millionenpublikum zu performen, so unerträglich für ihn gewesen sei, dass regelmäßiger Durchfall noch zu den harmlosesten körperlichen Symptomen gehörte, unter denen er litt. Seinen mechanischen Brechreiz verbarg er, indem er manchmal so tat, als würde er sich mit Schulter und Oberarm den Schweiß wegwischen, wie Fußballer das so machen. Nur keine Schwäche zeigen.
Ich stelle fest: Heutige Eltern kaschieren Momente der Verzweiflung ganz genauso, weil sie sich damit vor gesellschaftlicher Ächtung schützen. Als meine Frau in besagter Trotzphase beim Vorbeigehen am Schaufenster eines Spielzeuggeschäftes ihr persönliches Waterloo erlebte, drehte sie sich geschickt mit unserem in Presslufthammer-Lautstärke brüllenden Kind in einen dunklen Seitengang, damit die zahlreichen Zuschauer, die sich dieses Schauspiel nicht entgehen lassen wollten, nicht sahen, dass sie keine Luft bekam und die Tränen in Alsterfontänenstärke aus ihren Augen spritzten.
In einem Mama-Blog las ich unlängst das Manifest einer frustrierten Mutter, die die Frage in den Raum stellte, warum Eltern in solchen Situationen regelmäßig mit einem Kopfschütteln bedacht werden, anstatt dass man der Frau/dem Mann ein aufmunterndes Lächeln schenkt und im Vorbeigehen sagt: »Halte durch, das geht vorbei. Du machst das super!« Gute Frage.
Jedenfalls ist die Angst, Fehler in der Erziehung zu machen, die sich am Ende allen offenbaren, die an einer Schnur hingehaltene Möhre, die einen in die Abhängigkeit von Fremdexpertisen lockt. Und wo es so viele Ratgeber, Eltern-Zeitschriften und Mama-Papa-Blogs gibt, steht immer der Vorwurf im Raum, dass solche Fehler eigentlich gar nicht mehr vorkommen dürften. Hätte man doch wissen können, dass ein Kind in der Trotzphase zu irrationalen Handlungen neigt. Geht man eben nicht dicht an einem Süßigkeitenregal entlang. Lies doch mal Dein kompetentes Kind von Jesper Juul, damit du ein guter Vater wirst. Und außerdem: Hätte das Kind Respekt vor seinen Eltern, würde es nicht wild schreiend über den Kachelboden im Supermarkt rollen und dabei mit den Fäusten auf die Fliesen hauen. Böse, böse, böse, Schuld, Schuld, Schuld!
In Gesprächen mit anderen Eltern erlebe ich, dass ich nicht der Einzige bin, der die Debatte über uns angeblich zu nachsichtige und zu liebevolle Eltern leid ist. Deshalb habe ich zu recherchieren begonnen, warum die Frage nach der richtigen Erziehung heute so ein Reizthema ist, und bin zu einigen überraschenden Erkenntnissen gekommen, die ich in diesem Buch erläutern werde. Außerdem werde ich über meine Erfahrungen als Vater erzählen und was bei der Erziehung meines Kindes funktioniert (und was nicht). Ich werde mich hüten, meine Vorstellung einer achtsamen, fürsorglichen und sehr engen Begleitung eines Kindes zu generalisieren und als alleingültig zu sehen. Jedes Kind ist anders, jede Mutter ist anders, jeder Vater ist anders. Ich bin weder ein Erziehungsexperte noch habe ich eine pädagogische Ausbildung absolviert. Aber ich werde allen Eltern, die sich wie ich von gesellschaftlichen Erwartungen unter Druck gesetzt fühlen, mit meinen Kindheits- und Jugenderinnerungen gute Argumente dafür liefern, dass man es mit Liebe und Nähe gar nicht übertreiben kann.
Die erwähnte Untersuchung der Adenauer-Stiftung trägt übrigens den Titel »Wenn Eltern nur das Beste wollen«, womit sie suggeriert, dass das Verhalten heutiger Eltern durch diesen hohen Anspruch eben gerade nicht zum gewünschten Ziel führt. Ich glaube, dass schon Neandertaler ihre Kinder lieb hatten und jeder weiteren Generation das Wohlergehen des eigenen Nachwuchses genauso am Herzen lag. Die Motive waren über die Jahrtausende sicher unterschiedlich und jede Generation hatte ihre eigenen Bedingungen, ein eigenes Moralverständnis und das Wissen, wie man ein Kind am Leben erhält. Aber keine Generation vor uns geriet so dermaßen in das öffentliche Interesse wie unsere, keine wurde so daran gemessen, was sie macht und was sie unterlässt. Genau das führt dazu, dass viele Eltern nicht mehr authentisch sind und nicht mehr aus tiefstem Herzen handeln. Und deshalb muss diese ganze Debatte in die richtige Spur gebracht werden.
Den Anfang macht dieses Buch.